zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Bestechung

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Als er in dieser Schule angefangen hatte, war er noch voller Grillen gewesen. Über die Dinge, die man verändern, und über die Gedanken, die man in Köpfen bewegen konnte. Über das Gefühl, mit Menschen zu arbeiten, ihnen etwas Bedeutsames beizubringen.

Nun waren lediglich zwei Jahre vergangen. Er war noch keine dreißig, aber schon dazu übergegangen, abgestiegen eigentlich, den Stoff, der im Katalog stand, abzuhandeln.

Müde rieb er sich die Augen und blickte noch einmal in die Runde. Eine Runde, die er gern hatte. Sie enttäuschten ihn nicht, das System war nur nicht gemacht, um seine Ideale zu erfüllen. Diese Menschen waren in seinen Augen schon kleine Helden.

Es war immerhin zehn Uhr am Abend. Sie alle hatten einen Beruf, bei Tag. Sie alle kamen in ihrer Freizeit hier her, um ihren Abschluss nachzuholen. Niemand trieb sie an, niemand verlangte es, mit Ausnahme von ihnen selbst.

Der rothaarige Bäcker allein. Er stand um halb vier auf, arbeitete in der Brotfabrik, kam um zehn am Morgen nach Haus und machte seine Hausaufgaben, legte sich schlafen, stand auf, um zur Schule zu gehen und legte sich danach dann für die wenigen Stunden schlafen, um dann um halb vier, im Dunkeln noch, wieder aufzustehen. Aber er war glücklich damit, er wollte es schaffen und das würde er auch.

Oder das türkische Mädchen, Ailina. Ihre Eltern durften nicht wissen, dass sie hier war. Ihre Eltern durften nicht ahnen, dass ihr Ehemann, bei dem sie lebte, ihr das erlaubte. Sie war schwanger und wollte doch statt einer Familie eigentlich viel lieber ein Studium, sie wollte Biologin werden, hatte mehr Träume, als die starren Gesetze ihrer Familie ihr erlaubten.

Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, jeden am Abend noch einmal anzusehen, um Fragen hervorzurufen, auch oder gerade weil sie müde waren. Die Gesichter hatten sich eingeprägt in sein Gedächtnis.

Nur einen sah er nicht an, das hielt er nicht aus. Er ließ den Blick schnell an dem jüngsten Schüler im Raum vorbeigleiten. Ein schmaler, unscheinbarer Junge, zu dünn eigentlich und klein. Doch in dem Gesicht lag stets soviel Zynismus und eine verletzende Verachtung der Welt gegenüber, dass es zu schmerzlich war, ihm direkt zu begegnen. Außerdem kam immer sein Gewissen durch, das Gefühl etwas Falsches zu tun, bei dem Blick in Janis' kühle, graue Augen.

Rasch senkte er den Kopf und räumte Papiere in seine Tasche. "Wenn ihr keine Fragen mehr habt, dann wünsche ich euch eine gute Nacht und ein schönes Wochenende." Ein zustimmendes Murmeln, Stühle wurden gerückt und die Klasse verstreute sich langsam.

Er dehnte seine Nackenmuskeln einmal, dann rollte er die Tafel mit den chemischen Elementen zusammen und befestigte das zerfledderte Band sorgfältig darum. Er wusste nur zu gut, dass kein Geld da war für neue Karten, dass sie auch andere Lehrmittel nicht bekamen. So wichtig war diese Schule dann doch nicht für diejenigen, die sie bezahlen mussten.

Langsam ging er mit der Karte unter dem einen Arm und seiner Aktenmappe unter dem anderen zum vollgestopften Abstellraum. Ein kurzer Blick nach draußen zeigte ihm, dass ekelhaft kalter Novemberregen eingesetzt hatte. Sein erster Gedanke lautete: 'Janis hatte nur eine Jeansjacke mit.' Der Gedanke war zu zärtlich, zu besorgt und das erfüllte ihn mit beißendem Schuldbewusstsein.

Er hatte die Karte gerade an den Metallständer gehängt, als sich die Tür mit dumpfem Laut hinter ihm schloss und es dunkel wurde, weil er kein Licht gemacht, sondern im Schein vom Flur und durch die Fenster zur Straße gearbeitet hatte. Der Lichtschalter lag neben der Tür, unerreichbar, davor stand er und blockierte den Weg.

Janis, natürlich. Der schlanke Junge legte den Rucksack und seine Jeansjacke auf der Kommode neben der Tür ab und versperrte kühl blickend die Tür, indem er sich mit schulterweit platzierten Füßen und leicht neben der Hüfte ausgebreiteten Armen davor stellte. Ein Kegel dumpfes, kalt wirkendes Licht von einer der orange leuchtenden Straßenlaternen fiel ausgerechnet auf das verächtlich verzogene Gesicht des Jungen.

"Hallo, Unbestechlich."

Es schmerzte, dass Janis ihn so nannte. Nur einmal in der Zeit an dieser Schule hatte er etwas selten Dummes gesagt. Janis hatte dies gleich gemerkt und nutzte es gegen ihn aus. Einmal hatte er gesagt, dass er nicht bestechlich war, dass sie alle noch so gute Freunde sein konnten, er würde sich dennoch nur nach den Leistungen in ihren Arbeiten richten. Und seitdem hatte er den Namen weg.

"Janis, was soll das? Wir sind beide müde."

Janis lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und presste, wie um sie gegen Eindringlinge geschlossen zu halten, beide Handflächen neben seinen Hüften dagegen.

"Es ist Wochenende, und ich will es bei dir verbringen." Das Kinn gehoben, kampfbereit, scharfkantig aussehend. Alles war spitz an Janis. Die Ellenbogen, das Kinn, die Wangen, vor allem seine Zunge. Er verletzte, was ihm nah kam. Wenn er sprach, zerstach er seine Umgebung mit Worten, trieb alle fort.

So hatten sie sich kennengelernt. Als naiver Mensch und daran denkend, dass er die Welt verbessern wollte, hatte er Janis gefragt wieso. Woher der Hass kam. Janis hatte ihn zum ersten Mal 'Unbestechlich' genannt und hatte lediglich gesagt 'Von dir, weil du unbestechlich bist.'

"Janis. Ich muss Arbeiten korrigieren und ich …"

"Ich lasse dich hier nicht heraus, vergiss es." Gezischt, heiser und wütend. Janis konnte mit Ablehnung nicht gut zurechtkommen.

"Gut, was willst du also?" Er lehnte sich neben Janis' Rucksack an die Kommode und betrachtete den kleineren, jungen Mann, Jungen eigentlich, wenn er nicht schon dreiundzwanzig wäre.

"Im Gegensatz zu dir, Unbestechlich, lasse ich mich kaufen."

Janis' Blicke belauerten sein Gesicht, aufdringlich, viel zu wissend. Eine Anspielung auf den Grund, aus dem er in die Schule kam, den Beruf, den er nicht mehr ertragen konnte. War es überhaupt ein Beruf?

"Von dir."

Hatte er ein 'Nur' hinein gewünscht? Janis hatte es nicht gesagt, würde es vielleicht niemals. Es tat so weh, dieses 'nur' nicht hören zu dürfen.

"So? Womit? Ich nehme dich nicht mit zu mir, das kommt nicht in Frage und …"

"Mit einem Kuss." Das Kinn wurde erneut gehoben, Janis' graue Augen bohrten sich mit Blicken gegen die Lippen.

Er trat einen weiteren Schritt auf den Jungen zu und seufzte "Janis …"

"Ich verhandle nicht mehr, das ist billig genug."

Er atmete einmal tief ein und ließ den Blick über das von dem Lichthauch beschienene Gesicht seines Schülers gleiten. Der Abstellraum wurde ihm mit einem Mal bewusster. Die Enge hier, die Unordnung in den Regalen und dann dieser Geruch. Abgestanden, zu trocken irgendwie und staubig. So ganz das Gegenteil von Janis. Der sah ordentlich aus, geradezu abweisend adrett und seine Lippen schimmerten leicht, wirkten feucht und einladend mit einem Mal.

"Das ist Lipgloss von Ailina."

Janis schaffte es, seine Gedanken zu sehen und seine Gefühle zu zerstören, billig aussehen zu lassen.

"Ich hab es mir geliehen, damit du mich anstarrst. Dass es so gut funktioniert, hätte ich nicht gedacht."

Leise Hoffnung. Da waren doch Gefühle gewesen? Janis' Mauern der Abweisung hatten Risse. Nur für ihn, das wusste er und es machte ihm Sorgen, aber es wärmte ihn auch, so wie jetzt. "Janis …"

"Ich bin bestechlich. Ein Kuss und du bist frei … für heute." Janis' Augen glitzerten in wissender Vorfreude, und den Blick von seinem Mund fernzuhalten, fiel immer schwerer. Dieser Mund, der so hässlich, gemein, so verletzend sein konnte, wirkte mit einem Mal wie das Tor zu einem Paradies.

Die schimmernden Lippen, leicht geöffnet, perlweiße Zähne leuchteten hervor, lockten, ebenso wie der Mundwinkel, der sich nun ganz eben hob, ein Lächeln andeutend. Wie nur war die Welt auf diesen einen Körperteil zusammengesunken? Es schien nichts mehr zu geben, außerhalb von Janis' Mund. Den Blick abzuwenden, unmöglich.

"Na gut, na gut …" Janis wollte noch etwas sagen, zweifelsohne verletzend genug, um den Wunsch ihn zu küssen, sogleich wieder zu vernichten, aber das ließ er nicht zu. Rasch trat er einen Schritt näher und verhinderte jede Möglichkeit zu sprechen mit seinen Lippen.

So hart und spitz Janis' Worte auch waren. An seinem Mund war all das nicht mehr zu schmecken, zu fühlen. Wenn sie sich küssten, dann wurde seine vornehmliche Waffe gegen das Mitgefühl der anderen zu einer bettelnden Schnute. Ein wenig schmollig zusammengeschoben, aber sanft und erstaunlich nachgiebig. Er war unglaublich zart, besorgt und rücksichtsvoll und er war offen, obwohl er sonst nichts preisgab.

Janis' Augen schlossen sich gleich und er ließ den Kopf zurücksinken, gegen die Tür, gleich darauf gegen die Hand, die ihn hielt. Ihn nicht halten zu wollen, erschien mit einem Mal undenkbar.

Wie nur konnte er so schnell von dem ekelhaften Spötter zum traumhaften Wesen werden? Mit nur einer Berührung war alles anders. Sobald sie nicht mehr sprachen.

Janis konnte freundlich sein und warm. Er konnte lachen und erzählen, doch nicht in Worten, nur mit Bewegungen und leisen Lauten. Er konnte mit der Zunge umtanzen, er konnte mit den Lippen betteln und mit einem Lächeln, das mehr zu spüren war, als zu sehen, konnte er sich auf die süßeste Art bedanken.

Janis' Lippen öffneten sich weiter und er lud ein, rief und lockte mit der Zunge. Ein leises Winken gegen den anderen. Atem strich dabei über seine Wange, feucht und warm, trug Janis' Geschmack an sich.

Gleich darauf konnte er ihn selber schmecken und spüren und schloss ebenfalls die Augen. Seine Müdigkeit war vergessen, der Geruch im Raum, der Ärger über Janis' Sturheit und seine verletzende Art. Es war doch alles unwichtig. Wie hatte er vergessen können, was wirklich zählte?

Vogelhaft zart und durchscheinend schien der Junge mit einem Mal zu sein, so dass man den Eindruck hatte, dass er beschützt werden wollte, allein durch die Art, in der er seinen Kopf neigte. Und gleich darauf wurde aus dem Vögelchen ein Habicht, der niederstieß auf Beute, so dass er erschrocken von Janis zurückfuhr, nur um sich gleich wieder der Versuchung zu ergeben und erneut an dem Spiel teilzunehmen.

Rührend streichelte Janis ihm mit der Zungenspitze über die Unterlippe, in die er eben ein wenig gebissen hatte, aus Spiel, aus Übermut vielleicht. Es fühlte sich an, als streiche jemand mit einer brennenden Feder über die Haut, ein Prickeln blieb zurück, ein Wünschen.

Schon hielt er es gar nicht mehr aus und umschloss Janis' Kopf mit beiden Händen, um seinen Mund einzunehmen, sich darin umzusehen, alle die Geheimnisse zu schmecken, die er nie würde hören können.

Und während ihre Lippen und Zungen miteinander spielten, kamen sie sich innerlich auch wieder näher. Mit einem Mal verstand er wieder, wovor Janis' diese Angst hatte, wogegen seine Mauern und die spitze Schärfe seiner Zunge ihn schützten. Während er versuchte, nicht zu denken, nur zu schmecken, nur das seidig-raue Gefühl der Zunge gegen seine Lippen und den leichten Geschmack von Janis an der Innenseite der samtenen Wangen zu genießen, kam das Verstehen wieder und mit ihm seine Liebe für den kleinen, weltverachtenden Krieger in seinen Armen.

Als sie die Gesichter langsam voneinander entfernten, hielt er Janis deswegen einen Augenblick länger. Der Junge hatte seine Hände noch immer gegen die Tür gepresst, als wollte er sich damit in der Wirklichkeit verankern, aber er schwieg, blieb still, die Lippen abwartend gegen Wange und Kinn gelehnt.

Noch einmal küssten sie sich, ließen ihre Zungenspitzen sacht gegeneinander stupsen, als ob sie sich verabschieden wollten, dann ließ er Janis los und trat einen Schritt zurück, um seine Aktenmappe aufzuheben, die er hatte fallen lassen, wann auch immer es passiert war.

Er fand seine Stimme als erster wieder und war froh darum.

"Na gut, du kannst das Wochenende bei mir bleiben." Der Junge hatte schon wieder gewonnen, so leicht, obwohl er es sich immer wieder so schwer machte.

Es blieb ruhig. Janis hatte die Einladung angenommen, die er sich doch zuvor selber ausgestellt hatte und gähnte leicht, verdeckte den Mund mit seinen Fingern, bevor er seine Sachen mit der freien Hand von der Kommode raffte und sich in seine Jackenärmel rangelte.

"Den Lipgloss kaufe ich mir auch“, flüsterte Janis noch leise, fast andächtig, dann öffneten sie die Tür und traten auf den verlassenen Flur hinaus.

Lesemodus deaktivieren (?)