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Manu und ich

Teil 3

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Als ich abends im Bett liege, denke ich immer noch an Kai. Ich kann es einfach nicht abschalten. Mein Schreibblock liegt auf dem Boden neben mir. Ich hebe ihn auf und blättere darin. Gestern Abend habe ich es geschafft, noch ein bisschen zu schreiben. Vielleicht kann ich mich ein wenig ablenken, wenn ich es noch einmal durchlese.

Benni scheint den Schlaf genauso nötig gehabt zu haben, wie ich. Während ich mich bereits anziehe, liegt er immer noch schnarchend im Bett. Unglaublich. Auf ihn warten kann ich aber nicht, weil ich ja noch ins Krankenhaus will und das möchte ich so schnell wie möglich hinter mich bringen. Immerhin ist heute Samstag und da hat man schließlich auch anderes im Sinn als nur zu arbeiten.

Ich schmiere mir ein Brot, das ich so schnell wie möglich hinunter schlinge, und dann verlasse ich die Wohnung. Mann, ist das kalt. Der Herbst hat gerade erst begonnen, aber ich laufe schon wie ein Eskimo durch die Straßen. Nicht zu fassen, der Sommer war genauso schlimm.

Ich klopfe leise an Martins Tür und öffne sie dann einen Spalt breit, um hinein sehen zu können. Er liegt auf seinem Bett und lächelt mir freundlich zu. Das zweite Bett ist immer noch unbelegt.

„Komm rein“, sagt er.

Ich schließe die Tür hinter mir, durchquere den Raum.

„Hi, wie geht´s dir?“, frage ich und setze mich auf den Stuhl neben Martins Bett.

„Schon besser. Sorry wegen gestern, ich wollte dich nicht erschrecken.. Es tut nur beim Sprechen immer so weh, und wenn ich tief Luft hole.“

„Ja, ich weiß. Ich habe gestern noch mit einer Schwester gesprochen. War dein Freund heute schon da?“

„Nee, der musste zur Schule.“

„Am Samstag?“

„Vorabi-Prüfungen. Das darf ich dann alles nachholen, aber lernen kann ich hier ja nicht wirklich.“

Martin streckt eine Hand nach seinem Nachttisch aus, verzieht aber sofort das Gesicht. „Verdammt, das ist so ätzend.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Ja, kannst du mir das Glas geben? Und diese Schachtel. Noch nicht mal das kann ich alleine“, sagt er, schluckt eine der Tabletten und trinkt ein bisschen Wasser hinterher.

„Wie oft musst du die Schmerzmittel nehmen?“

„Dreimal am Tag, wenn es nicht zwischendurch schlimmer wird. Heute Morgen hab ich sie noch nicht gebraucht, aber wenn ich jetzt mit dir rede, ist es wahrscheinlich besser.“

„Was machst du denn den ganzen Tag?“

„Nicht viel. Fernsehen, Musik hören, schlafen... Aufstehen ist ja nicht drin.“

„Und dein Freund?“, frage ich. „Ist er nicht auch oft da? Er kann dich doch ablenken.“

„Der macht mich auch schon verrückt. Ich kann wirklich nicht viel allein machen, aber wenn ich mich nur ein bisschen bewege, springt er sofort auf und will mir helfen. Der macht sich viel zu viele Sorgen.“

„Kommt mir sehr bekannt vor.“

„Eigentlich ist er gar nicht so, aber das hier scheint ihn wirklich mitzunehmen. Ich glaube, er macht sich Vorwürfe, dass er mir nicht sofort hinterher gelaufen ist. Dabei kann er überhaupt nichts dafür. Ich hätte nicht gleich so sensibel reagieren dürfen. Solche Leute muss man einfach reden lassen.“

„Ihr kanntet den Mann aber nicht, oder?“

„Nein.“

„Und wie lange musst du noch hier bleiben?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht mehr ganz so lange, aber zu Hause liege ich dann noch ein paar Wochen im Bett. Es dauert so lange bis die Rippenbrüche verheilt sind.“

„Und was ist danach?“, frage ich vorsichtig.

„Was meinst du?“

„Werdet ihr euch weiterhin in der Fußgängerzone treffen und auch mal tanzen?“

„Treffen, ja, aber was das Tanzen angeht... keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob ich das noch kann. Eigentlich sollte man sich von dieser Sache nicht abschrecken lassen, aber ich glaube, dass wir doch ein wenig vorsichtiger sein werden.“

„Ja, das kann ich verstehen.“

„Dieses Arschloch hat alles durcheinander gebracht. Ich habe keine Lust mich zu verstecken, das musste ich bisher auch nie. Wie ist es denn bei dir?“

„Ich sage es nicht jedem, aber ich streite es auch nicht ab, wenn mich jemand fragt. Bei der Arbeit weiß es keiner und ich finde auch nicht, dass die es wissen müssen. Wie das demnächst aussehen wird, werden wir sehen.“

„Ich finde es echt super, dass du den Artikel schreibst.“

„Danke. Hast du schon was von der Polizei gehört? Es wird doch bestimmt eine Verhandlung geben, oder?“

„Ja, aber soweit ich weiß, steht der Termin noch nicht fest.“

„Okay“, sage ich und stehe auf. „Ich glaube ich hab alles und du musst dich schließlich schonen.“

„Sehr witzig.“

„Also noch gute Besserung und alles Gute!“

„Danke, dir auch.“

Ich verlasse das Krankenhaus und zwar mit einem wesentlich besseren Gefühl als gestern. Benni wird sich freuen, dass ich mir nicht mehr so viele Gedanken mache. Jetzt muss ich nur noch diesen Artikel schreiben und hoffen, dass er so angenommen wird. Bin mal gespannt wie das laufen wird.

Benni ist noch beim Frühstück, als ich zu Hause ankomme.

„Wann bist du denn aufgestanden?“, fragt er mit vollem Mund.

„Auf jeden Fall früher als du“, sage ich, küsse ihn kurz und setzt mich auf seinen Schoß.

„Und wie geht es Martin?“

„Besser, aber es wird wohl noch ne Weile dauern. Sein Freund ist übrigens genauso überfürsorglich wie du.“

„Das ist ja wohl normal, wenn der andere zusammengeschlagen wird. Ich könnte auch nicht still sitzen, wenn du da liegen würdest.“

„Danke, Benni. Ich liebe dich auch.“

Tja, Kai, und ich liebe dich. Deshalb werde ich auch nicht still sitzen, sondern versuchen, dir zu helfen.

Den Block lege ich wieder auf den Boden neben mein Bett und kuschle mich dann in die dicke, weiche Bettdecke. Ich werde ihm helfen, auch wenn ich überhaupt noch nicht weiß, was eigentlich das Problem ist. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass er morgen nicht an unserem Treffpunkt sein wird, also muss ich mir was einfallen lassen. Tim wird schon wissen wo Kai wohnt.

„Hey Moritz, wie siehst du denn aus? Hast doch nicht wieder die ganze Nacht geheult, oder?“

„Danke für das Kompliment, Tim, aber nein. Ich hab die ganze Nacht überlegt, was wir mit Kai machen.“

„Gar nichts.“

„Wie jetzt?“

„Hast du ihn noch nicht gesehen? Da drüben. Er scheint sich prächtig zu amüsieren, oder nicht?“

Ich schaue in die Richtung, in die Tims Finger zeigt und verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke. Kai sitzt wie üblich an der Mauer, aber heute nicht allein, sondern mit einem blonden Jungen auf seinem Schoß. Die beiden kleben geradezu aneinander und es scheint ihnen nicht im Geringsten peinlich zu sein. Die Wut, die sich beim Zusehen in mir ansammelt, ist sogar fast noch größer als das stechende Gefühl in meiner Brust, das mich irgendwie traurig macht.

Scheinbar sieht man mir das auch an, denn Tim packt mich an den Schultern und schüttelt mich leicht. „Hey, nicht platzen, ja? Er kann machen, was er will, auch wenn dir das nicht passt.“

„Und ob mir das nicht passt“, schnaufe ich ärgerlich. „Wir machen uns Sorgen um ihn und er reißt sich einfach mal wieder irgendeinen Typen auf?“

„Bist du eifersüchtig?“, fragt Anna grinsend.

„Darum geht es doch gar nicht. Was sollte dieser melodramatische Auftritt gestern, wenn es ihm heute wieder so gut geht? Findet er das lustig?“

„Also doch eifersüchtig“, kichert Susi.

„Ich glaube er will uns und sich selbst beweisen, dass du ihm egal bist, Moritz“, sagt Tim. „Er hat immerhin einen Ruf zu verteidigen.“

„Ich dachte es wäre überflüssig das beweisen zu wollen. Ihr habt doch von Anfang an gesagt, dass er immer nur seinen Spaß will.“

„Vielleicht hat er dieses Mal unfreiwillig eine Ausnahme gemacht.“

„Hä?“, sage ich nur und spüre, wie mein Gesicht anfängt zu glühen. „Was genau willst du damit sagen?“

„Wenn er hier so ein Tam-tam veranstaltet, um zu zeigen, dass ihm deine Abweisung nichts ausmacht, glaube ich, dass es doch so ist. Wahrscheinlich war er die letzten zwei Tage deswegen auch so geknickt.“

„Ich verstehe das nicht.“

„Ich denke, dass es nicht nur verletzter Stolz ist, sondern dass du ihm vielleicht mehr bedeutest als er sich eingestehen will. Wie du weißt, hatte er immer ein Problem damit schwul zu sein, und dann kannst du dir vielleicht auch vorstellen wie es für ihn wäre, sich in einen Jungen zu verlieben.“

So langsam dämmert es mir, was Tim sagen will. Aber das kann nicht sein. Kai kann sich nicht in mich verliebt haben. Auf keinen Fall. Man muss ihn sich doch nur mal ansehen.

„Du spinnst“, sagt Anna zu Tim. „Kai und verliebt? Das geht gar nicht.“

„Warum nicht? Ich finde das ist die einzig logische Erklärung. Und so hässlich ist Moritz ja auch nicht“, sagt Tim und erntet eifersüchtige Blicke von Lippe.

„Bist du bescheuert?“, faucht Anna. „Jetzt mach Moritz doch keine falschen Hoffnungen.“

„Wenn's aber nun mal so ist?“, giftet Tim zurück.

„Es ist aber nicht so!“

„Woher willst du das denn wissen?“

„Und du?“

„Das ist mir zu blöd“, sagt Tim. „Kai kann sich genauso verlieben, wie jeder von uns, er gibt es nur nicht zu.“

„Aber doch nicht in mich“, sage ich kleinlaut.

„Warum das denn nicht?“, fragt Tim immer noch in zornigem Ton.

„Na ja, ähm... ich... ich meine...“

„Och Moritz, so kann das ja nichts werden.“

„Natürlich wird das nichts, weil Kai NICHT verliebt ist“, mischt sich Anna wieder ein.

„Dich fragt überhaupt niemand.“

„Ich kenne Kai genauso lange wie du, Tim, und ich finde, du solltest Moritz nicht in dem Glauben lassen, dass er eine Chance hat.“

„Hallo? Moritz ist zufällig anwesend“, sage ich, langsam auch genervt. „Und er wüsste gerne, was er jetzt machen soll.“

„Frag Kai“, schlägt Anna vor.

„Ja sicher“, schnauft Tim. „Als ob er darauf wahrheitsgemäß antworten würde.“

„Hast du einen besseren Vorschlag?“

„Ja. Ich denke du solltest einfach erst mal abwarten, Moritz, und beobachten wie Kai sich verhält. Diesen Blondie sehen wir wahrscheinlich nicht wieder.“

„Genau. Weil Kai mit der Liebe nämlich nichts am Hut hat.“

Mir wird das hier echt zu blöd, also stehe ich auf. Ich habe gestern ganz vergessen, einkaufen zu gehen, dann kann ich das ja jetzt machen. Alles ist besser als dieses Gezanke zwischen Tim und Anna.

Tim versucht mich davon zu überzeugen, zu bleiben und entschuldigt sich sogar, aber ich wäre sowieso lieber allein.

Im nächsten Supermarkt suche ich mir in aller Ruhe die Sachen zusammen, die ich brauche und gehe dann mit zwei Tüten beladen in den Park. Hier ist es schön still. Ich setze mich unter einen Baum und blicke auf den See. Was, wenn Kai tatsächlich etwas für mich empfindet? Vielleicht ist er gar nicht sauer, dass ich seinen Ruf gefährdet habe, sondern verletzt, weil ich ihn abgewiesen habe. Wenn ich doch nur wüsste, wer von Tim und Anna recht hat. Ich selber kann das nicht beurteilen, ich kenne Kai nicht. Ich kann nur sagen, dass der Kuss vor wenigen Tagen, genau hier im Park, das Schönste war, das ich bis jetzt erlebt habe. Mal abgesehen davon, was danach passiert ist. Und ich hätte ihn nicht abbrechen sollen, das weiß ich jetzt. Es wäre doch wahrscheinlich sowieso nichts weiter passiert, zumindest nicht im Park, in aller Öffentlichkeit. Das traue ich ihm dann doch nicht zu. Und wenn Kai woanders hätte hingehen wollen, hätte ich immer noch nein sagen können. Aber jetzt ist es zu spät. Er hat selber gesagt, dass es das erste und letzte Mal war und ich verstehe jetzt erst, was das für mich bedeutet.

Während ich so da sitze und überlege wie es weitergehen soll, merke ich nicht, dass noch jemand anderes in den Park gekommen ist und nicht weit von mir am Ufer des kleinen Sees steht. Erst als mein Blick durch Zufall zur Seite schweift, sehe ich ihn. Er sieht genauso verzweifelt und ratlos aus wie gestern in der Fußgängerzone. In mir verkrampft sich alles. Es ist schrecklich ihn so zu sehen. Vor allem, weil er eben noch so anders war. Ich möchte ihn sofort in den Arm nehmen und mich gleichzeitig lieber verstecken, um ihn beobachten zu können. Irgendwie dreht sich alles. Warum muss das so kompliziert sein? Kann Kai sich nicht mal für ein Gefühl entscheiden?

Er steht nur da und bewegt sich nicht. An was er wohl gerade denkt? An Tim? An diesen Blondie? Wo ist der eigentlich? Oder vielleicht denkt er auch an mich? Egal was es ist, ich will es wissen. Unbedingt. Ich gehe sonst irgendwann zugrunde, wenn mir nicht bald mal jemand sagt, in was ich da reingeraten bin.

Kai setzt sich jetzt auf die Wiese, starrt aber weiterhin auf den See. Er bemerkt mich nicht, obwohl ich gar nicht so weit weg sitze und den Blick nicht einmal von ihm abwenden konnte. Ich weiß immer noch nicht, ob ich zu ihm gehen oder lieber hier bleiben möchte. Wahrscheinlich würde er sowieso nicht mit mir reden wollen. Oder wäre das jetzt vielleicht doch genau der richtige Augenblick?

Kai streicht sich mit einer Hand übers Gesicht. Er weint doch nicht etwa, oder? Das kann ich mir nicht vorstellen, aber schließlich denkt er ja, dass er alleine ist und ihn niemand beobachten kann. So wie ich ihn kennengelernt habe, würde er vor den anderen nie Schwäche zeigen, aber wenn es ihm wirklich so schlecht geht, muss das eben auch mal an die Oberfläche kommen. Wer weiß wie oft er hier schon gesessen hat und wie viel er sonst immer in sich reinfrisst.

In meinem Hals scheint sich ein dicker Kloß angesammelt zu haben. Ich schlucke mehrmals, aber er geht nicht weg. Irgendwann entscheide ich mich schließlich doch dafür, zu Kai zu gehen. Mühsam rapple ich mich hoch und schwanke langsam zu der Stelle, an der Kai sitzt. Er bemerkt mich immer noch nicht. Erst als ich mich neben ihn setze, fährt er erschrocken zusammen und steht ruckartig auf. Seine Augen starren mich erschrocken, traurig und wütend an. Sie sind ganz rot.

Ich sage nichts, weil ich nicht weiß was. Ihm scheint es genauso zu gehen, trotzdem ist er derjenige, der das Schweigen bricht.

„Was willst du?“ Seine Stimme zittert und seine Augen sind immer noch weit aufgerissen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er Angst vor mir hat.

„Das gleiche wie gestern.“

„Du bist nicht mein Freund.“

Warum sagt er das immer wieder?

„Das sehe ich aber anders und deshalb möchte ich dir helfen. Es ist offensichtlich, dass es dir nicht gut geht, auch wenn du das nicht zugibst.“

„Das kann dir doch egal sein.“

„Ist es aber nicht. Du verhältst dich so eigenartig seit... na ja... seit... ich den Kuss abgebrochen habe. Wenn es das ist, musst du mit mir reden.“ Ich bin jetzt auch wieder aufgestanden und sehe Kai direkt an. Er sieht aus als wolle er sich umdrehen und so viel Anstand wie nur möglich zwischen uns bringen. Einen größeren Unterschied zu dem Kai, den ich vor wenigen Tagen erst kennengelernt habe, kann es nicht geben. Als wäre es nicht derselbe Mensch.

Gerade jetzt scheint er mitten in einem Kampf mit sich selbst zu sein. Der eine Teil möchte sich endlich jemandem anvertrauen, doch der andere ist zu stolz, um das Geheimnis zu lüften. Ich bin so irritiert, dass mir auch nichts mehr einfällt, was ich ihm sagen könnte. Aber ich will ihm unbedingt helfen, also gehe ich auf ihn zu und lege zögernd beide Arme um ihn. Er wehrt sich nicht, bewegt sich keinen Millimeter. Sein Atem streift meinen Nacken in kurzen Abständen und sein Herz schlägt laut und schnell. Ausgerechnet in dieser Situation erinnere ich mich an Tims Worte und frage mich, ob er vielleicht wirklich recht hatte. Es würde zumindest alles erklären.

Ich versuche, diese Gedanken zu verdrängen, um mich auf Kai konzentrieren zu können, aber als ich seine Hände an meinem Rücken spüre, merke ich, dass ich es nicht kann. Seine Umarmung ist fester als meine zuvor, sodass wir jetzt so dicht beieinander stehen, wie es nur geht. Mir wird auf einmal schrecklich kalt, obwohl oder vielleicht weil Kais Körper so warm ist. Ich schließe meine Augen und genieße dieses Gefühl. Eine halbe Ewigkeit stehen wir bewegungslos da und dann, plötzlich, küsst er mich. Viel vorsichtiger und weicher als das letzte Mal. Und natürlich küsse ich ihn zurück. Dieses Mal werde ich ihn bestimmt nicht wegstoßen, denn offensichtlich geht es ihm heute nicht darum, einen weiteren Namen auf seine Liste zu schreiben.

Ich bin schon fast so weit zu denken, dass dieses ganze Drama endlich ein Ende hat, doch dann schiebt er mich von sich und sagt leise: „Ich kann das nicht.“ Er dreht sich um und verschwindet. Heute bin ich es also, der verdattert zurückgelassen wird.

Die Nacht war der absolute Horror. Hab die ganze Zeit nur geheult, weil ich dieses Chaos in meinem Kopf einfach nicht einordnen kann. Langsam glaube ich, dass ich daran zerbreche. Ich meine, wer soll denn da noch durchsteigen? Immer wenn ich denke, Kai verstehen zu können, kommt er wieder mit etwas anderem an. Mal küsst er mich, dann hasst er mich, dann küsst er mich wieder und verschwindet daraufhin. Was auch immer sein Problem ist, es ist auch meins. Jede Laune von ihm muss ich auch durchmachen. Aber wahrscheinlich ist das einfach so, wenn man verliebt ist. Trotzdem finde ich, dass er auch mal an mich denken könnte. Denkt er, dass es mir Spaß macht, in einem Moment von ihm geküsst und im nächsten wieder angepflaumt zu werden? Mag ja sein, dass er es nicht leicht hat, aber muss er andere da mit reinziehen?

Wenn ich heute wieder in die Stadt fahre, kann ich mir wahrscheinlich wieder das Gezanke von Anna und Tim anhören. Aber wer von den beiden recht hatte, weiß ich immer noch nicht. Gestern dachte ich für einen wunderschönen Augenblick, dass Tims Vermutung wahr sein könnte, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Überhaupt bin ich gerade so durch den Wind, dass ich nichts auf die Reihe kriege. Meine Lieblingskaffeetasse musste leider dran glauben, nachdem ich mich an ihrem Inhalt verbrannt hatte. Jetzt liegen die Scherben im Mülleimer und ich bin dabei, die nasse Pfütze vom Boden aufzuwischen. Gut, dass meine Eltern nicht da sind. Schon merkwürdig, dass das alles ausgerechnet dann passiert, als sie sich entschieden hatten, mich allein zu lassen. Ob es sonst alles anders gelaufen wäre?

Hoffentlich ist Kai heute da. Ich will eine Erklärung. Aber ich glaube eigentlich nicht wirklich daran, dass er auftaucht. Wahrscheinlich kommt er erst dann wieder, wenn er sich eine neue Taktik überlegt hat. Wie lange er wohl noch allen etwas vor machen will?

Ich gehe ganz langsam auf die Mauer und die davor hockenden Menschen zu, als ob ich dadurch verhindern könnte, dort anzukommen. Ich sehe in jedes Gesicht, was eigentlich überflüssig ist, denn ich weiß, dass er nicht da ist. Alle sind still und ich frage mich warum. Von dem Vorfall gestern können sie unmöglich schon gehört haben.

„Hey“, sage ich und setze mich zwischen Tim und Susi. „Ist ja ne tolle Stimmung hier.“

„Wir hatten gestern eine mehr oder weniger kleine Auseinandersetzung mit Kai. Oder besser gesagt Tim“, sagt Anna und erst jetzt fällt mir die Schwellung an Tims linker Wange auf.

„Das war Kai?“, frage ich entsetzt.

„Allerdings. Kurz nachdem du gegangen bist, wollten wir mit ihm reden, aber er hat uns überhaupt nicht beachtet. Hat nur Augen für diesen blonden Kerl gehabt, also haben wir den erst mal weggeschickt.“

„Und er ist einfach so gegangen?“

„Ist ihm wahrscheinlich zu ungemütlich geworden“, schaltet Lippe sich ein. „Wer will schon gerne hören, dass man nur ne Bettgeschichte ist.“

„Das habt ihr ihm gesagt?“

„Ja, und das hat Kai gar nicht gepasst“, sagt Anna. „Er hat einen fürchterlich übertriebenen Aufstand gemacht, alles und jeden beleidigt und mehrmals gesagt, dass er so etwas von uns nie erwartet hätte. Als Tim ihn dann auch noch nach dir gefragt hat, hat Kai zugeschlagen und ist verschwunden.“

„Und dann ist er in den Park gegangen“, murmle ich leise vor mich hin.

„Was? Woher weißt du das?“, fragt Tim.

Ich erzähle ihnen die ganze Geschichte und werde daraufhin von acht großen Augen angestarrt.

„Er hat dich schon wieder geküsst?“, fragt Anna.

„Siehst du, ich hatte recht“, sagt Tim strahlend, aber ich kann seine Euphorie irgendwie gar nicht teilen. Immerhin weiß ich jetzt, warum Kai so geknickt war und sogar geweint hat. Dieses Detail habe ich den anderen allerdings nicht erzählt.

„Warum hast du ihn denn dann gehen lassen?“, fragt Susi.

„Was hätte ich denn machen sollen? Er war total durch den Wind und ich kann auch nicht sagen, dass ich voll und ganz bei mir war.“ Dann kommt mir auf einmal ein ganz anderer Gedanke. „Was meint ihr hat er jetzt vor? Er wird sich doch nichts antun, oder?“ Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Er war so durcheinander. Hätte ich ihn vielleicht wirklich nicht gehen lassen dürfen?

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagt Tim. „Es ist mit Sicherheit nicht einfach für ihn, aber irgendwann wird er sich auch damit abfinden.“

„Du glaubst also wirklich, dass... er...“

„Dass er sich in dich verliebt hat?“

Ich nicke.

„Ja, das glaube ich.“

Er hat es zwar schon öfter gesagt, aber dieses Mal ist es irgendwie anders. Es ist fast, als käme es jetzt erst bei mir an. Und egal wie ernst und verzwickt die Situation gerade ist, ich kann nicht anders als zu grinsen. Das bringt Tim wiederum zum Lachen und auf einmal lachen alle.

„Wurde aber auch Zeit“, kichert Tim. „Jetzt müssen wir also nur noch Kai überzeugen.“

„Wie süß“, piepst Susi und grinst wie ein Honigkuchenpferd.

Anscheinend bin ich der einzige, der bei all diesem Lachen und Fröhlichsein noch an Kai denkt. Ich würde alles, was ich habe darauf verwetten, dass er gerade nicht annähernd so glücklich ist und das bereitet mir wieder Magenschmerzen. Wenn ich doch nur irgendwas tun könnte, das ihm hilft, aber solange er mit sich selbst nicht klar kommt, kann ich wohl nicht viel ausrichten.

„Hast du denn jetzt alles für deinen Artikel zusammen?“

„Nicht ganz. Ich muss nochmal mit der Polizei sprechen, um nach dem Gerichtstermin und der Aussage des Angreifers zu fragen. Mit Martin hab ich aber alles so weit besprochen.“

„Du achtest doch darauf, dass du ein wenig Abstand zu dem Ganze behältst, oder?“

Ich seufze nur und schenke mir eine Tasse Kaffee ein.

„Ich wollt's ja nur noch mal erwähnt haben.“

Tatsächlich hat er das Thema danach nicht noch mal angesprochen, sodass ich in Ruhe meine Arbeit machen konnte. Die Gedanken, die er sich bestimmt trotzdem dabei machte, konnte ich nur erahnen, aber ich musste mich auf Wichtigeres konzentrieren. Es ist nämlich wirklich nicht so einfach, den ganzen Vorfall sachlich wiederzugeben. Ich hätte nur zu gerne meinen Gefühlen freien Lauf gelassen, aber da ich für eine sehr seriöse Zeitung arbeite, ist das kaum möglich.

Jetzt gerade sitze ich mal wieder am Küchentisch, Unmengen von Zetteln vor mir ausgebreitet und bin kurz vorm Verrücktwerden.

„Hey“, sagt Benni und stellt mir ein Glas Wasser vor die Nase. „Du wirst austrocknen, wenn du weiter so viel schwitzt. Trinken nicht vergessen.“

„Haha“, sage ich nur, greife aber nach dem Glas.

„Mach doch mal ne Pause.“

„Nein, ich bin noch nicht fertig, dabei ist morgen die Dead-Line.“

Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich. Zuerst will ich ihn wegstoßen und weiterschreiben, aber dann lasse ich den Stift fallen und ziehe ihn zu mir. Seine Hände streichen ganz zart über meinen Nacken und durch meine Haare. Er hört überhaupt nicht mehr auf, also muss ich ihn doch irgendwann von mir schieben. Mehr oder weniger freiwillig.

„Ich muss jetzt weitermachen“, sage ich außer Atem.

„Okay“, flüstert er grinsend und verschwindet im Badezimmer.

Nur mit viel Mühe gelingt es mir, mich wieder auf die Zettel vor mir zu konzentrieren, aber immerhin hat sich der ganze Stress ein wenig aufgelöst. Ich schnappe mir wieder meinen Stift und schreibe einfach drauf los.

Mit schwitzigen Händen, einem Herzschlag bis zum Hals und einem dicken, fetten Kloß in der Kehle gebe ich den fertigen Artikel am nächsten Morgen bei dem Redaktionsleiter ab. Er ließt ihn durch und lächelt.

„Gut. Das kann in den Druck“, sagt er und klopft mir auf die Schulter. „Morgen kann ihn dann jeder in der Zeitung lesen.“

„Wollen Sie nichts verändern?“, frage ich verwundert, denn ich war mir absolut sicher, dass ich doch zu deutlich einen gewissen Standpunkt bezogen habe.

„Nein, mir gefällt Ihre Art zu schreiben. Ein wenig Kritik kann nie schaden, außerdem bin ich ganz Ihrer Meinung.“

„Äh, danke.“

„Sie können heute frei nehmen. Haben doch bestimmt lange gearbeitet gestern, oder?“

„Ja, das stimmt.“

„Also dann bis morgen.“

Verblüfft und auch stolz verlasse ich die Redaktion wieder. Es hat ihm tatsächlich gefallen! Ich kann's nicht glauben! Das muss ich sofort Benni erzählen. Gut, dass er auch gerade zwei Tage Urlaub hat. Das passt ja. Oh man! Ich könnte die ganze Zeit grinsen.

Zuhause angekommen öffne ich ungeduldig die Tür und dann kommt auch schon mein Freund auf mich zu.

„Was ist denn jetzt los? Musst du nicht arbeiten?“

„Nein, heute nicht. Ich hab frei bekommen“, sage ich grinsend und ziehe mir so schnell es geht die Schuhe aus.

„War dein Artikel so schlecht?“

„Na vielen Dank auch.“

„Was denn dann? Jetzt sag schon!“

Ich schlinge erst mal meine Arme um seinen Hals und küsse ihn. „Der Redaktionsleiter fand meinen Bericht gut. Er will ihn genauso drucken lassen.“

Jetzt muss Benni auch grinsen. „So so, mein Manu wird also ein richtiger Star-Journalist, was?“

„Na ja, vielleicht in ein paar Jahren?“

„Und hat er irgendwie komisch reagiert? Ich meine...“

„Ob er jetzt denkt, dass ich schwul bin?“

Er nickt.

„Keine Ahnung. Wenn ja, dann stört es ihn wohl nicht besonders. Er hat jedenfalls nichts dazu gesagt.“

„Siehst du, alle Sorgen umsonst. Hast du morgen auch frei?“

„Nein.“

„Schade“, sagt er und küsst mich wieder. Langsam bewegen wir uns auf das Sofa zu. Ich setzte mich und ziehe ihn auf meinen Schoß.

„Heute darfst du mich wieder ablenken“, flüstere ich, während er meinen Hals küsst. Ich schließe meine Augen und lasse mich fallen.

Fallen lassen. Das würde ich jetzt auch gerne. Am besten gleich hier und jetzt. Das Wasser des Sees ist bestimmt noch warm von der Sonne, die heute Mittag die ganze Zeit geschienen hat. Warum ich hier her gekommen bin, weiß ich auch nicht genau. Ich bin einfach losgegangen und hier stehen geblieben. Vielleicht habe ich gehofft, mal wieder Kai zu begegnen. Irgendwie verbinde ich diesen Park mit ihm. Na ja, kein Wunder. Immerhin hat er mich hier schon zweimal geküsst. Aber heute ist er nicht da. Er hat sich gestern nicht bei der Gruppe blicken lassen, niemand hat ihn gesehen. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich wieder ein Stück mit meiner Geschichte weitergekommen bin. Ich habe mich einfach gezwungen, um mich abzulenken und es hat sogar funktioniert, genau wie früher. Wahrscheinlich muss man wirklich abschalten wollen, denn wenn man eigentlich lieber nachdenken und sich schlecht fühlen will, kann man sich auch nicht konzentrieren.

Tim und die anderen fangen langsam auch an sich Gedanken zu machen. Angeblich hat Kai sich sonst immer ganz schnell wieder im Griff gehabt, aber jetzt müsste er damit rechnen, mich jeden Tag zu sehen. Deshalb kommt er nicht mehr. Das ist doch alles verflucht.

Aber das Schlimmste ist, dass meine Eltern heute Abend wiederkommen. Waren das wirklich schon zwei Wochen? Ich finde, die könnten noch mal so lange wegbleiben. Wie soll das denn erst werden, wenn sie wieder da sind? Die finden das bestimmt nicht so toll, wenn ich mich den ganzen Tag rumtreibe und nur schlechte Laune hab. Und was soll ich denen erzählen, wenn sie fragen, was ich in den zwei Woche gemacht habe? Als ob mein Leben grad nicht schon kompliziert genug wäre.

„Kopf hoch“, sagt Tim wenige Minuten später. Ich bin aus dem Park direkt in die Fußgängerzone gegangen.

„Die köpfen mich, wenn sie irgendwas davon rauskriegen.“

„Dann sag ihnen halt nichts“, meint Lippe und zuckt mit den Schultern.

„Als ob ich das vorgehabt hätte. Sehr witzig.“

Die verstehen mich alle nicht. Keiner von denen hat so konservative, verklemmte Eltern. Und von ihnen ist auch keiner in Kai verliebt, zumindest weiß ich davon nichts.

„War er heute auch noch nicht da?“, frage ich mit einem kleinen Fünkchen Hoffnung.

Keiner sagt was, aber alle schütteln den Kopf und sehen mich seltsam mitleidig an. Das kann ich jetzt genauso wenig gebrauchen wie blöde Witze.

Wenn ich doch nur wüsste, was Kai von mir erwartet. Will er, dass ich ihn einfach nur in Ruhe lasse oder hofft er insgeheim darauf, dass ich ihn suche und... Ja, was und? Ich glaube, meine Fantasie geht gerade mit mir durch. Wahrscheinlich will er einfach nur, dass ich diese Gruppe wieder verlasse und nie wieder hier auftauche. Dann könnte er schön so tun, als hätte es mich nie gegeben und alles verleugnen, was gewesen ist. Zu schade nur, dass die anderen alles mitbekommen haben.

„Du kannst jetzt überhaupt nichts tun“, sagt Tim. „Kai taucht schon wieder auf. Ich weiß, dass ich dir das schon tausend mal gesagt hab, und dass es dir wahrscheinlich zu den Ohren raushängt, aber es ist so.“

„Und wie lange wird das wohl noch dauern?“

„Keine Ahnung. Aber ich glaube nicht, dass er morgen schon wieder hier sein wird.“

Ich nicke nur und stehe auf.

„Wo willst du hin?“, fragt Anna.

„Nach Hause. Ich muss ein bisschen aufräumen, bevor meine Eltern wiederkommen.“

Das tue ich dann auch, allerdings ist gar nicht so wahnsinnig viel zu tun. Könnte daran liegen, dass ich eben keine wilden Parties gefeiert habe. Und Fremde waren auch nicht im Haus. Bin ich nicht ein vorbildliches Kind? Leider hätte ich einen ganz bestimmten Fremden gerne im Haus gehabt. Was dann wohl geschehen wäre? Ich denke lieber nicht zu viel darüber nach, sonst finden meine Eltern anstatt ihres Sohnes nur ein kleines Häufchen Elend vor.

Nachdem ich mich ausgiebig mit den Wollmäusen und dem dreckigen Geschirr beschäftigt habe, werden noch schnell alle Handtücher in die Waschmaschine gestopft. Es gibt nichts, das meine Mutter mehr hasst als muffige Handtücher und ich will mich ja nicht gleich wieder unbeliebt machen.

Insgesamt war ich zwei Stunden beschäftigt und möchte jetzt nur noch unter die Dusche. Ich bilde mir nämlich ein, dass ich schlimmer rieche als die Handtücher vor dem Schleudergang und das soll schon was heißen. Das warme Wasser tut sehr gut, man kann dabei richtig entspannen. Im wahrsten Sinne des Wortes den ganzen Dreck wegspülen. Schade nur, dass sich nicht alles wegwischen lässt so wie der Staub und Schmutz. Was Kai wohl gerade macht? Womit beschäftigt er sich den ganzen Tag? Ach Scheiße! Es gibt wirklich nicht eine Minute, in der ich nicht an ihn denke. Das ist zum Verrücktwerden. Irgendjemand muss etwas unternehmen. Entweder er oder ich.

Das Klacken der Haustür jagt mir einen riesen Schreck ein. Ich bin es einfach nicht mehr gewohnt, dass sich noch jemand im Haus aufhält und Geräusche macht.

„Moritz?“ Das ist meine Mutter.

„Ich komme gleich“, rufe ich. „Bin noch unter der Dusche.“

Na super! Ruhe, Stille, Einsamkeit ade. Ich trockne mich schnell ab, flitze in mein Zimmer und ziehe mich an. Einmal tief durchatmen, Lächeln anknipsen und dann raus zu meinen Eltern. Wenn ich ehrlich bin, würde ich sie im Moment eher zu der Kategorie „Fremde“ zählen, als Kai. Und so sollte das normalerweise nicht sein.

Ich war jetzt zwei Tage nicht in der Stadt. Einerseits wusste ich nicht, was ich meinen Eltern erzählen soll und andererseits war es für mich klar, dass ich Kai ohnehin nicht sehen würde. Im Moment kann ich gar nichts tun, da macht es keinen Unterschied wo ich bin.

Heute lasse ich mich allerdings mal wieder in der Fußgängerzone sehen. Meine anderen Freunde vermisse ich nämlich auch. Ist ja nicht so, als wäre ich nur auf Kai fixiert.

An dem üblichen Treffpunkt ist allerdings niemand. Ich frage mich sofort, ob in den letzten Tagen vielleicht irgendwas passiert ist, beschließe dann aber erstmal in den Park zu gehen, bevor ich mich völlig verrückt mache. Und ich hatte recht. Da sitzen sie alle. Susi und Anna winken mir schon zu. Tim grinst.

„Hey, dein Kopf ist ja noch dran.“

„Ja.“

„Und? Wie geht's dir?“, fragt Susi.

„Mal so, mal so. Meine Eltern nerven mich schon wieder und Kai geht mir nicht aus dem Kopf. Ihr habt nicht zufällig...?“

„Nee, leider nicht“, sagt Tim und schüttelt den Kopf. „Er ist vollkommen untergetaucht.“

Was hatte ich auch anderes erwartet?

„Ist trotzdem schön mal wieder rauszukommen“, stelle ich fest und lege mich auf die Wiese. Ich versuche den Gedanken zu ignorieren, dass Kai sich heute nicht neben mich legen wird.

„Wow, weißt du was?“, sagt Tim und stupst mir in die Seite. „Das ist das Positivste, das ich seit Langem von dir gehört habe.“

„Und wenn schon. Das bedeutet nichts.“

„Doch, ich glaube schon. Und das ist genau die richtige Einstellung.“

Ich antworte nicht, konzentriere mich lieber darauf, nichts zu denken, um mal ein wenig Ruhe zu haben. Ist allerdings alles andere als leicht. Es ist nunmal so, dass man immer an das denkt, an das man am wenigsten denken möchte. Der Ort macht es auch nicht leichter.

„Ähm... Moritz?“, höre ich Lippe flüstern.

„Was?“

„Auch wenn du es nicht glaubst“, das ist Annas Stimme, „Kai kommt.“

Ich schrecke sofort hoch und sehe in die Richtung, in die im Moment alle Blicke starren. Und da ist er tatsächlich. Er kommt auf uns zu und zwar ziemlich schnell. Es sieht so aus als hätte er ein bestimmtes Anliegen. Vielleicht will er sich bei Tim entschuldigen? Nee, eher nicht. Ich glaube er sieht mich an.

Ein paar Meter von uns entfernt, bleibt er stehen und nun ist es eindeutig, dass sein Blick mir gilt. „Ich muss mit dir reden.“

„Okay“, sage ich und stehe auf. Er geht voran und bleibt erst wieder stehen, als wir uns außerhalb der Hörweite befinden.

„Ich gehe davon aus, dass du den anderen erzählt hast, was neulich war?“

„Äh... ja, aber...“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich hab nichts anderes erwartet.“

Reizend!

„Warum warst du so lange nicht da?“, frage ich aus unerfindlichen Gründen. Als wüsste ich das nicht...

„Ich hab nachgedacht und überlegt wie ich es dir sagen soll.“

„Was sagen?“

„Du sollst nicht glauben, dass es irgendwas bedeutet hat. Ich war nicht ganz so gut drauf, was dir Tim wahrscheinlich ebenfalls erzählt hat. Es war nur... deine Umarmung hat mich überrascht und zugegebenermaßen hat es in dem Moment gut getan und dann hab ich nicht mehr nachgedacht. Ich wollte...“

„Du hast mich geküsst.“

„Ja, ich weiß, aber...“

„Und es war nicht so wie beim letzten Mal, als du mich nur ins Bett kriegen wolltest.“

„Nein, so war es nicht, aber es hatte trotzdem nichts zu bedeuten. Es war mehr so eine Art Reflex.“

„Ja, klar!“, schnaufe ich. „Aus Reflex küsst man aber nicht SO. Willst du mir etwa sagen, dass es egal gewesen wäre, wer dich umarmt? Hättest du jeden anderen genauso geküsst?“

Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Sein erschrockener Blick richtet sich auf den Boden, fast als würde da die Antwort liegen.

„Nein, natürlich nicht“, sagt er.

„Was soll das Ganze hier? Was willst du mir wirklich sagen? Wenn du willst, sage ich es auch nicht den anderen.“

Auf einmal ist er wie versteinert. Er bewegt sich nicht mehr und spricht nicht. Ich lasse ihm Zeit zu überlegen, denn anscheinend habe ich seine ganze Vorbereitung durcheinander gebracht.

Dann sieht er mich wieder an. „Wenn du denkst, dass ich etwas für dich empfinde, muss ich dich leider enttäuschen. Der Kuss hatte nichts zu bedeuten, beide nicht. Egal, was du dir eingeredet hast, es stimmt nicht. Du kannst Tim ausrichten, dass es mir leid tut, und dass ich ihm das auch irgendwann selber sagen werde, aber ich denke, dass es für uns beide besser ist, wenn wir uns nicht jeden Tag über den Weg laufen.“

„Ich glaube dir nicht.“

„Das hab ich schon gemerkt, aber es ändert nichts“, sagt er, dreht mir den Rücken zu und geht.

„Ich war dabei, als du mich geküsst hast, schon vergessen? Du kannst mir nichts vormachen.“

Er reagiert nicht. Lässt mich einfach stehen. Der kann doch jetzt nicht abhauen! Es ist ja wohl klar, dass er selber nicht glaubt, was er gerade gesagt hat. Warum erzählt er mir so einen Schwachsinn? Warum kann er nicht sagen wie es wirklich ist? Das ist doch bescheuert! Ich lasse mir das jedenfalls nicht gefallen, also laufe ich ihm nach und stelle mich ihm in den Weg.

„Warte! Ich liebe dich, Kai! Ich weiß nicht, was dein Problem ist, aber es ist sicher nicht der Weltuntergang. Auch wenn du das immer abstreitest, du hast Freunde und sie alle wollen dir nur helfen.“

„Du hast keine Ahnung“, sagt er leise.

„Ja, stimmt, aber nur, weil du nicht mit mir redest.“

„Ich will nicht darüber reden! Ich will nur, dass ihr mich in Ruhe lasst!“

„Das haben wir ja auch. Aber jetzt will ich wissen, was mit dir los ist. Ist es meinetwegen? Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich schuld bin. Ich hab dir neulich schon gesagt, dass du in dem Fall mit mir reden musst.“

„Ich muss gar nichts. Und es ist nicht dein Schuld, zufrieden? Du kannst dir ruhig einreden, dass du in mich verliebt bist, aber...“

„ICH rede mir überhaupt nichts ein. Das bist du! Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?“

Auf einmal packt er mich an den Oberarmen und sieht mich verzweifelt an.

„Ich kann das nicht, Moritz. Das hab ich dir schon mal gesagt. Akzeptier das einfach.“

Dann lässt er mich wieder los und verschwindet. Dieses Mal laufe ich ihm nicht hinterher. Ich weiß, dass das nichts bringt. Er hat mich noch nie Moritz genannt, das sagt doch alles, oder?

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