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Kartenhäuser

Teil 8

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Inhaltsverzeichnis

Gefühle

Die Stimmung war merkwürdig, als Alex wiederkam. Er schaute kurz ins Wohnzimmer und murmelte nur ein leises „Hey“, als er Chris auf dem Sofa sitzen sah. Dann verschwand er in seinem Zimmer und es war für eine ganze Weile still in der Wohnung. Irgendwann war leise Musik zu hören und obwohl Chris immer noch sauer war, mischte sich jetzt ein schlechtes Gewissen dazwischen. Alex hatte sich seit Chris dort wohnte noch nie in sein Zimmer zurückgezogen und Chris hatte das Gefühl, dass es dieses Mal an ihm war, auf Alex zuzugehen. Er konnte ihn auch verstehen, sogar sehr viel besser, als er es sich selber meistens eigestehen wollte. Und er wollte auf keinen Fall, dass etwas zwischen ihnen stand, wenn er schließlich ausziehen würde. Alex bedeutete ihm einfach viel zu viel, als dass er ihn verletzt und enttäuscht zurücklassen könnte.

Er zögerte noch ein wenig, stand dann aber auf und klopfte leise an Alex` Tür. Er wünschte sich fast, dass Alex es nicht gehört hatte, aber da öffnete sich die Tür auch schon und sie sahen sich für einen kurzen Augenblick nur schweigend an.

Chris senkte den Blick zuerst. „Es tut mir leid, Alex“, sagte er und merkte im selben Moment, dass es tatsächlich so war. Er hatte sich nie viel Mühe gegeben, Alex` Gefühle wirklich zu verstehen. Eigentlich hatte er nur auf sie geachtet, wenn sie etwas mit ihm selber zu tun hatten. Und selbst dann konnte er nicht damit umgehen. Alex` Sorge war ihm immer nur lästig gewesen, aber gleichzeitig hatte er sie genutzt, um sich trösten zu lassen. Er vertraute einfach viel zu sehr darauf, einen guten Freund an der Seite zu haben. Aber er hatte nie darüber nachgedacht, dass Alex den Trost und einen Freund genauso nötig gehabt hätte. Hatten sie nicht beide den gleichen Scheiß hinter sich?

„Was tut dir leid?“

„Dass ich immer so egoistisch bin. Ich hab es so aussehen lassen als wäre deine Freundschaft selbstverständlich für mich, weil ich dich gebraucht habe. Aber das ist nicht so. Du bist mir wichtig, und das nicht nur, weil du der einzige warst, der mir wirklich geholfen hat. Es tut mir leid, dass ich alles so kompliziert mache, und dass du dir immer Sorgen machen musst, und dass ich dann deswegen auch noch sauer auf dich war, und dass ...“

„Hey, das reicht“, sagte Alex und legte beide Hände an Chris` Gesicht. „Ich bin dir nicht böse. Hab ich nicht gesagt, dass ich dir sage, wenn es mir schlecht geht?“

„Das hab ich noch nie geglaubt.“

„Dann solltest du langsam mal damit anfangen.“

Zu spät, dachte Chris. Er hatte sich immerhin bereits für einen anderen Weg entschieden, um sicher zu gehen, dass Alex auch sein eigenes Leben weiterleben konnte.

Aber bevor Chris weiter darüber nachdenken konnte, veränderte sich etwas. Etwas in der Luft, in Alex` Blick und auch in Chris selbst. Es ... es war so etwas wie ein schwaches Knistern. Alex sah ihn auf einmal so anders an und Chris spürte wie sein Körper darauf reagierte. Alles schien plötzlich so viel langsamer zu werden. Bis auf sein Herz. Das schlug schneller. Und kräftiger. Ihre Gesichter näherten sich einander an, doch dann verstand Chris, was all das zu bedeuten hatte. Und was er fast getan hätte. Er machte einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken an die Wand im Flur. Alex blieb in der Tür stehen und ließ seine Arme fallen. In beiden Gesichtern waren Schock und Bedauern zu sehen. Wenn auch zwei unterschiedliche Arten von Bedauern.

„Jetzt geht es mir nicht besonders gut“, murmelte Alex.

„Und genau deshalb geht es nicht mehr“, entgegnete Chris, worauf Alex ihn beinahe ängstlich ansah. Er ahnte es also schon.

„Was geht nicht mehr?“

„Wir können nicht länger zusammen wohnen. Das ist nicht gut. Du brauchst Abstand von mir und ich brauche Abstand von der ganzen Stadt.“

„Du willst die Stadt verlassen?“

„Ja.“

„Wie lange überlegst du das schon?“, fragte Alex skeptisch.

„Seit ein paar Tagen. Aber ich denke, dass es von Anfang an darauf hinauslaufen musste. Ich kann hier nicht bleiben.“

„Aber wie soll das denn gehen? Wo willst du wohnen und wovon willst du leben? Doch nicht etwa ...“

„Nein, natürlich nicht. Ich weiß es noch nicht. Eigentlich wollte ich dir noch nichts sagen, weil ich noch gar keinen Plan habe.“

„Du musst nicht gehen“, sagte Alex, doch das Flehen in seinen Augen verriet, was er eigentlich sagen wollte. Ich will nicht, dass du gehst.

„Doch, ich muss. Ich will niemanden mehr ausnutzen müssen und ich will ein ganz neues Leben anfangen. Das geht hier nicht. Hier erinnert mich alles an irgendetwas. Und das meiste sind keine schönen Erinnerungen.“

„Ich brauche keinen Abstand von dir und das will ich auch nicht.“

„Eben.“

„Das gerade ... sowas kommt nicht mehr vor. Deshalb musst du nicht gehen“, versuchte Alex verzweifelt, Chris zu überzeugen.

„Das ist ja nicht der einzige Grund.“

„Du kannst doch auch hier ganz neu anfangen. Stell dich deinen Erinnerungen und laufe nicht vor ihnen weg.“

Chris seufzte. Es fiel ihm schwer, dem zu widerstehen, was Alex sagte. Aber er wusste auch, dass es nur leere Worte waren. Nur der Versuch, ihn zum Bleiben zu überreden. Letztendlich würde es ihnen beiden besser gehen, wenn sie ungebunden waren und nur auf sich selbst achten mussten. Alex könnte auch endlich mit seiner Vergangenheit Schluss machen, wenn das letzte Bindeglied aus seinem Leben verschwinden würde. Chris.

„Alex, du kannst mich nicht überreden. Ich werde gehen, aber das wird noch eine Weile dauern. Wenn ich schon neu anfangen will, dann auch richtig und nicht so Hals über Kopf. Außerdem muss ich den Prozess noch abwarten.“

Alex antwortete nicht. Er überlegte krampfhaft, was er in der verbleibenden Zeit wohl tun oder sagen könnte, um Chris am Gehen zu hindern. Aber ihm fiel nichts ein. Zumindest nichts, das er mit gutem Gewissen tun könnte. Und so weit, dass er Chris verletzen könnte, um ihn zum Bleiben zu überreden war er noch lange nicht.

„Es tut mir wirklich leid, Alex. Ich weiß, dass ich alles auf den Kopf gestellt habe und dich damit allein lasse, aber ich kann das hier nicht mehr. Wir müssen einfach selber mit unserem Kram fertig werden, anstatt uns noch gegenseitig zu belasten.“

„Jetzt hör doch mal auf mit dem Schwachsinn! Willst du behaupten, dass es dir nicht geholfen hat, dass ich bei dir war?“

„Nein, aber ...“

„Und du brauchst immer noch Hilfe. Denk doch mal an heute Nachmittag. Es ist nie gut, allein zu sein. Und auf mich musst du wirklich keine Rücksicht nehmen.“

„Je öfter du das sagst, desto mehr glaube ich, dass es doch so ist.“

Alex ließ sich am Türrahmen hinunterrutschen und vergrub seine Hände in seinen Haaren. Es war ihm anzusehen, dass er verzweifelt war. Chris tat es leid, ihn so zu sehen, aber er fühlte sich dadurch nur noch mehr bestätigt. Er konnte Alex nicht weiter Hoffnungen machen, indem er blieb.

„Und wenn ich dich bitte, hier zu bleiben?“, fragte Alex, ohne aufzusehen.

Chris sah schuldbewusst auf seine Füße. „Das ändert auch nichts.“

Eine Stille breitete sich aus, die keiner von beiden ertragen konnte, aber je länger sie andauerte, desto schwieriger wurde es auch, sie zu brechen. Chris stand weiterhin an die Wand im Flur gelehnt und Alex saß auf dem Boden, sprichwörtlich zwischen Tür und Angel. Er traute sich nicht vor und nicht zurück.

„Ich mache einen Tee. Willst du auch was?“, fragte Chris schließlich.

Alex schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Okay.“ Er löste sich von der Wand und ging in die Küche.

Den restlichen Abend verbrachten sie schweigend im Wohnzimmer, während im Hintergrund beinahe unbeachtet der Fernseher lief. Alex saß auf dem Sofa, Chris auf dem Sessel. Zum ersten Mal saßen sie nicht nebeneinander.

Sobald der Film zu Ende war, sagten sie sich gute Nacht und verschwanden jeder in seinem Zimmer. Chris schloss die Tür hinter sich und holte tief Luft. So unwohl hatte er sich noch nie in Alex` Gegenwart gefühlt und es kam ihm falsch vor. Er brauchte etwas Ablenkung, sonst würde er niemals einschlafen können. Die Tür des Kleiderschranks stand einladend einen Spalt breit offen. Chris öffnete sie und griff nach der verknoteten Tüte, die einen Großteil der schmerzhaften Erinnerungen enthielt, von denen er Alex erzählt hatte. Es war an der Zeit, diese Erinnerungen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen und sie dann für eine lange Zeit wegzuschließen.

Er setzte sich auf den Boden und nahm Pauls Sachen eine nach der anderen aus der Tüte. Obenauf lagen ein paar T-Shirts und eine dünne Jacke, dann waren da noch Pauls Wecker, ein paar Badutensilien, sein Portemonnaie und ein gerahmtes Foto, das Chris in die Hand nahm und eine lange Zeit betrachtete. Matze hatte es mit seinem Handy im Zoo aufgenommen und damit wohl den perfekten Schnappschuss gemacht. Ein kleiner Affe saß auf Chris` Schulter und spielte mit seinen Haaren, während Paul daneben herzhaft lachte. Es war der Moment, kurz bevor Chris seine Hand auf die von Paul gelegt hatte und nur ein paar Stunden vor ihrem ersten Kuss.

Ob die Affen auch merken, dass er nicht mehr da ist? , fragte sich Chris. Und Matze? Wie hatte er es wohl erfahren? Und was hatte man ihm erzählt?

„Chris?“

Erschrocken dreht er sich um und sah Alex, der in der Tür stand.

„Geht´s dir gut?“, fragte Alex und deutete auf das Foto.

„Ja. Was willst du?“

„Ich wollte dir nur noch sagen, dass ich dich verstehe und dir keine Vorwürfe mache, wenn du gehen willst. Ich kann es nur nicht so leicht akzeptieren, weil ich dich sehr gern habe und nicht will, dass du gehst. Aber ich weiß, dass du jetzt erst mal an dich denken musst und das geht hier nun mal nicht.“

Chris sah nur sprachlos zu ihm hoch.

„Ich will nicht, dass irgendwas zwischen uns steht und du sollst wissen, dass du immer zurückkommen kannst.“

Chris legte das Foto beiseite und stand auf. „Danke“, sagte er und schlang seine Arme um Alex.

Noch an dem Abend verschwand die Tüte mit Pauls Sachen wieder im Schrank. Nur die Decke und der Pullover blieben draußen und das Foto stellte Chris auf die Fensterbank. So konnte er es immer ansehen und sich erinnern, aber von nun an mit einem anderen Gefühl. Da waren nicht mehr nur Trauer, Zorn und Schuldgefühle, sondern auch Dankbarkeit für die schöne gemeinsame Zeit und für das neue Leben, zu dem Paul ihn immer ermutigt hatte. Chris wusste, dass er allein nicht weit gekommen wäre. Nicht ohne Paul und auch nicht ohne Alex. Aber es war an der Zeit, das Kind hinter sich zu lassen und endlich Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Das bedeutete für Chris, die Schule zu beenden und irgendwo Beziehungen aufzubauen, die dazu bestimmt waren länger zu halten, und die für beide Seiten gut sein würden. Chris war sich sicher, dass Alex das auch irgendwann verstehen würde. Ihre Beziehung zueinander war einfach nicht das Richtige. Vielleicht war es auch nur der falsche Zeitpunkt. Aber so oder so, sie war keine von denen, die lange halten sollte.

Ein paar Tage später kam der Brief, auf den beide gewartet hatten, und von dem sie gleichzeitig gehofft hatten, dass er unterwegs verloren geht. Die offizielle Vorladung zum Prozess gegen Arnie und den Mann, den er beauftragt hatte, Paul und Chris umzubringen.

„Übermorgen“, las Chris vor, während sie sich in der Küche gegenüber saßen und frühstückten.

„Oh, dann muss ich meine Schicht tauschen.“

„Wir haben die ganze Zeit darauf gewartet und jetzt kommt es doch so plötzlich.“

„Ja“, sagte Alex, aber für ihn kam der Prozesstermin aus einem anderen Grund viel zu früh. Denn Chris würde danach anfangen, sich auf seinen Umzug vorzubereiten. Er hatte sich schon bei allen möglichen Ämtern über finanzielle Unterstützung informiert und scheinbar tausende von Formularen ausgefüllt. Aber sobald er den Prozess hinter sich haben würde, könnte er sich nach einer Wohnung und einer Schule umsehen. Dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Abschied kommen würde. Und Alex wusste immer noch nicht wie er damit umgehen sollte. Er konnte und wollte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, bald wieder allein zu sein. Aber das musste er. Und zwar so schnell wie möglich.

„Alex?“

„Hm?“

„Ich hab dich gefragt, ob du glaubst, dass er lebenslänglich bekommt.“

„Wollen wir´s mal hoffen“, antwortete Alex. „Immerhin ist das, was er getan hat nicht mehr gut zu machen und ich glaube nicht, dass er es bereut.“

„Nee, mit Sicherheit nicht.“

Sie aßen zu Ende und dann machte Alex sich auf den Weg zur Arbeit. Chris wollte den Tag dafür nutzen, sich im Internet nach Schulen und einer Wohnung umzusehen. Immerhin würde ihn nach dem Prozess nichts mehr in dieser Stadt halten. Deshalb wollte er alles so schnell wie möglich in die Wege leiten. Auch um es Alex nicht noch schwerer zu machen. Dieses Umzugsthema belastete ihn, das sah Chris. Und er wünschte sich, er hätte Alex noch nichts davon erzählt. So, wie er es eigentlich auch vorgehabt hatte. Die letzten Wochen, die sie zusammen verbringen sollten, hätten nicht so verkrampft sein müssen. Es wäre besser gewesen, wenn Alex nichts gewusst hätte.

Auf jeden Fall wollte Chris in eine Großstadt ziehen. Mit seinen Eltern hatte er in einer sehr kleinen Stadt hier ganz in der Nähe gelebt, wo jeder jeden kannte, aber jetzt brauchte er mehr Anonymität. Er wollte sich nicht verstecken müssen, jetzt, wo er endlich frei war. Berlin wäre eine Möglichkeit. Da wollte er immer schon mal hin. Aber bis dahin musste er sich erst noch durch den Bürokratiesumpf kämpfen. Es war nicht leicht, ein neues Leben anzufangen. Um umziehen zu können, brauchte er eine Wohnung, aber bevor er sich nach einer Wohnung umsehen konnte, musste er die Antworten der Behörden auf seine Anträge abwarten, um zu wissen wie viel finanzielle Unterstützung er bekommen würde. Er hatte Anträge auf Waisenrente, auf Kindergeld und auf BAföG gestellt. Das BAföG-Amt wollte aber auch Belege für sonstige Einnahmen und eine Wohnsitzangabe, die Chris noch nicht hatte. Wo also sollte man anfangen?

Es war Alex` Idee gewesen, diese Anträge zu stellen. Chris hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas wie eine Waisenrente überhaupt gab. Er hatte gedacht, dass er sich einen gutbezahlten Job suchen müsste und schon insgeheim daran gezweifelt, dass alles so laufen würde wie er es sich vorgestellt hatte. Aber wenn er diese Unterstützung bekommen würde, die ihm ohnehin zustand, machte er sich keine Sorgen mehr. Er würde sich ein Abendgymnasium suchen, an dem er sein Abitur machen konnte und tagsüber trotzdem irgendwo arbeiten, um nicht jeden Cent dreimal umdrehen zu müssen.

Ein bisschen mulmig war ihm zwar immer noch bei dem Gedanken, ganz auf sich gestellt zu sein, aber er war auch der festen Überzeugung, dass es das richtige war. Er wollte normal sein und später eine Arbeit haben, die ihm Spaß machen würde. So wie Paul.

Als Alex zurück kam und Chris ihm ein paar Wohnungsanzeigen zeigte, musste er erst mal schlucken.

„Berlin?“

„Ja, wieso nicht?“, fragte Chris, überrascht von Alex` Reaktion.

„Weiter weg ging wohl nicht, hm?“

„Ich wollte schon immer nach Berlin. Außerdem falle ich in so einer großen Stadt nicht auf.“

„Ich dachte nur, dass ich dich mal besuchen könnte oder dass du mal wieder her kommst. Immerhin ist doch auch das Grab hier.“

„Ich hab nicht vor so bald wieder zurückzukommen, Alex.“

Alex nickte, konnte seine Enttäuschung aber nicht verbergen. „Willst du auch nicht, dass ich dich besuche?“

„Doch, klar kannst du mich besuchen.“

„Aber die Strecke fährt man nicht mal eben schnell.“

Chris schwieg. Er wollte nicht sagen, dass er darauf keine Rücksicht nehmen konnte, aber so war es. Er würde Alex auch vermissen, aber immerhin zog er auch deswegen weg, weil er Alex den Abstand geben wollte, den er selber nie gefordert hätte. Sie mussten voneinander loskommen. Da konnte die Entfernung erst mal nicht groß genug sein.

„Wohnt Melanie nicht in Berlin?“, fragte Alex.

„Was? Nee.“

„Doch, ich glaub schon. Hast du ihr nicht zugehört?“

Chris überlegte angestrengt. Er konnte sich nicht erinnern, was Melanie gesagt hatte, wo sie wohnt.

„Du kannst sie ja mal anrufen. Vielleicht hilft sie dir bei der Wohnungssuche.“

Und dann verschwand Alex in sein Zimmer. Chris sah ihm nach, wusste aber, dass er nichts machen konnte, damit es Alex besser ging. Sie würden sich beide daran gewöhnen müssen, wieder allein zu sein.

Er folgte Alex` Rat und rief Pauls Schwester an. Und er hatte recht. Melanie wohnte tatsächlich in Berlin. Und sie bot Chris sofort an, sich die Wohnungen mal anzusehen, die er rausgesucht hatte. Um immer wieder nach Berlin zu fahren und sich die Wohnungen anzusehen, fehlte ihm das Geld, also nahm er das Angebot an. Sie freute sich offensichtlich darüber, dass sie etwas für ihn tun konnte, fragte aber auch vorsichtig nach, ob er wirklich lange genug darüber nachgedacht hatte. Sie dachte dabei wahrscheinlich an Alex, obwohl sie nicht nach ihm fragte. Chris versicherte ihr, dass es das war, was er wollte und gab ihr die Adressen der vier Wohnungen.

Den Abend verbrachte Chris wie immer im Wohnzimmer vor dem Fernseher, aber zum ersten Mal allein. Alex hatte sein Zimmer noch nicht wieder verlassen und es war auch nichts zu hören. Chris konnte ihn gut verstehen und entschied sich dafür, ihn in Ruhe zu lassen. Es war ihm Zeichen genug, dass Alex sich nicht blicken ließ. Vermutlich war das einfach seine Art mit der Situation umzugehen. Trotzdem fiel Chris` Blick immer wieder auf die verschlossene Tür und er wartete darauf, dass Alex sich doch noch zu ihm setzen würde. Er vermisste ihn jetzt schon, obwohl er nur ein paar Meter entfernt war. Wie sollte das dann erst werden, wenn sie durch ein paar hundert Kilometer getrennt sein würden?

Aber genau das war ja der Grund für seinen Auszug. Er wollte unabhängig sein und Alex sollte sich keine Hoffnungen mehr machen. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass es so schwer werden würde. Sie konnten ja kaum mehr normal miteinander reden. Von ihrer merkwürdig intensiven Freundschaft war nicht mehr viel übrig geblieben. Es gab keine gemeinsamen Fernsehabende mehr, kein herzhaftes Lachen, keine Umarmungen. Überhaupt vermieden sie es, sich besonders nah zu kommen. Aber genau das fehlte Chris. Er war schon immer darauf angewiesen, sich bei jemandem anlehnen zu können und seit er bei Alex wohnte, war es für ihn zur Gewohnheit geworden. Alex war immer da und wusste auch immer, wann er gebraucht wurde. Deshalb war es umso schwieriger für beide, sich auf einmal voneinander zurück zu ziehen. Alex vermisste die Nähe genauso wie Chris, nur war es nicht an ihm, sie wieder aufzubauen. Er konnte Chris nicht überreden zu bleiben, weil er genau wusste, dass Abstand eigentlich das Richtige für sie beide war. Für Chris, um endlich alles verarbeiten zu können, was ihm passiert war und für Alex, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er mit seinen Gefühlen allein dastand. Für Chris war einfach alles noch zu frisch. Vielleicht hätten sie eine Chance gehabt, wenn sie sich später oder früher begegnet wären, aber so war Paul alles, was Chris wollte. Und das würde sich auch nicht so schnell wieder ändern. Er stand zwischen ihnen wie eine Wand, die nur Chris einreißen konnte, aber nicht wollte. Und Alex müsste lügen, um zu sagen, dass er diese Entscheidung nicht nachvollziehen konnte. Er konnte Chris sehr gut verstehen und er liebte ihn genug, dass er ihn gehen lassen konnte.

Am nächsten Morgen wachte Chris erschrocken auf und versuchte sich sofort einzureden, dass er sich den Traum nur eingebildet hatte. Er konnte das nicht geträumt haben. Das war unmöglich.

Nur sehr langsam schaltete sich sein Bewusstsein ein und er merkte, dass er immer noch im Wohnzimmer war. Er musste dort eingeschlafen sein, als er gewartet hatte auf ... Aber hatte er den Fernseher nicht angelassen? Und wie kam Pauls Decke hier her? Er sah sich hektisch um, fand aber keine Anzeichen dafür, dass er nicht allein geschlafen hatte. Er hatte also geträumt. Aber wenigstens war der Traum nicht wirklich passiert.

„Hey“, sagte Alex, der gerade aus dem Badezimmer kam.

Chris zuckte zusammen und drehte sich erschrocken zu ihm um.

„Alles klar? Hast du geträumt?“

„Ja“, antwortete Chris und versuchte, seinen Herzschlag wieder etwas zu beruhigen. „Hast du ...?“ Er zupfte an der Decke, die er ganz sicher nicht aus seinem Zimmer geholt hatte.

„Äh ... ja. Aber ich wollte nur ... das wär ja sonst zu kalt geworden.“

„Ja, danke.“

Alex lächelte kurz und ging dann in die Küche. Verkrampft, verkrampft, verkrampft. Chris ließ sich seufzend zurückfallen und bemühte sich, die Traumbilder nicht wieder in seinen Kopf zu lassen. Das funktionierte nur nicht. Je mehr er sich anstrengte sie zu verdrängen, desto deutlicher wurden sie und desto mulmiger wurde ihm. Er hatte auf Alex gewartet, ja. Weil er ihn als seinen besten Freund vermisste. Und er war dabei eingeschlafen. Alex hatte das bemerkt, den Fernseher ausgeschaltet und ihm eine Decke geholt. Fertig. Und was spielte ihm sein Kopf vor? Diesen unmöglichen Traum. Diese unmögliche Szene. Diesen unmöglichen Kuss. Und er hatte es auch noch genossen. Er hatte es so sehr genossen, dass er mit einem Lächeln auf den Lippen aufgewacht war.

„Hey.“

Schon wieder stand Alex hinter ihm und schon wieder zuckte Chris erschrocken zusammen.

„Willst du´s mir erzählen? Ich meine ... nur, wenn du immer noch mit mir reden willst.“

„Wieso sollte ich das nicht wollen?“

„Weil ich mich in letzter Zeit nicht wie ein Freund verhalten habe.“ Er kam näher und setzte sich auf den Sessel. Sein Gesichtsausdruck sah etwas gequält aus, fand Chris. Als hätte er wirklich ein schlechtes Gewissen. „Ich musste nachdenken und das, was dabei rausgekommen ist, hat mir eben nicht besonders gut gefallen.“

„Was ist denn dabei rausgekommen?“, fragte Chris vorsichtig.

„Dass du recht hast.“

„Aha.“

„Ich kann verstehen, dass du von hier wegwillst. Ich hab´s ja auch so gemacht. Und es ist nicht fair, dir ein schlechtes Gewissen einzureden, nur weil ich meine Probleme damit hab.“

„Aber ich verstehe das. Ich war dir gegenüber ja auch nicht fair. Ich hab das alles erst ausgelöst, also kannst du gar nichts dafür.“

Alex grinste etwas verlegen. „Ich glaube, so kommen wir nicht weiter.“

„Nein, wohl eher nicht“, gab Chris zu.

„Also, willst du mir erzählen, was du geträumt hast?“

Chris wandte den Blick ab. Er hätte Alex wohl jeden Traum erzählt, nur nicht diesen. Dann würde alles nur noch viel komplizierter werden, weil er wusste, dass Alex das falsch interpretieren würde. Er schaute auf den Boden und überlegte, was weniger Schaden anrichten würde. Eine Lüge oder die Wahrheit. Die Wahrheit wäre, dass er Alex nicht von dem Traum erzählen konnte, aber das könnte er möglicherweise als Zurückweisung auffassen. Wahrscheinlich wird ihn eine Lüge weniger verletzen.

„Es war gar nichts Besonderes. Ich hab versucht, mich wieder richtig daran zu erinnern, als ich aufgewacht bin und da hab ich mich eben erschrocken, als du mich angesprochen hast.“ Er versuchte sich an einem ehrlichen Lächeln und zuckte mit den Schultern, zum Zeichen, dass er es selber nicht verstand.

„Ach so. Ich dachte schon es wäre etwas Schlimmes gewesen.“

„Nein.“

Ein paar Minuten später ging Chris ins Bad und Alex deckte den Tisch in der Küche. Beim Frühstück unterhielten sie sich über die Wohnungen, die Chris rausgesucht hatte und erwähnten auch zwischendurch einmal den Prozess am nächsten Tag. Sie waren beide ziemlich nervös, weil sie nicht wussten, welche Fragen man ihnen stellen würde und beide hätten gut und gerne darauf verzichten können, Arnie noch einmal wieder zu sehen. Besonders Chris. Er konnte nicht sagen wie er sich verhalten würde. Aber eines hatte er sich geschworen. Er würde nicht anfangen zu weinen, was auch passiert. Das hatte er hinter sich und er wollte diesem Arschloch die Genugtuung nicht gönnen. Arnies Leben wie er es die ganzen Jahre lang geführt hatte, würde in dem Gerichtssaal enden. Weil er Alex und Chris und all die anderen ausgenutzt und zu Spielfiguren gemacht hatte. Weil er Pauls Leben beendet hatte, und damit auch fast das von Chris. Er würde keine zweite Chance mehr bekommen. Aber Chris wollte seine nutzen.

Der Wecker klingelte viel zu früh. Die Sonne schien zwar schon zum Fenster rein, aber das war im Sommer schließlich nicht ungewöhnlich. Trotzdem fröstelte Chris, als er aus dem Bett krabbelte und sich aus seinem Zimmer schlich. Er brauchte eine Dusche. Die würde ihn aufwecken und –wärmen. Gähnend tapste er über den Flur und stieß prompt mit dem Türrahmen zum Bad zusammen.

„Scheiße, verdammt!“, fluchte er lautstark und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. Er wusste nicht, ob Alex schon wach war und wollte eigentlich verhindern, ihn zu wecken.

„Was ist?“, kam eine Stimme aus dem Bad und kurz danach erschien Alex` Kopf in der Tür.

Chris wich erschrocken zurück und war gleichzeitig dankbar für seinen kleinen Unfall. Er hatte nämlich nicht vorgehabt, an der Badezimmertür zu klopfen.

„Äh nichts ... hab mich gestoßen.“

„Willst du ins Bad? Ich bin fertig. Kannst ruhig reinkommen.“

Zögernd betrat Chris den kleinen Raum und setzte sich etwas angespannt auf den Toilettendeckel. „Fertig“ war für ihn etwas anderes. Alex hatte kein T-Shirt an und war noch dabei, an seinen Haaren zu zupfen. Chris musste ihn dabei beobachten, obwohl er sich immer wieder zwang den Blick abzuwenden. Nach ein paar Minuten griff Alex dann endlich nach seinem Shirt und zog es über. Er lächelte sein typisches strahlendes Lächeln, das Chris schon so lange nicht mehr gesehen hatte und verließ das Bad. Die Tür fiel zu und Chris atmete auf.

Nachdem er geduscht und sich angezogen hatte, betrachtete er nachdenklich den Fön, schüttelte dann aber den Kopf. Es wäre ja blöd, sich selbst zu verbiegen, nur um ein paar Erinnerungen loszuwerden. Er lachte einmal kurz über sich selber und verließ das Bad mit feuchten Haaren.

„Kaffee oder Tee?“, fragte Alex.

„Definitiv Kaffee.“

„Hab ich mir gedacht.“ Er stellte eine dampfende Tasse vor Chris ab.

„Danke.“

„Ist alles okay bei dir? Ich meine ... packst du das?“, fragte Alex.

„Muss ja.“

„Aber danach hast du´s endgültig hinter dir. Und ich bin da. Falls ... na ja, du weißt schon.“

„Ich weiß.“

Die Anspannung kam erst während der Fahrt. Chris versuchte sich angestrengt daran zu erinnern, was genau er den Polizisten erzählt hatte, um nicht vor Gericht den Eindruck zu vermitteln, er wüsste selber nicht genau, was eigentlich passiert war. Das Letzte, das er jetzt noch brauchte, war, dass Arnie wegen seiner Aussage nicht das bekommen würde, was er verdiente. Vielleicht hätte er mit Alex noch mal alles durchgehen sollen? Er fühlte sich auf einmal vollkommen unvorbereitet und hatte das Gefühl, dass sich eine Wand in seinem Kopf aufbaute, die die Erinnerungen an den Vorfall blockierte. Das durfte aber nicht passieren. Er braucht diese Erinnerungen. Wenigstens noch einmal.

Die Wartezeit, die sie auf einer Steinbank vor dem Gerichtssaal verbrachten, kam ihm unendlich lang vor. Er hatte das Gefühl, dass mit jeder Minute mehr wichtige Details verschwanden und fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Seine Hände waren schon ganz schwitzig, also rieb er sie an seiner Hose. Die Zeit wollte einfach nicht schneller ablaufen.

„Was mache ich denn, wenn ich auf einmal alles vergesse?“, fragte er Alex leise.

„Das wird schon nicht passieren.“

„Ich weiß jetzt schon nichts mehr. Was ist, wenn ich den Angreifer gleich gar nicht identifizieren kann, weil ich ihn mir damals nicht so genau angesehen habe?“

„Denk nicht so viel darüber nach, das macht dir zu viel Druck. Du wirst ihn schon erkennen, wenn du ihn siehst. Glaub mir, so was vergisst man nicht.“

So kam es dann auch. Als die Angeklagten den Saal wenige Minuten nach Chris und Alex betraten, waren alle Erinnerungen wieder da und die Übelkeit verwandelte sich schlagartig in Wut. Keine Trauer, nur purer Hass. Doch das schlimmste war das selbstgefällige Grinsen auf Arnies Gesicht, als er Chris und Alex entdeckte. Nur der Mann neben ihm verhielt sich der Situation entsprechend. Er wirkte nervös und hielt seinen Blick gesenkt. Chris erkannte ihn ohne jeden Zweifel. Er war es. Chris verspürte den Drang, diesen Mann zu schütteln und ihm wirklich weh zu tun. So etwas hatte er noch nie gefühlt und er hätte auch nie gedacht, dass er dazu fähig war.

Die Richterin und noch ein paar andere Personen betraten den Saal, nahmen Platz und die Verhandlung konnte beginnen. Es waren nicht viele Zeugen geladen. Nur Chris, Alex, ein Junge aus der Kneipe und der Mann, der Chris damals zur Hilfe gekommen war. Der Junge wurde zuerst befragt und dann war Alex an der Reihe. Er wirkte auf Chris nicht sehr nervös und schilderte ganz ruhig, was er über Arnies Kneipe und die Arbeit dort wusste. Es schien ihm überhaupt nicht schwer zu fallen, aber es wirkte auch nicht gleichgültig. Es war ihm schon anzumerken wie schwer die Zeit für ihn war. Über Jonas sagte er nichts. Er wurde aber auch nicht danach gefragt. So viel Glück würde Chris nicht haben. Immerhin ging es hier vor allem um Paul. Er würde alles erzählen müssen.

„Herr Chris Reuter? Kommen Sie bitte nach vorne?“

Jetzt ging es also los. Alex drückte einmal seine Hand und nickte ihm aufmunternd zu. Die ersten Fragen bezogen sich, wie schon bei der Befragung der Polizisten, auf Chris` Person und darauf wie er in diese Szene geraten war. Er beschrieb alles wahrheitsgemäß und hoffte, dabei nicht zu ängstlich zu wirken. Sein Mund fühlte sich vollkommen ausgetrocknet an.

„Herr Reuter, können wir Ihnen ein paar Fragen zum Tathergang stellen?“, fragte der Staatsanwalt.

Blöde Frage, dachte Chris. Als ob er nein sagen könnte.

„Ja.“

„Sie waren zusammen mit Paul Flemming auf dem Weg zur Polizei. Ist das richtig?“

„Ja, ich wollte Anzeige erstatten.“

„Gegen Herrn Arnold?“

„Ja.“

„Und auf dem Weg dorthin ist dann genau was passiert? Können Sie uns das bitte einmal schildern?“

Chris schluckte, obwohl es nichts zu schlucken gab, räusperte sich und beschrieb alles, was an diesem Tag geschehen war. Er spürte Arnies Blick auf seinem Gesicht, doch er sah nicht hin. Nicht ein einziges Mal. Seine Hände zitterten etwas also schob er seine Finger ineinander und drückte fest zu. Nach einer Viertelstunde wurde er erlöst und durfte sich wieder zu Alex setzen. Ohne nachzudenken griffen sie nach der Hand des anderen und Chris atmete erleichtert aus.

„Alles klar?“, fragte Alex.

„Ja.“

Der letzte Zeuge bestätigte Chris` Aussage. Genau wie auch Pauls Mörder und damit war auch Arnie überführt. Das Grinsen auf seinem Gesicht war verschwunden und wurde von einer bitteren Maske abgelöst. Von da an ging alles ganz schnell. Die Richterin kam schnell zu einem Urteil und verkündete lautstark: „Lebenslänglich.“ Für beide Angeklagten.

Chris fiel Alex um den Hals, als er das hörte und tat sich jetzt doch schwer damit, die Tränen zurückzuhalten. Er war erleichtert und wusste genau, dass Paul es auch gewesen wäre. Jetzt stand ihm nichts und niemand mehr im Weg. Alex drückte Chris fest an sich und dachte genau dasselbe. Nur mit weniger Enthusiasmus. Sie hielten einander fest, als müssten sie sich sofort verabschieden und merkten beide, wie sehr sie sich gegenseitig in den letzten Tagen gefehlt hatten. Chris lehnte sich bei Alex an, ohne daran zu denken, dass es ein Fehler sein könnte. Richtig oder falsch, das interessierte ihn in diesem Augenblick nicht. Er brauchte diese Nähe und Alex zögerte nicht, sie ihm zu geben.

Loslassen

Eine Woche nach dem Gerichtstermin kamen sowohl die Bewilligung der Waisenrente, als auch die des Kindergeldes per Post. Nur das BAföG-Amt verlangte noch ein paar Dokumente, die Chris sofort zusammen suchte und schnell zum nächsten Briefkasten brachte. Für eine Schule hatte er sich auch entschieden und Melanie war, wie versprochen, fleißig auf Wohnungssuche gewesen. Sie wollte am nächsten Tag vorbei kommen und die Fotos zeigen, die sie von allen Wohnungen gemacht hatte. Alles ging voran und das ausnahmsweise mal ohne Komplikationen.

Zwischen Alex und Chris war auch alles wieder normal. Sie versuchten beide, nicht an den bevorstehenden Abschied zu denken, sondern die Zeit zu genießen, die sie noch zusammen hatten.

„Warum kommt sie denn extra hier her, nur um dir die Fotos zu zeigen?“, fragte Alex, als sie am Abend nebeneinander auf dem Sofa saßen und sich einen Film ansahen.

„Ich hab auch versucht, ihr das auszureden, aber sie will unbedingt“, antwortete Chris und zuckte mit den Schultern.

„War Paul auch so stur?“

„Allerdings.“

„Dann liegt das eindeutig in der Familie. Wenn ich nur an diese Schreckgestalt von Mutter denke ...“

„Lieber nicht. Paul war ganz anders.“

„Du hast mir nie richtig erzählt wie er war“, stellte Alex fest.

„Willst du es denn wissen?“

„Ja, warum nicht. Es sei denn, du willst nicht darüber reden.“

„Doch schon. Ich weiß nur nicht wie ich ihn beschreiben soll.“ Chris dachte an die Zeit mit Paul. An ihre erste Begegnung, an den Tag im Park und den Besuch im Zoo. Es machte ihm nichts mehr aus. Er wollte nur nichts vergessen.

„Er war ziemlich einsam, glaube ich“, sagte er schließlich. „Tom und Jane arbeiten viel und unternehmen sonst immer was zu zweit, Lisa hatte ihn verlassen und seine Familie ... na ja, das weißt du ja. Es war echt schwierig irgendwie an ihn ranzukommen. Ich wusste auch schon viel früher als er, dass er sich in mich verliebt hat. Er hat mich manchmal richtig verträumt angesehen und sich dann wieder total zurückgezogen. Und er hat sich immer Sorgen gemacht. Das hat mich ziemlich genervt, aber eigentlich hatte er damit auch immer recht.“

Alex sah Chris vielsagend an.

„Ja, ich weiß“, sagte Chris und verdrehte die Augen. „Immer muss man auf mich aufpassen. Hab´s schon verstanden.“

„Wurde ja auch Zeit.“

Sie lachten beide und Alex legte ganz selbstverständlich einen Arm um Chris. Das war etwas, über das sie beide nicht mehr nachdachten, sondern einfach geschehen ließen. Es gehörte eben zu ihrer Freundschaft dazu.

Chris lehnte seinen Kopf an Alex` Schulter und gähnte.

„Bist du müde? Ist ja auch schon ganz schön spät“, sagte Alex.

„Nein, geht schon. Ich will den Film noch zu Ende sehen.“

„Du hast doch bis jetzt auch nichts davon mitbekommen.“

„Na und? Das Ende will ich sehen.“

„Okay.“

Am nächsten Morgen wachte Chris wieder erschrocken aus einem Traum auf. Es war derselbe wie vor einer Woche. Und schon wieder schlug ihm das Herz bis zum Hals. Er sah sich um und erstarrte vollkommen. Alex lag neben ihm. Sie waren wohl mal wieder auf dem Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen. Pauls Decke war über ihnen ausgebreitet und darunter lag ein Arm um Chris` Taille. Ihre Beine lagen wie ein Sandwich gestapelt übereinander und ihre Gesichter waren sich viel zu nahe. Chris spürte ein leichtes Brennen auf seinen Lippen und ein aufgeregtes Kribbeln in seinem restlichen Körper, als er Alex` Gesicht genauer betrachtete. Die Bilder aus dem Traum sah er auch noch deutlich vor sich und irgendetwas daran hielt ihn davon ab, sofort aufzuspringen. Irgendetwas zog ihn zu Alex, anstatt ihn von ihm wegzuziehen.

In dem Moment öffnete auch Alex seine Augen und blinzelte ein paar Mal, bevor er Chris direkt ansah. Sie sagten beiden nichts und konnten auch nicht wegsehen. Es war eine seltsame Situation. Chris fühlte sich wie gefesselt und konnte sich auch dann noch nicht losreißen, als Alex vorsichtig eine Hand ausstreckte und über seine Wange strich. Es war einfach zu schön. Er konnte sich nicht dagegen wehren und ihm fiel auch kein Grund ein, warum er das tun sollte. Nicht in diesem Augenblick.

Langsam und sehr zögerlich lehnte sich Alex weiter vor und legte vorsichtig seine Lippen auf die von Chris. Sie schlossen die Augen und Chris erwiderte den Kuss. Zuerst genauso schüchtern, doch dann machte es irgendwo klick und er schlang seine Arme um Alex. Ihre Zungen stießen aneinander und ihre Herzen schlugen so schnell, dass sie befürchteten, sie würden vor Erschöpfung im nächsten Moment stehen bleiben.

Das ist der Traum, dachte Chris. Es ist alles genau so wie in dem Traum.

Alex` Hand löste sich von Chris` Gesicht und wanderte über seinen Rücken. Sie schlüpfte unter sein T-Shirt und strich dann langsam über seinen Bauch bis hoch zu seiner Brust. Das war der Punkt, an dem es bei Chris zum zweiten Mal klick machte. Er schob Alex von sich und biss sich auf die Unterlippe.

„Scheiße“, murmelte er und stand auf. Er vergrub seine Finger in seinen Haaren und sah Alex entschuldigend an. „Tut mir leid, aber das ... das ... nein.“ Dann verschwand er im Bad und schloss die Tür hinter sich zu. Er sank auf den Boden und schlang beide Arme um seine Beine. Sein Puls dröhnte immer noch laut in seinen Ohren, aber jetzt aus einem anderen Grund.

„Scheiße“, flüsterte jetzt auch Alex und ließ sich auf die Couch zurückfallen. Er hatte sich und Chris doch geschworen, niemals eine Situation so auszunutzen. Er hätte einfach aufstehen müssen und sich nicht von Chris` merkwürdigem Blick gefangen nehmen lassen dürfen. Es war verführerisch, ja, aber er hätte nicht darauf eingehen dürfen. Egal wie sehr er es wollte. Chris war jetzt bestimmt total durch den Wind. Verdammt!

Er stand auf und blieb vor der Badezimmertür stehen. „Chris? Hey, es tut mir leid. Kannst du ... bitte, mach die Tür auf. Lass uns darüber reden.“

Es blieb still. Chris konnte nicht antworten. Er war noch damit beschäftigt, sich zu beruhigen und seine Gedanken zu ordnen. Wie hatte er das tun können? Er war noch nicht so weit. Und mit Alex? Das konnte er einfach nicht tun.

„Bitte“, hörte er Alex` Stimme vor der Tür.

Dann klingelte es an der Wohnungstür und Alex Schritte entfernten sich. Chris hörte Gemurmel, dann wie eine Tür zugeschlagen wurde und schließlich ein leichtes Klopfen an der Tür hinter sich.

„Chris?“ Das war Melanie. „Alex ist in seinem Zimmer. Machst du mir auf?“

Er stand auf und öffnete die Tür.

„Hey, was ist denn hier los?“, fragte sie offensichtlich verwirrt. „Warum schließt du dich ein?“

„Hat Alex es dir nicht gesagt?“

„Nein. Er hat nur gesagt, dass er einen riesen Fehler gemacht hat und du deshalb nicht mit ihm reden willst. Was hat er denn getan?“

„Er hat nichts falsch gemacht. I-ich ... ich hab ...äh ...ähm ...“, stotterte er und seine Augen huschten zwischen dem Boden, seinen Fingern und Melanies Gesicht hin und her. Er konnte es nicht sagen. Melanie war Pauls Schwester. Was würde sie denn von ihm halten, wenn er ihr die Wahrheit sagte?

„Okay, komm erst mal mit.“ Sie nahm ihn am Arm und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Sie setzten sich aufs Sofa, wo Chris nach der Decke griff und sie an sich drückte. Melanie beobachtete ihn aufmerksam dabei und legte eine Hand beruhigend auf seine Schulter.

„Gehörte die Paul?“, fragte sie.

Chris nickte.

„Ihr seid euch näher gekommen, hm? Alex und du?“

Er sah sie überrascht und dann auf einmal verzweifelt an und nickte wieder. „Er hat mich geküsst und ich hatte nichts dagegen in dem Moment. Ich hätte das nicht machen dürfen.“

„Aber warum denn nicht? Wegen Paul? Chris, er ist tot. Und du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Wenn Alex dir so viel bedeutet, dann ist das okay.“

„Nein.“ Er schüttelte energisch den Kopf und klammerte sich weiterhin an die Decke. „Es ist noch zu früh.“

„Bedeutet er dir denn mehr als nur ein Freund?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete er wahrheitsgemäß.

„Dann solltest du vielleicht darüber nachdenken. Willst du denn immer noch weg von hier?“

„Ja. Jetzt noch mehr als vorher.“

„Und Alex?“

Chris antwortete nicht darauf. Er wusste nicht wie. Er wusste ja nicht mal wie die Frage gemeint war.

„Du musst mit ihm reden. Er hat wirklich ein schlechtes Gewissen.“

„Ich weiß.“

„Und er kann bestimmt verstehen wie es dir geht“, sagte sie und zog Chris in ihre Arme. Es war ein angenehmes Gefühl, dachte er. Doch er musste sich auch eingestehen, dass er Alex` Umarmungen immer noch ein bisschen mehr genossen hatte. Melanies Nähe war wirklich rein freundschaftlich, aber wie war dann die von Alex?

In seinem Bauch spürte er wieder das aufgeregte Kribbeln, aber er versuchte es zu ignorieren.

„Mach das, was dir gut tut“, sagte Melanie. „Niemand wird dich dafür verurteilen.“

Hinter ihnen räusperte sich jemand, und als Chris sich aus der Umarmung löste, um sich umzudrehen, sah er Alex in der Tür zum Flur stehen.

„Kommst du mich besuchen, wenn du in Berlin bist?“, fragte Melanie und stand auf.

„Was ist denn mit den Fotos?“

„Ach ja.“ Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen großen Umschlag heraus. „Es ist alles da drin. Bei einem Vermieter hab ich für dich schon zugesagt. So eine schöne und gut gelegene Wohnung, die so günstig ist, findest du sonst nirgendwo. Du musst nur noch den Vertrag unterschreiben und ihm zuschicken.“

„Äh ...“

„Glaub mir. Du wirst sie lieben.“

Nachdem sie sich auch von Alex verabschiedet und die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte, war es wieder still in der Wohnung. Chris legte seine Beine zu einem Schneidersitzt zusammen und warf einen kurzen Blick auf Alex. Der stand immer noch an den Türrahmen gelehnt und sah Chris mit einem gequälten Gesichtsausdruck an.

„Es war nicht dein Fehler“, sagte Chris schließlich, nachdem sich sein Magen bei dem Anblick krampfhaft zusammen gezogen hatte. Er konnte nicht mit ansehen, dass Alex sich Vorwürfe machte. Er wusste ja selber, wie es war, jemanden ständig um sich herum zu haben, den man liebte, aber nicht haben konnte.

„Ich hab dir versprochen, dass sowas nicht vorkommt und es nicht gehalten. Also war es doch mein Fehler.“

„Ich hab dir aber auch nicht gerade das Gefühl gegeben, dass ich es nicht wollte, oder? Also kannst du nichts dafür. Und es tut mir leid, dass ich dich immer wieder in solche Situationen bringe.“

„Wolltest du es denn?“, fragte Alex vorsichtig, ohne Chris dabei anzusehen.

„Siehst du, das meinte ich. Jetzt hab ich dir schon wieder das Gefühl gegeben, dass da was ist zwischen uns.“

„Ist da denn was?“

Chris öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus. Er spürte, dass er sich selber in eine Sackgasse manövriert hatte. Irgendetwas war da, ja. Aber wie konnte er das Alex erklären, ohne dass er sich unnötig Hoffnungen machen würde? Er sah auf seine Finger, die immer noch Pauls Decke umklammerten. Er strich fast unbewusst über den weichen Stoff. Alex bemerkte den Blick und stellte die Frage neu.

„Wäre da was, wenn das mit Paul schon länger her wäre?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Chris wie auch schon bei Melanie. „Ich kann es dir wirklich nicht sagen. Alles, was ich weiß, ist, dass das jetzt der falsche Zeitpunkt ist.“

Alex nickte. So was hatte er schon vermutet.

„Tut mir leid. Ich kann das einfach noch nicht“, sagte Chris.

„Ist schon gut. Ich versteh das.“

„Wirklich?“

„Ja, klar. Ich ... ich meine ...du ... du bist auch der erste nach Jonas, der ... mir so viel bedeutet.“

Chris spürte wieder ein leichtes Knistern in der Luft und merkte wie sein Gesicht anfing zu glühen.

„Tut mir leid“, sagte Alex sofort und schüttelte den Kopf. „Ich hör jetzt auf damit. Lass uns über was anderes reden.“

Chris musste grinsen. „Ist echt kompliziert mit uns, oder?“

„Das kannst du laut sagen“, seufzte Alex und damit fiel auch endlich die Spannung von ihm ab. Der unangenehme Teil war also überstanden. Das dachte auch Chris und klopfte einladend neben sich auf das Sofa. Als Alex der Einladung folgte und sich neben ihn setzte, schlang er beide Arme um ihn und legte seinen Kopf auf Alex` Schulter.

„Du weißt aber, dass du mir auch ganz doll wichtig bist, oder?“, fragte Chris.

„Ja“, antwortete Alex und strich mit seinen Fingern durch Chris` Haare. Und da ist doch was, dachte er.

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