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Kartenhäuser

Teil 7

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Inhaltsverzeichnis

Der Preis

Alex` Schritte entfernten sich und dann war es still. Die Ruhe, die Chris nun umgab, war für ihn fast weniger zu ertragen als die laute Musik in der Disko. Es war das erste Mal, seit er hier wohnte, dass Alex vor ihm ins Bett ging. Das Wohnzimmer erschien ihm auf einmal so riesig. Die Leere in und um ihn herum breitete sich beängstigend schnell aus und die allabendliche Trauer überkam Chris wie aus heiterem Himmel. Nur dieses Mal war es nicht Pauls Gesicht, das er sah und es war auch nicht Pauls Stimme, die er hörte. Er sah sich selber auf der Brücke. Die Erinnerung war so klar wie noch nie und jetzt erinnerte er sich auch wieder daran wie er aus dem Krankenhaus dort hin gelaufen war. Er spürte beinahe wieder seine Verzweiflung und den frischen Wind, der ihm durch die Haare wehte. Die Brücke, die Tiefe... Und dann hallte Alex` Stimme in seinem Kopf wieder: „Spring nicht!“ Er wurde von zwei Armen gepackt und zurückgezogen, dann war alles schwarz. Ich wäre gesprungen. Chris versuchte diese Bilder aus seinem Kopf zu schütteln, aber sie ließen nicht los. Sie würden ihn wohl noch eine ganze Weile quälen.

Gut, dass Alex ihn jetzt nicht so sah. Er würde Chris trösten wollen und in den Arm nehmen. Das wollte Chris auf jeden Fall vermeiden. Das Tanzen war ein Fehler gewesen, obwohl es ein schönes Gefühl war. Zu schön. Auch wenn Alex sich entschuldigt hatte, konnte man ihm trotzdem ansehen, dass er es nicht bereute. Und es war auch nicht nur die hitzige Stimmung gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, die bisherigen Grenzen zu überschreiten. Dass er es genauso geplant hatte, wollte Chris ihm nicht unterstellen, aber es war ihm mehr als recht gewesen. War ihm denn nicht klar, dass Chris das niemals zulassen würde? Wollte er ihre Freundschaft so leichtfertig aufs Spiel setzen?

Beinahe wünschte sich Chris wieder die Gedanken an Paul zurück. Der Schmerz dabei war so viel süßer. Er wollte nicht mehr über Alex nachdenken.

Langsam schlich er in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und setzte sich schließlich auf die Fensterbank. Es war zwar nicht dasselbe wie in Pauls Wohnung, aber vielleicht konnte er hier seine Gedanken wieder ein wenig umlenken. Er schloss die Augen und lehnte seine Stirn an die kühle Scheibe. Sofort sah er Paul vor sich, wie er eines Nachts genauso dagesessen hatte. Das war einer der Momente, an die sich Chris besonders intensiv erinnerte. An Pauls Unentschlossenheit und die zärtlichen Küsse und Berührungen danach.

Vielleicht war dieser Schmerz, diese unerträgliche Sehnsucht nun der Preis dafür, dass er Paul getroffen hatte. Dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, diesen Mann kennenzulernen. Hatte er selber denn nicht gedacht: „Um jeden Preis“?

Die Nacht war kurz, der Morgen kam einfach viel zu früh. Als Chris aufwachte, hörte er Alex in der Küche, also konnte es noch nicht so spät sein. Widerwillig schob er die Decke zurück und stieg aus dem Bett.

„Schon so früh wach?“, fragte Alex und schenkte Chris ein fröhliches Lächeln.

„Ja, ich hab nicht so gut geschlafen.“

„So was hab ich mir schon gedacht.“ Jetzt trat ein besorgter Ausdruck auf sein Gesicht. „Ich habe kein gutes Gefühl dabei, dich allein zu lassen.“

„Ich komme schon klar. Vielleicht kann ich nachher noch ein bisschen schlafen.“ Wohl eher nicht, dachte Chris, aber im Moment war es erst mal wichtig Alex seine Sorge auszutreiben.

„Wenn du meinst. Ich bin ja auch so gegen zwei schon wieder da.“

Sie tranken noch einen Kaffee zusammen und versuchten sich ganz ungezwungen zu unterhalten, aber nach dem letzten Abend war das wohl etwas zu viel verlangt. Alex schien sich auch seine Gedanken gemacht zu haben, denn er schaffte es kaum, Chris länger in die Augen zu sehen. Er wirkte etwas angespannt, als wollte er eigentlich ein ganz bestimmtes Thema ansprechen. Als er dann aber die Wohnung verließ, ohne etwas gesagt zu haben, war Chris erleichtert. Ein ernstes Gespräch hätte den Start in diesen Tag wahrscheinlich nur noch mehr erschwert. Vor allem, wenn es um ihre Beziehung zueinander gegangen wäre. Chris hatte immer noch das eigenartige Gefühl, dass Alex mehr involviert war, als er zugab. Möglicherweise steckte in seinen Umarmungen doch mehr als nur das freundschaftliche Trösten und Unterstützen.

Nach einem kurzen, nicht besonders reichlichen Frühstück, ging er erst einmal unter die Dusche. Der Partygeruch vom letzten Abend hing noch an ihm. Vielleicht ließen sich ja mit ihm auch noch ein paar unangenehme Gedanken wegspülen. Einen Versuch war es wenigstens wert.

Als er das Bad verließ, merkte er allerdings, dass er sich zu viel erhofft hatte. Für einen kurzen, aber schmerzlichen Augenblick hörte er Pauls Stimme ganz nah:

„Hast du deine Haare schon wieder nicht geföhnt?“

Beinahe hätte er geantwortet, doch dann bemerkte er, dass ihm seine Erinnerung nur einen Streich gespielt hatte. Mal wieder. Wann sein Geist sich wohl daran gewöhnt haben würde, dass es Paul nur noch in seinen Gedanken gab? Chris dachte an den Moment im Krankenhaus, als er die Geburtstagskarte von Paul gelesen hatte. Nie wieder, dessen war er sich jetzt bewusst, konnte er etwas von Paul hören, das er ihm vorher nie gesagt hatte. Es gab nur noch die Stimme in seinem Kopf und die wiederholte nur. Es war nur eine Erinnerung.

Siehst du, Paul, es geht nicht. Ich kann nicht für uns beide atmen. Wie konntest du das von mir verlangen? Hast du es denn nicht gewusst? Hast du nicht gewusst wie es mir ohne dich gehen würde? Ich kann nicht glauben, dass du so blind gewesen bist. Du hast doch sonst alles gesehen. Und wie ist es jetzt? Siehst du, wie es mich zerreißt? Hätte er mich doch bloß springen lassen. Du magst mich für feige halten, aber jetzt habe ich nicht mehr den Mut, mein Leben zu beenden.

Am ganzen Körper zitternd, ging Chris zum Schrank, um sich etwas anzuziehen. Von seinen Haarspitzen tropfte das Wasser und lief in kalten Bahnen seinen Rücken hinunter. Und was sollte er nun machen? Unentschlossen setzte er sich auf die Bettkante und zog sich ein T-Shirt über. Schon wieder diese Stille. Sie passte perfekt zu der Leere in seinem Inneren. Fast geräuschlos fiel er zurück auf die Matratze und starrte an die Zimmerdecke. War es das wert gewesen?, fragte er sich. Die kurze Zeit mit Paul, sollte das alles gewesen sein? War sein Lebensglück damit aufgebraucht? Ohne jeden Zweifel war es die schönste Zeit in seinem Leben gewesen, aber was folgte darauf? Der Preis erschien ihm jetzt viel zu hoch.

Es klingelte und Chris schreckte auf. Bitte nicht jetzt! Vor der Tür standen zwei Polizisten.

„Guten Tag. Sind Sie Chris?“, fragte einer der beiden freundlich.

„Ja.“

„Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“

„Kommen Sie rein, ich habe schon damit gerechnet.“

Langsam und vorsichtig als wollten sie Chris nicht erschrecken, betraten die Beamten die Wohnung. Chris zeigte ihnen den Weg ins Wohnzimmer und bot ihnen an, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

„Erst einmal muss ich Sie bitten, Ihre Daten anzugeben. Der Mitbewohner von Herrn Flemming konnte uns nur Ihren Vornamen nennen. Wir sind aber verpflichtet eine vollständige Akte anzulegen.“

Chris seufzte. Das hatte er befürchtet, aber davor konnte er sich nicht drücken. Er beantwortete also jede einzelne Frage zu seiner Person und versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen.

„Gut. Herr Reuter, uns wurde berichtet, dass sie mit dem Mann, der den Anschlag in Auftrag gab, bekannt waren. Sie sollen einige Zeit für ihn gearbeitet haben, ist das richtig?“

„Ja und nein. Ich habe ihn gekannt, aber nicht freiwillig dort gearbeitet. Als ich fünfzehn war, starben meine Eltern bei einem Autounfall und nachdem ich aus dem Waisenhaus geflohen war, geriet ich in diese Szene. Er hat mich dort festgehalten wie auch viele andere. Die Mehrheit war noch minderjährig.“

„Verstehe. Zu diesem Punkt haben wir keine weiteren Fragen und da Sie ja nun volljährig sind, kann ich mir die Predigt wohl auch sparen, dass Sie sich unnötig in Gefahr gebracht haben.“

Wenigstens das, dachte Chris und nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

„Von Ihrem jetzigen Mitbewohner haben wir alles Notwendige über den Nachtclub und dessen Besitzer erfahren, aber das wird er Ihnen selber erzählt haben. Es tut uns sehr leid, dass wir trotz allem nichts für Ihren Freund tun konnten.“

Chris schwieg. Seine Gedanken dazu wollte er lieber für sich behalten.

„Ist es möglich, dass Sie uns ein paar Fragen zum Tathergang beantworten?“

„Ja, natürlich“, sagte Chris und senkte den Blick. Jetzt war der Moment gekommen, vor dem er sich am meisten gefürchtet hatte. Diese grausamen Bilder hatte er doch gerade erst sorgfältig weggeschlossen. Er hatte jede Erinnerung zugelassen, nur nicht die an diesen Tag. Als der Polizist die erste Frage stellte, zuckte er innerlich zusammen. Beinahe hätte sich sein Kopf geweigert, die Antwort preiszugeben, aber dann kam sie ihm leichter über die Lippen als erwartet. Die Worte klangen kühl und emotionslos, fast als sei er nur ein unbeteiligter Passant gewesen.

„Haben Sie schon mal daran gedacht, sich an einen Psychologen zu wenden? Ein solches Erlebnis hinterlässt häufig Spuren, die man selber nicht bemerkt. Vielleicht würde Ihnen eine Gesprächstherapie gut tun.“

Auch damit hatte Chris schon gerechnet. Es wunderte ihn vielmehr, dass er bisher davon verschont geblieben war.

„Das kommt für mich nicht in Frage“, sagte Chris ruhig. „Nach dem Tod meiner Eltern wollte man mir auch eine Therapie aufzwängen, aber das hat rein gar nichts gebracht. Alex hat mir sehr geholfen, das reicht.“

„Es ist Ihre Entscheidung.“

„Ja.“

„Haben Sie vor, in dieser Wohnung zu bleiben?“

„Vorerst schon“, sagte Chris etwas verwirrt.

„Gut, dann benachrichtigen wir Sie, wenn der Termin für die Gerichtsverhandlung feststeht.“

„Heißt das, dass ich aussagen muss?“

„Aber sicher, Sie sind der Hauptzeuge. Wir brauchen Ihre Aussage für die Verurteilung des Angeklagten. Ich kann verstehen, dass das nicht einfach für Sie ist, aber denken Sie doch an Ihren Freund.“

Na vielen Dank auch, dachte Chris. Als würde er das nicht ohnehin schon tun.

„Möchten Sie denn nicht dazu beitragen, dass der Verantwortliche betraft wird?“

„Ich dachte, das hätte ich gerade getan.“

„Das war nur für die Vollständigkeit der Polizeiakten. Natürlich wird man sich bei Gericht darauf berufen, aber eine Aussage ersetzt das nicht. Übrigens können Sie Ihrem Mitbewohner sagen, dass auch er befragt werden soll. Wir melden uns dann bei Ihnen.“

Die beiden Beamten erhoben sich und reichten Chris nacheinander die Hand.

„Vielen Dank für Ihren ausführlichen Bericht. Alles Gute.“

Chris begleitete sie zur Tür und verabschiedete sich mit dem Maße an Höflichkeit, das er jetzt noch aufbringen konnte.

Als Alex wenig später zurückkam, saß Chris im Wohnzimmer mit einer Tasse Tee in der Hand. Er sah nachdenklich aus dem Fenster, doch sobald er in Alex` lächelndes Gesicht gesehen hatte, hellte sich seine Stimmung auf. Es war schön, nicht mehr allein zu sein. Vielleicht hatte er Alex Unrecht getan und sich alles nur eingebildet. Wahrscheinlich war es einfach normal, dass er sich Sorgen um Chris machte und ihn zum Trösten auch in den Arm nahm. Seine Anwesenheit war jedenfalls sehr beruhigend, und wenn Chris ehrlich war, würden ihm die Umarmungen fehlen. Sie waren immer so warm und weich und unter Freunden eigentlich nichts Besonderes. Er hatte sich zu viele Gedanken gemacht.

„Hey, wie war dein Tag?“, fragte Alex und traf damit genau den Punkt, der Chris` Laune wieder etwas dämpfte. Er setzte sich neben ihn aufs Sofa und sah skeptisch auf die Tasse in seiner Hand. „So schlimm?“

„Schlimmer.“

„Was ist denn passiert?“

„Die Polizei war da und hat mir alle möglichen Fragen gestellt.“

„Verstehe“, sagte Alex und musterte Chris.

„Sie wollten alles genau wissen, aber das Merkwürdige war, dass ich kein Problem damit hatte, es zu erzählen. Es war ganz einfach. Anders als ich es mir vorgestellt hatte. Als würde es mich überhaupt nicht interessieren.“

„Ich hab damals die ganze Zeit geheult“, sagte Alex, während er einen Arm um Chris` Schultern legte. „Hat eine halbe Ewigkeit gedauert bis ich alle Fragen beantwortet hatte. Du kannst froh sein, dass du es so schnell hinter dir hattest.“

„Aber wie konnte es denn so leicht sein? Der Polizist wollte mich auch gleich zu einem Psychologen schicken.“

„Ich weiß nicht, warum es so gelaufen ist. Vielleicht ist es die Auswirkung von dem Schock.“

„Das ist doch schon längst vorbei.“

„Manchmal hält dieser Schockzustand viel länger an, als man selber denkt.“

„Ich verstehe das nicht“, seufzte Chris und legte seinen Kopf an Alex` Schulter. „Es hätte mich nicht so kalt lassen dürfen. Wenn ich jetzt daran denke wie Paul...“

„Dann quäl dich doch jetzt nicht damit. Niemand verlangt von dir, dass du jedes Mal in Tränen ausbrichst.“

„Ich weiß, aber es kommt mir so falsch vor.“

„Ja, das verstehe ich“, sagte Alex und strich mit den Fingern beruhigend durch Chris` Haare. „Solange du dich nicht von Paul verabschiedet hast, wirst du diese Gedanken nicht loswerden. Aber danach wird es besser, versprochen.“

„Vielleicht will ich das ja gar nicht“, sagte Chris leise.

„Dagegen kannst du nichts machen. Mit der Zeit findet man sich damit ab und das Leben geht schließlich weiter.“

„Ja. Weißt du was?“

„Hm?“

„Ich bin froh, dass du mich zurückgehalten hast. Auf der Brücke. Danke dafür.“

„Schön, dass du es so siehst. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas wieder gut machen müsste, weil ich es nicht geschafft habe deinen Freund zu retten.“

„Was?“ Chris rückte ein Stück von Alex weg.

„Ich habe euch die ganze Zeit beobachtet, seit wir vor Arnie geflohen sind. Nur an diesem Tag war ich nicht da. Ich hätte nie gedacht, dass ihr am Sonntag raus geht, also bin ich euch auch nicht gefolgt. Aber genau an diesem Tag ist es passiert. Als ich dich dann aus dem Krankenhaus laufen sah, wollte ich nicht noch einmal denselben Fehler machen und bin dir nachgelaufen.“

Chris senkte den Blick und sah auf seine Finger.

„Bist du jetzt sauer auf mich?“, fragte Alex vorsichtig. „Ich wäre dir natürlich auch nachgelaufen, wenn das mit Paul nicht passiert wäre, aber das war in dem Moment mein erster Gedanke.“

„Ich bin nicht sauer auf dich. Ich verstehe nur nicht, warum du dir Vorwürfe machst. Du hättest es nicht verhindern können. Ich hätte es verhindern müssen. Ich hätte Paul überhaupt nicht in meine Probleme mit reinziehen dürfen. Du hattest mit der ganzen Sache doch gar nichts zu tun.“

„Doch. Ich wollte dir helfen, weil du mich dazu gebracht hast, aus der Kneipe zu fliehen. Ohne dich würde ich wahrscheinlich immer noch für Arnie arbeiten.“

„Du hast mir doch zuerst geholfen. Wer hat denn dem Kerl eine Flasche auf den Kopf geschlagen? Danach hättest du einfach verschwinden können. Du hättest Paul nicht retten können. Ich bin aber trotzdem froh, dass du geblieben bist.“

Alex lächelte schwach. „Versteh das jetzt nicht falsch, aber offensichtlich kommen wir nicht voneinander los.“

„Sieht ganz danach aus. Ich bringe immer alle Leute in Gefahr.“

„Du spinnst doch“, sagte Alex. „Wer ist denn jetzt in Gefahr?“

„Nicht jetzt, aber während du uns verfolgt hast. Was wäre denn gewesen, wenn dich jemand von Arnies Leuten gesehen hätte? Du warst so darauf bedacht, uns nicht aus den Augen zu lassen, dass du nicht mehr an dich gedacht hast.“

„Ich war nicht in Gefahr. Und außerdem...“ Alex zögerte.

„Was?“

„Versprichst du mir, dass du nicht sauer wirst, wenn ich es dir sage?“

Chris zog die Augenbrauen zusammen. „Okay.“

„Ich wollte nicht schon wieder jemanden verlieren, der… mir wichtig ist. Deshalb habe ich dich verfolgt und deshalb habe ich dich von der Brücke gezogen.“

Ich wusste es, dachte Chris und wünschte sich gleichzeitig, dass er doch falsch gelegen hätte.

„Ich weiß, dass es unfair ist, dir das zu sagen, aber ich hoffe trotzdem, dass sich dadurch nichts ändert. Beim Tanzen ist es gestern ein bisschen mit mir durchgegangen, aber das wird nicht noch mal passieren, versprochen.“

„Du kannst so was nicht versprechen. Bei Paul hatte ich mir das auch vorgenommen, aber es hat nicht geklappt. Man kann nichts dafür, aber irgendwann passiert einfach etwas.“

„Das ist was anderes. Ich weiß, dass ich mir erst gar keine Hoffnungen machen muss und ich will dir nicht weh tun. Ich werde mich wie ein ganz normaler Freund benehmen.“

„Ich würde dir gerne glauben, aber...“

„Warum tust du es dann nicht?“, fragte Alex.

„Ich mag dich wirklich. Du hast mir sehr geholfen und deshalb habe ich Angst, dass du dein Versprechen nicht halten kannst.“

„Ich verspreche dir, dass ich mein Versprechen halten werde. Dann müsste ich jetzt schon zwei Versprechen brechen.“

„Sehr witzig“, sagte Chris und dann fiel ihm etwas ein. „Dann hatte ich ja doch recht. Erinnerst du dich noch an unseren kleinen Streit im Krankenhaus?“

„Ja“, sagte Alex etwas geknickt. Er wusste sofort, worauf Chris anspielte. „Das war ja aber wohl nicht so schlimm wie du es dargestellt hattest. Ich wollte dich nur trösten.“

„Ich weiß, aber man hat gleich gespürt, dass da noch etwas Anderes war.“

„Du bist aber auch ausgesprochen sensibel bei solchen Sachen, oder?“

„Kann schon sein“, sagte Chris amüsiert über Alex` Verlegenheit.

„Aber jetzt mal im Ernst. Du kannst mir vertrauen. Ich würde nie etwas tun, was dir unangenehm ist.“

„Okay.“

Damit gab sich Chris erst einmal zufrieden. Es blieb ihm ja auch nichts Anderes übrig und er wollte auf keinen Fall riskieren, auch noch Alex zu verlieren.

Abschied

Ob sein Umgang mit Alex jetzt schwieriger oder einfacher geworden war, konnte Chris beim besten Willen nicht sagen. Er war froh darüber, dass er endlich Bescheid wusste, aber wenn Alex ihm auch nur kurz freundschaftlich auf die Schulter klopfte, zuckte er innerlich zusammen. Jedes Mal verfluchte er sich selber dafür, und doch war es beim nächsten Mal wieder genauso. Wenn sie abends nebeneinander auf dem Sofa saßen und fernsahen, legte Alex nicht mehr wie sonst seinen Arm hinter Chris auf die Lehne und er zog ihn auch nicht mehr an sich, wenn er bemerkte, dass ihm fast die Augen zufielen. Das waren Dinge, die Chris fehlten, aber er sprach es nicht an, weil er wusste, dass er es Alex damit nur unnötig schwer machen würde.

Genau das musste der Grund sein, warum die Liebe so viele Freundschaften auf dem Gewissen hat. Welche Freundschaft überlebt schon lange, wenn sich einer von beiden verliebt. Aber daran wollte Chris gar nicht denken. Alex war ihm so wichtig geworden, dass er sich nicht mehr vorstellen konnte, wie sein Leben ohne ihn aussehen würde. Vielleicht würden sich Alex` Gefühle mit der Zeit ändern. In diesen Gedanken legte Chris seine ganze Hoffnung.

Am Donnerstagabend stand Chris völlig neben sich. Er dachte nur noch daran wie er den nächsten Tag überleben sollte. Die Beerdigung, Pauls Mutter beziehungsweise die ganze Familie. Er würde so vielen Leuten begegnen, die Paul gekannt hatte, und die nun behaupten würden, dass sie ihn auch gekannt hatten. Alle würden sie Chris ausstoßen und mit gerümpfter Nase von der Seite ansehen. So stellte er es sich jedenfalls vor. Bis auf Tom, Jane, Lisa und Alex kannte er niemanden, wobei er von Lisa auch fast nichts wusste.

„Du machst mich ganz nervös“, sagte Alex, packte Chris am Handgelenk und zog ihn aufs Sofa. „Tut mir leid, aber das musste jetzt mal sein. Die ganze Zeit läufst du von einem Ende des Zimmers zum anderen. Hin und her. Da verliert ein normaler Mensch beim Zusehen schon mal den Verstand.“

„Ich weiß, aber es geht einfach nicht anders. Ich überlege seit Stunden wie ich es morgen schaffen soll, nicht ins Grab zu fallen. Wenn ich daran denke wie Paul in diesem tiefen Loch in einer Holzkiste liegt und das das Letzte ist, was ich von ihm sehe, wird mir schlecht.“

„Ich weiß, was du meinst, aber es bringt überhaupt nichts, wenn du dich jetzt so verrückt machst.“

„Eigentlich ist es ja noch nicht mal das Letzte, was ich von ihm sehe, weil ich gar nicht ihn sehe, sondern nur den Sarg, in dem er liegt. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, lag er...“

„Stopp. Du redest gerade ganz viel wirres Zeug, falls dir das noch nicht aufgefallen ist“, sagte Alex.

„Ich könnte jetzt ne Zigarette gebrauchen.“

„Du rauchst?“

„Ich habe geraucht, bevor ich Paul kennengelernt habe. Dann habe ich es mir unbemerkt abgewöhnt.“

„Dann solltest du jetzt auch dabei bleiben. Und vor allem solltest du jetzt schlafen gehen.“

„Wie soll ich denn jetzt schlafen?“

„Okay“, seufzte Alex und zog Chris an sich. Er legte seine Arme um ihn und strich langsam über Schulter und Rücken. „Ich tue das nur, um dich zu beruhigen. Also spar dir deine Vorwürfe.“

„Aber...“

„Wir sind nur Freunde, schon vergessen? Und Freunde tun ab und zu mal etwas füreinander. Mach dir keine Gedanken.“

Nachdem Chris über Alex` Worte nachgedacht und beschlossen hatte, ihm zu vertrauen, konnte er sich tatsächlich entspannen. Es war genau wie vor Alex` Geständnis. Genauso angenehm warm und weich. Diese Nähe und Vertrautheit hatte er wirklich vermisst.

„Schläfst du schon?“, fragte Alex nach einer Weile, die sie schweigend verbracht hatten.

„Nein.“

„Dann sind meine Einschlaftricks wohl doch nicht so gut wie ich dachte.“

„Daran liegt es nicht. Ich kann meine Gedanken nur nicht so einfach abstellen.“

„Ich weiß, aber es war einen Versuch wert.“

„Danke. Ich glaube ich gehe jetzt wirklich ins Bett“, sagte Chris und streckte sich. Alex zog seine Arme sofort zurück und verschränkte sie hinter seinem Kopf.

„Gute Idee“, gähnte er.

„Du hättest doch was sagen können, wenn du so müde bist. Meinetwegen hättest du nicht so lange aufbleiben müssen.“

„Ja, das hab ich gemerkt“, sagte Alex sarkastisch. „Ich wäre lieber aus dem Fenster gesprungen als dich allein hier sitzen zu lassen.“

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du derjenige bist, der kein Vertrauen hat“, bemerkte Chris. „Immer machst du dir Sorgen, mich allein zu lassen, aber ich kann selber auf mich aufpassen. Was soll mir hier in der Wohnung schon passieren?“

„Wenn dich das so nervt, höre ich auf damit. Aber ich dachte, dass es dir lieber ist, wenn jemand bei dir ist.“

„Das stimmt ja auch, aber du vertraust mir trotzdem nicht. Ich werde nicht noch mal versuchen, mir etwas anzutun, also hör damit auf, mich wie ein Kind zu behandeln.“

Alex sah Chris entgeistert an. „Entschuldige bitte, dass ich dir helfen wollte.“

„Schon gut.“

„Ich fasse es nicht“, schnaufte Alex. „Willst du mir allen Ernstes vorwerfen, dass ich mir zu viele Sorgen mache?“

„Ja, weil du es tust.“

„Wie sollte ich denn nicht? Wenn ich dich daran erinnern darf, hast du erst vor knapp zwei Wochen zugesehen, wie dein Freund umgebracht wurde, dann wolltest du dich von einer Brücke stürzen und seitdem weinst du dich jeden Abend in den Schlaf. Ich dachte einfach, dass man dann ein wenig freundschaftliche Unterstützung gebrauchen könnte.“

„Deshalb musst du aber noch lange nicht jeden Schritt von mir überwachen.“

„Das tue ich doch auch gar nicht! Ich versuche nur für dich da zu sein, was verstehst du daran nicht? Und ja, ich mache mir Sorgen. Aber wenn du sagst, dass alles in Ordnung ist, lasse ich dich in Ruhe. Und wenn du jetzt sagst, dass ich die Situation nur ausnutzen wollte, schlag ich dich.“ Alex atmete geräuschvoll aus. „Meine Güte.“

Chris wusste nicht mehr, was er darauf antworten sollte. Es war ihm selber schleierhaft, warum er immer versuchte Alex etwas vorzuwerfen. Er war manchmal so durcheinander, dass er gar nicht mehr merkte, was er sagte und später tat es ihm immer wahnsinnig leid. So kannte er sich gar nicht.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien“, sagte Alex geknickt. „Ich weiß, wie schwierig das alles für dich ist, und dass es nicht wirklich der richtige Zeitpunkt war, dir zu sagen, was ich empfinde. Das war nicht fair und ich will nicht, dass du dich deswegen unwohl fühlst. Natürlich kannst du mir immer sagen, wenn dich etwas stört und ich werde in Zukunft auch besser aufpassen.“

Chris starrte auf den Boden. Er traute sich nicht, irgendetwas zu sagen, aus Angst, dass es wieder das Falsche sein könnte. Vielleicht konnte er mit Alex` Gefühlen doch weniger umgehen, als er es sich eingeredet hatte. Konnte es daran liegen? Aber eigentlich vertraute er Alex, auch wenn es die meiste Zeit nicht danach aussah und das letzte, das Chris wollte, war, dass Alex sich von ihm zurückzog. Dass er sich nicht mehr dafür interessierte wie es ihm ging.

Möglicherweise war es Paul genauso gegangen. An dem Abend, als er Chris angeschrien und aus seinem Zimmer geworfen hatte, war sein Gesicht so schreckverzerrt gewesen, als ob er über seine Worte nicht nachgedacht hatte. Genauso wie Paul an diesem Abend ausgesehen hatte, fühlte sich Chris jetzt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er war nicht gut mit Entschuldigungen, weil er sie vorher nie benutzen musste.

„Hey, Chris. Komm mal her“, sagte Alex schließlich nach langem Zögern und drückte ihn ganz fest an sich. „Du bist echt ein Esel. Behaupte du noch mal, dass man sich deinetwegen keine Sorgen machen muss.“

Chris blieb weiterhin stumm. Es tat ihm alles so leid und so weh, was er Alex zumutete. Dabei hatte er ihm so viel zu verdanken.

Langsam merkte er, dass sich sein Körper etwas entspannte und müde wurde, aber er ließ Alex nicht los. Er legte seinen Kopf an Alex` Schulter und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. So könnte er die ganze Nacht verbringen, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Denn Alex war nur ein Freund, nicht mehr. Das musste er sich endgültig klar machen.

„Danke“, sagte er leise und schlief kurz darauf ein.

„Wie willst du nur morgen die Beerdigung überstehen, hm? Du bist ja jetzt schon ganz durch den Wind“, flüsterte Alex.

Am nächsten Morgen dachte Chris für einen Moment, dass er neben Paul im Bett lag. Er drehte sich verschlafen seufzend zur Seite, ohne die Augen zu öffnen und schmiegte sich an den schlafenden Körper neben sich. Zwei Arme schlangen sich um ihn und streichelten über die nackte Haut seines Oberkörpers.

Weder Alex, noch Chris realisierten, was sie da taten bis sie die Augen aufschlugen und einander ansahen. Ihre Gesichter waren dicht beieinander, doch dann richtete sich Alex schnell auf, während Chris liegen blieb und zu begreifen versuchte, was gerade geschehen war.

„Warum sind wir hier?“, fragte er schließlich und sah sich im Wohnzimmer um. Ihm war die peinliche Lage offensichtlich nicht so bewusst wie Alex, dessen Gesicht eine leicht rötliche Färbung hatte.

„Du... äh... du bist gestern hier eingeschlafen. Und weil du dich so an mich geklammert hast, bin ich auch hier geblieben.“

Jetzt ging Chris ein Licht auf. Sie hatten sich gestritten. Und er hatte sich immer noch nicht bei Alex dafür entschuldigt. Und... Moment mal. Hatten sie zusammen auf dem Sofa geschlafen? Es sah ganz danach aus.

„Du bist doch jetzt nicht böse auf mich, oder?“, fragte Alex vorsichtig.

„Kommt ganz darauf an, was du mit mir gemacht hast, nachdem ich eingeschlafen war.“

„Gar nichts hab ich getan. Na ja, ich hab dir dein T-Shirt ausgezogen, aber sonst nichts. Ich schwöre.“

„Schon gut, ich glaube dir ja. Eigentlich müsste ich mich bei dir entschuldigen. Ich hab gestern wohl ein bisschen übertrieben und ich wollte dir auch nichts unterstellen.“

„Hab ich schon vergessen. Dafür durfte ich immerhin eine ganze Nacht neben dir schlafen.“

„Gewöhn dich lieber nicht daran“, sagte Chris ernst.

„Das war doch nur `n Witz.“

„Ja, ich weiß, aber ich fühle mich trotzdem schlecht dabei, wenn ich dich so ausnutze.“

„Was heißt denn hier ausnutzen?“

„Ich denke nie daran wie es dir dabei geht, wenn du mich tröstest oder mich in den Arm nimmst. Ich bin immer nur froh, dass jemand da ist und dann ist mir alles egal.“

„Und ich dachte, dass mein Geständnis alles einfacher machen würde. Leider sieht das gar nicht danach aus. Aber du musst dir wirklich keine Gedanken machen. Wenn ich mich nicht wohl fühle, sage ich dir schon Bescheid.“

„Das glaube ich eben nicht“, sagte Chris besorgt. „Wahrscheinlich geht es dir in diesen Momenten gut, aber was ist danach? Du würdest es mir doch nie sagen, wenn du es bereust, mich in den Arm genommen zu haben, oder?“

„Du siehst das ganz falsch. Wenn man sich dabei keine falschen Hoffnungen macht, hat man auch keinen Grund etwas zu bereuen. Ich hab kein Problem damit, in deiner Nähe zu sein, ganz im Gegenteil. Ich nehme dich gerne in den Arm, weil ich dich gern hab und weil ich weiß, dass es dir hilft. Du hast genug andere Probleme, gerade heute, also vertrau mir einfach, ok?“

„Ach du Schande, das hab ich ja ganz vergessen. Heute ist die Beerdigung.“ Chris warf die Decke zurück und stand auf.

„Jetzt bitte keinen hysterischen Anfall! Alles ist gut.“

„Von wegen! Ich weiß überhaupt nicht, was ich anziehen soll. Wie spät ist es?“

„Wir haben noch genug Zeit“, sagte Alex und legte Chris beide Hände auf die Schultern. „Du gehst jetzt duschen, dann suchst du dir was zum Anziehen raus und dann frühstücken wir ganz in Ruhe.“

„Okay.“

Chris tat alles wie Alex es gesagt hatte, aber als er vor dem Kleiderschrank stand, wusste er nicht, was für diese Beerdigung das Richtige war. In einigen Ländern würde man Weiß tragen, weil die Menschen dort daran glauben, dass die Seele ins Licht aufsteigt. Eine schöne Vorstellung, aber für Chris war Pauls Tod noch so nah und schmerzhaft, dass er sich an diesem Gedanken nicht erfreuen konnte. Er fühlte sich eher nach dem hierzulande traditionellen Schwarz, das den Kummer und die Leere ausdrückt, die der Verstorbene zurückgelassen hatte. Paul war einfach zu früh gegangen, als dass man seinen Tod als Erlösung ansehen konnte.

Nachdem Chris sich schließlich entschieden hatte, ging er zu Alex, der in schwarzer Hose und schwarzem Hemd bereits in der Küche saß. Sicherlich war ihm die Entscheidung nicht so schwer gefallen. Wahrscheinlich hatte er gar nicht darüber nachgedacht und wie selbstverständlich diese Sachen angezogen. Er blickte auf und sah Chris an.

„Ich hab mich schon gefragt, wofür du dich entscheidest.“

„Und?“

„Sieht gut aus. Ich kann mir schon vorstellen, wofür das Rot steht.“

„Ja, du hast recht“, sagte Chris erleichtert und sah an sich hinab. Er hatte eine schwarze Hose, ein rotes Hemd und darüber eine schwarze Strickjacke angezogen.

„Komm, jetzt iss erst mal was“, sagte Alex und schob den Stuhl ihm gegenüber mit dem Fuß unter dem Tisch hervor. „Wenigstens ein bisschen, sonst kippst du wirklich um. Und ich hab dir ja gesagt, was ich nicht noch mal tun möchte.“

„Ist ja gut.“

Unruhig saß Chris am Tisch und schmierte sich gezwungenermaßen ein Brot. Es wurde kaum gesprochen, was die Minuten nur noch mehr in die Länge zog. Alex warf Chris immer wieder einen skeptischen Blick zu, als erwartete er einen erneuten emotionalen Ausbruch, aber alles, was er sah, war Nervosität. Von Trauer vorerst keine Spur. Das war ihm bei der Beerdigung seines Freundes auch so ergangen. Man macht sich um so vieles Gedanken, dass das Wesentliche gar nicht wahrgenommen wird. Angefangen bei der Kleidungsfrage, dann die Fahrt und das Besichtigen der geschmückten Kapelle und schließlich das Treffen mit den Angehörigen. Chris` Sorge galt zurzeit sicherlich dem letzten Punkt. Alex konnte die Frage fast schon hören, so deutlich stand sie ihm ins Gesicht geschrieben. Wie werden sie auf mich reagieren?

Nachdem sie auch noch die Fahrt schweigend hinter sich gebracht hatten, fingen Chris` Hände an zu zittern. Er stieg aus dem Taxi und sah Alex vielsagend an. Jetzt war es so weit. Eine ganze Menschenmenge hatte sich bereits versammelt und Chris kannte keinen von ihnen. Würden sie ihn erkennen oder war ihm noch eine Gnadenfrist gegeben?

Drei Leute kamen aus der Menge auf ihn zu. Ihre Gesichter zeigten gleichzeitig Freude und Besorgnis.

„Hallo Chris. Schön dich zu sehen“, sagte Tom und drückte ihn einmal kurz. Jane und Lisa taten es ihm gleich und es fühlte sich eigenartig gut an. Er war gar nicht allein.

Alex wich nicht eine Sekunde von seiner Seite und die anderen drei waren auch immer in der Nähe. Zusammen gingen sie scheinbar unbemerkt in die Kapelle und setzten sich auf halber Höhe in eine der Bankreihen. Chris konnte seinen Blick nicht von dem Sarg abwenden, der über und über mit Sonnenblumen bedeckt war. Es sah so schön aus und das machte den Gedanken, dass Paul darin lag, nur noch schrecklicher und unvorstellbarer. Nun war es endgültig und nicht mehr zu leugnen, dass er Paul nie wieder sehen würde. Das Gesicht, das ihn eine Zeit lang Tag und Nacht begleitet hatte, war auf einmal unerreichbar und das letzte Mal, als er es gesehen hatte, hatte es sein Leuchten verloren. Von einer Sekunde auf die andere. War es wirklich schon fast zwei Wochen her?

Die Gefühle, die an diesem Tag der Beerdigung, bei diesem Anblick in Chris wach wurden, waren unmöglich zu beschreiben. Sie wechselten immer wieder, dass ihm ganz schwindelig wurde, doch sein Kopf war leer. Er versuchte zu begreifen, aber es schien alles so unecht und dann wieder nicht. Eine solche Verwirrung hatte er noch nie erlebt. Anfangs nahm er überhaupt nicht wahr, dass er sich auf einer Beerdigung befand und wirkte beinahe teilnahmslos, doch dann traf ihn mit einem Mal die Gewissheit, dass er sich in nicht allzu ferner Zukunft für immer von Paul verabschieden musste. Von der Liebe seines Lebens. Genau so ein Augenblick war es dann schließlich auch, der die Schleusen öffnete und der angestauten Trauer freien Lauf ließ. Wenn es möglich war, war es sogar noch unerträglicher, als unmittelbar nach dem Anschlag. Jetzt, da Chris nichts mehr abstreiten oder verdrängen konnte, war der Schmerz so groß, dass es in seinem Körper keinen Platz mehr für etwas Anderes zu geben schien. Alex hielt ihn so fest er nur konnte, aber das Gefühl, auseinander zu brechen, ließ sich nicht beherrschen.

Der Trauerrede folgte Chris nur mit einem Ohr. Wie vermutet, wurden die letzten Wochen von Pauls Leben nicht mit einer Silbe erwähnt und das machte ihn so wütend, dass das Schluchzen und Zittern vorerst wieder schwächer wurden. Er atmete tief durch und versuchte, nicht daran zu denken, was als Nächstes geschehen würde. Er schob das Unausweichliche in Gedanken weit weg und konnte so ein wenig neue Kraft schöpfen. Doch wie das mit dem Verdrängen nun mal so ist, kommt irgendwann doch der Punkt, an dem man sich eingestehen muss, dass der gefürchtete Moment gekommen ist.

Dieser Moment kam, als sechs Männer die Kapelle betraten und sich neben dem Sarg aufstellten. Sie hoben ihn vorsichtig an und trugen ihn den Gang entlang nach draußen. Nacheinander standen die Personen in den ersten Reihen auf und folgten ihnen langsam, mit der Begleitung einer langsamen, melancholischen Musik. Sobald der Sarg angehoben worden war, hatte Chris das Gefühl, dass er die Beerdigung nicht aushalten würde. Diese sechs fremden Männer trugen Paul davon und machten es damit für immer unmöglich ihm nahe zu sein.

Chris stand auf und mit ihm alle, die in derselben Reihe gesessen hatten. Sie reihten sich in den Trauerzug mit ein und verließen die kleine Kapelle. Chris lief gedankenverloren hinterher. Dass die Sonne strahlte wie schon lange nicht mehr und versuchte, alles ein wenig wärmer und angenehmer zu machen, interessierte ihn so wenig, dass er es nicht einmal wahrnahm. Er konzentrierte sich nur darauf einen Fuß vor den anderen zu setzen und irgendwie den Anschluss zu behalten.

Paul hatte in seinem Leben so viel verändert. Und andersrum genauso. Warum hatten sie so wenig Zeit zusammen gehabt? Sie hätten ein ganz normales Leben führen können, aber jetzt war einer tot und der andere lief hinter seinem Sarg her. Chris fühlte sich so schwer, als wäre sein gesamter Körper mit Gewichten bestückt. Sie zogen ihn zu Boden und machten jeden Schritt um ein Vielfaches unerträglicher als er es ohnehin schon war. Wenn er nur nicht so egoistisch gewesen wäre... Er hatte Paul mit seiner Liebe in Gefahr gebracht, doch es gab immer noch einen Teil in ihm, der es nicht bereute. Sie waren so glücklich miteinander, wie sie es vorher nie gewesen waren.

Trotzdem spürte er mit jedem Schritt die Schuld und nicht nur einmal dachte er, es wäre nicht nur Pauls letzter Weg. Es war der Preis, den er zahlen musste. Paul hatte ihm gezeigt, was es heißt zu leben, und dass jeder ein Recht darauf hat.

Der Trauerzug bog in einen kleinen Weg ein, an dessen Ende ein großer Sandhaufen lag. Chris blieb stehen und für einen Moment waren die Gewichte so schwer, dass er keinen einzigen Schritt mehr gehen konnte. Aber er musste sich von Paul verabschieden. Alex legte eine Hand auf seine Schulter und schob ihn sanft vorwärts. Zusammen gingen sie das letzte Stück und sahen den sechs Trägern zu, wie sie den Sarg vorsichtig an Seilen in das ausgehobene Loch sinken ließen. Alex stand direkt hinter Chris, der jetzt Pauls Familie beobachtete wie sie Sand und Blumen ins Grab warfen. Alle trugen ausnahmslos Schwarz als würde man es ihnen dadurch eher abnehmen, dass Pauls Tod etwas Schreckliches für sie war. Alle stützten und bedauerten sie sich gegenseitig, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, was für Paul das Wichtigste gewesen war. Niemand sah Chris auch nur an. Man ignorierte ihn wie jemanden, der einfach nicht dazu gehörte.

Als Chris selber an der Reihe war, war er nicht wirklich bei sich. Wie in Trance griff er nach der Schaufel, doch er hatte nur Pauls Gesicht vor Augen. Er lächelte ihm zu.

Der Sand fiel auf den Sargschmuck aus Sonnenblumen und erst als sich Chris wieder in die Reihe gestellt hatte, bemerkte er, was er getan hatte. Er atmete schwer aus. Es war vorbei. Er hatte sich von Paul verabschiedet und er war erleichtert darüber. Alex hatte recht gehabt: ein Ende kann es nur nach einem Abschied geben. Trotzdem kullerten Tränen, eine nach der anderen, über seine Wange. Er würde ihn so schrecklich vermissen.

Lisa kam auf Chris zu und nahm ihn in den Arm. Auch sie weinte. Alex stand immer noch hinter Chris und stütze ihn, als er sich von Lisa trennte. Die Gewichte waren nicht verschwunden.

Ausgerechnet in dem Moment kam eine Frau mittleren Alters auf die kleine Gruppe zu und betrachtete Chris als hätte er sie soeben geschlagen.

„Was fällt dir ein hier aufzutauchen?“, sagte sie mit zittriger, aber sehr ernster Stimme. „Ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich dich hier nicht sehen will.“

„Er hat ebenso das Recht an der Beerdigung teilzunehmen wie Sie“, entgegnete Tom.

„Er hat meinen Sohn umgebracht!“

„Jetzt mach mal halblang“, schaltete sich Lisa ein. „Er hat Paul mehr gegeben als du. Du wolltest doch nichts mehr mit ihm zu tun haben. Chris hat Paul geliebt und ihm das auch gezeigt. Sie waren glücklich.“

„Das ist Unsinn! Er hat ihn doch nur verführt, mit schmutzigen Tricks!“

„Jetzt ist aber gut“, sagte eine jüngere Frau, die gerade dazugekommen war. Sie hatte etwas an sich, das Chris an Paul erinnerte. „Du hast versprochen dich zurückzuhalten.“

„Das tue ich doch“, sagte Pauls Mutter giftig. „Mir würden da noch ganz andere Sachen einfallen.“ Ihr Blick ruhte auf Alex.

„Das will aber niemand hören, also geh jetzt.“

„Bist du etwa auf seiner Seite?“

„Wenn du dich so aufführst, ja.“

„Wie bitte? Ich bin deine Mutter! Und er...“

„Jetzt geh schon.“

„Na schön“, sagte Pauls Mutter. „Aber den da will ich nicht noch mal sehen.“

„Dann haben wir ja doch etwas gemeinsam“, sagte Chris.

Sie sah ihn wütend an und ging.

„Tut mir leid“, sagte die junge Frau verlegen. „Ich bin übrigens Melanie, Pauls Schwester.“

Melanie gab Chris die Hand und lächelte ihn freundlich an. Jetzt war klar, warum sie Paul so ähnlich sah.

„Paul hat mich bestimmt nie erwähnt, oder?“

„Nein. Er hat immer nur von seiner Familie erzählt, aber nie gesagt, wer dazu gehört“, sagte Chris.

„Es tut mir leid wie meine Mutter dich behandelt. Ich glaube sie weiß ganz genau, was du Paul bedeutet hast und ist deswegen gekränkt. Sie hatten eigentlich immer ein sehr gutes Verhältnis, nur zum Schluss nicht mehr. Als sie von dir erfahren hat, ist sie fast an die Decke gegangen.“

„Und was ist mit dir? Warum warst du dir so sicher, dass Paul nichts von dir erzählt hat?“

„Er hat sich von mir hintergangen gefühlt, weil ich meine Mutter in einem Streit verteidigt habe. Sie ist damals zu ihm gefahren, um mit ihm über die Trennung von Lisa zu sprechen. Sie war zwar nicht gerade begeistert, aber sie hatte nicht vor, ihm Vorwürfe zu machen. Paul hatte aber genau das vermutet und es ging ihm zu der Zeit sowieso sehr schlecht. Er hat sie vor die Tür gesetzt, bevor sie überhaupt etwas sagen konnte. Ich hab ihn angerufen, nachdem meine Mutter mir davon erzählt hatte, aber er war auch zu mir nicht besonders nett. Wir haben uns gestritten, er hat mich angeschrien und dann einfach aufgelegt. Seitdem wollte er nicht mehr mit mir reden. Er war immer so stur, genau wie unsere Mutter. Sie hatten sich von da an nichts mehr zu sagen und mich hat er mit ausgeschlossen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so auseinander gehen müssen.“ Melanie sah traurig aus. Es musste ein Schock für sie gewesen sein, als sie von Pauls Tod erfahren hatte. „Tut mir leid, wenn ich dich so überrumple, aber ich wollte dir unbedingt sagen, dass ich froh bin, dass Paul dich hatte. Ich hätte nie gedacht, dass er jemanden an sich ran lassen würde. Es war bestimmt nicht einfach am Anfang, oder?“

„Nein“, sagte Chris und musste ein wenig lachen. „Er hat immer versucht mir aus dem Weg zu gehen, aber das war mir egal. Ich wollte bei ihm sein und das habe ich auch geschafft.“

„Hast du was dagegen, wenn ich dich mal besuche? Vielleicht kannst du mir ja ein bisschen was erzählen. Und ich dir.“

„Klar“, sagte Chris und wandte sich dann an Alex. „Oder hast du was dagegen?“

„Nein.“

„Dann komm doch einfach vorbei, wenn du Zeit hast.“

„Ok. Also, ich glaube ich sollte jetzt gehen, bevor meine Mutter wieder kommt“, sagte Melanie und verabschiedete sich von allen.

„Wollen wir gehen?“, fragte Alex und legte Chris einen Arm um die Schultern.

Chris nickte und warf noch einen letzten Blick ins Grab, bevor sie sich auf den Weg machten.

Das dritte Kartenhaus

Schon auf der Fahrt spürte Chris, wie die Gewichte von ihm abfielen. Er konnte wieder normal atmen, ohne sich darauf konzentrieren zu müssen und sein Körper fühlte sich nicht mehr an, als würde er von etwas zerdrückt oder auch auseinandergerissen. Er fühlte sich wirklich erleichtert und anscheinend war auch der Punkt erreicht, an dem die Verzweiflung und das ständige Weinen ein Ende hatten. Ausgerechnet nach der Beerdigung. Nachdem er zugesehen hatte wie Pauls Sarg in die Erde gelassen worden war. Aber wer weiß schon, was wirklich im menschlichen Kopf vorgeht, wenn man einer solchen Extremsituation ausgesetzt ist. Alles spielt verrückt, man ist blind vor Schmerz und wahrscheinlich macht man sich bis zu Letzt noch Hoffnungen. Wenn man dann der Realität ins Auge sehen muss, glaubt man für einen schrecklichen Moment, dass es einen zerreißt, aber dann...

Chris war unglaublich froh, dass er diesen Moment hinter sich hatte. Mit ein bisschen Glück würde jetzt alles wieder besser werden und irgendwann konnte er dann vielleicht auch ohne Paul glücklich sein. Schwer vorstellbar, aber das musste eines seiner Ziele sein. Das Wichtigste war jetzt aber erst mal, dass er sein Leben in den Griff bekam. Er wollte Alex nicht zu lange auf der Tasche liegen und ihn vor allem nicht mehr ausnutzen. Auch wenn er es immer abstritt, Chris konnte sich sehr gut vorstellen, wie er sich fühlen musste. Demjenigen, den man liebt, immer so nah zu sein und ihn doch so weit weg zu wissen, war bestimmt nicht leicht. Trotzdem bat Chris Alex an dem Abend nach der Beerdigung, bei ihm zu bleiben. Alex` Nähe und Wärme waren das, was Chris in den letzten Tagen zusammengehalten hatte. Er war nie gerne allein gewesen, aber jetzt hatte er einen Freund, der ihn festhielt, noch viel nötiger.

„Würdest du mir wirklich sagen, wenn es dir etwas ausmacht?“, fragte Chris, als Alex sein Zimmer betrat.

„Ja, das würde ich.“ Alex schaltete das Licht aus und kroch unter die Bettdecke. „Mach dir nicht so einen Kopf“, sagte er und legte sich neben Chris.

„Warum hat Pauls Mutter dich vorhin so angesehen?“

„Wahrscheinlich dachte sie, ich wär dein neuer Freund.“

„Was?“

„Na ja, sie weiß über dich Bescheid und über mich wahrscheinlich auch. Wenn man jemanden nicht leiden kann, sieht man eben nur die Dinge, die man sehen will.“

„Sie denkt also, dass ich Paul sofort ersetzt habe“, sagte Chris. „Oh man, die ist doch nicht mehr ganz dicht.“

„Reg dich nicht auf, dafür ist es viel zu spät. Wir sollten lieber mal ans Schlafen denken.“

Da musste Chris ihm zustimmen. Er war wirklich müde von der ganzen Anspannung und die Vorstellung, die Augen zu schließen, war sehr verlockend. Also tat er es auch. Er spürte gerade noch wie Alex sich umdrehte, dann war er auch schon eingeschlafen.

Die Sonne schien durch die Blätter der Bäume. Es war angenehm warm. Chris stand auf dem Friedhof, vor Pauls Grab. Er hatte eine Sonnenblume in der Hand und blickte in das tiefe schwarze Loch vor seinen Füßen. Es war nichts zu sehen, kein Sarg, keine Blumen, kein Sand. Es war fast als ginge das Loch so tief in die Erde, dass man den Boden nicht mehr sehen konnte. Chris war allein und es war still. Verwirrt starrte er ins Dunkel und wieder hoch in die Sonne. Er hatte Paul besuchen wollen, aber warum war da nichts? Wo war Paul?

Der Griff seiner Finger löste sich und die Sonnenblume fiel in das Loch. Sie verschwand und Chris hörte nicht einmal wie sie unten aufkam. Er trat noch näher an das Grab heran und bemühte sich angestrengt etwas zu erkennen, aber da war nichts. Doch dann hörte er eine Stimme. Sie flüsterte seinen Namen, immer wieder. Es war Pauls Stimme, die aus der Tiefe kam. Sie sagte ihm, dass er springen soll. Chris zögerte. Er wollte zu Paul, aber das schwarze Loch machte ihm Angst. Die Stimme wurde lauter: „Ich liebe dich. Komm.“

„Chris!“, rief jemand anderes jetzt direkt hinter ihm. Er kam näher und packte Chris an den Armen. Er schüttelte ihn, aber Chris konnte seinen Blick nicht von dem Grab abwenden.

Langsam verschwand das alles, nur das laute Rufen blieb. Chris öffnete die Augen und sah Alex direkt über sich. „Na endlich“, sagte er erleichtert. „Ich dachte schon das geht ewig so weiter.“

Chris brauchte noch einen Moment, um wieder in der Realität anzukommen. Pauls Stimme hallte noch immer in seinem Kopf. „Entschuldige, dass ich dich geweckt habe“, sagte er schließlich.

„Ist schon gut. Dafür bin ich immerhin hier geblieben. Meinst du, du kannst wieder schlafen?“

Chris nickte.

„Okay. Komm“, gähnte Alex und breitete seine Arme aus. „Damit das nicht noch mal passiert“, fügte er hinzu, als er Chris` Blick bemerkte. Dann breitete er die Decke wieder über ihnen aus und zog Chris zu sich heran. „Ich will jetzt nichts hören. Entspann dich einfach und versuch wieder zu schlafen.“

„Meinst du deine Einschlaftricks helfen heute mal?“, fragte Chris und lächelte schwach. Er kuschelte sich in Alex` Arme und genoss die Wärme und Vertrautheit, die sein Körper ausstrahlte. Das hatte er so vermisst. Jemanden, mit dem er einschlafen konnte und bei Alex störte es ihn nicht einmal, dass sie eigentlich gar nicht zusammen waren.

„Ja, ich bin sicher“, gähnte Alex wieder und schloss die Augen.

Sie schliefen bald wieder ein und vor allem durch bis zum nächsten Morgen. Als Chris aufwachte, lag er noch genau so da. Alex schlief noch immer. Wie spät es wohl war?

Chris drehte sich auf den Rücken und streckte die Arme aus. Sie fühlten sich ein wenig taub an, weil er sie die ganze Zeit angewinkelt hatte, aber sonst ging es ihm gut. Dank dieses merkwürdigen Traumes wusste er jetzt auch endgültig, dass er leben wollte, und dass es sich lohnte dafür zu kämpfen. Egal wie lange der Kampf dauern würde. Er wusste, dass er Alex vertrauen konnte und vor allem, dass er ihn immer wieder von allen Abgründen wegziehen würde. Ein schönes Gefühl.

Ein Monat war schon seit Pauls Tod vergangen. Das Gesteck auf dem Grab begann schon zu welken, genau wie die Kränze, die dort niedergelegt wurden. In den nächsten Tagen sollte alles frisch bepflanzt und der Stein gesetzt werden. Das war wieder ein weiterer, endgültiger Schritt. Chris hatte ein wenig Angst davor, Pauls Namen auf diesem Stein zu lesen. Er war sich sicher, dass ihn das ein großes Stück zurückwerfen würde, zumindest für kurze Zeit. Danach konnte er dann aber anfangen, alles zu verarbeiten. Dann würde bis auf die Verhandlung alles vorbei sein. An diesen Gerichtstermin dachte Chris allerdings noch gar nicht. Solange er sich nicht damit auseinander setzen musste, würde er es auch nicht tun. Die Polizei hatte sich deswegen noch nicht gemeldet, also blieb noch Zeit.

Alex und er verstanden sich mittlerweile fast blind. Es war beinahe als wohnten sie schon ewig zusammen, wie Geschwister. Chris war sehr erleichtert, als ihm das klar wurde, denn das hieß auch, dass er sich keine Sorgen mehr machen musste. Alex würde mit Sicherheit nie etwas tun, das er nicht wollte. Sie hatten so viel gemeinsam und waren in dem letzten Monat so eng zusammengewachsen, dass keiner von beiden das jemals aufs Spiel setzen würde. Das war es einfach nicht wert.

Es war Mittwoch. Melanie hatte beschlossen, sie an diesem Tag zu besuchen. Chris war froh, dass sie sich mit der Anfrage Zeit gelassen hatte. So kurz nach der Beerdigung hätte er mit ihr noch nicht über sich und Paul sprechen können und wollen. Wahrscheinlich ging es ihr ganz genau so.

„Hey, schön dich zu sehen“, sagte sie freundlich, als Chris ihr die Tür öffnete, und umarmte ihn zur Begrüßung.

„Danke, ich freue mich auch.“

„Die Wohnung ist ja der Wahnsinn. Ich nehme an, dass das Alex` Idee war?“

„Ja. Als ich eingezogen bin, sah es schon so aus.“

Sie zog sich ihre Schuhe aus. Eine Jacke brauchte man jetzt nicht mehr, weil es endlich schön warm war.

„Und wie ist es jetzt für dich? Kommst du klar?“, fragte Melanie und folgte Chris ins Wohnzimmer.

„Ja, es geht. Irgendwie muss es ja. Hat sich deine Mutter wieder beruhigt?“

„Ach die. Sie ist einfach viel zu stur und zu stolz, um sich einzugestehen, dass es jemanden gab, den Paul mehr geliebt hat, als sie. Sie hing immer sehr an ihm und jetzt macht sie sich Vorwürfe, dass sie nicht einen Schritt auf ihn zu gemacht hat. Aber das würde sie nie zugeben.“

„Ich hoffe nur, dass ich ihr nicht mal irgendwo über den Weg laufe.“

„Du hast von ihr nichts zu befürchten. Sie wird zwar gern mal laut, aber meistens steckt nicht allzu viel dahinter.“

„Gut zu wissen“, sagte Chris und versuchte sich an einem Lächeln.

„Weißt du schon wie es für dich jetzt weitergehen soll? Bleibst du erst mal bei Alex?“

„Ja, vorerst werde ich wohl hier bleiben, aber ich will ihm auch nicht länger als unbedingt nötig auf der Tasche liegen. Auf jeden Fall möchte ich wieder zur Schule gehen und dann ein möglichst normales Leben führen.“

„Und bleibst du hier in der Stadt?“

„Das weiß ich auch noch nicht. Irgendwie mag ich nicht gehen, aber ich will auch nicht bleiben, weil ich überall an mein früheres Leben erinnert werde.“

„Versteh mich bitte nicht falsch“, sagte Melanie, „aber in welcher Beziehung stehst du eigentlich zu Alex?“

„Wir sind Freunde. Nicht mehr, falls du das meintest.“

„Na ja, ihr seht einfach so vertraut miteinander aus. Würde er dir denn nicht fehlen, wenn du weggehst?“

„Doch, sehr sogar. Ehrlich gesagt wüsste ich gar nicht, was ich ohne ihn machen sollte, aber das ist gleichzeitig auch ein Grund, warum ich nicht bleiben kann. Er soll sich nicht ständig um mich Sorgen machen müssen. Immerhin hat er ein eigenes Leben, das er wieder auf die Reihe kriegen muss.“

Melanie sah Chris nachdenklich an. „Er weiß gar nichts davon, oder? Dass du vielleicht gehst?“

„Nein. Ich hab mit ihm noch nicht darüber gesprochen. Dann wird er bestimmt mitkommen wollen und das will ich nicht.“

„Also denkt er anders über eure Freundschaft?“

Chris antwortete nicht darauf. Es war ihm unangenehm mit Melanie darüber zu reden. Sie sollte nicht denken, dass er sich schon wieder neu verliebt hatte. Immerhin war sie Pauls Schwester.

„Ach so“, sagte sie und nickte.

„Ich weiß, dass es schwer für ihn ist. Auch wenn er es nicht zugibt. Deswegen kann ich nicht mehr lange hierbleiben. Und wenn ich schon weggehe, dann auch ganz weg und nicht nur in eine andere Wohnung.“

„Ja, das kann ich verstehen.“

„Paul würde auch sagen, dass ich mein Leben endlich in den Griff bekommen sollte, jetzt, wo ich endlich keine Angst mehr haben muss.“

„Ja, du kannst wieder neu anfangen.“

„Aber ich hab Angst, wieder allein zu sein“, sagte Chris wahrheitsgemäß. „Wenn ich gehe, habe ich erst mal wieder niemanden.“

„Du solltest mit Alex reden und ganz genau darüber nachdenken, was das Beste ist.“

„Eigentlich wollte ich mit Paul neu anfangen, aber die Zeit war zu kurz. Als wir gerade zusammen gekommen waren, habe ich mich immer gefragt, wie ich es vorher ohne ihn ausgehalten hab. Jetzt frage ich mich immer, wie ich es jetzt kann. Keine Ahnung, ob es darauf überhaupt eine Antwort gibt.“

„Manches kann man einfach nicht erklären“, sagte sie und zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Sag mir bitte, wenn du nicht darüber sprechen willst, aber ich würde gerne von dir wissen wie... wie es war.“

Sie sahen sich an. Es gab keinen Zweifel daran, was sie meinte.

„Du bist der einzige, den ich danach fragen kann.“

„Ja, ich weiß. Manchmal denke ich, dass es besser gewesen wäre nicht dabei zu sein. Diese Bilder gehen mir einfach nicht aus dem Kopf. Die Erinnerung an sein Gesicht und das viele Blut; manchmal würde ich das alles gerne löschen. Aber wenn ich mir vorstelle, alles von jemand anderem zu hören, dann bin ich doch froh, dass ich da war, und dass er nicht allein sein musste. Ich werde nie vergessen, was er zuletzt gesagt hat und wie er mich dabei angesehen hat.“

Melanies Lippen zitterten ein wenig, als sie genauer nachfragte. „Was hat er denn gesagt?“

„Er hat gesagt, dass er mich nie verlassen wird, und dass ich für uns beide atmen werde“, sagte Chris mit einem kurzen tonlosen Lachen. Danach klang seine Stimme kraftlos. „Und dabei hat er geweint. Er wusste genau, dass er sein Versprechen nicht halten kann. Warum hat er es dann erst gesagt? Er hat gelogen.“

Eine Art Ruck ging durch seinen Körper, als er das sagte. Es fühlte sich an, als wäre ihm endlich die Antwort auf die eine Frage eingefallen, die er sich schon immer gestellt hatte. Er verbarg sein Gesicht in seinen Händen und konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum dieser Gedanke erst jetzt kam. Bisher hatte er niemandem davon erzählt. Nicht einmal Alex. Vielleicht lag es daran, dass niemand vorher so genau danach gefragt hatte, wie Melanie an diesem Tag. Er hatte diese Worte einfach verdrängt und jetzt trafen sie ihn vollkommen unvorbereitet. Und es war tatsächlich so. Paul hatte ihn angelogen.

Melanie legte eine Hand vorsichtig auf Chris` Schulter. Sie wusste nicht, was sie sonst tun konnte.

Mit einem Klacken öffnete sich die Wohnungstür und kurz darauf betrat Alex das Wohnzimmer. Als er Chris sah, ging er sofort auf ihn zu und kniete sich vor ihm auf den Boden.

„Hey“, sagte er leise und packte Chris an den Schultern. „Was ist denn hier los?“

„Er hat mich angelogen. Er hat gesagt, dass er mich nicht allein lässt!“

Alex setzte sich aufs Sofa und nahm Chris in den Arm. Wovon redet er nur? , fragte er sich und versuchte Chris ein wenig zu beruhigen. Es wurde allerdings nur noch schlimmer. So hatte Alex ihn im ganzen letzten Monat noch nicht gesehen. Er dachte, es wäre schon alles überstanden.

„Warum hat er das gesagt?“

Alex wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er sah fragend zu Melanie, aber sie konnte auch nur mit den Schultern zucken.

„Er hat gelogen“, wiederholte Chris einige Male und klammerte sich an Alex.

Alex war noch immer ein wenig starr vor Schreck, aber er bat Melanie, ihm eine der Decken zu reichen. Er wickelte Chris darin ein und strich über dessen Rücken. Zuerst schien nicht mal das zu helfen, aber mit der Zeit ließ das Zittern nach und Chris wurde spürbar ruhiger. Nur seine Finger hielten Alex weiterhin verbissen fest.

Melanie saß daneben und sah Chris traurig an. Sie hätte nie gedacht, dass ihre Frage so eine Auswirkung haben könnte und sah Alex jetzt entschuldigend an. Er schüttelte allerdings nur den Kopf und wandte sich Chris zu.

„Geht´s wieder?“

Chris nickte, obwohl Pauls Worte immer noch in seinem Kopf hallten.

„Du hast uns beide ganz schön erschreckt. Ich glaube du hast vergessen mir etwas zu erzählen.“

„Ich hatte es vergessen.“

„Was denn? Etwas, das Paul dir gesagt hat?“

„Ja, aber es war eine Lüge“, sagte er überzeugt. „Er hat versprochen, dass er mich nicht allein lässt.“

„Das kommt dir nur jetzt so vor. Du wirst dich wundern wie viel er dir von sich dagelassen hat.“

„Das bringt mir nichts, wenn er nicht da ist. Er hat mich allein gelassen.“

„Das sehe ich aber ganz anders“, sagte Alex und richtete Chris auf, sodass er ihn ansehen konnte. „Natürlich war Paul etwas ganz Besonderes für dich und es ist auch normal, dass er eine riesige Lücke hinterlässt, aber deshalb bist du noch lange nicht allein. Du musst und wirst irgendwann anfangen, das zu glauben. Paul wollte dich nur vorbereiten, nicht belügen. Er wusste wahrscheinlich, dass du Angst haben würdest, wieder allein zu sein und wollte dir sagen, dass dein Leben trotzdem weiter geht. Und auch, dass es genauso weitergehen sollte, als wäre er noch da. Ich denke nicht, dass er gewollt hätte, dass du dich zurückziehst und ihm ewig nachtrauerst. Er hat dir doch so geholfen. Wirf das jetzt nicht weg, sondern mach weiter. Dass er nicht mehr da ist, heißt nicht, dass jetzt alles stehen bleibt. Er hat dir genug Kraft gegeben, um dein Leben weiterzuleben, oder nicht? In gewisser Weise hat er dich also tatsächlich nicht allein gelassen. Irgendwie ist er immer bei dir.“

Tränen flossen stumm über Chris` Gesicht, während er Alex ansah. Von Melanie war nur ein leises, unterdrücktes Schniefen zu hören.

„Ist jetzt alles klar?“, fragte Alex lächelnd.

„Ja.“

„Okay. Was hältst du davon, wenn du kurz ins Bad gehst und ich uns einen Tee mache?“

Chris nickte nur und tat, was ihm vorgeschlagen wurde. Alex ging in die Küche, gefolgt von Melanie, und nahm drei Tassen aus dem Schrank.

„Tut mir leid“, sagte Melanie. „Ich dachte nicht, dass es für ihn noch so schwer ist darüber zu sprechen. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihn nicht gefragt.“

„Das konntest du ja nicht wissen. Ich dachte auch, dass es ihm schon viel besser geht. Er konnte auch darüber reden, aber offensichtlich war da noch diese eine Sache, die er irgendwo vergraben hatte. Ich glaube er war genauso erschrocken wie wir.“

„Aber ist das normal? Ich meine, dass er jetzt noch so fertig ist?“

Alex hielt einen Moment inne und schaltete dann den Wasserkocher an.

„Es ist ja noch nicht viel mehr als einen Monat her und wenn man bedenkt wie sehr er Paul geliebt hat, dann glaube ich schon, dass es normal ist, wenn er noch nicht darüber hinweg ist. Aber ich glaube auch, dass er in seinem Leben schon viel zu viel mitgemacht hat, und dass er sich vielleicht wirklich auch mal jemand anderem außer mir anvertrauen sollte. Leider sieht er das überhaupt nicht so und deswegen kann ich es ihm auch nicht vorschlagen. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich mir immer Sorgen um ihn mache, wenn er alleine ist, weil er das nicht hören will und es selber nicht einsieht. Und ich will nicht, dass er vielleicht abhaut, wenn er sich von mir verraten fühlt.“

Melanie dachte an das Gespräch, das sie mit Chris erst kurz zuvor geführt hatte. „Meinst du denn, es geht ihm schlecht und er sagt es nur nicht?“

„Nein, bis heute ging es ihm eigentlich wirklich ganz gut, glaube ich. Er starrt nicht mehr stundenlang eine einzige Stelle an, ohne etwas um ihn herum zu bemerken und er geht auch mal wieder raus, anstatt sich nur hier zu verkriechen. Aber ich hab eben genau davor Angst, dass er einfach alles verdrängt und es dann irgendwann, wie eben, wieder an die Oberfläche kommt. Und wenn ich dann nicht da bin…“

„Du kannst doch nicht ständig bei ihm sein“, unterbrach Melanie ihn. „Das ist nicht möglich und das ist auch nicht deine Aufgabe. Du musst auch ein bisschen Vertrauen in ihn haben.“

Das Wasser begann zu kochen, also goss Alex es in die drei Tassen.

„Ich weiß“, sagte er. „Aber das sagt sich so leicht. Er bestätigt es ja immer wieder selber, dass er mich braucht.“

„Natürlich braucht er dich, aber das bedeutet noch lange nicht, dass du rund um die Uhr auf ihn aufpassen musst. Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen machst, aber du darfst es auch nicht übertreiben.“

„Ich weiß. Aber… ach egal.“

Melanie wusste, was er sagen wollte, aber sie schwieg. Sie sollte sich besser nicht in diese Angelegenheit einmischen. Auch wenn sie Alex gerne erzählen würde, dass Chris eventuell schon bald die Stadt verlassen wollte. Er sollte es wissen, aber wahrscheinlich war es einfach nicht ihre Aufgabe, ihn einzuweihen. Das musste Chris tun und sie konnte nur hoffen, dass er es bald tat.

Sie warteten noch einen Moment schweigend bis der Tee fertig war und nahmen dann die Tassen mit ins Wohnzimmer. Melanie setzte sich auf den Sessel und Alex aufs Sofa. Sie sagten nichts mehr, bis Chris aus dem Bad kam und sich neben Alex setzte.

„Geht es dir wieder besser?“, fragte Alex und gab Chris eine der Tassen.

„Ja, mach dir keine Sorgen. Das wird nicht noch mal passieren.“

Alex und Melanie tauschten vielsagende Blicke.

„Tut mir leid, Melanie“, sagte Chris. „So hast du dir deinen Besuch bestimmt nicht vorgestellt.“

„Das macht doch nichts. Ich hätte dich nicht fragen sollen.“

„Ist schon gut, ich kann ja verstehen, dass du es wissen möchtest.“

„Du hättest es mir sagen sollen“, meinte Alex und Melanie fiel sofort sein besorgter Blick auf.

„Ich hab doch gesagt, dass ich es selber vergessen hatte. Außerdem hätte das auch nichts geändert.“

„Ich glaube, ich lasse euch jetzt mal allein“, sagte Melanie und stand auf. „Vielleicht können wir das Ganze ja verschieben und ich komme wann anders noch mal wieder?“

„Ja, das wär schön“, antwortete Chris und brachte sie zur Tür. Alex blieb im Wohnzimmer und dachte an das Gespräch in der Küche. Machte er sich wirklich zu viele Gedanken? Aber er wollte doch nur helfen und für Chris da sein. Er wäre damals froh gewesen, so einen Freund zu haben und er fand sein Verhalten selber nicht zu aufdringlich.

„Machst du dir jetzt wieder Sorgen?“, fragte Chris, als er zurück ins Wohnzimmer kam und sah wie Alex nachdenklich seine Tasse anstarrte.

Alex antwortete nicht.

„Ich hätte es dir ja erzählt, wenn ich mich selber daran erinnert hätte.“

„Ich weiß.“

„Hey, es geht mir wirklich gut. Das war nur ein kleiner Rückfall.“

„Findest du mich zu aufdringlich? Nerve ich dich?“

„Wie kommst denn da jetzt drauf?“

„Melanie hat gesagt, dass ich dir mehr vertrauen muss und dass ich es vielleicht ein bisschen übertreibe.“

Chris setzte sich wieder neben Alex aufs Sofa. „Am Anfang war das ein bisschen so, das hab ich dir ja auch gesagt, aber ich bin auch froh, dass du da bist. Du kannst am besten verstehen, wie es mir geht, oder nicht? Konntest du das alles so schnell vergessen?“

„Nein, aber bei Jonas war es ein Unfall und mir ging es vorher gut. Das ist kein Vergleich.“

„Aber deshalb war es ja nicht weniger schlimm für dich.“

„In dem Moment nicht, aber ich bin nachher besser damit zurecht gekommen, weil ich nicht noch andere Probleme hatte, die mich belastet haben.“

„Was willst du damit sagen?“, fragte Chris skeptisch. „Willst du mich jetzt auch zu so einem Psychologen schicken? Meinst du ich komme nicht selber damit klar?“

„Nein, das wollte ich nicht sagen. Das ist nur der Grund, warum ich mir immer Sorgen mache. Das kann ich nämlich nicht nachvollziehen. Ich weiß nicht, wie das für dich ist. Ich weiß nur, dass ich dich nie wieder von einer Brücke ziehen möchte, weil ich nicht gut genug aufgepasst habe. Ich will einfach nichts mehr falsch machen.“

Chris sagte nichts dazu. Er wollte keinen Streit anfangen, aber wenn er jetzt eine Antwort geben würde, würde es garantiert dazu kommen. Schon wieder war da jemand, der ihn behandelte als wäre er ein kleines Kind, das man nicht eine Sekunde aus den Augen lassen konnte. Wie sehr er das hasste! Er hatte Alex doch schon so oft erklärt, dass er sich darüber keine Sorgen machen sollte. Und jetzt kam er wieder damit an. Ständig diese Schuldgefühle, das war doch verrückt. Er hatte nichts falsch gemacht. Er hätte Pauls Tod nicht verhindern können und genauso wenig musste er jetzt auf Chris aufpassen.

„Tut mir leid, ich weiß, dass du das gar nicht hören willst“, sagte Alex. „Und wahrscheinlich bist du jetzt wieder sauer auf mich.“ Er stand auf. „Ich gehe was einkaufen.“

Kurz darauf fiel die Wohnungstür zu und es war fast gespenstisch still. Wenigstens hat er es selber eingesehen, dachte Chris. Es konnte ja wohl nicht sein, dass sich alle Welt ständig Sorgen um ihn machte. Natürlich war ihm viel Schreckliches passiert, aber das wusste er selber schließlich am besten. Er brauchte niemanden, der ihn daran erinnerte und vollkommen falsche Schlüsse zog.

Ob es etwas mit den Gefühlen zu tun hatte, die Alex für ihn empfand? Vielleicht konnte er gar nicht anders, als sich Sorgen zu machen. Das wäre möglich, aber es machte die Situation für Chris nicht leichter. Er hatte nie gewollt, dass Alex sich in ihn verliebte, das brachte nur Probleme mit sich, aber in den letzten Wochen hatte er sich keine Gedanken mehr deswegen gemacht. Alex hatte es nie wieder erwähnt, aber es könnte natürlich tatsächlich der Grund für sein Verhalten sein. Und wenn das wirklich so war, dann wusste Chris nicht, wie er damit umgehen sollte. Alex würde sich nicht davon abbringen lassen, aber Chris konnte es auch nicht aushalten, ständig beobachtet zu werden. Möglicherweise würde sein Auszug schneller kommen, als er selber gedacht hatte.

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