zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Kartenhäuser

Teil 6

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

 

Die Polizei ließ sich nicht bei Chris blicken, genauso wenig wie ein Psychologe. Offensichtlich hatte also niemand davon erfahren, dass er sich von der Brücke hatte stürzen wollen. Umso besser, dacht er. Dann blieb ihm wenigstens erspart, seine Gefühle vor einem Fremden auszubreiten.

Merkwürdigerweise machte es ihm bei Alex gar nichts aus, obwohl er ihm genauso fremd war. Er war auch der einzige, der Chris nach dem Vorfall auf der Brücke fragte. Hatte er denn niemandem davon erzählt?

„Erinnerst du dich an gar nichts mehr?“, fragte Alex.

„Nein, nur noch daran wie ich über das Geländer geklettert bin. Alles davor und danach ist weg.“

„Und warum wolltest du springen?“

„Das hab ich doch schon gesagt. Ich war verzweifelt, kannst du das nicht verstehen? Alles hat so weh getan. Die Erinnerung an Paul, das Gerede von Lisa und den anderen und dann die Vorstellung, dass ich ihn wirklich nie wieder sehe. Das war zu viel. Und dann war da die Brücke.“

„Doch, ich verstehe das. Aber das ist auch keine Lösung.“

„Tut mir leid, ich weiß ja, dass du das von allen hier am besten verstehst.“

„Mach es einfach nie wieder, okay?“

„Kann man so was versprechen?“, fragte Chris und versucht sich an einem Lächeln.

„Mach´s einfach“, sagte Alex ohne das Lächeln zu erwidern. Ihm schien es wirklich sehr ernst zu sein, also nickte Chris.

Es tat Chris wirklich gut, mit jemandem zu reden, der in etwa dasselbe durchgemacht hatte. Dann fühlte es sich auch nicht mehr an, als hätte er Alex gerade erst kennengelernt. Sie verstanden sich auch so gut, obwohl keiner von beiden wusste, was aus dieser Freundschaft werden sollte. Chris wusste nicht mal, was nach seinem Krankenhausaufenthalt geschehen würde. Er konnte sein Leben auf keinen Fall so weiterführen wie es vor Pauls Tod gewesen war. Und das hieß auch, dass er sich eine neue Wohnung suchen musste. Oder zumindest etwas, wo er übernachten konnte. Er würde jedenfalls keinen Fuß mehr in die Wohnung setzen, in der ihn ohnehin nur alles an Paul erinnern würde. Das traute er sich nicht zu. Tom und Jane würden sicherlich darauf bestehen, dass er blieb, aber er konnte einfach nicht weiter in demselben Bett schlafen. Da würde er kein Auge zu bekommen. Vielleicht konnten Tom und Jane ihm seine Sachen zusammen packen und hierher ins Krankenhaus bringen.

Alex beobachtete Chris aufmerksam, während der nachdachte. Er verstand ihn wirklich sehr gut und er wusste genau wie solche brenzligen Situationen zustande kommen konnten. Er konnte nur hoffen, dass es bei Chris die akute Verzweiflung war, die ihn getrieben hatte und es nie wieder dazu kommen würde. Deshalb hielt er es auch für besser, ihm nicht die Wahrheit zu erzählen. Würde er ihm jetzt sagen, dass er gesprungen wäre, wenn Alex ihn nicht zurückgehalten hätte, würde ihn sein Lebenswille vielleicht wieder verlassen. Und er wollte nicht wieder schuld am Tod eines anderen Menschen sein.

„Ist irgendwas?“, fragte Chris, dem Alex´ nachdenklicher Blick aufgefallen war.

„Nee, ich hab nur dran gedacht wie ich mich damals gefühlt habe.“

„Ach so. Tut mir leid, wenn ich dich immer daran erinnere.“

„Schon gut. Man muss sich ja damit auseinander setzen.“

„Ja, das stimmt wohl. Weißt du…“ Chris zögerte einen Moment. Er wusste nicht, ob er das wirklich sagen wollte, was ihm gerade durch den Kopf ging. Eigentlich war er nicht der Typ, der jemandem so schnell sein Vertrauen schenkte. Aber bei Alex war alles anders. Ihm vertraute er. Warum also nicht ehrlich sein?

„Ich bin echt froh, dass du hier bist.“

Alex lächelte jetzt auch.

„Wirklich. Eigentlich war mir nach… nach dem Vorfall alles egal. Es war mir egal, was die anderen über mich reden und ob überhaupt jemand ins Krankenhaus kommt. Aber jetzt bin ich froh, dass du gekommen bist. Du verstehst mich. Du bist der einzige, der mich versteht und du kommst nicht mit irgendwelchen blöden Ratschlägen an. Und das finde ich echt toll. Ich hab nie das Gefühl mich lächerlich zu machen, egal, was ich dir erzähle.“

„Das freut mich“, sagte Alex.

„Aber ich verstehe nicht ganz, warum du immer hier bist und dir das alles anhörst.“

„Ich wollte dich wohl einfach nicht so alleine lassen, wie ich es damals war.“

„Hattest du niemanden zum Reden?“

„Nein, nicht wirklich. Aber ich hab mich auch ziemlich abgekapselt.“

„Wo wohnst du denn zur Zeit?“, fragte Chris. Hatte Alex nicht mal erwähnt, dass er aus einer anderen Stadt kommt?

„Ich hab hier eine kleine Wohnung. Meine Eltern bezahlen das meiste.“

„Wie alt bist du denn?“

„Ich bin neunzehn, also darf ich auch alleine wohnen.“

„Echt? Und ich dachte, du wärst vielleicht gerade siebzehn.“

„Ich werde immer jünger geschätzt“, sagte er und verdrehte etwas die Augen.

„Sorry.“

„Ach, das macht doch nichts. Das stört mich nicht mehr.“

„Aber hast du nicht gesagt, dass du in einer anderen Stadt lebst?“

„Ja, meine Eltern wohnen nicht hier, aber ich musste ja dann hier bleiben, also habe ich die Wohnung gemietet.

„Ach so.“

„So, ich geh dann jetzt auch mal. Ruh dich aus und… bis morgen?“

„Ja, bis morgen.“

Alex verließ das Zimmer, allerdings hatte Chris seine Ruhe nicht sehr lange. Tom stürmte nur wenige Minuten später durch die Tür.

„Hallöchen. Warum bist du denn neulich einfach weggelaufen?“

Nach einer knappen, nicht ganz wahrheitsgemäßen Antwort folgte dann schließlich das, was Chris schon voraus gesagt hatte: Tom fragte nach der Wohnungsangelegenheit. Und natürlich wollte er nicht akzeptieren, dass Chris ausziehen würde. Er redete pausenlos auf ihn ein, fuchtelte wild in der Gegend herum, und traf damit doch nur auf taube Ohren.

„Ich verstehe das nicht. Das heißt, ich verstehe dich schon ein bisschen, aber wo willst du denn sonst hin?“

„Ich finde schon irgendwas.“

„Und was? Ne Brücke? Einen Hauseingang? Du wirst morgen entlassen und weißt nicht, wo du schlafen willst?“

„Ja, so sieht´s wohl aus“, sagte Chris jetzt schon ziemlich genervt.

„Das ist doch total bescheuert!“, schnaufte Tom.

„Und mein Problem!“, entgegnete Chris giftig.

„Also schön, wenn du es so willst. Soll ich dir deine Sachen bringen?“ Chris nickte. „Ok, dann bringe ich sie morgen vorbei. Bis dann.“

Er stürmte genauso schnell wie er gekommen war auch wieder aus dem Zimmer und murmelte dabei etwas Unverständliches vor sich hin.

Sobald er gegangen war, ließ sich Chris zurückfallen und zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch. Er dachte an den Abend als Paul sich zu ihm ans Sofa geschlichen und ihn das erste Mal berührt hatte. Das war eigentlich nichts Besonderes gewesen, aber es war der Anfang. Von dem Moment an hatte Chris gedacht, dass es sich gelohnt hatte, wegzulaufen. Wie dumm er doch war. Dumm und egoistisch.

„Chris?“

Er schreckte hoch und sah Alex direkt neben dem Bett stehen. Er hatte gar nicht gehört, dass jemand ins Zimmer gekommen war. Und erst jetzt fiel ihm auf, dass er weinte.

„Alles okay?“

„Ich war so egoistisch. Ich kann da nicht wieder hin.“

„Wohin?“, fragte Alex und setzte sich neben ihn auf die Matratze.

„In Pauls Wohnung.“

„Aber das musst du doch auch nicht.“

„Ich weiß aber nicht, wo ich sonst hin soll.“

Alex legte beide Arme um Chris und zog ihn an sich. „Du kannst bei mir wohnen.“

„Nein.“

„Warum nicht? Die Wohnung ist sowieso zu groß für mich.“

„Das kann ich nicht. Ich würde mich nicht wohl fühlen. Ich meine… wir beide…alleine.“

„Ach so, ja, ich weiß, was du meinst. Aber wo willst du denn sonst hin?“

Chris antwortete nicht.

„Du glaubst doch nicht, dass ich es ausnutzen würde, wenn du bei mir wohnst, oder?“

„Das geht nicht.“

„Ich werde dich aber nicht auf der Straße rumstreunern lassen. Das wäre jetzt genau das Falsche.“

Eigentlich blieb Chris keine andere Möglichkeit, als das Angebot anzunehmen, aber wie sollte das funktionieren? Er würde Alex überhaupt nicht unterstützen können und er wollte auf keinen Fall wieder von jemandem so abhängig werden wie er es bei Paul war. Und er wollte nicht wieder mit einem anderen Jungen zusammen wohnen. Noch nicht. Vielleicht nie wieder. Das wäre doch nicht richtig.

„Du kannst ja noch mal ne Nacht drüber schlafen, und wenn du dann morgen noch nichts hast, wo du übernachten kannst, kommst du zu mir. Wenigstens so lange wie du noch nichts Neues gefunden hast.“

„Aber ich...“

„Solange du mir nicht beweisen kannst, dass du irgendwo unterkommst, bleibst du bei mir. Du kannst dich auch den ganzen Tag im Schlafzimmer einschließen, wenn du mir nicht traust.“

„Darum geht es doch gar nicht.“

„Ist doch egal. Du wirst jedenfalls nicht auf der Straße rumlungern, wenn du auch bei mir wohnen kannst.“

Damit stand Alex auf, nahm seine Jacke, die er vergessen hatte, vom Stuhl und verließ nach einem kurzen „Bis morgen!“ endgültig das Zimmer.

Ein neues Zuhause?

Darüber schlafen! So ein beknackter Spruch!, dachte Chris, als er am nächsten Morgen nach einer sehr kurzen Nacht aufwachte. Er hatte sich nicht umentschieden. Er wollte nicht zu Alex ziehen, aber ihm war auch klar, dass er so eine Chance nicht wieder bekommen würde.

Vielleicht vertraute er sich auch selber einfach nicht genug. Wenn irgendetwas passieren sollte, würde er immer noch wieder verschwinden können. Aber das, was ihm eigentlich Angst machte, war Alex. War er nicht viel zu nett und aufmerksam? Was, wenn er gar nicht so selbstlose Pläne verfolgte?

Als er ihn gestern in den Arm genommen hatte, war das nicht nur beruhigend, sondern auch warm und vertraut. Es hat sich schön angefühlt und genau das durfte nicht sein. Er konnte nicht mit jemandem zusammenwohnen, der ihn so berührte und sich vielleicht noch viel mehr erhoffte.

Trotzdem. Chris blieb wohl nichts anderes übrig, als das Angebot anzunehmen. Aber er wollte vorher wenigstens noch mal mit Alex reden und gewisse Dinge klarstellen.

Gegen Mittag kam aber erst mal Tom und brachte Chris´ Sachen vorbei. Er stellte zwei Säcke in eine Ecke des Zimmers und zog sich dann einen Stuhl zu Chris ans Bett.

„Gibt´s was Neues?“, fragte er, ohne auch nur die Spur eines Zweifels daran zu lassen, was er meinte.

„Ja.“

„Wie ja?“

„Ich hab einen Platz, wo ich schlafen kann.“

„Tatsächlich? Und wo?“

„Bei einem Freund. Er hat eine kleine Wohnung hier in der Stadt.“

„Ja klar!“ Es war offensichtlich, dass Tom ihm nicht glaubte. „Soweit ich weiß, hast du überhaupt keine Freunde hier.“

„Tja, das ist nicht mein Problem, wenn du falsch informiert bist. Er heißt Alex und wird mich nachher abholen.“

„Der Kerl, der dich nach deinem Zusammenbruch hier abgeliefert hat? Was hast du denn mit dem?“

„Überhaupt nichts hab ich mit ihm!“, schnaufte Chris verärgert.

„Ist ja gut, so war das doch gar nicht gemeint. Wenn du irgendwo unterkommst, freue ich mich für dich. Auch wenn es schade ist, dass du dann nicht mehr bei uns wohnst.“

Schade war es wirklich. Das dachte Chris auch, aber er musste sich jetzt einfach erst mal von allem verabschieden, was mit Paul zu tun hatte. Die Wohnung stand dabei an erster Stelle. Auch wenn er das alles vermissen würde. Die späten Frühstücke, die gemeinsamen Fernsehabende, das Geräusch plätschernden Wassers, wenn Paul im Bad verschwunden war und natürlich auch die Küsse, die Zärtlichkeiten, die ihm zum ersten Mal etwas bedeutet hatten. Das alles schien noch so nah. Gar nicht lange her. Kaum vorstellbar, dass es nach der Krankenhauszeit nicht mehr so sein würde.

„Vielleicht meldest du dich ja mal?“, fragte Tom vorsichtig.

„Ja.“

„Ach ja“, sagte Tom leise und spielte nervös mit seinen Fingern, „...ich weiß nicht, ob es der richtige Zeitpunkt ist, dir das zu geben, aber... es gehört schließlich dir, also...“ Er kramte in einem Stoffbeutel und zog ein Päckchen sowie eine kleine Karte heraus. „Ein Geburtstagsgeschenk... von Paul. Jane und ich haben die Karte natürlich nicht gelesen und das Päckchen kam gestern erst mit der Post. Keine Ahnung was da drin ist.“

Chris nahm beides entgegen und sah es mit großen Augen an. Sofort breitete sich ein eigenartiges Gefühl in ihm aus. Sollte er sich freuen und über dieses unerwartete Geschenk lachen oder sollte weinen? Er wusste es nicht, also blieb sein Gesicht leer.

„Ich glaube ich lass dich damit mal allein.“ Chris nickte. „Aber nimm´s nicht so schwer. Freu dich lieber, dass du so unerwartet noch etwas bekommen hast, das dich an ihn erinnert, ok?“

„Ja, danke.“

„Versprichst du mir, dass du mich anrufst, wenn du bei Alex bist? Ich muss dir unbedingt noch was Wichtiges erzählen.“

Chris nickte wieder und starrte dabei weiterhin das kleine, braune Päckchen an, auf dem Pauls Name stand.

„Gut. Also bis dann.“

Tom ging, doch Chris rührte sich keinen Millimeter. Minuten vergingen, bis er endlich bereit war, die letzten Worte zu lesen, die Paul an ihn gerichtet hatte. Wenn er diesen Brief las, würde es für einen kurzen Augenblick so sein, als ob Paul zu ihm sprach. Hiernach würde alles von Paul Vergangenheit sein. In gewisser Weise enthielt diese Karte also einen letzten Funken seines Lebens.

Chris zögerte, die Karte zu öffnen. Er hatte das Gefühl, als würde er Paul endgültig verlieren, sobald er den Text ausgelesen hatte. Aber er wollte auch wissen, was darin stand. Mit zitternden Händen legte er den Umschlag beiseite, auf dem in Pauls Handschrift „Für Chris“ geschrieben stand. Dann öffnete er die Karte und begann, ohne auf das dumpfe Pochen in seiner Brust zu achten, zu lesen.

Lieber Chris,

ich schreibe diese Karte, während du friedlich neben mir schläfst. Und auch wenn du mit allen Mitteln verhindern wolltest, dass ich rechtzeitig von deinem Geburtstag erfahre, kann ich diesen besonderen Tag nicht einfach ignorieren. Es ist dein Geburtstag, ein Grund zu feiern. Lerne diesen Tag zu genießen und dich über dein Leben zu freuen. Es ist zu kurz um sich nur mit der Vergangenheit zu beschäftigen.

Von jetzt an werde ich darauf achten, dass es dir immer gut geht und so lange bei dir bleiben wie du mich lässt. Ich liebe dich! Du weißt wie sehr. Dir habe ich zu verdanken, dass ich erkannt habe was Liebe ist. Und ich wünsche dir, dass du anfängst dein Leben ebenso zu lieben wie ich es tue.

Happy Birthday, mein Kleiner!

In Liebe, Paul

P.S.: Dein Geschenk wird wohl erst etwas später kommen ... Ich habe es selber zusammengestellt. Für gemütliche Stunden!

Nachdem Chris den Text gelesen hatte, fiel die Karte zu Boden. Der Umschlag, der noch immer auf seinem Schoß lag, bekam dunkle, feuchte Flecken und wurde schließlich auch beiseite gelegt. Das Päckchen blieb ungeöffnet liegen. Er wusste, was darin war. Für gemütliche Stunden! Er hatte Paul immer wieder gesagt, dass er so etwas gerne hätte. Aber jetzt nützte es ihm nicht mehr viel. Die gemütlichen Stunden waren vorbei. Irgendwann würde er die CD auspacken und sich die Lieder anhören, aber nicht jetzt.

Einmal kurz geblinzelt und alles ändert sich. Einmal nur ist man unaufmerksam und schon fällt alles zusammen wie ein Kartenhaus. Und dann? Baut man es wieder auf oder bleiben die Karten liegen? Es würde nie wieder so aussehen wie das erste. Wozu also die Mühe? Und doch packt es einen irgendwann und man beginnt etwas Neues. Früher oder später...

Ein Umzug – ist das nicht auch etwas Neues? Stellt man damit nicht das erste Kartenpaar auf? Chris kam es jedenfalls so vor. Und es schien ihm zu früh dafür. Muss man sich nicht erst wieder neu konzentrieren und die Hände beruhigen, damit sie nicht so zittern? Seine Hände... zitterten. Ganz besonders als Alex das Krankenzimmer betrat und sich nach Chris` Befinden erkundigte. Natürlich spielte er damit auf die Wohnungsfrage an und Chris war drauf und dran abzulehnen. Aber erst einmal wollte er Alex noch etwas fragen. Ohne diese Antwort könnte er nicht bei ihm einziehen.

„Sei mir nicht böse, aber ich habe das Gefühl, dass du dir etwas davon erhoffst, wenn ich bei dir einziehe.“

„Was?“ Geschockt riss Alex seine Augen auf.

„Na ja, es kam mir nur gestern so vor, als... als sei da etwas mehr in deiner Umarmung gewesen.“

„Ach, und woraus schließt du das?“, fragte Alex gereizt.

„Ich weiß auch nicht. Ich habe mich einfach komisch dabei gefühlt.“

„Dann liegt das Problem ja wohl bei dir und nicht bei mir. Was kann ich dafür, wenn du dich komisch fühlst?“

„Entschuldige mal... immerhin warst DU derjenige, der MICH umarmt hat.“

„Ja, und offensichtlich hast du dich gerne berühren lassen.“

„Was soll das denn jetzt heißen?“ Irgendetwas lief hier gerade gründlich schief.

„Du hast dich nicht gewehrt, oder?“

„Und deshalb machst du dir jetzt Hoffnungen.“

„Nein! Das sagt doch niemand! Ich habe mir überhaupt nichts dabei gedacht!“ Alex senkte den Blick.

„Irgendwie klingt das für mich nicht sehr überzeugend.“

„Pech.“

Oh mein Gott, hätte ich das bloß nicht angesprochen, dachte Chris, während sie sich gegenseitig anschwiegen. Er konnte ja nicht wissen, dass Alex so heftig reagieren würde.

„Ok... wenn du sagst, dass nichts dahinter steckte... glaube ich dir das auch. Tut mir leid, wenn ich dir etwas unterstellt habe.“

„Schon gut.“

Komisch, aber jetzt hatte Chris das Gefühl etwas klarstellen zu müssen. Sollte er Alex etwa in dem Glauben lassen, er hätte seine Berührung genossen? Es war ihm nicht gerade unangenehm, aber eben auch nichts... Tiefergehendes. Alex wollte ihn trösten und genau den Effekt hatte seine Hand auf Chris` Rücken auch gehabt. Sie war schön warm und brachte Chris dazu, sich zu entspannen. Kein Wunder, dass er sich nicht wehrte.

„Mach dir keine Sorgen. Ich wollte damit nichts bezwecken.“ Und trotzdem lächelten Alex` Augen etwas traurig. Oder war das nur Einbildung? Das Problem, das Chris mit diesem Gespräch aus der Welt schaffen wollte, war jedenfalls immer noch nicht verschwunden.

„Mein Angebot mit der Wohnung steht natürlich noch... wenn du magst.“

„Wenn ich mag? Gestern wolltest du mich noch zwingen.“

„Ich wollte doch nur nicht, dass du auf der Straße schlafen musst.“

„Ja, weiß ich. Und wenn es dich nicht stört, würde ich gerne vorläufig bei dir wohnen.“

Alex` Gesichtsausdruck war Antwort genug. Ein Lächeln sagt mehr als tausend Worte.

Die paar Sachen, die sich in Chris` Krankenzimmer angesammelt hatten, waren schnell zusammengepackt. Auch all die Dinge, die er gemeinsam mit Paul erstanden hatte. Er wollte gar nicht erst daran denken, wie viel Spaß sie dabei gehabt hatten, also nahm er sich die Säcke und Tüten und marschierte so schnell wie nur möglich aus dem weißen, kalten Krankenhaus. Der Schritt in die neue Zukunft war damit getan und es fühlte sich eigenartig gut an. Gut im Vergleich zu dem, was er sich vorgestellt hatte. Paul fehlte ihm – keine Frage. Aber er war jetzt endgültig frei. Es gab keinen Arnie mehr, der ihm ständig im Genick saß und außerdem war er jetzt volljährig. Er war zwar völlig auf sich gestellt und gewissermaßen abhängig von Alex und trotzdem... er fühlte sich wohl. Wenn er dieses neue Glück doch nur mit Paul genießen könnte. Sie könnten jetzt so viel unternehmen, müssten sich nicht in der Wohnung verkriechen. Mit Paul wäre es perfekt.

Am Nachmittag betraten Chris und Alex eine kleine Wohnung im zweiten Stock eines alten Hauses, das etwas außerhalb der Innenstadt lag. Nicht das Schlechteste, dachte Chris. Pauls Wohnung hatte ihm immer etwas zu sehr im Zentrum gelegen. Von Alex` Wohnung aus konnte man die Einkaufs- und Shoppingmeile leicht zu Fuß erreichen, aber man fühlte sich nicht so eingeengt von dem Großstadtwesen. Noch dazu waren diese Räumlichkeiten einfach traumhaft: hohe Decken, teilweise etwas rustikal, aber doch modern. Die Zimmer waren durchgehend in bunten Farben gestrichen. Die Küche, gleich rechts neben der Haustür gelegen, ganz in Grasgrün, das Wohnzimmer in Rot-, Gelb- und Sandfarben lag geradeaus am Ende des Flurs. Das Bad war im klassischen Hellblau eingerichtet. Alle Zimmertüren standen offen, bis auf zwei, wahrscheinlich die Schlafzimmer, und daher sah man beim Betreten der Wohnung sofort die Farbenvielfalt.

Chris war begeistert. Eine Regenbogenwohnung!

„Es ist ein bisschen... schrill“, sagte Alex etwas verlegen. „Gefällt nicht jedem.“

„Mir gefällt´s.“

Daraufhin wurde eine der noch verschlossenen Türen aufgestoßen. Blau. Aber nur eine Wand. Die anderen drei waren schlicht und einfach nur weiß oder... nein. Wenn man genau hin sah, waren kleine, filigrane Federn zu erkennen. Diese flauschigen Daunenfedern, die immer in den Kissen stecken. Die muss Alex eigenhändig auf die Tapete gemalt haben, dachte Chris erstaunt.

Chris stand in der Mitte des Raumes und sah sich fasziniert um. Offensichtlich sollte er dieses Zimmer ab jetzt bewohnen, denn es war so ordentlich, dass dort unmöglich bereits jemand leben konnte. Außerdem waren nirgends persönlich Sachen oder Ähnliches zu entdecken.

„Das Zimmer ist toll! Hast du die Federn an die Wand gemalt?“

„Ja, das ... war ne spontane Idee.“ Wieder ein verlegenes Lächeln.

„Und ne gute. Man fühlt sich wie im Himmel.“

„Das sollte auch der Effekt sein.“

„Hat dein Zimmer auch ein Thema?“

„Kannst ja mal versuchen zu raten.“

Sie gingen wieder auf den Flur zurück und dann durch die zweite geschlossene Tür.

„Dschungel?“

„Hm-hm.“

Die Wände waren orange gestrichen, verziert mit aufgemalten grünen Blättern in den Ecken, und auf dem Boden war ein dunkelgrüner Teppich ausgerollt. Und dann waren da noch die „paar“ Pflanzen, die aus dem Zimmer wirklich einen kleinen Urwald machten.

„Ich hab noch nie so eine Wohnung gesehen.“

„Dann wäre ich auch beleidigt.“

Alex lachte. Er hatte ein so schönes Lachen, obwohl ihm schon so viel Schreckliches passiert war. Chris staunte jedes Mal darüber wie glücklich Alex zu sein schien. Bis auf die seltenen Momente, in denen er sehr traurig wirkte, lachte er ausgiebig und auf eine so ansteckende Art und Weise, dass Chris sich immer mitreißen ließ. Er konnte nicht abstreiten, dass Alex ihm mit seiner fröhlichen Art genauso gut tat wie Paul mit seiner zärtlichen. Was Paul ihm durch Berührungen gesagt hatte, das sagte Alex mit einem freundlichen, ehrlichen Lachen. Ganz ohne körperlichen Kontakt. Wie es wohl wäre, wenn sie sich berührten? Im Krankenhaus hatte Chris ja schon eine Kostprobe bekommen. Kurz, aber intensiv. Es ist ohne Zweifel ein tolles Gefühl von Alex im Arm gehalten zu werden.

Aber bevor er weiter denken konnte, bremste er sich selber. Was dachte er denn da? Paul war gerade mal ein paar Tage fort, da malte er sich schon aus, mit anderen Jungs zu kuscheln?! Wahrscheinlich sehnte er sich nur nach ein bisschen Nähe. Gerade dann, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, braucht man doch Unterstützung und Wärme. Oder nicht? Nein, das werde ich nicht tun, sagte sich Chris. Ich kann Paul nicht so einfach ersetzen. Niemals.

„Meinst du, du hältst es hier aus?“

„Äh...ja, klar“, sagte Chris knapp, etwas erschrocken über die plötzliche Frage.

„Okay, ich hoffe du gehst mir nicht zu sehr auf den Keks. Sonst musst du leider wieder ausziehen.“

„Vergiss es. Hier bekommst du mich nicht mehr weg.“

„Das wollen wir ja mal sehen.“

Zuerst wurde allerdings das Gepäck in Chris` neuem Zimmer untergebracht. Ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Sessel und ein Tisch mit einem Fernseher warteten schon auf ihn. Chris fand es perfekt. Wie konnte er Alex nur dafür danken? Er konnte bei ihm wohnen und bekam alles Notwendige auch noch dazu. Ob das so üblich war? Er wusste es nicht. Immerhin konnte Chris nicht behaupten, ein guter Menschenkenner zu sein. Paul war die einzige Ausnahme. Ihn hatte er immer schon gut einschätzen können. Von Anfang an. Aber vielleicht hatte sich Paul auch einfach vor niemandem verschließen können. Vielleicht war er einfach nur unglaublich berechenbar gewesen.

„Ein Fernseher? Was für ein Luxus.“

„Im Wohnzimmer steht auch noch einer, aber hier habe ich abends immer ferngesehen. Irgendwie fand ich es hier gemütlicher. Das ist mein Lieblingszimmer.“

„Und dann soll ich hier schlafen?“

„Kannst mich ja ab und zu mal reinlassen. Dann können wir uns was zusammen ansehen.“

„Natürlich. Ist schließlich deine Wohnung. Was sagen eigentlich deine Eltern dazu, dass ich jetzt hier bin.“

„Die finden das toll. Sie sagen, die Wohnung sei eh zu groß für eine Person.“

„Allerdings.“

„Nein, im Ernst. Sie sind wirklich froh, dass ich jetzt jemanden zum Reden habe, der auch noch in etwa dieselben Erfahrungen gemacht hat.“

„Ja, das tut mir auch sehr gut.“

„Dann sind wir uns ja einig.“

Zusammen machten sie sich an das Ausräumen der Tüten. Zwei waren allein schon mit Chris` neuen Kleidungsstücken befüllt, die erst mal ordentlich in den Schrank eingeräumt wurden. Alex erzählte währenddessen über seine Eltern und seine Schwester, Anika, die zwei Jahre älter war. Sie lebte mit ihrem Freund in Spanien, schon seit einem Jahr. Sie hatten sich kennengelernt, während sie ihr Abitur gemacht hatte und er als Austauschschüler für ein Jahr in Deutschland lebte. Alex sagte immer wieder wie schade er es fand, dass sie so weit weg war. Sie hatten immer zusammengehalten und jetzt fühlte er sich ein wenig einsam. Chris konnte das zwar nicht ganz nachvollziehen, aber er verstand, was Alex meinte.

Er hätte gerne gefragt, wann das mit seinem Freund passiert war, wusste aber nicht, ob es die Stimmung ruinieren würde.

„Wann bist du in diese Stadt gekommen?“, fragte er stattdessen.

„Vor ein paar Monaten. Ich wollte eine Freundin besuchen.“

Offensichtlich wollte er auch darüber nicht gerne sprechen. Dabei wollte Chris unbedingt wissen wie er an Arnie geraten war. Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, was Alex dazu getrieben hatte, in dieses Geschäft einzusteigen. Arnie war zwar ein übler Kerl, aber immerhin entführte er niemanden, um ihn für sein Vorhaben zu gewinnen. Alex musste also von sich aus dorthin gekommen sein. Aber warum?

„Du willst bestimmt wissen warum ich für Arnie gearbeitet habe, oder?“

„Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein.“

„Schon gut. Ich kann das verstehen. Hast du was dagegen, wenn wir das auf heute Abend verschieben? Immerhin müssen wir erst mal dein Zimmer fertig kriegen.“

„Ja, sicher.“

Die dritte Tüte stand immer noch ungeöffnet in der Mitte des Raumes. Chris wusste selber nicht, was darin sein könnte. Bis auf die Klamotten hatte er schließlich nichts in Pauls Wohnung mitgebracht. Es konnte also nur...

Er sah Alex dabei zu wie er die Tüte öffnete und hatte so ein Gefühl, als sollte er lieber nicht reinsehen.

„Da ist ein Zettel“, sagte Alex und gab ihn Chris, der ihn entfaltete und laut vorlas.

„Vielleicht solltest du die Tüte erst einmal geschlossen lassen. Wir haben ein paar Sachen von Paul eingepackt, von denen wir dachten, dass du sie gerne hättest. Den Rest heben wir auf. Wenn du noch etwas brauchst, kann du uns jeder Zeit anrufen oder natürlich auch herkommen. Das bleibt frei. Melde dich aber bitte auf jeden Fall, damit wir wissen, dass es dir gut geht. Tom und Jane.“

„Soll ich die Tüte in den Schrank stellen?“, fragte Alex nach einer kurzen Pause und war schon wieder dabei sie zu schließen.

„Nein, warte.“ Chris legte den Zettel auf das Bett und ging auf Alex zu.

„Willst du die Sachen wirklich auspacken? Vielleicht solltest du sie wirklich...“

„Nein, nicht alle. Nur zwei.“

„Du weißt doch gar nicht, ob gerade die dabei sind.“

„Doch, ich bin mir sicher“, sagte Chris überzeugt und griff in die Tüte. Er hatte recht. Ganz oben lagen die Wolldecke, die er im Wohnzimmer immer als Bettdecke benutzt hatte und gleich darunter Pauls Lieblingspullover. Er nahm die beiden Sachen und setzte sich aufs Bett. Alex schnappte sich die Tüte und stellte sie in den Schrank, schloss die Tür und drehte sich dann mit besorgtem Gesichtsausdruck zu Chris.

„Das ist nicht gut, was du da machst“, sagte er und setzte sich neben Chris.

„Ich weiß.“ Eine Träne kullerte über sein Gesicht, doch er wischte sie gleich mit dem Handrücken weg. „Aber irgendwann verschwindet sein Geruch. Ich möchte ihn noch so lange bei mir haben wie ich kann.“

„Ja, das kann ich verstehen“, sagte Alex.

Nach einer kurzen Pause machten die beiden noch das Bett und rissen zum Schluss das große Fenster auf, um wieder frische Luft hereinzulassen. Auch hier gab es eine breite Fensterbank, aber der Ausblick war lange nicht so faszinierend wie der in Pauls Wohnung. Hier sah man nur die Gärten anderer Häuser und die kleine Straße.

„Hast du Hunger?“, fragte Alex. „Ich könnte uns eine Pizza bestellen. Zum Kochen habe ich jetzt nicht wirklich Lust.“

„Ja, gute Idee. Kann ich noch duschen? Ich rieche immer noch nach Krankenhaus.“

„Ja, klar“, sagte Alex grinsend und verschwand im Wohnzimmer. „Handtücher und was du sonst noch brauchst, ist alles im Bad“, fügte er noch etwas lauter hinzu.

„Danke“, rief Chris und schloss die Badezimmertür hinter sich. Alles wieder von vorn, dachte er. Schon wieder war er auf die Hilfe eines anderen angewiesen und schon wieder war er gezwungen, fremde Sachen zu benutzen. Ob er irgendwann mal sein eigenes Leben haben würde? Volljährig war er ja jetzt, aber ohne Schulabschluss war das nicht viel wert. Ewig konnte er jedenfalls nicht darauf hoffen, dass ihm irgendjemand immer unter die Arme greifen würde. Wenn sich alles ein wenig beruhigt hatte, würde er ernsthaft über seine Zukunft nachdenken müssen. Wie Paul wohl darüber gedacht hatte? Sie hatten nie über dieses Thema gesprochen, aber wahrscheinlich hatte auch er gewollt, dass Chris sich erst mal neu einlebte.

Wie wohl sein ganzes Leben gelaufen wäre, wenn er das Waisenhaus nicht verlassen hätte?

Mit einem Handtuch um die Hüften stieg er aus der Dusche. Das Wasser von seinen Haaren tropfte auf seinen Oberkörper und den Fußboden, doch das störte ihn nicht. Er betrachtete die Badewanne und stellte traurig fest, dass er hier überhaupt nicht das Bedürfnis hatte, sie zu benutzen. Ganz im Gegenteil zu dem einen Tag in Pauls Wohnung. Vielleicht würde er nie wieder in eine Badewanne steigen, jetzt, wo niemand mehr da war, mit dem er die Freude teilen konnte.

Alex saß im Schneidersitz auf dem Sofa, als Chris das Wohnzimmer betrat. Er sah nachdenklich aus. Vielleicht überlegte er sich, was er Chris erzählen sollte. Wo er anfangen könnte und wie er es sagen sollte, ohne dass ein falscher Eindruck entstand.

„Hey“, sagte Chris und Alex sah auf. Dann lächelte er.

„Schön, dass endlich mal jemand hier ist.“

„Kommen dich denn nicht auch mal Freunde besuchen? Oder deine Eltern?“

„Eher selten. Ich habe ja nur eine Freundin hier in der Stadt und meine Eltern rufen lieber an, als dass sie mal hierher fahren.“

„Schade“, sagte Chris und setzte sich auf den Teppich neben dem Sofa.

„Willst du da auf dem Boden sitzen bleiben?“, fragte Alex skeptisch. „Komm hoch, ich tu dir schon nichts.“

„Das habe ich auch nicht gedacht. Es ist nur ne alte Angewohnheit von mir.“

Schon saß er auf dem Sofa und zog seine Beine an sich.

„Du willst also wissen, wie und warum ich hierher gekommen bin“, begann Alex. Chris hatte also recht gehabt. Er hatte eben tatsächlich darüber nachgedacht.

„Wenn es dir nichts ausmacht.“

„Ist schon ok. Ich habe nur noch niemandem die ganze Geschichte erzählt.“

„Warum nicht?“

„Überleg doch mal. Würdest du deinen Eltern erzählen, dass du für Geld mit fremden Männern geschlafen hast?“

„Nein“, antwortete Chris wahrheitsgemäß.

„Ich auch nicht. Aber du hast das ja selber erlebt, deswegen mache ich bei dir eine Ausnahme.“

„Aber hast du nicht vorhin noch gesagt, dass deine Eltern froh sind, dass du jetzt jemanden zum Reden hast, der dasselbe durchgemacht hat?“

„Ja, aber das war auf die Sache mit meinem Freund bezogen.“

„Ach so.“

„Und genau das war auch der Grund warum ich hierher gekommen bin. Ich wollte einfach mal raus und dann habe ich Sabine gefragt, ob ich kommen darf. Ich wollte mich von ihr ein bisschen aufbauen lassen und gleichzeitig etwas ausprobieren.“

„Was denn ausprobieren?“ Chris hatte zwar schon eine Vorahnung, aber ein Grund dafür fiel ihm nicht ein.

„Dafür musst du erst mal wissen, was damals mit Jonas, meinem Freund, passiert ist.“

Scheinbar kostete es ihn mehr Überwindung die Geschichte zu erzählen, als er gedacht hatte. Er sah auf seine Finger, die er krampfhaft ineinander geschoben hatte und musste erst ein paar Mal tief Luft holen.

„Ich dachte immer er sei perfekt und genau der Richtige für mich, aber wahrscheinlich habe ich ihn einfach zu sehr geliebt, um zu sehen, was er mir verschwiegen hatte. Er war immer für mich da, also hatte ich keinen Grund ihm zu mistrauen. Aber an einem Abend habe ich ihn in der Stadt gesehen.“ Alex` Lippen zitterten ein wenig, während er erzählte. „Er unterhielt sich mit einem Mann, den ich nicht kannte und ich verstand auch zuerst überhaupt nicht, was das zu bedeuten hatte. Ich freute mich einfach ihn zu sehen und ging auf die beiden zu. Sie bemerkten mich erst, als ich direkt neben ihnen stand und dann grinste der Mann mich an. ‚Was wird das denn? Zwei zum Preis von einem?‘, hat er gefragt und ich begriff langsam, was da abging. Jonas sah mich entsetzt an, packte mich am Arm und zerrte mich auf die andere Straßenseite. Er hat sich tausendmal entschuldigt und versucht das alles zu erklären, aber ich wollte davon nichts hören. Ich hab ihn weggestoßen und angeschrien, aber er kam immer wieder auf mich zu. Dann wollte ich wegrennen und bin dabei vor ein Auto gelaufen.“

Alex hatte die letzten Sätze so schnell gesprochen, dass Chris sich bemühen musste, alles zu verstehen. Aber jetzt trat wieder Stille ein und Alex vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Es war kein Schluchzen oder Weinen zu hören, aber als er die Hände wieder auf seine Knie legte, war die Haut auf seiner Wange feucht. Chris überlegte, ob er etwas sagen sollte, oder ob Alex die Geschichte selber beenden würde, doch da redete Alex schon wieder weiter.

„Er hat mich zur Seite gestoßen und ist dabei selber vor das Auto gekommen. Sein Kopf ist so hart auf dem Boden aufgeschlagen, dass er keine Chance hatte. Er war sofort tot. Spätestens da hatte ich dann keinen Grund mehr, an seinen Gefühlen für mich zu zweifeln.“

Chris musste schlucken. So wie Alex die Geschichte erzählt hatte, gab er sich die Schuld an Jonas` Tod. Auch jetzt noch. Da hatten sie ja wieder etwas gemeinsam.

„Und wie ist es dann weiter gegangen?“, fragte Chris vorsichtig. „Hast du deinen Eltern davon erzählt?“

„Das mit dem Unfall ja, aber nicht wie es dazu gekommen ist.“

„Und Jonas` Eltern?“

„Die habe ich nie kennengelernt. Sie wollten nichts mit uns zu tun haben. Das altbekannte Problem: ein schwuler Sohn ist schädlich für den Ruf der Familie.“

„Und was wolltest du nun ausprobieren?“

„Das war eine echt bescheuerte Idee. Ich wollte wissen, was er daran gefunden hat, auf den Strich zu gehen. Und ich wollte mich rächen. Ich wollte ihm genau das antun, was er mir angetan hat. Obwohl das natürlich nicht mehr viel gebracht hätte.“

„Kenne ich“, sagte Chris und legte eine Hand in seinen Nacken.

„Ich hab überhaupt nicht darüber nachgedacht. Weder wie ich da wieder rauskommen wollte, noch, was für eine Gefahr das mit sich zieht. Ich bin einfach losgegangen und hab mich in verschiedenen Kneipen erkundigt. Die haben mich dann an Arnie verwiesen.“

„Das hätte echt ins Auge gehen können“, sagte Chris tadelnd. „Wie kann man sich nur freiwillig auf so etwas einlassen?“

„Wie gesagt: ich habe nicht nachgedacht.“

„Ja, das sieht ganz danach aus.“

„Und was ist mit dir? Du hast doch das gleiche getan wie ich, sogar viel länger.“

„Ja, das stimmt, aber ich bin da ganz anders reingerutscht. Bist du sicher, dass du das hören willst?“

„Wenn du es mir erzählen möchtest, ja“, sagte Alex.

Chris erzählte also von seinen Eltern, der Flucht aus dem Waisenhaus und wie er schließlich an Arnie geraten war. Während er sprach, wurde Alex` Gesicht immer angespannter. Man sah ihm förmlich an, wie entsetzt er war, und dass er sich das alles beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Als Chris dann von Paul erzählte und dem ganzen Hin und Her, konnte sich Alex sehr gut vorstellen, wie erleichtert Chris gewesen sein musste. Etwas Besseres als Paul hätte ihm in der Situation nicht passieren können.

„Aber wie du weißt, hat das auch nicht lange gehalten“, schloss Chris seinen Bericht.

Alex bemerkte den Kampf, den Chris mit seiner Trauer austrug und rutschte ein Stück näher an ihn heran. Er legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn zu sich. Merkwürdig, was so eine Umarmung auslösen kann. Egal wie sehr sich Chris auch wehrte, nacheinander kullerten die Tränen seine Wangen hinunter. Als hätte Alex einen Knopf gedrückt.

Schon kurz danach schob Chris Alex ein Stück weit von sich weg, ohne ihn anzusehen.

„Entschuldige“, sagte Alex. „Ich hab nicht dran gedacht.“

„Macht nichts.“ Da war wieder dieses Gefühl. Das Gefühl, dass Alex mit irgendetwas hinterm Berg hielt. Hoffentlich würde es ihn nicht eines Tages überwältigen.

„Woran denkst du?“, fragte Alex, doch bevor Chris antworten konnte, klingelte es an der Tür.

„Das wird die Pizza sein.“

So war es auch. Ein paar Minuten später kam Alex mit zwei Pappkartons zurück. Der Duft breitete sich im ganzen Wohnzimmer aus und sofort begann Chris` Magen zu knurren. Er dachte schon, das Krankenhausessen hätte seinen Appetit ein für alle Mal verdorben, aber bei dem Gedanken an heiße, leckere Pizza, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

„Ich fühle mich nicht wohl dabei, mich so durchzuschnorren“, sagte Chris und warf Alex einen entschuldigenden Blick zu.

„Eine Pizza, ich bitte dich.“

„Ja, und die Wohnung mit allem drum und dran.“

„Das bezahlen meine Eltern, nicht ich.“

„Umso schlimmer.“

„Ich denke mal, du hast keine andere Wahl.“

„Trotzdem.“

„Jetzt jammer nicht und iss deine Pizza“, sagte Alex bestimmt.

Jammer nicht. Das hatte Paul auch immer gesagt.

Erinnerung

Am Freitag fiel Chris ein, dass Tom ihn gebeten hatte anzurufen. Irgendetwas Wichtiges wollte er besprechen, aber Chris hatte am vergangenen Abend nicht mehr daran gedacht. Jetzt hatte er zwar überhaupt keine Lust, aber er wählte trotzdem die Nummer von Pauls Wohnung.

„Hallo?“

„Hallo Tom, hier ist Chris.“

„Hey.“ Ein kurzes Zögern. „Wie geht es dir?“

„Eigentlich ganz gut. Hab sogar ein eigenes Zimmer.“

„Und wie läuft es mit Alex?“, fragte Tom etwas skeptisch.

„Ich hab dir doch schon gesagt, dass da nichts läuft.“

Alex sah auf und sein Blick traf den von Chris.

„Reg dich ab, das meinte ich gar nicht.“, verteidigte sich Tom. „Ich wollte nur wissen, ob ihr euch versteht. Du kannst auch immer zu uns...“

„Was wolltest du denn so Wichtiges mit mir besprechen?“, unterbrach Chris seufzend.

„Ich... ähm... ich hab mit Pauls Mutter gesprochen. Sie möchte die Beerdigung allein ausrichten und...“

„Was und?“

„Sie will nicht, dass du kommst.“

„Was?“, rief Chris entsetzt. „Das kann sie nicht machen!“

„Sie war nicht gerade begeistert, als man ihr von dir erzählt hat. Paul hat dir doch bestimmt die Geschichte von Lisa und dem Testament erzählt, oder?“

„Ja und?“

„Damals hat sie sich auch schon fürchterlich aufgeregt, aber dass Paul zum Schluss mit einem Jungen zusammen war, kann sie noch weniger akzeptieren. Und na ja... dann die Sache mit deiner Vergangenheit...“

„Wer hat ihr das denn erzählt?“

„Die Polizei.“

Dann wussten Tom und Jane also auch Bescheid.

„Na toll! Mit mir wollen sie nicht reden, aber Pauls Mutter reiben sie alles unter die Nase.“

„Irgendwann wollen die mit dir bestimmt auch noch reden“, sagte Tom. „Immerhin warst du dabei und sie müssen immer alle Zeugenaussagen zusammentragen. Wahrscheinlich wollten sie dich bisher nur schonen.“

„Hast du denen gesagt, wo ich jetzt wohne?“

„Ja.“

„Okay, dann kann ich ja wohl damit rechnen, dass sie bald hier auftauchen.“

„Und was willst du jetzt machen?“, fragte Tom.

„Warten?“

„Nein, ich meine wegen der Beerdigung.“

„Ich gehe trotzdem. Soll sich diese alte Schnepfe doch auf den Kopf stellen! Sie denkt doch nicht wirklich, dass ich mir von ihr etwas sagen lasse! Ich wusste immerhin wie Paul wirklich war, sie nicht. Hat sie dir den Termin verraten?“

„Ja, nächsten Freitag. Ganz schön blöd. Als ob sie nicht wüsste, dass ich es dir verrate.“

„Wahrscheinlich will sie mich vor allen als denjenigen outen, der ihren Sohn verdorben hat.“

„Möglich. Ach, noch was. Sie will in den nächsten Tagen Pauls Sachen abholen. Wenn du noch was haben willst, ist das deine letzte Chance. Sie weiß ja ohnehin nicht, was alles ihm gehörte.“

„Ich weiß nicht“, sagte Chris leise.

„Überleg einfach noch mal und ruf mich morgen wieder an. Vielleicht fällt dir ja noch was ein. Ich bringe es dir auch vorbei.“

„Danke, Tom.“

„Kein Problem. Also bis morgen, ja?“

„Ja.“ Damit legte Chris den Hörer auf und streckte sich auf dem Sofa. Schon wieder Ärger. Er hatte nicht die geringste Lust, sich mit Pauls Familie anzulegen. Geschweige denn die Kraft. Konnten sie denn nicht einfach froh sein, dass Paul so glücklich gewesen war? Wozu dieser ganze Aufstand, wo doch sowieso alles schon so schrecklich war?

„Ist was passiert?“, fragte Alex besorgt.

„Pauls Mutter meint sie müsse die homophobe Zicke spielen.“

„Was?“

„Sie will nicht, dass ich zur Beerdigung gehe.“

„Wieso das denn?“

„Ich hab doch ihren Sohn verdorben“, sagte Chris verächtlich schnaufend. „Dabei weiß sie am wenigsten, was in Paul vorging.“

„Du gehst doch trotzdem, oder?“

„Natürlich gehe ich. Das wäre ja noch schöner.“

Diese Frau würde ihn nie davon abhalten, sich von Paul zu verabschieden. Das war sein gutes Recht. Sollte sie doch alle gegen ihn aufhetzen und die Schuld auf ihn schieben, er würde alles an sich abprallen lassen. Jedenfalls äußerlich. Wie er sich dabei fühlen würde, konnte niemand voraussehen. Es wird bestimmt nicht leicht, dachte er. Wenn ich mich an dem Tag auch noch mit ihr auseinandersetzen muss, weiß ich nicht, wie ich reagieren werde. Es wird schon schwierig genug, die Beerdigung an sich zu überstehen.

„Soll ich mitkommen?“, fragte Alex, nachdem er lange gezögert hatte. Er wollte sich nicht aufdrängen.

„Ja, das wäre vielleicht besser. Danke.“

Die Nächte waren immer am schlimmsten. Sobald Chris allein in seinem Zimmer war, überkam ihn plötzlich sein ganzer Kummer, als würde er mit dem Schließen der Tür alles andere aussperren. Wenn es dunkel und leise um ihn herum wurde, sah und hörte er auf einmal nur noch Paul. In diesem Moment erschien ihm sein Leben immer sinnlos und leer. Fast fühlte er sich wieder wie auf der Brücke, als er in den Abgrund gesehen hatte. Er konnte sich kaum erinnern, wie er dort hingekommen war, aber dieses betäubende, schwerelose Gefühl hatte er nicht vergessen. Vielleicht hätte ich doch springen sollen?, fragte er sich jeden Abend. Das einsame Leben, das er jetzt führte, mit den vielen Hindernissen, wollte er eigentlich gar nicht leben. Trotzdem glaubte er, dass er jetzt, wenn er auf einer Brücke stehen würde, nicht mehr springen könnte. Das letzte Mal war er schließlich nicht absichtlich auf die Brücke gelaufen, aber als er erst einmal dort war, hatte er nicht weiter nachgedacht. Seine Trauer war in dem Augenblick zu groß, um über die Konsequenzen nachzudenken. Zu einer solchen Kurzschlussreaktion würde es jetzt nicht mehr kommen. Der Schmerz war natürlich immer noch da, aber die Verzweiflung nicht mehr ganz so groß. Jetzt würde ihn sein Verstand davon abhalten, auf das Geländer zu steigen. Er hatte also nur diese eine Möglichkeit gehabt und nicht genutzt. Warum nur? Auf diese Frage würde er wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sie wieder und wieder zu stellen. Und eine andere Frage drängte sich genauso häufig dazwischen. Hatte es etwas zu bedeuten, dass Alex ihn gefunden und ins Krankenhaus zurückgebracht hatte? Es hätte auch Tom oder Jane oder Lisa sein können, sogar jemand, den Chris gar nicht kannte. Aber nur Alex war ihm nachgelaufen. Er hatte ihn schon verfolgt, als Paul noch am Leben gewesen war. Wenn auch auf eine andere Art und Weise. Waren das nicht zu viele Zufälle?

Lieber nicht so lange darüber nachdenken, dachte Chris und hüllte sich in die dicke, weiche Wolldecke. Sie roch nicht besonders stark nach Paul, aber sie enthielt trotzdem so viele Erinnerungen, als wären sie in den Stoff eingeflochten worden. Eine, wohl die stärkste, flammte immer wieder in seinen Gedanken auf, wenn er sich zudeckte. Er spürte beinahe noch Pauls Finger in seinem Nacken. Diese erste zärtliche und vor allem ehrliche Berührung würde er niemals vergessen.

Er hatte Paul so viel zu verdanken, umso mehr musste er jetzt mit der Tatsache kämpfen, dass er ihm nicht hatte helfen können. Nicht einmal, als es um sein Leben ging. Egal, was alle anderen ihm einreden wollten, Chris würde immer wissen, dass er schuld war. Wäre er nicht so egoistisch gewesen, wäre Paul noch am Leben.

Der Samstag kam und ging, ohne dass etwas Besonderes geschah. Chris hatte Tom angerufen und ihm gesagt, dass er nichts weiter von Paul haben wollte. Das war zwar nicht ganz richtig, denn er hätte am liebsten alles genommen, aber er wollte weder Tom, noch Alex so sehr zur Last fallen. Tom hätte den ganzen Krempel transportieren müssen und Alex würde seine Wohnung danach nicht wiedererkennen. Außerdem dachte Chris auch aus irgendeinem absurden Grund an Pauls Mutter. Sie hätte sicherlich auch gerne etwas, das sie an ihren Sohn erinnern würde. Auch wenn Chris sich immer noch nicht sicher war, ob sie es verdiente. Aber im Grunde war er ihr ohnehin weit voraus. Er würde sich auch ohne diese ganzen Gegenstände an Paul erinnern, während sie versuchte alles an sich zu reißen. Sie hätte sich eigene Erinnerungen schaffen können, aber dafür war es nun zu spät.

Ansonsten war es an diesem Samstag eher langweilig und auch der Sonntag schmückte sich nicht gerade mit viel Abwechslung. Alex war sehr darauf bedacht, die Wohnung sauber zu halten, also schnappte er sich kurz nach dem Frühstück den Staubsauger und pfiff fröhlich vor sich hin, während er seiner Arbeit nachging. Chris bekam schnell ein schlechtes Gewissen und machte sich mehr oder weniger freiwillig an den Abwasch. Wie konnte Alex dabei nur so gut gelaunt sein? Spaß machte das ja nun nicht wirklich. Zumindest war ihm das bisher entgangen. Das laute Brummen des Staubsaugers erstarb und kurz darauf erschien Alex´ Kopf in der Küchentür.

„Hast du heute Abend schon etwas vor?“, fragte er belustigt, obwohl die Antwort offensichtlich auf der Hand lag. Chris sah ihn skeptisch an. „Ich dachte, wir könnten ausgehen. Irgendwo hin, nur mal raus aus der Wohnung.“

„Ich weiß nicht“, sagte Chris.

„So weit ich weiß, hast du noch nichts vor.“ Alex war bestens gelaunt. Er grinste die ganze Zeit und hatte damit offensichtlich Erfolg, denn auf Chris` angespanntem Gesicht zeigte sich schon der Hauch eines Lächelns. Eigentlich wollte Chris nein sagen. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, mit Alex allein auszugehen und Spaß zu haben. Vielleicht würde er eine Zusage falsch verstehen, und überhaupt fühlte sich Chris noch nicht genügend gerüstet für ein normales Teenagerleben. Mit Paul war er auch nie wirklich ausgegangen. Warum sollte er dann jetzt damit anfangen?

„Komm schon“, bettelte Alex. „Ich war zum Beispiel schon ewig nicht mehr im Kino. Oder wir gehen etwas essen. Wenn du willst, können wir uns auch einen Club suchen und ein bisschen tanzen. Bitte. Ich möchte endlich mal wieder etwas unternehmen und in dieser Stadt kenne ich mich noch gar nicht richtig aus.“

„Dann geh doch allein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mit mir gerade so besonders lustig wäre.“

„Aber allein ist es langweilig. Außerdem würde es dir bestimmt auch ganz gut tun.“ Alex sah nicht so aus als würde er bald aufgeben.

„Ich habe sowieso kein Geld und wenn du jetzt sagst, dass du mich einlädst, schlag ich dich.“

Alex hob abwehrend die Hände und versteckte sein Gesicht dahinter. „Ich lade dich ein.“

Chris seufzte nur und konzentrierte sich wieder auf die schmutzigen Teller. Alex ließ die Hände sinken und ging einen Schritt auf Chris zu. „Wir müssen doch gar nicht die ganze Nacht wegbleiben.“

„Na da bin ich ja beruhigt“, sagte Chris und verdrehte die Augen.

„War das ein Ja?“, fragte Alex freudestrahlend.

„Von mir aus.“

„Juhu! Und was willst du machen?“

„Ist mir egal“, sagte Chris. „Nur nicht ins Kino.“

„Okay, ich hab sowieso eine viel bessere Idee.“

„Und die wäre?“

„Das wirst du dann schon sehen.“

Alex` Freude war kaum zu übersehen. Er strahlte von einem Ohr zum anderen und Chris befürchtete schon das Schlimmste. „Du willst tanzen gehen, oder?“

„Ja.“

Als sie sich am Abend auf den Weg machten und Alex ununterbrochen davon sprach, wie toll es werden würde, hatte Chris ein unheilvoll kribbelndes Gefühl im Bauch. Eigentlich war ihm nicht nach Tanzen, Spaß haben und ausgelassen sein. Er hatte ein schlechtes Gewissen dabei. Genau vor einer Woche hatte er Paul verloren und jetzt zog er los, um sich zu amüsieren. Mit einem anderen Jungen. Nächste Woche sollte die Beerdigung stattfinden, warum also musste er ausgerechnet an diesem Tag anfangen, sein Leben weiterzuleben? Paul hätte ihm mit Sicherheit gut zugeredet und ihn wahrscheinlich noch eigenhändig aus der Tür geschubst, aber das änderte nichts an Chris` Gefühlen. Ein winzig kleiner Teil in ihm war da, der sich auf den Abend freute, aber diese Freude schaffte es nicht bis ganz an die Oberfläche. Zumindest spiegelte sich wohl nicht besonders viel davon in seinem Gesicht, denn Alex sah ihn auf einmal besorgt von der Seite an.

„Wenn es dir so schlecht dabei geht, müssen wir nicht ausgehen.“

„Ist schon ok.“

„Schon ok? Du solltest dich eigentlich darauf freuen. Ich wollte doch nur, dass du mal aus deinem Schneckenhaus rauskommst.“

„Das ist lieb gemeint, aber ich habe einfach ein schlechtes Gewissen dabei.“

„Das musst du nicht, aber ich verstehe dich schon. Trotzdem solltest du nicht so viel darüber nachdenken, was nächste Woche ist. Heute Abend ist heute Abend. Niemand wird dir Vorwürfe machen, außer du selbst natürlich.“ Alex versuchte, ihn aufzumuntern und piekste ihm einmal kurz in die Seite. „Na los, diese paar Stunden werden dich nicht umbringen.“

Den Gedanken, der sich bei Alex` Worten in seinen Kopf schleichen wollte, unterdrückte Chris ganz schnell. Daran wollte er nicht mehr denken. Er wandte sein Gesicht ab, damit Alex nicht darin würde lesen können, aber er war nicht schnell genug.

„Eigentlich sollte das ein Scherz sein“, sagte Alex erschrocken. „Sag jetzt nicht, dass du immer noch daran denkst, dich umzubringen.“

„Nein.“

„Nein, dass du dich nicht umbringen willst, oder nein, dass du es nur nicht sagst?“

„Beides.“

Alex atmete geräuschvoll aus. „Man Chris, ich will dich nicht noch mal bewusstlos ins Krankenhaus tragen müssen.“

„Das musst du auch nicht. Das neulich war nur eine Kurzschlussreaktion.“

„Wenn du das sagst.“

Jetzt gingen sie schweigend nebeneinander her. Chris fragte sich, ob er die Stimmung durch seine düsteren Gedanken völlig ruiniert hatte, aber da lächelte Alex ihn schon wieder an. „Du wirst Spaß haben heute Abend, ob du nun willst oder nicht.“ Dann zeigte er auf den Eingang eines hell beleuchteten Gebäudes. Chris sah hoch auf den Schriftzug: La Alma. Von diesem Club hatte er noch nie etwas gehört.

Sie gingen nacheinander durch die offene Tür und dann eine Treppe hinauf, die auf eine Art Galerie führte. Von hier aus konnte man gut auf die Tanzfläche sehen. Chris fiel sofort auf, dass keine einzige Frau anwesend war. Warum auch, dachte er und sah zu Alex. Wir sind schwul.

Auf dieser zweiten Ebene befand sich außerdem noch die Bar, zu der Chris gerade gezogen wurde.

„Du musst erst mal etwas trinken“, rief Alex und bestellte ihnen zwei Cosmopolitan. „Und dann gehen wir tanzen.“

Sie nahmen ihre Gläser, stellten sich an die Reling und beobachteten die Masse der Tanzenden unter sich. Die Musik war laut, wie es sich gehörte und schien alle Anwesenden dazu zu zwingen, sich nach ihrem Beat zu bewegen. Niemand mochte still stehen und auch Chris überkam allmählich die Euphorie, die jeden in einer Disko früher oder später einholt. Den letzten Schluck seines pinken Getränkes kippte er geradezu hinunter und beugte sich zu Alex. „Wollen wir?“, fragte er und deutete auf die Tanzfläche. Alex grinste, trank ebenfalls den letzten Schluck und folgte Chris die Treppe hinunter. Sie bahnten sich einen Weg durch die ausgelassene Menge und suchten sich einen Platz in der Mitte der Tanzfläche. Viel Freiraum war ihnen nicht gegönnt, aber so sollte es ja auch sein. Alex ließ sich augenblicklich auf die Musik ein, bewegte sich zum Takt der dröhnenden Bässe und wurde von einer Sekunde auf die nächste zum Teil dessen, was sie von der Galerie aus beobachtet hatten. Chris brauchte erst eine Weile, um in dieser neuen Situation anzukommen, aber schon bald genoss er es ebenso wie sein Gegenüber. Es war sehr warm, um nicht zu sagen heiß, und doch scheuten sie nicht davor zurück, ihre ganze Energie in ihre Bewegungen zu stecken. Ein berauschendes Gefühl breitete sich aus und schon nach kurzer Zeit hatten sie so viel Spaß dabei, dass sie einfach alles andere vergaßen. Chris dachte nicht mehr an Paul und sein schlechtes Gewissen und ließ sogar zu, dass sich der Abstand zwischen Alex und ihm immer weiter verringerte. Sie tanzten jetzt nicht mehr nur nebeneinander, sondern miteinander. Alex stand auf einmal hinter Chris, schmiegte sich an seinen Rücken und legte die Hände auf seine Hüften. Es ist nur tanzen, sagte sich Chris und hob eine Hand, um sie in Alex` Nacken zu legen. Er genoss diese Nähe und es störte ihn auch nicht, dass sich Alex` Arme um seinen Körper schlangen und ab und zu eine Hand über seinen Bauch strich. Doch plötzlich erstarrte er. Eine Erinnerung drängte in sein Gedächtnis, von der er überhaupt nicht wusste, dass es sie gab. Er drehte sich ruckartig um und sah Alex an. „Was ist?“, fragte dieser verwirrt, doch seine Stimme kam nicht gegen die Musik an. Chris konnte es ihm nur von den Lippen ablesen, gab aber keine Antwort. Stattdessen verließ er die Tanzfläche und kämpfte sich durch die anderen Tanzenden in Richtung Ausgang vor. Alex folgte ihm, holte ihn aber erst draußen auf der Straße wieder ein. Die kühle Luft ließ ihn ein wenig frösteln, aber das kümmerte ihn in diesem Moment nicht.

„Chris! Warte doch mal!“ Er legte ihm eine Hand auf die Schulter, doch der schüttelte sie sofort wieder ab. „Was ist denn los mit dir? Ist es meinetwegen? Tut mir leid, wenn ich zu aufdringlich war, ich hätte mich lieber zurückhalten sollen.“

Chris antwortete nicht, er lief einfach weiter.

„Chris!“

„Warum hast du mir das nicht gesagt?“, schrie Chris Alex an.

„Was denn? Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Ich rede von dem Tag, als du mich ins Krankenhaus zurückgebracht hast. Du hast mich davon abgehalten zu springen, oder nicht? Als du mich eben so umarmt hast, hat es klick gemacht. Das Gefühl kam mir so bekannt vor und dann wusste ich auf einmal woher.“ Er schniefte und wischte sich die Tränen von der Wange. Ob sie vor Wut liefen oder wegen der Erinnerung an den Tag, wusste er selber nicht. Vielleicht war es aber auch, weil er jetzt wusste, dass er ohne Alex` Hilfe gesprungen wäre. Warum hatte er ihm das nur verschwiegen?

„Ich dachte, dass es das Beste wäre, wenn du es nicht erfährst. Du solltest glauben, dass du dich im letzten Moment doch für dein Leben entschieden hast, damit du nicht wieder versuchst dich umzubringen. Ich dachte, es ist wichtig, dass du an deinen Lebenswillen glaubst.“

Chris blieb stehen und sah Alex an. „Ich wäre gesprungen?“, fragte er im Flüsterton.

„Ja, sehr wahrscheinlich schon“, sagte Alex und zog Chris an sich. Auch er musste bei dem Gedanken schlucken. Chris klammerte sich an ihn und benetzte sein Shirt mit Tränen. Es dauerte eine Weile bis sie sich auf den Heimweg machen konnten.

„Tut mir leid, dass ich den Abend versaut habe“, sagte Chris, als Alex gerade die Wohnungstür aufschloss.

„Ach was, ich hatte meinen Spaß und ich glaube du auch.“

„Ja, du hattest recht. Es hat wirklich gut getan.“

Sie zogen sich im Flur ihre Schuhe aus und setzten sich dann im Wohnzimmer auf die Couch. Jetzt da sie nicht mehr von dieser prickelnden Atmosphäre umgeben waren und die Musik nicht mehr in ihren Ohren dröhnte, war es Chris unangenehm, wie nahe sie sich gekommen waren. Er hatte Alex doch so gut es geht auf Abstand halten wollen, um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Doch dort, in diesem Club, war es einfach mit ihm durchgegangen. Verrückt, wie man sich in einer solchen Situation verändern kann.

„Bist du noch sauer auf mich?“, fragte Alex irgendwann und riss Chris damit aus seinen Gedanken.

„Wieso?“

„Wegen der Brückengeschichte.“

„Nein, ich kann dich ja verstehen.“

„Und wegen der Situation vorhin? Ich wollte wirklich nicht so aufdringlich sein.“

„Ich hab doch mitgemacht. Ich habe genauso mit dir getanzt, wie du mit mir. Ist doch nichts dabei.“

„Okay“, sagte Alex erleichtert und strahlte wieder. Offensichtlich sah er Chris nicht an, dass er gelogen hatte. „Es ist schon spät“, fügte er nach einem Blick auf die Uhr hinzu. „Ich muss morgen arbeiten.“

„Du arbeitest?“, fragte Chris überrascht.

„Ja, in einem CD-Geschäft. Morgen muss ich um acht anfangen, also gehe ich jetzt ins Bett. Kann ich dich allein lassen?“

„Ja, klar. Ich gehe auch bald.“

„Okay, schlaf gut.“

„Gute Nacht.“

Lesemodus deaktivieren (?)