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Sommer - Der Boden der Tatsachen

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Vorwort

„Sommer – Der Boden der Tatsachen“ ist eine Art zweiter Band zu „Sommer 2006“. Lest also die Story, um aus dem hier schlau zu werden.

 

„Daaaaaaaavid?! Hast du die Vögel gefüttert?“

Max steht jetzt schon seit geraumer Zeit vor dem Spiegel im Badezimmer. Vor zehn Minuten hätten wir allerspätestens losfahren müssen, um noch einigermaßen pünktlich zu sein.

„Ja Schatz. Und du siehst gut aus. Jetzt mach schon!“

Endlich kommt er da raus. Er pfriemelt an seiner losen Krawatte rum.

„Willst du meine Hilfe dabei?“, frage ich grinsend.

„Ich kann das selbst!“, gibt er trotzig zurück.

„Na klar. Geht das auch im Auto?“

„Wieso Auto?“

„Weil wir mit den Öffentlichen zu spät kommen. Schau mal auf die Uhr.“

„Oh. Hilf mir doch mal!“

Ich schnaube und binde meinem Freund die dunkelgraue Krawatte. Warum ist er bloß so schrecklich nervös? Er bekommt doch bloß in einer kurzen Zeremonie seinen Bachelor-Wisch überreicht. Und die Krawatte ist ja wohl etwas overdressed. Und sein Bart ist auch verschwunden. Seit zwei Jahren beschwere ich mich und jetzt, wo ich mich schon damit abgefunden habe, macht er ihn plötzlich ab.

Endlich sitzen wir im Auto. Max klickt am Radio rum, ist mit keinem Sender zufrieden.

„Ma-hax.“

„Ist ja gut“, er drückt genervt auf den Aus-Knopf. „Besser so?“

„Ja, danke“, gebe ich sarkastisch zurück und frage dann: „Was ist eigentlich los mit dir?“

„Was soll los sein?“

„Du wirkst … aufgeregt.“

„Ich bekomme meinen Hochschulabschluss, da darf man ja wohl etwas nervös sein“, erklärt er pampig.

Manchmal ist er sooooo … gmpf. Ich kralle meine Hände ins Lenkrad und konzentriere mich wieder auf den Verkehr. Also ich werde sicher nicht so nervös sein, wenn ich mein Diplom bekomme, was frühestens in zwei Jahren sein wird. Mir ist es immer noch schleierhaft, wie Max es in fünf Semestern zum Bachelor inklusive Abschlussarbeit geschafft hat. Natürlich hatte er ständig Stress, hat in den Ferien Blockvorlesungen besucht und so weiter … Na ja, ICH muss schließlich nebenbei auch noch arbeiten. Kann ja nicht jeder ein Stipendium haben.

Wir kommen zehn Minuten zu spät, aber von einer Zeremonie ist noch nichts zu sehen. Die gut dreihundert Leute haben zum Großteil ihre Plätze eingenommen und unterhalten sich angeregt. Einige Studenten schießen Fotos vor der Bühne, die Stimmung ist feierlich. Die erste Reihe ist voll mit älteren Herrschaften, Professoren.

„Da drüben sind sie.“

Ich zeige auf Sonia, Maya und den kleinen Orlando. Max verrenkt sich aber immer noch den Hals und scheint nach jemand anderem Ausschau zu halten.

„Wen suchst du?“

„Ach, niemanden, … ich dachte nur …“

Als er seinen Satz nicht vervollständigt, hake ich nach:

„Ja? Was hast du gedacht?“

„Dass meine Eltern vielleicht hier wären …“

„Was?! Wie kommst du denn darauf? Hast du etwa was von ihnen gehört?“

„Na ja, ich habe ihnen geschrieben, dass ich heute meinen Abschluss bekomme, zusammen mit einer Einladung.“

„Du hast sie gebeten zu kommen?“

„Ist doch jetzt egal. Sie sind natürlich nicht da. Setzen wir uns.“

Ich stehe noch einen Moment belämmert da, dann folge ich meinem Freund zu seiner Verwandtschaft, die uns wie immer herzlich begrüßt.

Endlich tritt der Dekan, traditionell im Talar gekleidet, auf die Bühne. Unpassend unsicher geht er zum Rednerpult.

„Guten Tag meine Damen und Herren. Ich darf sie schon einmal recht herzlich begrüßen. Wir warten noch auf die Musiker.“

Er tritt wieder zurück und stellt sich wie bestellt und nicht abgeholt an den Bühnenrand. Ich kralle mir ein Programmheft.

„Traditionell chinesische Frühjahrsmusik“, lese ich vor.

„Mhm“, macht mein Freund und schaut sich immer noch nach allen Seiten um.

„Soll ich ein Foto von dir vor der Bühne machen?“, frage ich, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

„Bist du irre? Das ist ja wohl monster-peinlich.“

Max hat etwas Besseres zu tun, als zu bemerken, dass ich einen Schmollmund ziehe und auf einen Entschuldigungskuss warte. Das kommt in letzter Zeit häufiger vor. Ich gebe also auf, komme mir dämlich vor und versuche, nicht sauer zu werden. Eine Asiatin im Kimono betritt die Bühne. Beifall, doch sie winkt ab, lächelt entschuldigend und tritt ans Mikro um mit starkem Akzent zu erklären:

„Entschuldigung, Kollege Toilette Durchfall. Warten drei Minute.“

Erst betretenes Schweigen, doch dann bricht der ganze Saal in Gelächter aus. Sogar Max.

„Das hat die ehrwürdige Aula auch noch nie erlebt“, kichert er.

Orlando schaut die Erwachsenen seltsam an, beschließt dann aber einfach mitzulachen.

Der Dekan, offensichtlich selbst ein Lächeln niederringend, bittet um Aufmerksamkeit.

„Ich schlage vor, wir warten noch drei Minuten und dann müssen wir eben ohne musikalische Eröffnung beginnen.“

Die folgenden drei Minuten grinsen sich die Leute gegenseitig stumm an. Dann beginnt der Dekan mit der Begrüßungsrede. Immer noch keine Spur von asiatischen Musikanten. Der Herr im Talar blickt hilfesuchend zu einer Technikerin am Bühnenrand. Diese verschwindet kurz durch einen Tür hinter der Bühne, kommt zurück und erklärt:

„Fünf Minuten noch.“

Einige Leute schlagen sich die Hände vor Gesicht, weil sie den Lachanfall nicht mehr länger unterdrücken können. Der Dekan setzt eine angestrengt-feierliche Miene auf.

„Dann komme ich hiermit zur Überreichung der Bachelor-Urkunden. Ich rufe die Absolventen in alphabetischer Reihenfolge auf und möchte sie bitten, schwungweise auf die Bühne zu kommen und kurz ihren Namen und das Thema ihrer Arbeit vorzustellen.“

Ich tuschle Max zu:

„Ihr müsst da oben was sagen?“

Er zuckt nur lässig die Schultern. Ich für meinen Teil hasse es schon, vor vierzig Kommilitonen ein Referat halten zu müssen. Beim bloßen Gedanken daran läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Während Markus Bauer, der übrigens ein Geek ist, wie er im Buche steht, sein Zeugnis erhält, betreten zwei Asiatinnen den Raum, so dass es dann eine kurze Zwischenmusik gibt. Die Dame im Kimono singt Sopran, die andere, mit der Magenverstimmung, begleitet sie am Piano. Bei den hohen Tönen dröhnen einem zwar die Ohren, aber insgesamt hört es sich schon cool an. Ein kleines Grinsen kann ich mir nicht verkneifen, als die Pianistin, gleich nachdem die letzten Töne verklungen sind, durch die Tür verschwindet. Ansonsten ist die Stimmung jetzt aber feierlich und eine aufgeregte Spannung liegt in der Luft. Max sitzt recht lässig neben mir, während Orlando auf meinen Schoß klettert, um besser sehen zu können. Die Kommentare über Auftreten, Aussehen und Bachelorarbeitsthemen der Leute auf der Bühne, teile ich mit Maya und Sonia, denn Max signalisiert deutlich, dass er in Frieden gelassen werden will. Beim letzten Schwung wird dann endlich sein Name genannt. Selbstbewusst und viel sicherer im Auftreten als die anderen, erklimmt er die Bühne, nennt seinen Namen und den zungenbrecherischen Titel seiner Arbeit, nimmt sein Zeugnis inklusive Handschlag in Empfang und verlässt die Bühne wieder. Er beschleunigt seinen Schritt und fängt schon im Gehen an, den Umschlag zu lösen, zieht, gerade als er an unserer Reihe angekommen ist, ein Blatt heraus und studiert es eindringlich, während er sich durch die Leute zurück zu uns drängt.

„Und?“

„Eins Komma Drei.“

„Das ist ja klasse!“, rufen die Frauen gleichzeitig.

Aber ich weiß, dass er mit Besserem gerechnet hat, dazu muss ich gar nicht erst seinen enttäuschten Blick sehen.

„Woran hat’s gelegen?“, frage ich deshalb.

„Was soll’n das bitte heißen?!“, bellt er mich an. „Das ist ja wohl gut genug! Dir kann man’s wohl überhaupt nicht recht machenoder?!“

„Nein … doch, ich meinte doch nur, weil du eigentlich dachtest …“

„Ich geh schon mal in den Empfangssaal, wir sehen uns da.“

Und schon ist er weg und ich sitze da und weiß überhaupt nicht, wie mir geschehen ist. Maya legt mir tröstend die Hand auf die Schulter.

„Er hat es nicht so gemeint.“

„Ich wollte doch nur …“

„Mach dir nichts draus, David. Das hat er von seinem Vater geerbt“, erklärt Sonia. „Der sucht auch immer den Fehler bei anderen, weil er sich selbst keine eingestehen will.“

Ich finde diese Erklärung wenig tröstlich und zucke nur mit den Schultern.

„Wollen wir?“, fragt Maya.

Ich nicke, denn alle anderen setzen sich ebenfalls in Bewegung.

Mein Freund steht höflich plaudernd in einem kleinen Kreis aus Professoren und Studenten um einen Bistrotisch und führt sich ein Gläschen Sekt zu Gemüte. Die Leute sind mir völlig fremd, eigentlich habe ich in den letzten zweieinhalb Jahren kaum jemanden aus Max’ Uni-Leben kennengelernt, er hingegen kennt so ziemlich alle meine Bekannten.

„Wollen wir nicht rüber gehen?“, fragt Sonia.

Ich bin wohl aus Versehen stehen geblieben. Warum zögere ich? Orlando will auf meinen Arm. Ich mustere Max’ Kommilitonen. Die meisten davon sind genau wie man sich Physik-Genies vorstellt. Schlecht angezogen und irgendwie unsicher im Auftreten. Max sticht heraus, auch wenn er sich inzwischen so eine rahmenlose Brille angeschafft hat, wie sie fast alle hier tragen. Wie kommt es, dass so viele Physiker Sehstörungen haben? Oder tragen in anderen Studienrichtungen einfach mehr Leute Kontaktlinsen?

„Ah, und das ist meine Familie“, stellt Max uns den Umstehenden vor.

Dieser Moment, wenn neue Leute erfahren, dass man schwul ist, ist etwas, womit Max sich nie wirklich wohlgefühlt hat. Aber diesmal ist es ihm wohl noch unangenehmer als sonst. Er wirft mir einen kurzen, unsicheren Blick zu und damit ist die Vorstellung beendet. Kein „Und das ist David, mein Freund.“ Und dann der Arm, der kurz um die Hüften geschlungen wird, um deutlich zu machen, was für ein Freund ich bin. Stattdessen deutet er auf den älteren Herrn neben sich.

„Und das ist Professor Gothhardt, der meine Arbeit betreut hat.“

Sonia reicht ihm die Hand und glüht vor Stolz, als er Max als außerordentlichen Studenten bezeichnet und sich schon auf seine Masterarbeit freut. Orlando, der sich auf meinem Arm wie immer sehr wohl fühlt, zupft vorsichtig an meinen, derzeit etwas längeren, Haaren.

„Bähbäh.“

„Hast du die Windeln voll?“, flüstere ich.

Er nickt und schämt sich, was ihn das nächste Mal nicht davon abhalten wird, wieder erst zu spät Bescheid zu geben. Maya will ihn mir abnehmen, aber ich brauche gerade sowieso einen Ortswechsel, also mache ich mich mit Windeltasche und inzwischen streng riechendem Kind auf den Weg zum Wickelraum, den die Uni tatsächlich bietet. Max schaut mich nicht mal an und verpasst so den ärgerlichen Blick, den ich ihm zuwerfe.

Durch die Routine beim Windeln wechseln und die Scherze, die ich mit dem Kleinen mache, wird mein Kopf langsam klarer und das ganze Ausmaß von dem, was da drinnen gerade passiert ist, wird mir klar. Niemand in Max’ Uni-Leben hat eine Ahnung davon, dass er schwul ist. Die paar Leute, die ich im ersten Semester mal kennengelernt habe, studieren inzwischen nicht mehr mit ihm. Er hatte nie vor, mich vorzustellen, das war nicht nur, weil er sauer auf mich ist.

„Runter.“

„Ach so, ja, du bist fertig. Duftig frisch. Na dann ab zur Mama, hm?“

„Jaaaaa!“

Der Kleine kennt tatsächlich noch den Weg in den Empfangssaal. Er rennt ein paar Meter vor mir her und ich muss so tun, als wäre ich ein Krokodil, das ihn auffressen will, auch wenn mir gerade eigentlich weniger nach solchen Späßen zumute ist.

Max plaudert, Sonia strahlt, Maya fühlt sich sichtlich etwas unwohl und ist dankbar, dass wir wieder zurück sind und sie sich mit uns beschäftigen kann.

„Na mein Kleiner, alles gut gegangen?“

„Mhm.“

„Hast du ihn eingecremt?“, fragt sie mich.

„Nein, war nicht besonders wund.“

„Wie alt ist denn ihr Kleiner?“, fragt Max’ Prof großväterlich.

„Bald drei“, antwortet Maya,

„Da sind sie zwei bestimmt stolz. Schön zu sehen, dass sich junge Leute für eine Familie entscheiden. Mein Enkelsohn ist fünf und bereitet mir viel Freude. Er wird dieses Jahr eingeschult.“

Bevor wir wirklich dazukommen, aufzuklären, dass Orlando nicht „unserer“ ist, schwärmt der Prof uns schon von den besonderen Talenten des kleinen Lukas vor. Max steht mit dem Rücken zu uns, aber ich habe das untrügliche Gefühl, dass er das Missverständnis mitbekommen hat und es kommt ihm gelegen. Ich überlege tatsächlich gerade, irgendeine krasse Outing-Aktion zu bringen, weil ich wirklich wütend und enttäuscht bin von meinem Freund, als mein Handy vibriert. Eine SMS, von Noah.

„Hey, na? Is es schön bei dir? Hier is die Hölle los, aber wir kriegen das schon hin … irgendwie. Bussi, Noah“

Heute steht eine geschlossene Gesellschaft an, und zwar eine ziemlich große. Eigentlich ist alles gut durchorganisiert, aber das Flags ist stark unterbesetzt. Alles kam zusammen. Diese Zeugnisverleihung, zwei kurzfristige Krankheitsfälle, eine Prüfung und so weiter. Ich fasse einen schnellen Entschluss. Hier werde ich nicht gebraucht und hier will ich auch gar nicht sein, sondern im Flags, das für mich inzwischen ein zweites Zuhause geworden ist. Noah und ich schmeißen den Laden quasi alleine, inklusive dem ganzen Papierkram und so. Der Chef kassiert nur seine Kohle, ansonsten haben wir freie Hand. Dort ist jetzt mein Platz, nicht hier, wo ich verheimlicht werde, oder angeschnauzt. Ich wispere Maya zu:

„Ich muss los, Notfall in der Arbeit.“

„Wirklich? Jetzt? Aber …“

„Ihr kommt doch nachher zum Essen sowieso dahin, also sehen wir uns dann. Sag Max nachher Bescheid, ich will ihn jetzt nicht unterbrechen.“

Ich drücke Orlando einen Kuss auf den Kopf und verschwinde, ohne mich noch mal umzusehen. Ich hab Gänsehaut und bin gleichzeitig wütend, enttäuscht, irgendwie aber auch total gleichgültig. Ich konzentriere mich jetzt erst mal auf die Arbeit, nehme ich mir vor.

Da ist auch wirklich die Hölle los. Küchengeräteausfälle, Nahrungsmittelallergie, alles mit dabei. Noah kommt nicht mal dazu, mich zu fragen, was ich hier mache. Ich werde einfach sofort eingespannt. Irgendwann kommen Max und die anderen, kriegen einen Tisch und Sekt aufs Haus zur Feier des Tages. Als sie mit essen fertig sind, bin ich immer noch nicht dazu gekommen, mich mal zu ihnen zu setzen. Ich sehe irgendwann, wie Noah ihnen die Rechnung bringt, während ich dem gebuchten Stripper für die geschlossene Gesellschaft erkläre, wie unsere Musikanlage funktioniert. Mehr als ein halbherziges Winken bekomme ich von Max zum Abschied nicht.

Während die Meute von viel nackter Haut unterhalten wird, nimmt mich Noah beiseite.

„Alles okay?“

Ich will reflexartig „klar“ antworten, schüttle dann aber doch den Kopf.

„Was ist los?“

„Lange Geschichte.“

„Wenn der Kuchen nachher serviert wurde, können wir reden, ja?“

„Mhm.“

Er knufft mich freundschaftlich in die Rippen und wuselt wieder los.

Total fertig lasse ich mich im Büro auf die Couch sinken, Noah hält mir einen Teller mit verschiedenen Kuchenresten hin.

„Danke. Meinst du, die anderen kommen jetzt klar?“

„Sicher! Abräumen und Drinks ausschenken. Mach dir mal keinen Kopf. Also, was ist los?“

Ich erzähle ihm also in sämtlichen Details, was passiert ist. Er sieht danach ziemlich angepisst aus, hält sich aber zurück und bleibt diplomatisch.

„Das müsst ihr dringend klären. Vielleicht war es alles nur … ein Missverständnis oder so …“

„Ach bitte, Noah, sag ruhig deine Meinung.“

„Ich glaub die kennst du, aber das führt ja doch zu nichts.“

„Ja was soll ich denn machen?“

„Keine Ahnung, ich versteh einfach nicht, warum du seine Launen immer stillschweigend erträgst und ihm auch noch Essen kochst, den Haushalt schmeißt, die Miete zahlst und das alles, obwohl du nebenbei auch studierst UND einen Vollzeitjob hast. Ich würde das nicht lange mitmachen.“

Jetzt ist es also doch aus ihm herausgeplatzt. Noah ist mein bester Freund und wichtigste Bezugsperson für mich. Ich kenne ihn, er meint es nur gut, aber er versteht nicht, was mich an Max bindet. Er hat ihn zu Beginn unserer Beziehung nicht erlebt, bevor er zum Workaholic mutiert ist und ich nach seinem Studium nur noch an zweiter Stelle stand. Am Anfang hat er noch versucht, es wieder gutzumachen, wenn er mich kurzfristig versetzt hat, nachdem ich für ihn gekocht hatte oder wieder mal alle Hausarbeit an mir hängengeblieben ist, oder wenn er mich vor lauter Prüfungsangst die ganze Nacht wach gehalten hat, obwohl ich ebenfalls auf Tests zu lernen hatte. Inzwischen fällt ihm so was scheinbar schon gar nicht mehr auf. Er sieht mich als selbstverständlich an und ich gehe dann und heule mich bei Noah aus. Der ist immer einfühlsam und geduldig und verständnisvoll, kümmert sich, backt mir Brownies, beschwert sich nie. Auch jetzt legt er wieder geduldig den Arm um mich und redet mir gut zu, hält mir den Teller, während ich tonnenweise Schokokuchen in mich hineinstopfe. Dabei fällt mir ein unschönes Erlebnis wieder ein.

„Weißt du, was Max heute gesagt hat, als ich diese dämliche Hose angezogen hab, weil man sich ja schließlich schick machen muss, zur Hochschulzeugnisübergabe?“

„Nee, was?“

„Sag mal, David, die Hose saß aber bei meiner Abiübergabe bei weitem nicht so eng, oder? Vielleicht solltest du auch mal n bissl Sport machen. Würde dir nicht schaden.“

„Ist das dein Ernst?! Das hat er nicht gesagt, oder?“

„Doch“, seufze ich.

„Das ist Schwachsinn, das weißt du auch, oder?“

„Na ja, ich hab tatsächlich fünf Kilo zugenommen, seit ich mit ihm zusammen bin …“

„Ja, aber die haben sich gut verteilt! Früher warst du so knabenhaft-schlaksig, jetzt siehst du einfach männlicher aus, aber keinesfalls mollig oder so!“

„Ach keine Ahnung …“

„Nein David! Jetzt mal ganz im Ernst! Verschwende daran keinen Gedanken mehr. Die Jungs verrenken sich die Hälse nach dir. Wenn du wolltest, bräuchtest du nur mit den Fingern zu schnippen …“

„Ach Quatsch.“

„Sei doch nicht so bescheiden. Ich weiß, dass du das mitbekommst! Ständig muss ich den Leuten sagen, dass sie sich keine Hoffnungen machen brauchen, weil du so gut wie verheiratet bist!“

Das ringt mir dann doch ein Lächeln ab.

„So, lass uns über was anderes reden“, bitte ich.

„Klar, wie wäre es mit ‚Träume spinnen’?“

„Genau! Darauf hab ich jetzt Bock.“

Das ist eine kleine Tradition zwischen Noah und mir. Hypothetisches Brainstorming wie wir zu unserer ersten Million kommen können, und zwar mit jeder Menge Spaß. Meistens landen wir bei dem Plan, einen eigenen Laden aufzumachen. Einen Eventschuppen vielleicht. Zum Beispiel „Dinner and a Crime“. Die Gäste müssen ein fiktives Verbrechen auflösen oder so. Das ist dann eigentlich gar nicht mehr so abwegig. Ich kann mir gut vorstellen, mit Noah was Eigenes aufzumachen. Wir ergänzen uns gut, verstehen uns, haben die gleiche Einstellung zum Geschäft. Warum also nicht? Nach so einer Runde ‚Träume spinnen’ bin ich immer total voller Tatendrang und will am liebsten alles sofort und gleich anpacken. Das lebe ich jetzt erst mal in der Küche aus.

Um ein Uhr nachts können wir den Laden dicht machen und ich will wie immer nur noch nach Hause unter die Dusche.

„Bis morgen dann.“

„Jo.“

Noah drückt mich noch kurz, dann schwingt er sich auf sein altes Rad und ich mich ins Auto. Ich schaue ihm noch zu, wie er wegradelt. Eigentlich hab ich jetzt doch keine Lust auf zuhause, aber ich wollte Noah nicht noch mehr einspannen und ziellos in der Gegend herumfahren, finde ich zu kindisch. Die Dusche lockt ebenfalls. Fahre ich also doch heim.

Die Wohnung ist dunkel, Max ist also schon im Bett. Irgendwie erleichtert mich das, denn ich hätte heute Abend nicht mehr die Energie, einen Streit auszutragen. Nach der Dusche lege ich mich neben ihn, er regt sich kurz und ich habe das dringende Bedürfnis, mich an ihn zu schmiegen, seine Wärme und Nähe zu spüren. Ich krieche zu ihm unter die Decke, sehe in sein schlafendes Gesicht und streichle sanft über seine Wange. Mein Max. Seit zweieinhalb Jahren ist er meiner. Ich liebe ihn, sehr. Und ich weiß, dass er mich liebt. Wir hatten nur einen miesen Tag, das wird schon wieder. Ich streiche sein Haar zurück und küsse ihn leicht auf die Stirn. Er regt sich, schlägt die Augen auf.

„Hey“, hauche ich.

„Mann, ich muss morgen früh raus, ich will einfach nur schlafen, okay?“

Bevor ich irgendwas erwidern kann, dreht er sich um und rollt sich in die Decke ein. Das ist nicht wahr, oder? Das hat er gerade nicht getan! Wieso ist er so zu mir? Was habe ich denn falsch gemacht? So gebündelt wie heute habe ich seine Launen noch nie ertragen müssen. Ich liege da und kann es einfach nicht glauben. Liebt er mich denn nicht mehr? Mache ich ihn nicht mehr glücklich? Ich liege neben meinem Freund im Bett und weine leise vor mich hin, frage mich, wie es mit uns nur so weit hat kommen können. Was ist nur falsch gelaufen? Ich kann es einfach nicht fassen.

Als ich aufwache, ist Max schon weg. Er hat ein Vorstellungsgespräch, wegen einem Praktikum. Es ist halb zehn, in einer Stunde muss ich im Flags sein. Meine Vorlesung um acht habe ich mal wieder verschlafen. Ich quäle mich aus dem Bett, meide die Spiegel und trinke erst mal Kaffee bis zum Anschlag. Mit der Tram mache ich mich auf den Weg zur Arbeit. Noah hat schon aufgeschlossen und weist gerade einen Neuen ein.

„Und da kommt er auch schon. David, das hier ist Jens, ich hab ihn spontan eingestellt.“

„Mhm, okay.“

„Noch nicht ganz fit heute Morgen?“

„Mh-mh.“

„Werde ich trotzdem anständig begrüßt?“

Ich rolle die Augen und drücke ihm einen Schmatz auf die Wange, auf die er deutet.

„Na gut, Jens, dann deck schon mal die Tische ein und ich mach mal David munter“, trällert Noah schrecklich fröhlich durch die Gegend und zieht mich dann in die Küche.

„Kaffee?“

„Hatte ich schon.“

„Scheinbar nicht ausreichend. Frühstück?“

„Keinen Appetit.“

„Hattest du gestern noch Stress mit Max?“

„So kann man es wohl ausdrücken.“

Ich klage Noah mal wieder mein Leid.

„Das ist schon echt harter Tobak. Was hat dein Kerl eigentlich für ein Problem?“

Ich zucke unglücklich die Schultern. Noah gibt mir die Umarmung, die ich dringend nötig habe. Ich bin so froh, dass ich ihn habe. Was täte ich bloß ohne ihn? Ich sauge seinen vertrauten Geruch ein und genieße die paar Sekunden, in denen ich mich nicht so verlassen und alleine fühlen muss. In meinem Magen spüre ich ein nervöses Kribbeln. Das muss wohl vom Hunger kommen. Als würde er meine Gedanken hören, fragt Noah:

„Wie wäre es mit einem belegten Baguette?“

Nach der Mittagsschicht besuche ich dann doch noch eine Vorlesung und komme gegen fünf nach Hause. Diesmal ist Max da und wach. Er sitzt an seinem Schreibtisch.

„Hey.“

„Hey.“

„Wie war das Vorstellungsgespräch?“

„Die melden sich.“

„Ach so …“

Ein peinlicher Moment der Stille. Ich stehe dumm mitten im Raum.

„Na ja, dann geh ich erst mal duschen.“

„Was gibt’s heute Abend eigentlich zu essen?“

„Keine Ahnung, Max. Ich bin gerade erst heimgekommen. Du könntest dir ja auch mal was überlegen.“

„Hab zu tun.“

„Natürlich, wie immer.“

„Der Widerspruch gegen die Note in Mechanik muss bis Montag raus, also …“

„Du legst Widerspruch ein? Ist das nicht schweineteuer?“

„Der Kerl hat mir völlig ungerechtfertigt eine Zweinull gegeben. Soll ich das einfach auf mir sitzen lassen?“

„Und wovon willst du das bezahlen?“

„Die dreihundert Euro kratz ich schon irgendwie zusammen.“

„Mal eben, einfach so? Wenn dir die Kohle so locker sitzt, dann beteilige dich ruhig mal ein wenig an der Miete.“

„Ach, darum geht’s dir? Verdienst du etwa nicht genug? Komisch, du arbeitest doch ständig, sogar wenn ich mein Hochschulzeugnis bekomme!“

„Tja, ich hatte ohnehin den Eindruck, dass du mich nicht gebraucht hast. So war ich wenigstens aus dem Weg und du musstest keine Angst haben, dass doch noch jemand herausfindet, dass ich dein schmutziges, kleines Geheimnis bin!“

„Pass mal auf wie deine Hände rum fliegen und dieser dramatische Tonfall! Ich glaub, Noah färbt auf dich ab.“

Das reicht. Es geht zu weit, wenn er jetzt auch noch unsachliche Attacken auf meine Freunde startet, nur weil ihm die Argumente ausgehen! Mein ruhiger, irgendwie bebender Tonfall überrascht mich selbst.

„Noah hat jedenfalls keine Angst davor, zu zeigen, wer er ist. Von ihm könntest du wirklich noch was lernen, aber du machst dich lieber lustig über alles und jeden der in irgendwas besser ist als du. Du tust mir echt leid. Mir reicht’s! Ich bin weg.“

Ich schnappe mir meine Jacke und meinen Rucksack und gehe.

Der Autoschlüssel liegt in der Wohnung, also steige ich in die Tram Richtung Flags. Von dort aus sind es zehn Minuten zu Fuß bis zu Noah. Ich komme gar nicht auf die Idee, vorher anzurufen, er MUSS einfach zu Hause sein, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin soll.

Er macht mir auch tatsächlich auf, nachdem ich sturmgeklingelt habe. In Unterwäsche.

„David? Was … ist was passiert?“

„Ich glaube, ich muss ihn verlassen.“

„Max?! Komm erst mal rein.“

Er schiebt mich in sein kleines, schick eingerichtetes Wohnzimmer, wo es immer nach Kaffee duftet. Ich lasse mich etwas dramatisch auf die Couch sinken.

„Es war so furchtbar, er war so ein Arsch!“

„Ähm, ja … also, warte mal eben …“

Er verschwindet kurz ins Schlafzimmer, kommt kurze Zeit später voll bekleidet wieder heraus, einen leicht angepisst guckenden Kerl im Schlepptau. Ich springe auf.

„Oh, ach so … ich wusste nicht … tut mir leid, ich bin schon weg.“

„Nein nein, Tonio wollte gerade gehen.“

Noah schiebt den armen Kerl zur Wohnungstür, lässt ihm kaum Zeit, seine Schuhe anzuziehen. Als die Tür ins Schloss knallt, schauen Noah und ich uns für eine Sekunde an, dann brechen wir in schallendes Gelächter aus. Noah lässt sich neben mir auf die Couch fallen.

„Armer Tonio“, gackere ich.

„Er wird’s überleben.“

„Wart ihr gerade … ich meine …“

„Vorspiel.“

„Wo hast du ihn denn aufgegabelt?“

„Ach, wir treffen uns öfter mal … so Fick-Freund mäßig.“

„Du hast einen Fick-Freund?? Warum weiß ich nichts davon?“

„Ach keine Ahnung. Ist eh ein Wunder, dass ihr euch noch nie über den Weg gelaufen seid.“

„Er wird sich wohl wünschen, dass sich unsere Wege so schnell nicht mehr kreuzen“, grinse ich schadenfroh.

„Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm gesagt hab, dass er verschwinden muss. Er dachte, du seist mein Freund und verprügelst ihn jetzt dann gleich oder so was.“

„Gott, der Ärmste.“

„Kaffee?“

„Klar!“

Langsam weicht meine fröhliche Stimmung und ich weiß nicht, was ich Noah erzählen soll, oder wie viel ich sagen soll. Ich entscheide mich für die ganze Geschichte. Noah nimmt es gelassen.

„Dein Kerl findet mich also zu tuntig? Whatever. Deine Erwiderung war genau richtig. Ich bin sehr stolz auf dich.“

Er drückt mir einen Kuss auf die Wange und springt auf.

„Musik!“, verkündet er und schon hat er mit der Fernbedienung seine Anlage in Betrieb genommen und springt durchs Wohnzimmer.

„Komm schon, David!“

Er zerrt mich hoch und ehe ich mich versehe, springe ich mit. Pink läuft. Nach zwei Songs kann ich einfach nicht mehr, aber fühle mich verdammt gut. Noah lässt sich auf den Boden fallen.

„Das ist besser als Sex.“

„Dann bringt’s dein Fick-Freund wohl nicht so, was?“, grinse ich.

Im nächsten Moment finde ich mich ebenfalls auf dem Boden wieder.

„Wie hast du das gemacht?“, frage ich erstaunt, denn Noah hat mich mit einem kurzen Tritt in die Kniekehlen zu Fall gebracht.

„Mein Dad war ein Marine, er hat mir einiges beigebracht“, trällert er und salutiert.

„Das behauptest du immer wieder!“

„Weil es wahr ist“, gibt er trotzig zurück.

„Erzähl mir von ihm!“

„Ach nööö…“

„Noah!“

„Zwing mich doch!“

„Ich kenne alle Stellen, an denen du kitzlig bist!“

„Gar nicht wahr!“

Ich trete den Beweis an und er kreischt so laut, dass mir die Ohren wehtun und ich freiwillig aufhöre. Wieder liegen wir atemlos nebeneinander. Die Musik wird ruhiger. Ich sehe zu Noah rüber. Sein Brustkorb hebt und senkt sich schnell aber gleichmäßig. Seine Wangen glühen. Ich möchte sie anfassen um zu sehen, wie heiß sie sich anfühlen, aber etwas hält mich ab. Das würde sich nicht nach einer freundschaftlichen Berührung anfühlen. Noah ist gerade verdammt sexy. Ich lasse meinen Blick über ihn schweifen. Der flache Bauch, die schmalen Hüften, die langen Beine. Kein Wunder, dass er immer viel mehr Trinkgeld einheimst als ich. Er räkelt sich und wendet sich mir zu.

„Tu das nicht, David. Nicht, wenn du es nicht auch so meinst.“

„Was?“

Ich folge seinem Blick. Meine Hand liegt auf seiner Hüfte. Ich ziehe sie schnell zurück.

„Komm schon, ich führ dich zum Essen aus“, verkündet er, als wäre nichts gewesen.

Ich versinke fast vor Scham im Boden. Wie konnte das passieren? Noah ist mein bester Freund! Und Max! Ich schüttle nur den Kopf über mich selbst und raffe mich auf.

Wir gehen in das Bistro im Erdgeschoss. Noah hilft dort manchmal aus und isst da fast täglich. Diesmal macht er sich nicht nützlich, sondern setzt sich zu mir und bestellt uns Wein und Käse. Er zündet sogar das kleine Teelicht auf dem Tisch an.

„Hast du vor, mich zu verführen?“, frage ich, beiße mir aber sofort auf die Zunge.

Mit dem vorangegangenen Hand-Hüfte-Zwischenfall war dieser Kommentar ziemlich unqualifiziert. Er lächelt mich nur an und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Ein angenehmer - und genau das finde ich unangenehm. Er fragt mich nach der Uni, ich erzähle von der Klausur am Montag und dass danach erst mal wieder Ferien sind.

„Und, klappt das mit der Prüfung?“

„Mal sehen. Irgendwie … hab ich grad keinen Kopf für Uni.“

„Verständlich …“

„Nein, nicht nur wegen Max. Auch weil ich gar nicht mehr weiß, ob das überhaupt das ist, was ich will …“

„Ja?“

„Mhm, eigentlich … ich meine, ich weiß, wir scherzen immer darüber, aber generell könnte ich mir schon vorstellen, mich selbstständig zu machen, zusammen mit dir vielleicht.“

„Ich mir auch.“

„Ja? Warum machen wir es dann nicht?“

„Wir könnten uns ja mal nach Immobilien umsehen und alles durchrechnen und so …“

„Ja! Das wäre echt mal ein Anfang!“

„Also, wenn du das wirklich durchziehen willst …“

„Ja Noah, das will ich wirklich.“

„Ich meine, du bist noch jung …“

„Hey! Du bist nur drei Jahre älter!“

„Ich geh auf die Dreißig zu!“

„Das hast jetzt du gesagt“, kichere ich.

„Dich würde ich dafür auch mit dem Daumen töten.“

„Hat dir das auch dein Dad beigebracht?“

„Allerdings.“

„Erzählst du mir mal von ihm?“

„Klar, irgendwann, aber nicht jetzt. Jetzt wird gegessen.“

„Ich sollte bei den Trauben bleiben, der Käse geht so auf die Hüften.“

„Du willst doch nur Komplimente fischen“, sagt er streng.

„Tu mir doch den Gefallen! Ich sag dir doch auch ständig, wie gut deine Hosen sitzen!“

„Ja beim Einkaufen! Das zählt nicht. Aber bitte: Iss ruhig Käse, du siehst fantastisch aus.“

„Dankeschön“, grinse ich eitel.

„Gern geschehen“, knurrt er. „Aber was ist eigentlich mit deinen Haaren? Als Geschäftspartner kann ich dir so eine Hippiefrisur nicht durchgehen lassen.“

„Och komm schon, ich kann sie kaum hinten zusammenbinden!“

„Ich finde die Locken ja auch niedlich.“

„Die sind nicht niedlich! Die sind … exotisch oder so, aber jedenfalls NICHT niedlich!“

„Klaaaar.“

Missmutig streiche ich meine Haare hinter die Ohren und werfe ihm noch einen vorwurfsvollen Blick zu. Jemand steckt eine Münze in die Retro-Jukebox in der Ecke. Wicked Game von Cris Isaak ertönt. Irgendwie steht der halbe Laden plötzlich auf und findet sich zu Pärchen zusammen, die Wange an Wange übers Linoleum schweben. Es dauert nicht lange und Noah hat vom zuschauen genug. Er reicht mir galant die Hand. Wehren hätte keinen Zweck, ich folge ihm an den Rand der Tischreihen. Als er mich an sich zieht und ich die Augen schließe, da wird mir schlagartig klar, dass das nervöse Kribbeln, das ich in letzter Zeit so oft in seiner Nähe empfunden habe, keineswegs Hunger gewesen ist. Ich weiß, dass ich mich dafür schuldig fühlen sollte, aber stattdessen fühle ich mich unbeschwert und … glücklich. Ich streiche über seinen Arm. Er hat Gänsehaut. Ich sehe ihn an, will fragen, ob ihm kalt ist. Es ist, als würden unsere Blicke sich gegenseitig festhalten. Seine Augen sind glasig und leicht gerötet. Als er zwinkert, läuft sogar eine Träne heraus. Hilflos starre ich ihn an, weiß nicht, was ich tun soll.

„David …“, flüstert er. „Ich will das so sehr, aber … aber wenn wir das zulassen …“

„Ich kann aber, glaub ich, nicht anders.“

Vorsichtig lege ich meine Hand in seinen Nacken. Es fühl sich so richtig an, so gut. Als sich unsere Lippen berühren, zittere ich am ganzen Körper und ich spüre auch, wie Noahs Hände unkontrolliert beben. Er krallt sich an meinem Oberteil fest, löst seinen Mund von meinem und drängt sein Gesicht an meinen Hals. Ich spüre, dass er Angst hat. Ich weiß genau, was in ihm vorgeht und halte ihn deshalb ganz fest.

„Lass uns spazieren gehen, ja?“

Er nickt und löst sich langsam. Ich nehme seine Hand und lotse ihn nach draußen. Unsere Jacken bleiben bei unserem halb aufgegessenen Käse. Für Mitte Februar ist es gar nicht so kalt, oder spüre ich es nur nicht? Wir gehen ein paar Schritte die hell erleuchtete Straße entlang, setzen uns auf eine Bank inmitten einer kleinen Grünfläche. Ich ziehe Noah in meinen Arm, ganz intuitiv.

„Ist dir kalt?“, frage ich, weil seine Zähne leise klappern.

Er schüttelt den Kopf und sagt dann:

„Ich hab Angst.“

„Ich weiß, … ich auch.“

„Das ist so dumm von uns.“

„Ich hab mich seit Monaten nicht mehr so gut gefühlt wie jetzt gerade, Noah.“

„Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich darf dich nicht verlieren.“

„Du wirst mich nicht verlieren.“

„Aber was ist mit Max?“

„Ich weiß es nicht“, antworte ich ehrlich.

Er sieht mich unglücklich an. Ich muss ihm mehr geben.

„Noah, du warst in den letzten Monaten immer für mich da und … ich fühle mich geborgen bei dir. Wenn du bei mir bist, dann ist alles gut. So muss es sich anfühlen, und nicht anders.“

„Aber was ist mit Max?“, fragt er noch einmal. „Was, wenn er morgen früh anruft und sich entschuldigt und dich bittet, nach Hause zu kommen?“

Er schaut mich nicht an, sondern hat seinen Blick auf die Häuserfassaden gegenüber gerichtet. Ich kann ihn nicht anlügen.

„Dann gehe ich nach Hause.“

„Und was passiert dann mit uns? Mit unserer Freundschaft?“

„Also soll ich meinen Arm wegnehmen?“, frage ich ausweichend.

„Nein … aber wenn ich dich verliere, David, dann … dann weiß ich nicht mehr weiter. Ich habe nicht viele echte Freunde und du bist mein bester. Und das Flags und all unsere Geschäftsideen. Wir dürfen das nicht aufs Spiel setzen.“

„Du hast ja recht. Aber … ich will dir nah sein, ich will dich ganz.“

„Aber Max willst du auch nicht verlieren.“

„Warum zerreden wir das eigentlich alles, Noah?“

„Weil zu viel auf dem Spiel steht.“

Der Klang seiner Stimme hat sich verändert. Er klingt nicht mehr traurig und verzweifelt, sondern entschlossen und stark. Jetzt sieht er mich auch direkt an.

„Geh nach Hause, David.“

„Aber …“

„Bitte, mach es mir nicht noch schwerer. Geh zu Max. Du gehörst zu ihm, das hast du mir oft genug versichert. Du solltest jetzt wirklich gehen.“

Er steht auf, ich ebenfalls. Mit seiner ganzen Körperhaltung signalisiert er mir, dass ich verschwinden soll. Ich habe ihn noch nie so eisig erlebt und es verletzt mich tausendmal mehr, als alles, was Max in den letzten Monaten gesagt oder getan hat. Ich gehe, weil ich keine Wahl habe. Ich betrete wieder das Bistro, hole meine Jacke, lege einen Geldschein auf den Tisch und mache mich auf den Weg zur Tram. Ich fühle mich leer. Einsamer als jemals in den letzten Monaten. Ich will mich einfach nur zusammenrollen und schlafen.

Max sitzt an seinem Schreibtisch, genau wie vor ein paar Stunden, als ich ihn verlassen habe. Er hat nicht versucht mich anzurufen, hat mir keine SMS geschrieben. Hat er sich überhaupt Gedanken um mich gemacht? Eigentlich ist es mir egal und das erschreckt mich ziemlich.

„Schon wieder da? Ich dachte, du bleibst länger weg.“

„Ich geh schlafen.“

„Ja, mach das.“

Die Decke ist weich und warm und feucht von Tränen. Von meinen Tränen. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Ich weine, wie ich nicht mehr geweint habe, seit ich ein Kind gewesen bin, schluchze verzweifelt vor mich hin, kann mich nicht mal drum bemühen, leise zu sein. Und die ganze Zeit denke ich nur an Noah und an seine Verzweiflung, daran, dass er mir gesagt hat, dass er mich will, daran, wie es wäre, bei ihm zu wohnen, mit ihm zusammen zu sein. Ich will ihn so sehr, aber ich kann ihn nicht haben. Denn was wird dann aus Max? Was würden meine Eltern von mir denken, die Max wie einen Sohn lieben? Könnte ich mir selbst noch in die Augen schauen, wenn ich Max wegen einem anderen verließe? Nein. Nein, das geht einfach nicht. Ich muss das durchhalten. Aber es fühlt sich so miserabel an. Plötzlich spüre ich eine Hand auf der Hüfte. Ich erstarre. Dann höre ich Max.

„Bitte wein nicht mehr. Es tut mir so leid, David. Bitte, es bricht mir das Herz, dich so zu sehen. Ich weiß, ich war schrecklich zu dir. Ich werde mich ändern. Ich mach’s wieder gut. Irgendwie. Wenn ich dich nur wieder lächeln sehe, dann wird alles gut. Ich liebe dich doch, David. Bitte …“

Irgendwann hat er mich in seinen Arm gezogen, da weine ich weiter, kann nur an Noah denken und hasse mich dafür. Mein Freund ist endlich wieder der, in den ich mich verliebt habe und ich denke an einen anderen! Ich bin Abschaum! Ich will aus meiner Haut fahren, will weg, will … zu ihm. Max hält mich fest. Das schlimmste ist, dass er denkt, er sei Schuld. Er denkt, ich weine, weil er mich verletzt hat, dabei habe ich etwas tausendmal Schlimmeres getan. Ich habe mich in einen anderen verliebt.

In der Dämmerung wache ich auf, liege in Max’ Arm und fühle mich schmutzig. Diese Wortwahl habe ich in Büchern nie verstanden, aber jetzt spüre ich es ganz deutlich. Ich bin schmutzig. Und ich kann hier nicht bleiben. Ich kann aber auch nicht in der Arbeit. Ich kann Noah nicht sehen, ich darf nicht. Samstag. Zwei Tage bis zu meiner Klausur. Vielleicht sollte ich mich darauf konzentrieren? Aber nicht hier. Ich fasse einen schnellen Entschluss.

„Ich fahre zu meinen Eltern.“

„Hm? Was?“

„Ich fahr nach Hause übers Wochenende.“

„Okay, dann … dann packe ich zusammen.“

„Nein, Max. Alleine. Ich brauche Abstand und Zeit zum lernen.“

„Musst du nicht arbeiten?“

„Ich nehm mir frei. Jetzt geh ich duschen und dann bin ich weg.“

Max bleibt total überrumpelt liegen. Er schaut mir ratlos nach. Mein Max. Aber so fühlt es sich gerade nicht an. Gleich nach der Dusche schnappe ich mir meinen Rucksack, stopfe etwas Wäsche hinein und gehe.

Der kalte Wind weht durch meine nassen Haare. Ich beeile mich damit, ins Auto zu kommen. Einfach nur weg. Ich fahre schneller als erlaubt oder vernünftig ist und parke kurz vor acht vor meinem Elternhaus. Es ist Zeit für eine SMS an Noah, um ihm Bescheid zu geben, dass ich dieses Wochenende nicht zur Arbeit komme. Und jetzt muss ich da rein. Zu meiner Mutter und meinem Vater, der seit einem Jahr wieder hier wohnt. Ich muss da rein und … ja, was dann? Was sage ich ihnen?

Vorsichtshalber klingle ich. Seit meine Eltern wieder zusammen sind, erleben sie so was wie einen zweiten Frühling. Es dauert nicht lange und meine Mutter öffnet.

„David! Hatten wir was ausgemacht? Hab ich was vergessen?“

„Nein nein, Spontanbesuch. Ich brauch ein bisschen Ruhe zum lernen.“

„Ist Max gar nicht dabei?“, fragt sie und verrenkt sich den Hals, um Richtung Auffahrt zu spähen.

„Nein, der musste noch Zeug zuhause erledigen.“

„Ach so. Aber ich wollte doch sein Zeugnis bewundern!“

„Dazu wirst du schon noch Gelegenheit haben.“

„Dann mach ich dir erst mal Frühstück, was?“

„Das wär klasse.“

Als ich dann über den Pfannkuchen sitze, kann ich doch nur drin rumstochern und sie so zerstückeln, dass es aussieht, als hätte ich wenigstens ein bisschen gegessen. Zum Glück ist meine Mutter in der Zwischenzeit irgendwo beschäftigt und stellt keine Fragen. Dafür kommt mein Dad in die Küche gestapft und schaut mich an, als wäre ich eine Fata Morgana.

„Hey Dad.“

„Was machst du denn hier?“

„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen.“

„Ja, guten Morgen, Sohn. Schleicht deine bessere Hälfte hier auch irgendwo rum?“

Irgendwie bleibt mir der Scherz, den ich auf den Lippen hatte, im Halse stecken. Ich tarne das als Hustenanfall. Dad reicht mir ein Glas Wasser und klopft mir härter als nötig auf den Rücken.

„Na, na, dann schling doch nicht so. Der wievielte Pfannkuchen ist das denn?“

„Wer zählt das schon?“, versuche ich zu grinsen.

Danach erzähl ich ihm die gleiche Geschichte wie meiner Mutter und verziehe mich dann in mein inzwischen recht leeres Zimmer. Dort drehe ich erst mal den Heizkörper an und lehne mich mit dem Rücken dagegen. Ich schlage das fette Buch auf, das komplett Prüfungsstoff sein wird und noch ziemlich ungelesen ist. Okay, querlesen. Darin hab ich Übung, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Ich fange an. Das Vorwort, das Inhaltsverzeichnis, schlage das erste Kapitel auf und lese den Namen des Autors. Noah Irgendwas. Noah. Max. Noah … aber Max. Ich muss das jetzt lesen. Ich versuche es, aber vor meinen Augen formen sich immer die gleichen Buchstaben. Noah. Ich muss seine Stimme hören, wähle seine Nummer. Aber ich drücke nicht den grünen Hörer. Ich kann nicht, und wenn ich noch so sehr will. Ich muss lesen, starre das Buch an, blättere sogar ab und an eine Seite weiter. Es klopft, Mum steht in der Tür.

„Willst du mitessen?“

„Ich hab doch gerade gefrühstückt.“

„Vor vier Stunden, ja.“

„Was?! Wie spät ist es?“

„Kurz nach Zwölf.“

„Oh. Ich … ich hab keinen Hunger, danke.“

„Alles okay, Schatz? Geht’s dir gut?“

„Sicher. Ich muss nur noch einiges schaffen.“

„Gut, aber mach auch mal Pause.“

„Mhm.“

„Na dann lass ich dich mal weiterlernen.“

Dreißig Seiten, so viel hab ich in vier Stunden geschafft und dabei hab ich noch nicht mal den Hauch einer Ahnung, was ich überhaupt gelesen habe. Und ich will Noah hören. Jetzt sofort. Ich wähle seine Nummer. Mailbox. Immerhin höre ich ihn kurz auf dem Band.

„Hallo, ich … ich wollte deine Stimme hören. Und sagen, dass ich … ich muss ständig an dich denken und … ich … ich muss auflegen, aber … du weißt schon. Ich vermisse dich. Vielleicht kannst du mich ja mal anrufen, auf dem Handy. Bis bald.“

Ob er wohl anruft? Ich lege das Telefon neben mich auf den Boden und lese weiter, über irgendwelche Wahrnehmungsprozesse und Nerven und … mein Handy klingelt!

„Hallo!“, rufe ich schon nach dem ersten Klingeln.

„Hey“, höre ich Max weniger euphorisch antworten.

Ich bin enttäuscht, dass er es ist. Das glaub ich einfach nicht! Was bin ich nur für ein Mensch?!

„Ich wollte mal hören, wie’s dir geht und fragen … wann du nach Hause kommst.“

„Ich hab noch viel zu lernen. Unschaffbar viel. Ich denke, ich fahr dann am Montag gleich von hier aus zur Uni, um Zeit zu sparen.“

„Oh, okay. Dann hol ich dich nach der Klausur ab? Ich meine, ich muss eh los um den Widerspruchsantrag abzugeben.“

„Mhm. Können wir deshalb morgen noch mal telefonieren? Ich muss echt weitermachen.“

„Oh … klar, sicher. Dann … noch viel Erfolg und … ich liebe dich, David.“

„Danke. Ciao.“

Ich konnte es nicht sagen. „Ich dich auch“, was ist daran so schwer? Und was sag ich stattdessen? Danke! Das ist ja wohl echt ekelerregend. Ich bin ekelerregend. Mir wird schlecht.

Ich schrecke hoch, schaue mich verwirrt um, suche die Uhr. Halb drei, ich bin eingeschlafen. Mein Nacken tut höllisch weh. Und was war das für ein Geräusch, das mich geweckt hat? Mein Handy. Es klingelt. Da steht sein Name.

„Noah. Endlich.“

„Hier war viel los. Ich kam nicht früher dazu.“

„Tut mir leid, dass ich dich so kurzfristig hängen hab lassen.“

„Schon okay, ich hab damit gerechnet, nach alldem. Wo bist du?“

„Bei meinen Eltern, zum lernen.“

„Und wie läuft’s?“

„Miserabel. Ich kann mich nicht konzentrieren und … ich fühl mich schrecklich. Ich hab so ein schlechtes Gewissen.“

„Wir haben nichts getan, David.“

„Körperlich war ich nicht untreu, das stimmt. Aber mit dem Herzen. Noah, ich bin so schrecklich verl…“

„Nein! Sag das nicht. Das würdest du bereuen. Wenn du es aussprichst, dann wird es so real.“

„Es fühlt sich ziemlich real an. Ich muss dich sehen. Können wir uns treffen?“

„Nein, du musst dich auf die Klausur konzentrieren und ich muss arbeiten. Lassen wir die Sache bis Montag abkühlen und reden dann, ja?“

„Aber ich vermisse dich wahnsinnig. Ich kann nicht so lang warten.“

„Und ich kann mich nicht weiter auf dich einlassen, David. Ich habe niemanden, der mich auffängt, wenn passiert, was passieren muss. Das alles ist schon viel zu weit gegangen. Ich leg jetzt auf. Tu nichts Dummes. Bis Montag.“

„Warte!“

Aber es ist schon zu spät.

„Ich bin trotzdem in dich verliebt“, murmle ich vor mich hin.

„David?!“, ruft meine Mum von unten.

„Ja?!“

„Jetzt komm doch wenigstens und trink einen Kaffee mit uns!“

Kaffee ist gut, mir ist kalt. Ich trotte nach unten. Meine Eltern schauen mich seltsam an, als ich mich zu ihnen setze.

„Also … habt ihr was von Klara gehört?“, frage ich, einfach nur, um dem zuhören zu können, was sie erzählen und nicht selbst reden zu müssen. Meine Schwester ist als Au Pair in Neuseeland. Da gibt es immer viel zu berichten. Doch diesmal springen meine Eltern nicht drauf an.

„Du siehst gar nicht gut aus, David. Bist du krank?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Viel Stress, in letzter Zeit.“

„Du arbeitest zu viel“, beklagt sich meine Mutter wie immer.

Ich zucke wieder die Schultern.

„Das ist es nicht, oder?“, fragt mein Vater und kommt mir vor wie ein Bluthund, der eine Witterung aufgenommen hat.

Ich schüttle den Kopf und füge hinzu:

„Im Flags ist doch immer viel los, damit komm ich klar.“

„Was ist es dann?“

Als ich nicht antworte, redet er weiter:

„Ist es die Uni?“

Es klingt weniger wie eine Frage, als wie eine Feststellung.

„Das Studium läuft nicht besonders gut“, gebe ich zu. „Und die Klausur am Montag werde ich wohl auch versemmeln.“

„Woran liegt das? Du bist doch nicht dumm. Warum fällt es dir so schwer?“

„Ich schätze, ich hatte in den letzten Jahren einfach andere Prioritäten.“

„Du hast dir zu viel aufgehalst. Vielleicht solltest du im Flags nur noch Teilzeit arbeiten.“

„Ich mag meinen Job, Dad. Ich werde da nicht zurückstecken.“

„Wie soll das dann mit deinem Studium weitergehen?“

Ich zögere, sage dann aber:

„Vielleicht gar nicht.“

„Du willst abbrechen?!“, rufen beide gleichzeitig.

„Ich denke darüber nach“, relativiere ich.

„Und dann? Willst du Vollzeitkellner werden, für den Rest deines Lebens?“, raunt meine Mutter.

„Also erstens bin ich mehr als bloß ein Kellner, und das wisst ihr auch! Und zweitens schaut euch Tante Cora an! Die lebt auch gut vom Restaurant. In so was bin ich gut. Gastronomie, Organisation! Vielleicht mache ich ja meinen eigenen Laden auf.“

„Ja womit denn? Weißt du, wie teuer das ist? Und wie riskant?“

„Das ist hinzukriegen. Ich hab mir einiges zusammengespart und mit einem Partner …“

„Einem Partner? Du meinst Noah, hab ich recht?“, fragt mein Vater missmutig.

„Vielleicht. Warum nicht?“

„Der Kerl ist mir suspekt. Er ist so sprunghaft, ich würde mich nicht auf ihn verlassen.“

„Du kennst ihn doch kaum!“

„Bleib mal ruhig, ja? Wir wollen hier vernünftig miteinander reden.“

„Bitteschön, dann urteilt nicht über Menschen, die ihr überhaupt nicht kennt. Das ist nämlich nicht sehr vernünftig.“

„Okay, also … ist das dein Plan?“

„Ich … wir haben noch keine konkreten Pläne.“

„Und was sagt Max dazu?“, fragt meine Mutter.

„Was hat Max damit zu schaffen?“

„Na ja, es ist auch sein Leben, oder?“

„Es ist mein Leben und mein Geld und meine Karriere. Er geht ja auch seinen eigenen Weg“, zische ich.

„Oh, okay … wenn ihr das so handhabt.“

„Ja, so handhaben wir das. Und jetzt … muss ich weg.“

Ich stehe auf und bemerke die überraschten und auch besorgten Gesichter meiner Eltern kaum. Ich schnappe mir meine Jacke und gehe. Die Straße entlang, Richtung Ortskern, weiß gar nicht so recht wohin, bis ich das vor dem grauen, trüben Himmel hell leuchtende Schild der Tankstelle sehe. Kaffee war mir versprochen worden. Ich gehe hinein, mein Blick fällt auf etwas anderes. Ich tue etwas, das ich noch nie getan habe. Ich kaufe mir eine Flasche Wodka, um sie ganz allein zu trinken. Der Kassierer, ein vielleicht achtzehnjähriger Kerl, schaut mich etwas seltsam an, als ich bezahle. Ich lecke mir lasziv über die Lippen, um ihn dazu zu bringen, den Blick zu senken. Das funktioniert und ich sehe amüsiert, wie seine Ohren rot werden.

Wohin jetzt? Es ist verdammt kalt. Aber der Alkohol wird mich schon wärmen. Der Weiher? Nein, keine gute Idee. Zu viele Erinnerungen an den Sommer 2006. Wie konnte es nur so kommen mit uns? Nein. Nicht nachdenken, das ist der Sinn der Übung. Ich entscheide mich für eine kleine Holzbank am Waldrand. Um diese Jahreszeit sollte ich da relativ ungestört sein. In meiner Jackentasche finde ich noch meine fingerlosen Handschuhe. Und dann nehme ich, fast zeremoniell, den ersten Schluck. Der schmeckt, wie immer, widerlich. Der zweite ist schon erträglicher und nach dem vierten höre ich auf zu zählen. Ich konzentriere mich nur auf die immer wiederkehrende Bewegung. Flasche zum Mund führen, einen kräftigen Schluck nehmen, Flasche zwischen meinen Beinen abstellen, schlucken, mit dem Handrücken über den Mund wischen, tief durchatmen, bis fünf zählen und das Ganze wieder von vorne. Mein einziges Ziel ist das Leeren der Flasche und alle meine Gedanken sind darauf konzentriert. Ich schmecke schon nichts mehr. Halbzeit. Muss ich mich übergeben? Nein. Dann weiter. Der untere Rand des Etiketts ist erreicht. Der Plan war, den Rest auf dem Nachhauseweg zu trinken. Also aufstehen. Ich hole tief Luft und stehe auf. Die Welt dreht sich, nein, sie bewegt sich wie die Walze einer alten Schreibmaschine hin und her. Luft. Zu viel Luft. Warum muss ich mich nicht endlich übergeben? Ich muss nach Hause. In welche Richtung ist zu Hause? Links, entscheide ich. Die Flasche ist noch nicht leer. Die Erde kommt plötzlich näher, ist direkt vor meinem Gesicht. Wie soll ich so denn noch trinken können? Oder atmen? Ich drehe den Kopf, dürres Gras versperrt mir die Sicht. Ich will nach Hause. Ich will zu meiner Mutter. Hilfe. Etwas vibriert an meinem Hintern. Das fühlt sich witzig an. Ich muss lachen. Da liegt einer am Boden. Ach so, das bin ja ich. Lustig. Das Vibrieren hört auf. Das soll es aber nicht. Ich taste danach. Drücke irgendwas.

„David?“

„Dad? Wo bist du?“

„Na zu Hause Wo bist du?“

„Na hier. Siehste doch.“

„Bist du betrunken? Wo bist du?“

„Na hier!“

Ich winke so gut es geht.

„David, reiß dich zusammen und sag mir, wo du bist!“

„Bei der Bank.“

„Der Sparkasse?“

Ich muss lachen. Bank – Bank. Das ist ja das gleiche!

„Der Holzkasse.“

„Was?“

„Am Wald, da wo ich Rad fahren gelernt hab. … Weißt du noch, als du mich losgelassen hast und ich hingefallen bin? Da lieg ich jetzt auch wieder. Ich will ein blaues Pflaster. Oder nein, ein rosarotes wäre wohl passender.“

„Okay, ich bin sofort bei dir.“

„Lass dir Zeit, ich muss eh noch austrinken.“

Eigentlich ganz kuschelig hier.

„David? Komm schon! David!“

Warum ist der so grob zu mir?

„Nicht! Ich will schlafen!“

„David, wach auf!“

Der soll aufhören, mich zu schütteln!

„Hör auf, mich zu schütteln.“

„Setzt dich hin. Komm schon. Ich helfe dir auf.“

„Ah, da ist die Welt“, murmle ich.

Es ist hell, mein Bett ist weich. Mir ist warm und übel. Ich setze mich auf. Mein Kopf zerspringt.

„Guten Morgen.“

Mein Vater sitzt auf einen Stuhl neben dem Bett und hält mir ein Glas Wasser entgegen. Ich schüttle nur den Kopf und spüre etwas meine Speiseröhre hochquillen. Gerade rechtzeitig erscheint ein Eimer aus dem Nichts und fängt auf, was aus meinem Mund strömt. Und aus der Nase. Ich lasse mich zurückfallen. Mit rauem Papier wird mir übers Gesicht gewischt, als wäre ich ein kleines Kind.

„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

„Ich glaub ich muss sterben.“

„Du bist über den Berg. Aber mach so was nie wieder. Du hättest da draußen erfrieren können.“

„Ich glaub, ich muss noch mal …“

Mein Dad streichelt über meinen Rücken und redet mir gut zu. Langsam kehrt die Erinnerung zurück, die Erinnerung an Noah und an mein schlechtes Gewissen und an die Klausur und an Wodka. Viel Wodka. An Matsch, an Kälte. An Gras im Gesicht.

„Wie bin ich nach Hause gekommen?“

„Du hast mich zurückgerufen und mir gesagt, wo du bist. Ich hab dich abgeholt, na ja, eher von der Straße gekratzt.“

„Danke.“

„Was ist los, David?“

„Ich hab zu viel getrunken.“

„Verkauf mich nicht für blöd. Du ziehst doch nicht einfach so los und leerst eine Flasche Wodka.“

„Das Studium …“

„David, bitte!“

„Ich bin müde.“

„Du hast gerade fünfzehn Stunden geschlafen.“

„Was? Wie spät ist es?“

„Halb acht Morgens. Am Sonntag. Und wir haben das Jahr 2009.“

„Ja danke, so weit reicht es dann doch noch.“

„Was ist los, David? Bitte sei ehrlich.“

Ich zucke unglücklich die Schultern.

„Hast du eine Affäre? Seid Noah und du …“

„Was?! Was zum Teufel!“

Ich versuche, aus dem Bett zu klettern, aber meine Beine wollen nicht so recht gehorchen.

„Bleib liegen, Sohn. Glaub mir, dein Kopf wird es dir danken. … Also ist es wahr?“

„Woher weißt du das?“

„Im Auto habe ich dich gefragt, was los ist und du hast ziemlich wirres Zeug geantwortet. Aber soviel konnte ich mir zusammenreimen.“

„Du bist jetzt sicher sehr enttäuscht von mir.“

„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, das stimmt nicht.“

„Du hattest kein Recht dazu, meinen Zustand auszunutzen.“

„Ich hab dich nicht dazu genötigt, es mir zu erzählen! Es wollte einfach raus. … Also, hat Max sich von dir getrennt, ist es das?“

„Max weiß nichts davon.“

„David … das ist … ich erkenne dich nicht wieder! Das ist doch nicht der Sohn, den ich großgezogen habe.“

„Ja, ich weiß. Enttäuschung auf der ganzen Linie. Tut mir wirklich leid für dich.“

„Hör auf, David. Du redest Schwachsinn. Ich war immer sehr stolz auf dich. Aber jetzt bist du auf dem falschen Weg.“

„Ach ne? Sag bloß!“

„Wenn du das weißt, warum tust du dann nichts dagegen?“

„Warum hast du dich von Mum getrennt, damals?“

„Das ist etwas völlig anderes! Ihr Kinder wart groß und wir hatten viele Probleme, …“

„Und wir haben keine Kinder, dafür aber mindestens genau so viele Probleme.“

„Warum hast du denn nie etwas gesagt?“

„Weil es euch nichts anging“

Mein Vater nickt widerstrebend.

„Aber trotzdem: Willst du das alles wirklich aufgeben, wegen einer Affäre?“

„Ich schlafe nicht mit Noah, falls du das annimmst.“

„Aber … wo ist dann das Problem?“

„Ich bin in ihn verliebt. Das ist das Problem. Ich will mit ihm zusammen sein.“

Ich habe es gesagt. Vor jemand anderen. Und Noah hatte recht, jetzt ist es plötzlich sehr real. Ich bin erschrocken über das Ausmaß dieser Aussage. Auch mein Vater sieht mich schockiert an, offensichtlich unfähig, etwas zu sagen.

„Ich muss jetzt erst mal ins Bad“, verkünde ich.

Da taumle ich hin, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Ich schaue in den Spiegel. Ein Fehler. Meine Locken sind total verfilzt und da hängen tatsächlich getrocknete Blätter und Grashalme drin. Ich fange an, die rauszupuhlen, komme aber nicht weit und schmerzhaft ist es außerdem. Ich fasse mal wieder einen spontanen Entschluss, und zwar einen, den ich nicht auf den Restalkohol in meinem Blut schieben kann. Da ist er, an seinem alt angestammten Platz unter dem Waschbecken. Der Scherer. Ich stelle zwölf Millimeter ein. Adios, süße Locken. Ihr passt nicht zu dem Menschen, der ich scheinbar bin.

Mein Vater sitzt immer noch in meinem Zimmer, als ich nach einer Dusche und mit neuer Frisur aus dem Bad komme.

„Was ist denn … hast du das gerade …?“

„Dacht mir, es ist Zeit für was Neues.“

„Ja … neu ist das auf jeden Fall.“

„Ich sollte fahren.“

„Wohin? Zu Max?“

„Eher nicht.“

„Zu Noah?“

„Ich weiß nicht.“

„Du kannst noch nicht wieder Auto fahren.“

„Das wird schon gehen.“

„David, bitte. Ich erkenne dich einfach nicht wieder!“

„Ich mich auch nicht, Dad.“

„Leg dich noch eine Stunde hin, okay?“

Ich denke kurz nach, willige dann ein. Er lässt mich alleine. Ich habe mich nur auf die Stunde eingelassen, weil ich tatsächlich noch nicht selbst fahren kann. Ich rufe Noah an, lasse ewig lang klingeln, bis er endlich dran geht. Er hört sich sehr verschlafen an.

„Tut mir leid? Hab ich dich geweckt?“

„Nicht schlimm.“

„Kannst du mich bitte abholen kommen?“

„Ehm … mit dem Fahrrad?“

„Ich hab mein Auto hier. Du könntest den Zug nehmen und …“

„Warum fährst du nicht selbst?“, fragt er besorgt.

„Ich hab gestern … etwas über die Stränge geschlagen, alkoholtechnisch.“

„Alles okay?“

„Ich bin ziemlich verkatert und will hier weg, also …“

„Ich nehm den nächsten Zug.“

„Danke Noah, wirklich.“

„Is doch klar.“

Ich lege mich noch ein wenig hin, döse, warte. Als eine Stunde um ist, suche ich meine Sachen zusammen und mache mich startklar. Meine Eltern sitzen am Esstisch und scheinen zu beratschlagen.

„Leute?“

„Ah, du bist wach. Schön. Setz dich doch zu uns. Einen Schluck Wasser vielleicht?“

„Ich bin eigentlich gerade auf dem Weg …“

Mein Vater schaut auf die Uhr und sagt dann:

„Gib uns zehn Minuten.“

„Na schön …“

Ich setze mich hin und meine Mutter stellt eine kleine Flasche Wasser vor mich.

„Also, was hast du jetzt weiter vor?“, fragt sie.

„In Bezug auf mein Studium? Ich weiß nicht.“

„Nein, in Bezug auf Max und Noah.“

„Du hast es ihr gesagt?!“, fahre ich meinen Vater an und kann es nicht fassen.

„Natürlich. Das ist eine ernste Sache und du bist offensichtlich damit überfordert. Du bist immer noch unser Kind und wir helfen dir, das wieder hinzubekommen.“

„Aha, und wie, wenn ihr die Frage gestattet?“

Mein Vater nickt und erklärt dann großspurig:

„Ich habe Max angerufen. Er wird jeden Moment hier sein.“

„Du hast was?! Kommt er mit der Bahn?“

„Natürlich. Irgendwer muss schließlich dein Auto nach Hause fahren.“

„Toll gemacht! Ganz wunderbar!“

Ich springe auf und eile zur Haustür hinaus. Da kommen sie mir schon entgegen. Mein Blick bleibt auf Noah haften. Er geht ein paar Schritte hinter Max und sieht mich unsicher an. Max ist mal wieder das personifizierte Selbstbewusstsein. Er umarmt mich und drückt mir einen Kuss auf die Lippen.

„Was ist denn mit deinen Haaren passiert?“

Ich schüttle den Kopf, keine Ahnung, warum. Dann höre ich meinen Dad hinter mir zu Noah sagen:

„Das hier ist eine Familienangelegenheit. Danke für dein Kommen, aber wir schaffen den Rest alleine.“

Ich schiebe Max weg. Noah knetet mit der Linken seinen rechten Ellbogen, so wie immer, wenn er sich nicht wohl fühlt. Er schaut mich hilfesuchend an.

„Ich habe Noah gebeten, mich abzuholen.“

Max nimmt seine „Ich hab den Durchblick“- Pose ein.

„Du wusstest also nicht, dass ich herkomme?“

„Nein, nicht bis gerade eben.“

„Können wir das vielleicht drinnen klären?“

„Ich weiß nicht, was es da zu klären gibt. Noah bringt mich nach München und du … kannst den Rest mit meinen Eltern ausmachen. Die haben nämlich den Masterplan.“

„Können wir nicht wenigstens drüber reden, David? Ich meine, ich weiß, ich war in den letzten Wochen oft nicht fair zu dir, aber …“

„Nicht fair?! Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts! Du hast mich behandelt wie deinen persönlichen Fußabtreter! Du hast mich sogar verheimlicht!“

„Es tut mir leid, aber lass mich das doch erklären!“

„Das kannst du nicht schönreden, Max. Ich hab die Schnauze voll. Du hast mich für selbstverständlich genommen und jetzt erkennst du deinen Fehler. Ich MUSS nicht bei dir bleiben. Ich MUSS nicht deine Miete bezahlen und dein Essen kochen, ich MUSS nicht deine ständigen Launen aushalten! Ich MUSS nicht bei dir bleiben, Max. Und ich glaube, ich will auch überhaupt nicht.“

„Du hast recht. Mit allem. Ich hab dich überhaupt nicht verdient. Ich habe dich vernachlässigt, war unausstehlich zu dir, hab meinen Frust an dir ausgelassen, hab mich vor dir verschlossen, das hab ich alles getan. Aber ich … ich konnte nicht anders. Ich musste wissen, ob ich ohne dich leben könnte …“

„Was? Warum?“

„Das ist alles total kompliziert. Aber jetzt ist es vorbei, David. Das schwöre ich. Gib uns nicht auf, bitte.“

„Was ist hier eigentlich los?“

„Also gut. Ich hatte in den letzten Monaten eine schwere Entscheidung zu treffen. Ich musste mich entscheiden, zwischen dir und der beruflichen Chance meines Lebens. Und ich habe mich entschieden. Für dich.“

„Wovon redest du, zum Teufel?!“

„Mein Vater hat mir ein Angebot gemacht. Es ist alles total schräg, aber … er hat angeboten, mich in ein Institut einzukaufen. Eines in Kalifornien. Drei Nobelpreisträger forschen da. Und man kommt nur rein, wenn man außer den nötigen Qualifikationen auch noch ein ordentliches Startkapital mitbringt. Führend in der Teilchenforschung und allem eben. Er kennt dort einen Professor, geschäftlich. Und der hat ihm einen Preis genannt. Sechsstellig. Für drei Jahre Forschung dort. Danach könnte ich mir die Jobs aussuchen und … das wäre es eben. Alles, wofür ich je gearbeitet habe. Ich weiß, es klingt total irre, aber es stimmt. Ich habe schon mit den Leuten dort telefoniert und wenn mein Widerspruch durch ist und ich die Einsnull habe, dann …“

„Dann gehst du nach Kalifornien?“

„Nein. Denn es gibt noch eine andere Bedingung.“

„Welche?“

„Ich müsste dich verlassen, David. Das ist der Haken. Mein Vater weicht nicht davon ab. Wenn ich diese Stelle haben will, dann darf ich dich nie wieder sehen. Mein Vater hat Verträge aufgesetzt und alles Mögliche. Mit Rückzahlungsklausel falls ich nach den drei Jahren dort wieder den Kontakt zu dir suche.“

„Aber … aber das kann er doch nicht machen!“

„Doch. Es ist sein Geld. Keiner kann ihn zwingen, es mir zu geben. Glaub mir, ich hab alle Eventualitäten durchdacht. Aber er auch. Du oder der Job. Das ist der Deal. Seit zwei Monaten hab ich versucht, mich zu entlieben. Ich weiß, das hört sich furchtbar an, aber … verdammt, dieses Institut, diese Stelle, das wäre ES. Das, wovon ich immer geträumt habe. Zum Greifen nahe und doch kann ich es nicht bekommen. Weil ich dich nicht aufgeben kann. Weil ich dich liebe bis zum letzten Herzschlag. Weil du meine Welt bist, mein alles. Ohne dich hat nichts Bedeutung, nicht mal diese Stelle. Es tut mir leid, dass ich auch nur drüber nachgedacht habe, mich gegen dich zu entscheiden. Das war so selbstsüchtig und ich habe mich dafür gehasst. Gestern habe ich meinem Dad gesagt, dass ich sein Angebot ablehne. Und ich habe noch einen anderen Entschluss gefasst.“

Ich stehe da und kann die ganzen neuen Erkenntnisse noch gar nicht begreifen, und auch nicht einordnen, was dieses Kribbeln in meinem Bauch zu bedeuten hat, als es passiert. Max geht vor mir auf die Knie und zieht ein kleines Kästchen aus seiner Jackentasche.

„Für mich ist gerade ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen. Mein Studium. Es ist Zeit hierfür. … David, ich liebe dich, du bist für mich das Wichtigste auf der Welt. Ich will nicht ohne dich sein, niemals. Und deshalb frage ich dich, bitte dich auf Knien. Bitte heirate mich.“

Er schaut mich erwartungsvoll an und genau die gleichen Blicke spüre ich von meinen Eltern im Rücken. Noah steht ein Stück abseits. Wir sehen uns an. Die Stille dehnt sich schon viel zu lange aus.

„David? … Was sagst du?“

„Ich …“

Ich suche wieder Noahs Blick. Er hat Tränen in den Augen, aber lächelt. Dann nickt er mir langsam zu und formt mit seinen Lippen ein Wort.

„Ja“, wiederhole ich seine stumme Botschaft.

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