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Sommer - Der Boden der Tatsachen

Teil 2

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Ich sitze in dieser dämlichen Klausur und starre auf mein leeres Blatt. Warum bin ich überhaupt hergekommen? Meinen Namen und meine Matrikelnummer könnte ich ja wenigstens hinschreiben. Zehn Minuten sind schon um, bleiben noch achtzig. Ich muss ja nicht bei Aufgabe eins anfangen. Vielleicht erst mal den Multiple-Choice-Teil?

Die zwanzig Kreuze sind schnell gemacht, aber das Meiste ist geraten. Mir ist langweilig. Noch so lange, bis ich endlich hier raus kann. Links und rechts von mir sind die Reihen voll und alle schreiben mit rauchenden Köpfen auf ihre linierten Bögen. Die erste Frage ist Müll. Viel zu konkret formuliert, da kann ich mir nichts aus den Fingern saugen. Bei der zweiten geht es mir ähnlich, aber die dritte scheint machbar. Das haben wir in der Vorlesung ausführlich durchgenommen und zwar, als ich sie ausnahmsweise mal besucht habe. Ich kann also tatsächlich eineinhalb Seiten auf’s Papier bringen und habe dabei sogar ein halbwegs gutes Gefühl. Mein Ehrgeiz wäre geweckt, aber leider ist die vierte Frage wieder ziemlich schwer. Bei Nummer fünf rettet mich eine plötzliche Erkenntnis und die sechste ist Grundwissen. Mann, verdammt! So schwer wäre es gar nicht gewesen. Ich bin so ein Idiot!

Ich schreibe bei den restlichen Fragen wenigstens ein paar Schlüsselbegriffe hin, die ich damit verbinde und habe immer noch eine halbe Stunde Zeit, also brüte ich noch mal über den MC-Fragen.

Hilfe suchend sehe ich mich um. Neben mir sitzt ein Asiate, ziemlich hübsch. Er schaut ebenfalls kurz zu mir. Ertappt senke ich meinen Blick wieder auf mein eigenes Blatt, seufze und mache mich daran, weiter auf die Kästchen und Kreuzchen zu starren. Ein leises Räuspern lässt mich hochschrecken. Der Asiate starrt nach vorne, aber sein Zeigefinger tippt auf sein Blatt. Es liegt ein Stück links von ihm, ich kann es gut sehen. Ohne groß nachzudenken, mache ich mich daran, die Kreuze zu kopieren. Dann werfe ich ihm noch einen dankbaren Blick zu und fange an, die Antworten durchzusehen. Ja, das gibt alles Sinn. Die wenigen Sachen, bei denen ich mir sicher war, haben wir gleich beantwortet, also stehen die Chancen gut, dass er tatsächlich Ahnung hat. Und mit einer Antwort ist es sogar möglich, die erste Text-Frage zumindest teilweise zu beantworten. Verdammt, es könnte gut sein, dass ich das bestehe. Dann könnte ich endlich zum Vordiplom antreten. Nur noch zehn Minuten bis zur Abgabe. Noch mal durchlesen. Ja, das könnte hinhauen.

Die Blätter werden zur Mitte gegeben und die Habseligkeiten eingesammelt. Auch unsere Reihe setzt sich in Bewegung. Am riesigen Taschenberg neben der Tür hole ich meinen Nachbarn ein. Soll ich mich bedanken? Oder ist ihm das vielleicht unangenehm, weil Schummeln ja nichts ist, worauf man stolz sein sollte? Er greift sich eine schwarze Umhängetasche, ich suche schnell meine und schließe zu ihm auf.

„Hey …“ Er lächelt mich freundlich an, also sage ich: „Danke, du hast mir echt den Arsch gerettet.“

„Ist doch klar. Du hast ziemlich verzweifelt gewirkt.“

„Ja, irgendwie ist alles schief gelaufen.“

„Kommt vor.“

„Also, ehm … darf ich dir nen Kaffee ausgeben oder so was?“

„Gegen das schlechte Gewissen?“, grinst er.

„Ja … weißt du, ich hab so was noch nie gemacht, zumindest nicht im Studium …“

„Geht auch Tee?“

„Klar!“

„Dann gerne.“

„Ich heiße übrigens David.“

„Dayu.“

„Wie?“

„Dayu. D-A-Y-U.“

„Schöner Name. So weich, irgendwie. Woher kommt der?“

„China“, antwortet er und verdreht die Augen.

Ich schaue ihn fragend an.

„Ach nichts, du hast mich nur gerade an jemanden erinnert.“

„Ist das gut oder schlecht?“

„In dem Fall: Sehr gut.“

„Also, wo willst du denn deinen Tee einnehmen?“

„Nicht auf dem Campus, davon hab ich erst mal genug. Jetzt sind Ferien.“

„Ja, bei mir auch. Hm, also wenn du nichts gegen ein bisschen Bus und Tram fahren hast, dann leg ich sogar noch ein Stück Kuchen drauf.“

„Bei dir?“, fragt er etwas überrascht.

„Nein, da wo ich arbeite.“

„Ach so, klar, gern.“

Wir schlagen also den Weg zur Bushaltestelle ein.

„Also kellnerst du?“, fragt er.

„Ja, na ja ich mach auch Buchhaltung und so’n Zeug.“

„Stellst du auch Leute ein?“

„Unter anderem, ja. Warum? Suchst du nen Job?“

„Ja, so für die Ferien. Allerdings kann ich nur abends. So ab acht.“

„Das ist bei unserer Schichteinteilung schlecht.“

„Ja, den Satz hab ich schon oft gehört …. Wo müssen wir eigentlich hin?“

„Richtung Lehel.“

„Ah, okay.“

„Ist übrigens ein communityfreundlicher Laden“, erkläre ich im Plauderton und warte insgeheim wie immer gespannt auf die Reaktion.

„Ah, cool.“

„Ja, find ich auch“, grinse ich.

„Alles klar.“

Typischer Fall von nonverbaler Kommunikation. Danach ist mir klar, dass er schwul ist.

„Vielleicht kennst du dann das Flags?“, frage ich.

„Klar, also vom Hören und drinnen war ich auch mal, das ist aber schon Jahre her, da war ich noch in der Schule und ungeoutet.“

„Bist du in München aufgewachsen?“

„Jo, du?“

„Kleinding.“

„Ist ja auch nicht weit. Und was ist dein Hauptfach?“

„Na Psycho.“

„Ach so, ich dachte nur, weil du in der Klausur so verplant warst.“

„Ja, eine Schande, ich weiß. Und deins?“

„Sport und Englisch auf Lehramt. Die Klausur brauch ich zur Zusatzquali als Beratungslehrer.“

„Ah, cool … und in welchem Semester bist du?“

„Im dritten. Du?“

„Fünftes.“

„Vordiplom?“

„Nächstes Semester …“

„Geht das überhaupt noch? Ich dachte nur bis zum Fünften?“

„Da muss man es mal versucht haben, ja. Das gilt dann eben als nicht bestanden.“

„Ach so …“

„Ja, ich weiß, ziemlich armselig, aber irgendwie läuft das Studium gerade nicht so …“

„War’s doch nicht das Richtige?“

„Hm, doch … aber ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch studieren will. Eigentlich will ich lieber professionell in die Gastronomie …“

„Aber?“

„Keine Ahnung, alles etwas wirr, zurzeit. Ah, da kommt der Bus.“

Weil ziemliches Gedrängel herrscht, stehen wir ein Stück auseinander, unsere Kommunikation ist erst mal lahmgelegt, bis wir in die Tram umsteigen.

„Wo waren wir? Ach ja, du meintest gerade, dass alles etwas wirr ist, zurzeit.“

„Mhm“, mache ich unverbindlich.

„Verstehe. Und seit wann arbeitest du im Flags?“, schwenkt er um.

„2006. Seit ich studiere. Davor hab ich im Restaurant meiner Tante in Kleinding gearbeitet. Und was für Erfahrungen hast du in der Gastronomie?“

„Ah, wird das jetzt ein Bewerbungsgespräch?“

„Mal sehen.“

„Ich hab während der Schule gekellnert. Ansonsten schmeiß ich die 'Fruchtbar' in der Karateschule meines Vaters, wenn sich sonst niemand findet. Da geb ich auch Unterricht, deshalb kann ich erst ab acht Geld verdienen.“

„Verstehe. Und am Wochenende?“

„Sind meistens Wettkämpfe. Die sind oft außerhalb, also hab ich da auch nicht wirklich Zeit.“

„Zusammenfassend hast du also nur unter der Woche ab acht Zeit.“

„Ja …“

„Ohjeh.“

„Jaha …“

„Ich glaub nicht, dass wir da was für dich haben. Das Flags macht unter der Woche meistens um elf dicht.“

„Na ja, wollt es nur mal versucht haben.“

„Wann hast du da überhaupt noch Zeit für andere Dinge?“

„Du meinst einen Freund?“

„Zum Beispiel.“

Er zuckt die Schultern und erklärt:

„Ich bin eh nicht so der Beziehungsmensch …“

„Das sagen alle Singles.“

„Also bist du keiner davon?“

„Nein, ich bin vergeben.“

„Verdammt“, scherzt er.

Im Flags ist gerade der Mittagstrubel am abflauen. Mein Magen kribbelt. Noah kassiert Tisch Fünf. Ich habe ihn nicht mehr gesprochen, seit Max und ich ihn gestern zu Hause abgesetzt haben. Ich habe nicht mal wirklich mit Max gesprochen, hab lieber meine Nase ins Buch gesteckt und so getan als würde ich lernen. Vermutlich taucht mein Freund hier auch früher oder später auf.

Noah hat uns entdeckt. Sein Blick sagt mehr als tausend Worte. Er freut sich, mich zu sehen, genau wie ich mich freue, ihn zu sehen. Und an diesem Gefühl ist wirklich nichts freundschaftlich. Er kommt rüber, ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Wenn ich schon nicht haben kann, was ich will, dann lasse ich mir wenigstens diese kleine, traditionelle Geste nicht nehmen.

Dann stelle ich ihm Dayu vor und erzähle auch gleich, dass ich die Klausur vielleicht doch bestanden habe.

„Das ist ja grandios! Also kannst du nächstes Semester doch zum Vordiplom antreten?“

„Sieht so aus …“

„Dann schuldest du Dayu mehr als bloß Tee! Setzt euch. Essen geht auf’s Haus.“

„Hast du alles im Griff?“

„Klar Süßer, wie immer.“

Für meinen Geschmack ist seine Art heute etwas zu affektiert, aber ich weiß auch, warum er so ist. Weil er verletzt wurde und nicht mit mir umgehen kann, weil er mir kein schlechtes Gewissen machen will. Er schwebt davon, ich gaffe ihm blöd hinterher bis Dayu mit der Hand vor meinem Gesicht rumwedelt. Er fragt grinsend:

„Wie lange seid ihr schon zusammen?“

„Hm? Wer? Ich und Noah?? Gar nicht. Er ist mein bester Freund.“

„Oh, ach so … ich hätte schwören können …“

„So, also, was magst du essen?“, falle ich ihm ins Wort. „Die Salate sind alle voll geil.“

Er schaut mich für einen Moment wissend an, dann wiegt er die Vorzüge des Tuna gegen die des Caesar ab.

Plötzlich spüre ich zwei Hände auf den Schultern und zucke zusammen. Max’ Gesicht taucht neben mir auf.

„Hey Schatz. Kannst du mir Arrabbiata organisieren? Ich wasch noch kurz Hände.“

„Äh, ja sicher. Bis gleich dann.“

Und schon ist er wieder verschwunden, so schnell wie er aufgetaucht war.

„Das ist also dein Freund?“

Was ist das für ein seltsamer Unterton?

„Ja, das ist Max.“

„Mhm … also, ich hab mich für den Walnuss-Spinat-Salat entschieden.“

Max kommt zurück und fragt nur kurz nach der Klausur, dann quetscht er Dayu in bester Smalltalk-Manier aus. Sie reden über Krafttraining und Karate und ich merke, dass ich letzte Nacht zu wenig Schlaf bekommen habe, deshalb klinke ich mich aus, nachdem ich meinen Salat gegessen habe (den nicht Noah, sondern Jens serviert hat), und schaue mal in die Küche. Dort fällt mir ein, dass ich noch ein paar E-Mails losschicken wollte und gehe ins Büro.

Ich hätte anklopfen sollen. Noah sitzt auf der kleinen Couch und weint in ein Taschentuch. Er schreckt zusammen, als die Tür geräuschvoll ins Schloss fällt. Ich muss nicht lange nachdenken, sondern bin mit drei Schritten neben ihm und ziehe ihn in meinen Arm. Widerwillig lässt er es zu, dann aber drückt er sich fest an mich, als würde er wollen, dass unsere Körper verschmelzen. Ich spüre sein Herz schlagen, viel zu schnell. Wir küssen uns, das ist die logische Konsequenz des Bedürfnisses, einander nah zu sein. Doch das reicht nicht. Ich will seine wunderbar weichen Arme spüren, seine langen Beine … ich beuge mich über ihn, drücke ihn in die Lehne zurück, presse mich an ihn, liege auf ihm, küsse ihn, schmecke ihn. Meine Hände schieben sich unter seinen Pulli, erkunden Stellen, die sie noch nie berührt haben.

Doch dann beendet ein kleines, leises Geräusch alles. Das leise Klirren von Metall auf Metall. Noahs Brustwarzenpiercing. Der neue Ring an meinem Finger. Ich erstarre. Dieser Ring. Er war mal alles, was ich mir gewünscht habe. Ich habe Max so oft versprochen, ihn für immer zu lieben. Jetzt trage ich diesen Verlobungsring.

Noah schiebt mich von sich runter. Was mache ich hier? Das bin doch nicht ich! So etwas würde ich niemals tun. Wieso passiert das alles mit mir? Ich sitze da und schaue gleichzeitig auf mich selbst runter. Schlimme Schimpfnamen schießen mir durch den Kopf. Dass Noah den Raum verlässt, nehme ich kaum wahr. Mit zittrigen Händen wische ich mir über die Lippen. Kann man zwei Menschen gleichzeitig lieben? Wenn nicht, bedeutet das dann, dass ich Max nicht mehr liebe? Denn Noah liebe ich auf jeden Fall. Nur, was tue ich mit dieser Erkenntnis? Niemals könnte ich Max verlassen. Nicht nach allem, was wir zusammen erlebt haben. Wird dieses Gefühl der Verliebtheit irgendwann zurückkommen? Werde ich jemals wieder an erster Stelle bei ihm stehen? Werden wir einander wieder glücklich machen können? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich es auf einen Versuch ankommen lassen muss.

Und dazu muss ich Noah vergessen. Doch wie kann ich das? Er ist der Mensch, mit dem ich die meiste Zeit des Tages verbringe. Im Scherz habe ich ihn oft meine „Arbeitsehefrau“ genannt. Aber so viel Scherz war da eigentlich nicht dabei. Er kennt mich besser als Max, auch wenn ich ihn im Gegenzug kaum wirklich kenne. Ich weiß nichts von seiner Familie und seiner Kindheit. Aber von dem, was er in den letzten zweieinhalb Jahren getan hat, weiß ich jedes Detail. Na ja, außer dass er mit diesem Tonio … Ob er mir das verschwiegen hat, weil er wusste, dass ich eifersüchtig sein würde? Und wie kann ich eifersüchtig sein, wo ich doch jeden Abend mit Max ins Bett gehe? Ich muss zurück. Eine Minute gebe ich mir noch. Ich beobachte, wie der Sekundenzeiger seine Runde dreht. Dann stehe ich entschlossen auf und gehe an den Tisch zurück.

Max erzählt gerade von seinem Widerspruch gegen die Zweinull, die ihm den Durchschnitt versaut. Dayu scheint nicht gelangweilt und stellt munter Fragen.

„Darf ich auch mal was fragen?“, werfe ich ein, pampiger als angebracht.

Max schaut mich überrascht an.

„Sicher, Schatz. Was denn?“

Wieso nennt er mich eigentlich plötzlich Schatz? Das hat er früher nie getan, oder wenn dann nur, wenn er einen Gefallen brauchte oder so.

„Warum ziehst du das trotzdem durch? Ich dachte die Kaliforniensache kommt nicht mehr infrage.“

„Das nicht, aber Einsnull bietet mir einfach ganz andere Möglichkeiten.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel für weitere Stipendien. Warum bist du so feindselig, David? Wenn es dir ums Geld geht, dann …“

„Vergiss das Geld. Aber vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders …“

„Und gehe alleine in die Staaten? Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Nach allem, was ich dir gestern erzählt habe?“

„Vielleicht sollte ich …“, deutet Dayu an und steht auf.

„Tja, Max, du warst schon immer gut darin, Leute zu manipulieren. Vielleicht willst du ja nur, dass ich glaube, du hättest den Plan verworfen.“

„David, du redest Schwachsinn!“

„Vielleicht solltest du gehen. Ich meine, vielleicht solltest du diese Chance nicht aufgeben, für uns.“

„Was?!“

„Ich meine, was, wenn es zwischen uns nicht funktioniert? Was, wenn du dann ohne Job und ohne Beziehung dastehst?“

„Also erstens werde ich nicht ohne Job dastehen, nur ohne DIESEN Job und zweitens: Warum sagst du so was? Warum tust du so, als wären wir gerade erst zusammengekommen oder so? Warum zweifelst du daran, dass wir für immer zusammenbleiben, so wie wir es von Anfang an geplant haben?“

Ich zögere. Ist das die Stunde der Wahrheit? Oder soll ich lügen? Bevor ich mich entscheiden kann, kommen schon Worte aus meinem Mund, wie von selbst.

„Ich glaube nicht mehr dran, denn…“

„So, Kaffee, Tee und Kuchen!“, platzt Noah hervor, der aus dem Nichts aufgetaucht ist und ein Tablett zwischen uns abstellt.

Max atmet geräuschvoll aus. Ich bin erst mal total verwirrt, Noah wirft mir einen bösen Blick zu. Warum? Ich will nicht, dass er wütend auf mich ist. Er setzt sich zu uns, auch Dayu steht hinter ihm und zieht sich unsicher einen Stuhl heran. Max steckt sich angepisst ein Stück Kuchen in den Mund und Noah fängt irgendein dämliches Gespräch an. Irgendwann meint Max:

„Na ja, ich muss dann mal wieder los. Musst du arbeiten?“

„Ja, ich …“

„Nein. Wir brauchen ihn nur noch kurz für die Buchhaltung, dann gehört er ganz dir.“

„Na schön, dann … sehen wir uns zuhause?“

Ich nicke.

Kaum ist Max weg, fährt Noah mich an:

„Sag mal, spinnst du?! Was wolltest du ihm gerade erzählen?!“

„Ich weiß nicht“, gebe ich zu.

„Verdammt, David …“

„Schon klar, ich hätte fast alles versaut, aber soll ich lügen? Weißt du, wie das ist, neben ihm im Bett zu liegen und zu beten, dass er mich nicht anfasst, weil ich nicht weiß, was ich dann tun soll? Weißt du, wie es ist, zu wissen, dass er seinen größten Traum für mich aufgegeben hat, während ich … Noah, ich kann das einfach nicht.“

„Wir sollten das nicht hier besprechen.“

„Wo dann, Noah? Ich kann nicht mit dir alleine sein. Ich kann überhaupt nicht mehr in deiner Nähe sein. Ich muss jetzt los.“

„Warte doch, David …“

Aber das mache ich nicht. Verdammt. Und was weiter? Wo kann ich jetzt hin? Ich habe die beiden wichtigsten Beziehungen in meinem Leben versaut, meine Eltern enttäuscht und mein Studium fast gegen die Wand gefahren.

Eine Stunde später schließe ich die Wohnungstür auf. Max sitzt, wie fast immer, an seinem Schreibtisch.

„Bin zuhause.“

Zu meinem Erstaunen springt er auf.

„Schön. Wollen wir was zusammen unternehmen? Vielleicht spazieren gehen, oder eine Nachmittagsvorstellung im Kino? Oder willst du … keine Ahnung, ich weiß auch nicht. Ich will nur irgendwas mit dir unternehmen, endlich wieder das Gefühl haben, dir nah zu sein.“

Er bleibt einen Meter vor mir stehen und sieht mich flehend und verzweifelt an.

„Lass uns eine DVD anschaun“, schlage ich vor. „Den Herrn der Ringe vielleicht?“

Sichtlich erleichtert zieht er mich in eine kurze Umarmung und macht sich dann daran, die DVD zu starten. Die nächsten drei Stunden liegen wir nebeneinander auf der Couch, reden kein Wort, sind einfach nur zusammen.

Es wird dunkel, der Abspann läuft, traurige Musik, ein paar Tränen auf meiner Wange, von denen ich nicht weiß, ob sie wirklich dem Film gelten. Max streichelt mir über den Rücken. Er ist bei mir, auch geistig, und das ist eine Seltenheit geworden. Umso mehr weiß ich es zu schätzen. Ich schmiege mich an ihn, sauge seinen Duft ein, weine ein bisschen an seiner Schulter. Er hält mich einfach nur fest. Dann küssen wir uns, ziehen uns aus, sind uns nah, zum ersten Mal seit Wochen.

Danach habe ich ein schlechtes Gewissen Noah gegenüber. Aber Max lächelt mich so selig an …

„Geht’s dir gut?“

Ich nicke nur.

„Ich liebe dich, David.“

„Ich dich auch.“

Das klang verdammt halbherzig. Doch er küsst mich trotzdem und ich mag es.

„Lass uns ein paar Tage wegfahren“, schlage ich, einem Impuls folgend, vor.

Er schaut mich überrascht an, aber lächelt.

„Klar, wenn du so kurzfristig frei bekommst?“

„Kein Problem.“

„Wo willst du dann hin?“

„Zu meiner Großmutter zum Beispiel.“

„Ferien auf dem Bauernhof?“

„Genau.“

„Könnte lustig sein, ja.“

Ich bin sofort total aufgeregt und muss das planen. Meine Oma mütterlicherseits lebt südlich von München auf einem kleinen Bauernhof. Ihre beiden Töchter sind früh ausgezogen und haben sich in Kleinding niedergelassen. Mein Großvater ist vor zehn Jahren gestorben, aber mein Onkel lebt mit seiner Familie auf dem Hof. Ich besuche die Verwandtschaft sowieso viel zu selten, eigentlich haben sie Max bisher kaum kennengelernt und ich bin mir auch nicht so sicher, wie sie zu meiner Homosexualität stehen, aber … das werden wir ja sehen. Ich rufe meine Oma sofort an. Sie scheint sich wirklich zu freuen und will, dass wir am besten noch heute anrücken. Also fangen wir an, ein paar Sachen zusammenzupacken und gehen dann früh ins Bett, um früh am nächsten Tag losfahren zu können. Davor schreib ich Noah noch, dass ich für ein paar Tage weg sein werde. Es kommt keine Antwort.

Es ist mild und windstill, als wir aus dem Auto steigen. Die Kirchenuhr schlägt zehn.

„Wow, das sieht alles echt gut erhalten aus“, bestaunt Max das Bauernhaus, dem man seine achtzig Jahre kein Stück ansieht.

Ein mittelgroßer Hund kommt kläffend auf uns zugehumpelt.

„Ja Lumpi, lebst du auch noch? Max - Lumpi, Lumpi - Max. Ich war grad frisch auf dem Gymi, als er als Welpe auf den Hof kam.“

„Ja, so schaut er auch aus. Wo sind denn alle?“

„Schaun wir mal rein.“

Ich sauge noch mal die … interessant riechende Landluft ein, bevor ich Max an den Stallungen vorbei zur Haustür lotse.

„Warum waren wir eigentlich noch nie hier?“, fragt er.

„Zu viel zu tun … und Mum und ihr Bruder verstehen sich ja nicht so toll …“

„Ich mag es hier.“

„Na ja, vielleicht können wir öfter mal herkommen, schaun ma moi.“

„Fängst du jetzt an, Bayerisch zu reden? Das ist verdammt unsexy, mein Lieber.“

„Pah, Kulturbanause.“

Wir lachen ganz gelöst miteinander, etwas, das früher eine Selbstverständlichkeit war, heute fällt es mir auf. Lumpi ist uns dicht auf den Fersen, wird noch etwas gekrault, bis die Haustüre sich öffnet und meine Großmutter vor uns steht. In ihrem tief bayerischen Dialekt begrüßt sie mich.

„David, ge, dass i des no erleb! Gäht’s eina!“

Es wird schon fleißig gekocht, an einem Werktag. Meine Tante und meine beiden Cousinen wenden sich kaum von ihren Geschäften ab, um uns zu begrüßen.

„Das riecht aber gut.“

Ich werde aufgeklärt, dass es Rinderbraten mit Knödeln gibt, zur Feier des Tages, weil mein Onkel einen Großauftrag an Land gezogen hat, mit seiner Schreinerei, in der auch der ältere meiner Cousins arbeitet. Da es noch dauert, beschließen wir, nachdem wir uns versichert haben, dass wir nichts helfen können, noch ein wenig spazieren zu gehen.

„Deine Tante war seltsam, oder?“, fragt Max mich draußen.

„Katholisches Landvolk halt.“

„Vielleicht sollten wir dann nicht allzu lange bleiben …“

„Solange wir meiner Oma willkommen sind, werd ich auch bleiben.“

„Aber mach daraus keine Erziehungsmaßnahme für die bornierte Verwandtschaft, okay?“

„Hab ich nicht vor. Aber ich habe auch ein Recht drauf, meine Großmutter zu besuchen, oder?“

„Sicher, reg dich bitte nicht auf, ich wollte nur sicher gehen.“

„Schon gut. Darf ich meinen Arm um dich legen?“, frage ich.

„Kommt drauf an …“

„Worauf?“

„Warum willst du das? Um die Landeier zu provozieren, oder …“

„Vergiss es“, zische ich.

„David, ich geb mir hier echt Mühe.“

„Ja, ich weiß …“

„Okay, warte, bleib mal stehen.“

„Was denn?“

Er dreht sich zu mir und nimmt meine Hände.

„Lass uns mal kurz … tief durchatmen … Harmonie wieder herstellen und so.“

Ein Lachanfall ist meine Antwort. Max und Esoterik passen so was von überhaupt nicht zusammen.

Als wir zurückkommen, sind auch die Männer des Hauses da. Wir verstauen noch unsere Tasche im Gästezimmer, dann gibt es auch schon Essen. Ich bringe die Familie auf den neusten Stand was Cora, Mum, Dad und Klara betrifft und so weiter.

„Also, was habt ihr so vor, heute Nachmittag?“, fragt meine Oma.

Ich zucke mit den Schultern.

„Keine Ahnung, wir haben nicht groß was geplant.“

„Steffi, wie wär’s denn, wenn ihr dem David und dem Max mal das neue Hallenbad zeigt?“

Steffi ist das ältere der beiden Mädchen. Sie dürfte jetzt siebzehn sein. Julia ist zwölf, die Jungs, Andreas und Martin, sind neunzehn und sechzehn oder so. Jedenfalls scheint Steffi nicht besonders begeistert von dem Gedanken, den Nachmittag mit uns zu verbringen.

„Wir finden das sicher auch alleine“, räume ich ein.

„Ich kann’s ihnen zeigen.“

Das ist das Erste, was Martin heute von sich gibt, und zwar übermäßig euphorisch. Sein Vater nuschelt irgendwas, geht dann. Irgendwie ist die Stimmung plötzlich ziemlich gedrückt, sodass Max und ich uns erst mal kurz in unser Zimmer zurückziehen und uns gemeinsam wundern.

Nach einer Weile klopft es. Martin, der fragt, wann es losgehen kann. Umsichtigerweise hat er sogar schon zwei Badehosen dabei, die wir uns ausleihen können.

Er lotst uns durch ein paar Käffer in eine größere Ortschaft. Dort steht tatsächlich eine neue Schwimmhalle und die ist nicht mal klein. Naherholung am Rande der Alpen.

„Nicht übel, was?“, grinst mein Cousin vom Rücksitz aus. „Es gibt sogar einen beheizten Außenbereich, eine Rutsche und drei verschiedene Becken. Und außerhalb der Saison ist da total wenig los. Ich fahr immer mit dem Roller hin, wenn ich meine Ruhe brauch.“

„Bei drei Geschwistern kommt das sicher oft vor. Mir hat Klara allein schon gereicht.“

„Eigentlich brauch ich öfter meine Ruhe von den Eltern. Die nerven zurzeit ziemlich. Da vorne ist der Eingang, also park gleich hier.“

Mir fällt jetzt erst auf, dass er Hochdeutsch spricht, zuhause hatte er noch den familieneignen bayerischen Dialekt.

Max und ich teilen uns wie immer eine Umkleide. Früher haben wir dabei immer etwas länger gebraucht, weil wir es nicht geschafft haben, die Finger voneinander zu lassen. Diesmal ist es nicht so, das deprimiert mich irgendwie.

„David, schau nicht so. Ich weiß, was du denkst. Aber nur weil ich nicht mehr zu jeder Gelegenheit über dich herfalle, heißt das nicht, dass ich dich nicht mehr anziehend finde oder so.“

„Okay …“

„Soll ich es dir beweisen?“

„Wie denn?“, frage ich grinsend.

Er drückt mich gegen die Umkleidetür und presst sich gegen mich. Dann flüstert er:

„Die Hose steht dir verdammt gut. Ich hoffe, ich schaff es, mich soweit zurückzuhalten, dass ich irgendwann auch mal aus dem Becken kommen kann.“

„Momentan sieht es schlecht für dich aus. Vielleicht sollten wir … vorsorgen?“

Ich gehe … auf die Knie,

.

Wir treffen Martin im Schwimmerbecken, Max hält ganz fest meine Hand und schaut mich verklärt an. Martin scheint das nichts auszumachen. Wir schwimmen ein paar Bahnen und ziehen dann weiter zum etwas wärmeren Fun-Becken. Rutsche, Blubberbad, Massagedüsen, alles da und im ganzen Bad sind vielleicht zwanzig Leute verteilt. Martin erzählt ein bisschen von der Schule, dass er nach der Mittleren Reife gerne auf’s Gymnasium wechseln würde und so weiter. Ich versuche auch wirklich, ihm viel Aufmerksamkeit zu schenken, aber Max ist so verdammt anhänglich und schmusig, dass mir das schwerfällt. Nachdem unsere Hände schrumplig und wir total aufgeweicht sind, pflanzen wir uns auf ein paar außerordentlich bequeme Liegen. Ich erzähle vom Studium und vom Job, Martin fragt, ob er uns mal in München besuchen kann.

„Klar! Jederzeit. Einfach kurz vorher Bescheid geben, dann ist das kein Problem.“

„Cool.“

„Daaaavid, du bist viel zu weit weg“, schmollt Max.

„Soll ich zu dir rüber kommen? Das wird aber eng …“

„Mir egal. Komm her.“

Mein Blick fällt auf die narbige Haut an Max’ Oberschenkel, ein Überbleibsel von seinem Zusammenstoß mit einem Auto. Ich erinnere mich an die schreckliche Angst, an das Gefühl sterben zu müssen, wenn ihm jemals irgendwas zustößt. Deshalb ziehe ich ihn ganz fest in meinen Arm und streiche über die Narbe.

„Ich liebe dich“, flüstere ich ihm zu und meine es zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ernst.

Er scheint das zu spüren, denn er gibt mir einen innigen, sehr emotionalen Kuss. Sein Gesicht fühlt sich ganz heiß an und seine Lippen zittern ein wenig.

„Ich dachte, ich hätte dich verloren“, flüstert er.

„Ich auch“, gebe ich zu.

„Bitte sag mir, dass alles wieder gut wird.“

„Alles wird wieder gut, mein Schatz.“

Ich halte ihn eine Weile fest, dann fällt mir plötzlich mein Cousin wieder ein. Doch als ich mich nach ihm umdrehe, stelle ich fest, dass er nicht mehr neben uns sitzt. Ich schaue mich um. Ah, vom Bistro aus winkt er uns zu.

„Wollen wir rüberschauen?“, frage ich Max.

„Klar. Ich hab eh Durst.“

„Na ihr zwei?“

„Tschuldigung, wir haben dich etwas vernachlässigt, was?“

„Schon okay, wirklich. Ich freue mich ja für euch, dass ihr euch habt …“

„Wie schaut es bei dir mit einer Freundin aus?“

„Na ja, also … schlecht. Aber ich glaub ich will auch gar keine. Eigentlich glaub ich, ich will eher auch einen Freund.“

„Ohne Scheiß?“

„Mhm …“

„Wissen das deine Eltern?“

„So teilweise. Sie haben mich mal drauf angesprochen … aber ich hab eher was Ausweichendes geantwortet. Ich glaube, die hätten damit ein ziemliches Problem.“

„Meinst du?“

„Na ja als Oma gesagt hat, dass ihr vorbeikommt, waren sie nicht grad begeistert …“

„So? Sie haben ja immerhin genug Anstand, um uns das nicht merken zu lassen. Aber jetzt ohne Scheiß, wenn sie dir Probleme machen, dann meld dich. Und ich glaub, Oma wird dir auch nützlich sein. Sie hat Max damals sofort akzeptiert und so.“

„Ich weiß … na ja, solange ich eh keinen Freund habe, muss ich mir darum keine Gedanken machen. Ich meine, du hast dich auch erst geoutet, als du Max kennengelernt hast, oder?“

„Ja, das stimmt. Aber manchmal denke ich, dass es besser gewesen wäre, das schon vorher zu tun. Dann hätte ich das Ganze unbeschwerter genießen können. Andererseits hätte ich ohne ihn vermutlich gar nicht den Mut aufgebracht …“

„Aber deine Eltern hatten kein Problem damit, oder?“

„Nein, da hatte ich schon Glück.“

„Ich hätte da allein schon in der Schule totalen Stress. Und im Sportverein und in der Kirche …“

„Du solltest schauen, dass du raus kommst, aus deinem Kaff.“

„Ich weiß. Ich mag es da aber eigentlich. Im Winter ist man in zwanzig Minuten an nem Skilift, im Sommer beim Wandern. … Ich liebe die Berge, ich bin hier aufgewachsen. Klar find ich so eine Großstadt aufregend, aber ich weiß nicht, ob ich da wohnen könnte, aber hier offen schwul leben? Ich glaube, das ist keine gute Idee.“

„Ich nehme an, die Zeit wird es zeigen. Vielleicht willst du irgendwann doch ein wenig Großstadtluft schnuppern, oder die Leute reagieren ganz anders auf dein Outing, als du denkst. Das wird sich alles irgendwie fügen …“

„Meinst du?“

„Sicher.“

„Erzähl ihm doch keinen Mist, David“, schnauzt Max mich plötzlich an.

„Bitte?“

„Die Wahrheit ist doch, dass er verdammt viele Opfer wird bringen müssen. Leute werden sich von ihm abwenden, vielleicht sogar seine Eltern. Solche Dinge passieren, aber wir haben nicht wirklich eine Wahl, oder?“

„Wir haben die Wahl, uns nicht zu outen, oder?“, fragt Martin verunsichert.

„Sicher, aber das funktioniert nicht auf Dauer. Glaub mir, ich hab’s versucht, David hat es versucht – aber das tut einfach zu sehr weh.“

„Mehr, als wenn einen die eigenen Eltern verstoßen?“

„Ja. Definitiv. Denn wenn der eine Mensch, den man über alles liebt, todunglücklich vor einem steht und man ihn nicht mal in den Arm nehmen kann, aus Angst, sich zu verraten, spätestens dann ist man bereit, alles in Kauf zu nehmen, damit er sich nicht mehr fühl, als würde man ihn verleugnen, sich für ihn schämen.“

„War es bei dir so? Hast du noch Kontakt zu deinen Eltern?“

„Fast drei Jahre lang kein Wort. Ich schreibe regelmäßig Briefe, an Geburtstagen, zu Weihnachten … aber nichts kommt zurück. Sie wollten lieber gar keinen Sohn, als einen schwulen.“

Martin schluckt schwer. Max erklärt weiter:

„Ich erzähle dir das alles nicht, um dich davon abzuhalten, dich zu outen. Ich sage nur: Warte, bis du jemanden hast, auf den du dich verlassen kannst, und auch finanzielle Unabhängigkeit. Der Preis, den es dich kosten könnte, du selbst zu sein, muss dir immer bewusst sein.“

„Hast du es jemals bereut?“

Max schaut zu mir, nimmt meine Hand.

„Niemals.“

Den restlichen Nachmittag ist Martin sehr still und nachdenklich. Ich weiß aber nicht, was ich ihm noch Tröstliches sagen könnte. Es ist einfach eine Scheißsituation und alles, was man tun kann, ist warten. Nach dem Abendessen gehen wir noch mal eine Runde spazieren und dann relativ früh ins Bett. Am nächsten Morgen „dürfen“ wir nämlich ab halb sechs im Stall aushelfen.

Alle vier Kinder sind ebenfalls dabei. Jeden Morgen, vor der Schule oder Arbeit, ohne zu murren. Bei circa hundert Kühen und noch mehr Hühnern ist das auch bitter nötig. Sogar meine Oma hilft mit, füttert und tränkt das Geflügel und sucht mit ihren Enkelinnen das Gehege nach Eiern ab. Danach gibt es eine Schlange vor den drei Duschen des Hauses und ein ordentliches Frühstück. Es sind Ferien, also können Martin und Julia sich noch mal hinlegen. Wir tun es ihnen gleich, kabbeln uns noch ein bisschen im Bett und schlafen eng aneinandergekuschelt ein, bis halb elf. Nachdem das Wetter nicht so toll ist, haben wir nicht viel zu tun. Wir machen uns noch mal alleine auf den Weg ins Hallenbad, danach sehen wir eine Nachmittagsvorstellung im Provinzkino, lachen, reden, haben Spaß zusammen.

Bis ich nach der Vorstellung mein Handy checke und mich eine SMS von Noah aus der Bahn wirft.

„Wie lange gedenkst du wegzubleiben? Hier ist die Hölle los, wegen Ferien. So was kannst du echt nicht bringen! Jeden anderen würde ich feuern. Willst du mich nicht sehen? Dann nehm ich gern frei. Kannst du schauen, wie du’s alleine gebacken kriegst.“

Ich lese die Nachricht zwei Mal. Er hat ja recht. Ich habe die Leute im Flags im Stich gelassen. Aber nur um meine Beziehung zu retten. Das muss er doch verstehen. … Nein, muss er nicht. Im Gegenteil, das macht es für ihn vermutlich nur noch schlimmer.

„David? Alles okay?“

Max hält mir die Tüte Popcorn hin.

„Ja, sicher. Du hast ja nicht viel übrig gelassen.“

„Hättest du halt schneller essen müssen“, grinst er.

Mir wird irgendwie ziemlich flau im Magen. Noah. Ich habe ihn verletzt. Er ist sonst nie so, wie in dieser SMS. Er ist immer freundlich und verständnisvoll. Ich muss ihn anrufen, mich bei ihm entschuldigen. Aber wie soll ich das machen? Was sage ich Max?

„Ich muss noch mal auf’s Klo“, lüge ich.

Kann man eigentlich noch tiefer sinken?

Ich sperre mich in einer stinkenden Kabine ein. Noah nimmt schon nach dem ersten Klingeln ab.

„Was?“, fragt er genervt.

„Ich … ich will mich…“

„Entschuldigen? Nicht nötig.“

„Doch, ich hätte nicht … ich meine, ich …“

„Was hättest du nicht? Du hast nichts mit mir angefangen, David. Du hast nichts getan, was man dir vorwerfen kann.“

„Ich hab dich geküsst …“

„Ach bitte, wir sind doch keine Teenies. So ein Kuss bedeutet gar nichts“, erklärt er nüchtern. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen.

„David?“

„Ja, ich bin noch dran.“

„Wann kommst du wieder arbeiten?“

„Ehm … ich könnte versuchen, morgen Abend wieder da zu sein?“

„Erst?!“

„Noah, ich verstehe, dass du verletzt bist, aber …“

„Nein. Mach da nichts Persönliches draus. Es geht hier ums Geschäft. Sei morgen Mittag da oder du kannst dir deine Kündigung abholen.“

Damit legt er auf. Ich schlucke schwer, bin hin und her gerissen zwischen Wut und Schuldgefühlen.

Max wartet am Ausgang.

„Alles okay? Du siehst blass aus.“

„Ja, nein, alles okay. Ich habe nur gerade erfahren, dass ich morgen Mittag wieder arbeiten muss.“

„Was?! Wer sagt das?“

„Noah.“

„Was soll denn der Scheiß? Der kann dich doch nicht einfach heimbeordern!“

„Na ja, ich habe sehr kurzfristig Bescheid gegeben …“

„Du hast dir seit letzten Sommer nicht mehr freigenommen! Das wird doch wohl mal drin sein. In drei Wochen fängt mein erstes Praktikum an! Und wenn ich das andere bekomme, bin ich danach zwei Monate in Hamburg, ich hätte jetzt also gern noch was von dir.“

„Was bitte?! Hamburg?“

„Natürlich Hamburg. Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich bei NucleTech bewerbe.“

„Aber nicht, dass die Firma in Hamburg sitzt!“

„Hamburg, Manchester, Dubai.“

„Schön, dass ich das auch mal erfahre!“

„Du hast dich nicht weiter dafür interessiert. Es war dir wichtiger, mit Noah die dämlichen Buchhaltungs-was-weiß-ich-was noch mal durchzugehen, als ich dir davon erzählt habe!“

Ich kann mich daran erinnern. Eine Steuerprüfung stand an, Max kam ganz aufgeregt ins Flags, ich habe ihn total abgewürgt. Er hat recht, es hat mich nicht interessiert. Aber zwei Monate Hamburg! Das hätte er einfach erwähnen müssen. Mir ist danach, in Tränen auszubrechen. Das ist einfach alles zu viel. Noah, der mit Kündigung droht, Max, der sein Leben ohne mich plant, ich weiß nicht, was von beiden schlimmer ist. Ich will und kann beide nicht verlieren. Was, wenn ich mich zwischen ihnen entscheiden muss? Nicht nur körperlich sondern überhaupt. Was, wenn Max nach Hamburg ziehen will und Noah in München ein Geschäft aufbauen? Mich überkommt totale Panik.

„Du darfst nicht nach Hamburg gehen.“

„Was?!“

„Ich will nicht, dass du nach Hamburg gehst.“

„Bist du irre? Die Firma ist Marktführer in der Strahlenbehandlungstechnik für Medikamente und Lebensmittel! Für eine Festanstellung da würden Leute töten!“

„Eine Festanstellung? In Hamburg?“

„Das ist eine Option, ja.“

„Und was ist mit mir?“

„Wir können doch auch in Hamburg zusammen sein.“

„Und das Flags? Und Noah? Ich will nicht weg aus München!“

„Tja, ich schon. Hier hält mich nichts.“

„Was ist mit deiner Familie? Sonia, Maya, Orlando?“

„Die sehe ich drei Mal im Jahr. Dazu muss ich nicht in München leben.“

„Was treibt dich hier weg, Max?“

„Nichts, ich will mir nur einfach keine Chancen entgehen lassen. Ich habe hier studiert, weil die TUM führend ist in der Forschung. Aber eine Karriere macht man in der Industrie hier nicht und auf Lehre hab ich keinen Bock, also …“

„Wann hast du das beschlossen? Und warum hast du nie was gesagt?“

„Ich wusste nicht, dass das so eine große Nummer ist. Ist doch ganz normal, dass man mal hierhin, mal dorthin zieht.“

„Und mein Studium?“

„Woanders gibt es auch Hochschulen, weißt du?“

„Ich will hier nicht weg“, erkläre ich und verschränke meine Arme.

„Warum nicht? Wegen deinem Job? Du findest doch überall was als Kellner, nicht dass wir das Geld dann noch so dringend bräuchten.“

„Zufällig macht mir mein Job aber Spaß!“

„Das freut mich für dich. Aber mein Beruf wird uns etwa das Dreifache einbringen, wenn nicht mehr.“

„Verdammt, es geht doch nicht ums Geld!“

„Nicht? Tja, wenn wir in fünf Jahren ein Baby haben wollen, wirst du das anders sehen.“

„Tu doch nicht so, als würdest du an Kinder denken!“

„Natürlich denke ich an Kinder, David! Glaubst du, ich habe dir zum Spaß einen Antrag gemacht? Glaubst du, ich denke nicht über so was nach, wenn ich dich mit Orlando sehe?“

„Wenn du wirklich über so was wie Familie nachdenken würdest, dann würdest du uns nicht so entwurzeln wollen. Ich will mein Kind nicht fernab von meiner Verwandtschaft großziehen. Meine Eltern sollen ihr Enkelkind nicht nur zu Weihnachten und Ostern sehen. So sollte das einfach nicht sein.“

„Nein, so sollte das nicht sein, aber manchmal ist es eben so. Dass Eltern ihr Kind drei Jahre lang nicht sehen, sollte auch nicht sein. Aber schau mich an! Ich habe sie für dich aufgegeben, ich habe Kalifornien für dich aufgegeben. Jetzt bist du dran.“

Ich kann nicht glauben, was ich da höre! Das Blut rauscht in meinen Ohren, meine Hände ballen sich zu Fäusten. Für mich aufgegeben! Als hätte ich ihm die Wahl genommen! Als hätte ich mir das so ausgesucht!

„Dann geh.“

„Was?“

„Geh nach Hamburg, geh nach Kalifornien. Ich will nicht, dass du irgendwas für mich aufgibst. Sag deinem Vater, dass du sein Angebot annimmst. Verleugne dich selbst, verleugne uns. Mir ist es gleich.“

„Das meinst du doch nicht ernst! Wie kannst du so was sagen?“

„Ich will nicht, dass du am Ende ohne alles dastehst, denn ich kann dir nicht versprechen, wie es mit uns weitergeht. Ich hätte den Ring nicht annehmen sollen. Hier.“

Er starrt auf meine Hand, die ihm das silberne Schmuckstück entgegenhält. Dann schaut er mich fassungslos an, nimmt den Verlobungsring aber doch entgegen. Wir stehen einen Moment lang voreinander, wissen nicht, wie es weitergeht.

„Was weiter?“, fragt Max.

Ich zucke die Schultern. „Wir sollten zurückfahren.“

„Willst du noch mit mir zusammen sein?“, fragt er unsicher.

„Ich will mich nicht von dir trennen.“

„Ist es Noah? Bist du in ihn verliebt?“

Eigentlich hatte ich angenommen, ich würde in Panik geraten, falls er mich jemals darauf ansprechen würde, aber in diesem Moment weiß ich genau, was ich antworten muss.

„Frag mich das nicht, Max.“

Er nickt und senkt seinen Blick. Nach einer Weile des Schweigens sieht er mich wieder an.

„Ich weiß nicht, wohin, David. Natürlich bezahlst du die Miete, aber … könntest du dir vielleicht etwas anderes suchen, bis ich nach Hamburg gehe?“

„Du willst nicht mehr mit mir zusammenwohnen?“

„Ich kann nicht mehr mit dir zusammenwohnen.“

„Tu das nicht, Max. Du verstehst das Ganze total falsch. Ich habe nichts mit Noah, das musst du mir glauben.“

„Ich bin nicht blind, David. Ich hab das schon lange geahnt. Ob du dich nun auf etwas Körperliches mit ihm eingelassen hast oder nicht, macht keinen Unterschied.“

„Wo soll ich denn hin?“

„Nicht zu Noah, wenn du willst, dass wir noch eine Chance haben.“

„Max … bitte überleg dir das noch mal.“

„Was soll ich denn anderes machen? Das tut man doch, wenn man nicht mehr weiß, was man will. Man geht auf Abstand, damit man einen besseren Überblick über die Lage bekommt.“

Ich will ihm widersprechen, aber eigentlich weiß ich, dass er recht hat.

„Also fahren wir noch heute nach Hause?“

„Ich nehme den Zug. Bleib du noch eine Nacht. Verbring noch etwas Zeit mit deiner Großmutter, darum bist du doch hier, oder?“

„Eigentlich bin ich hergekommen, damit wir Zeit haben, wieder zueinanderzufinden.“

Er zuckt hilflos die Schultern.

Im Auto läuft das Radio, wir reden nicht. Das Abendbrot lassen wir ausfallen, Max packt seine Sachen in einen Rucksack und ich bringe ihn zum Zug. Am Bahnhof steigt er einfach so aus, ohne eine Verabschiedung, ohne irgendwas. Ich sitze noch eine halbe Stunde im Auto und warte, genau wie Max zehn Meter weiter, darauf, dass ein Zug kommt. Dann steigt er ein und ist weg. Ich bin alleine. Ganz alleine. So alleine wie noch nie in meinem Leben.

Es ist stockfinster, als ich wieder in die Hofeinfahrt einbiege. Kein Wunder, es ist nach zehn. Toll, jetzt muss ich wen aus dem Schlaf klingeln. Doch zu meiner Überraschung ist die Haustüre einen Spalt offen. In der Stube brennt Licht, meine Großmutter sitzt in ihrem Sessel und strickt.

„Da bist du ja wieder.“

„Ja, ich … ich gehe gleich schlafen, gute Nacht.“

„Warte doch mal einen Moment. Setzt dich zu mir.“

Ich seufze innerlich, will eigentlich nur noch in das Gästezimmer und mir die Augen aus dem Kopf heulen. Dennoch setze ich mich auf die Holzeckbank und versuche, möglichst Haltung zu bewahren. Ich spiele nervös mit dem Autoschlüssel.

„Du schaust nicht gut aus.“

Ich mache ein zustimmendes Geräusch. Sie fragt weiter:

„Wo ist Max?“

„Ich hab ihn zum Bahnhof gebracht.“

„Habt ihr Streit?“

Ich nicke und spüre deutlich den immer größeren Druck in mir, der einem die Tränen in die Augen schießen lässt. Meine Großmutter erhebt sich ächzend aus dem Sessel und lässt sich kurze Zeit später am Tisch nieder. Sie sagt nichts, legt nur ihre Hand auf meine. Das ist, als würde sie das Ventil aufdrehen, das meinen Tränen erlaubt, in Strömen aus mir rauszurinnen.

Danach sehe ich irgendwie klarer, mein Kopf ist freier. Ich sehe, dass ich eine Entscheidung zu treffen habe. Eine, bei der ich nur verlieren kann. Aber wenn ich sie nicht treffe, dann verliere ich alles. Eine ganz pragmatische Entscheidung:

Ein Leben mit Max, weiter nach Plan, wobei ihm die Rolle des Versorgers zufällt und ich mich hauptsächlich um die Familie kümmere, zumindest um den Teil, der nicht zurückgelassen wurde.

Oder eine Zukunft mit Noah, ein eigenes Restaurant, starke Wurzeln, aber ein absoluter Neuanfang. Habe ich die Kraft dazu?

Ich muss jemandem den ich liebe das Herz brechen. Es gibt keinen Weg, das zu verhindern.

Niemand hat mich geweckt, und da ich die halbe Nacht wach gelegen habe, schlägt die Kirchenuhr elf Mal, als ich endlich aus dem Bett steige. Ich sehe die Alpen, denke an meine Verwandtschaft, ihren Zusammenhalt. Das wird mir immer bleiben. Jetzt ist es Zeit, nach München zurückzufahren und meine Entscheidung wahr werden zu lassen. Die Gewissheit wirkt befreiend. Ich weiß, was ich will.

Leider kann ich mich nur von meiner Großmutter verabschieden, die anderen sind schon unterwegs. Sie tätschelt meine Wange.

„Ich hoffe, ich seh dich noch mal, David. Man weiß nie, was kommt.“

„Ich schau bald wieder vorbei, versprochen. Und Oma, pass gut auf den Martin auf, ja?“

„Ich weiß, David, ich weiß.“

Und damit mache ich mich auf den Weg. Zurück nach Hause. In einer halben Stunde werde ich vor ihm stehen und ihm sagen, dass ich ihn liebe und nur ihn will. Ich werde ihn bitten, mir zu verzeihen und werde ihn küssen, stundenlang. Ich kann es kaum erwarten, fahre so schnell, wie der Golf es schafft.

Um elf Uhr sechsundfünfzig parke ich, steige mit wackligen Knien aus. Er muss mir einfach verzeihen. Kein Zweifel. Noah wird mir verzeihen.

Mein Gehirn fährt den Lautstärkeregler nach unten, blendet den Mittagstrubel einfach aus und scannt den Raum nach ihm ab. Er schwirrt nicht zwischen den Tischen umher. Dann muss er wohl in der Küche sein. Ich grüße kurz ein paar Stammkunden, lasse mich aber nicht lange aufhalten. Ein Kollege kommt durch die Schwingtür zur Küche, durch den Spalt sehe ich ihn kurz, dann nimmt mir das dunkle Holz wieder die Sicht. Ich jogge zur Tür, schwinge sie andächtig auf und …

Er ist nicht alleine. Er küsst jemanden. Dayu. Der steht mit dem Rücken gegen einen Gefrierschrank und wird innig geküsst. Noah küsst Dayu. Ich habe vergessen zu atmen, mir wird schwindlig. Dann bemerken sie mich. Das Lächeln auf Noahs Gesicht friert ein, verzieht sich, wird zu einem erschrockenen, dann zu einem mitfühlenden Ausdruck. Ich kann mich nicht bewegen, bekomme keine Luft.

„David …“

Das reißt mich aus meiner Starre. Ich atme geräuschvoll ein, schluchzend. Schüttle den Kopf, mache ein paar Schritte rückwärts, bis mich die Schwingtür hart trifft, ich höre das Klirren von Geschirr, bin innerhalb von Sekunden auf der Straße. Hupen. Bremsgeräusche. Ein roter BMW, Beschimpfungen. Bürgersteig. Atemnot. Noah. Ich laufe weg. Wohin? Ich weiß es nicht. Ich kenne die Häuser nicht, die an mir vorbeiziehen.

Durst. Eine Tankstelle. Wasser. Besorgte Blicke von einer Kassiererin. Noch mehr fremde Häuser. Kein Noah mehr. Wut. Wie konnte er nur? Wie konnte ICH nur? Wie konnte ich mich für ihn entscheiden? Wie konnte ich ihn so falsch einschätzen? Wie konnte ich annehmen, dass er auch nur annähernd das Gleiche für mich empfindet, wie ich für ihn?

Wenn ich noch einen Schritt weiterlaufe, muss ich kotzen. Ich stehe da, am Rand eines kleinen Parks. Tauben, Kälte, Abfall. Ich kann nicht denken. Warum kann ich nicht denken? Ich muss planen, muss mir überlegen, wo ich jetzt hingehe. Aber ich kann einfach nicht denken. Ungeduldig klatsche ich gegen meine Stirn. Es bewirkt nichts, außer dass es wehtut. Wo bin ich überhaupt? Die Gegend kenne ich überhaupt nicht. Eine alte Frau mit Filzhut und Dackel an der Leine.

„Entschuldigung? Wo fährt denn hier eine U-Bahn oder eine Tram oder so was?“

Der Hund kläfft mich an, die Frau deutet ein Stück die Straße runter und geht dann weiter. Wohin? Ach so! Links von mir, nur eine Querstraße entfernt, beginnt der Englische Garten! Okay, das heißt, ich müsste bald Tramschienen kreuzen, unsere Tramschienen. Aber nach Hause fahren? Zu Max? Nein. Das geht nicht. Das wäre heuchlerisch. Ich hatte mich gegen ihn entschieden. Und er hat mich gebeten, wo anders zu bleiben.

Zu meinen Eltern? Aber ihre enttäuschten Blicke könnte ich nicht ertragen. Arbeitskollegen fallen auch aus. Kommilitonen? Davon kenne ich niemanden gut genug dafür, in meinem momentanen Zustand da einzulaufen. Alte Freunde? Mit Chrissy und Flo habe ich schon ewig nicht mehr gesprochen, Paul … Paul? Er ist zurzeit in München, so viel weiß ich. Nach wie vor weigert er sich, sich eine E-Mail-Adresse einzurichten. Inzwischen besitzt er nicht einmal mehr ein Handy. Er zieht ständig um, weil er immer wieder ein paar Monate in Asien verbringt. Habe ich seine aktuelle Adresse überhaupt? Die kann ich rausfinden. Ich rufe bei seinen Eltern an. In der Nähe der Studentenstadt wohnt er jetzt. Also quer durch den Englischen Garten, in die U-Bahn.

Um kurz vor zwei betrete ich einen Wohnblock. Vierter Stock, enge Gänge, komische Gerüche und ein nicht sehr vertrauenerweckender Lift. Dann nehme ich eben die Treppe, das schaffe ich jetzt auch noch. 405, 407 … oh fuck, bitte lass es nicht die Türe sein, unter der der Rauch rauskommt. Das gibt’s doch nicht. 415. Natürlich. Komisch, das riecht nach Nebelmaschine. Reggae-Musik. Ich klopfe, ziemlich laut. Keine Reaktion. Ich klopfe noch lauter.

Dann drücke ich die Klinke nach unten. Offen. Okay, dann mal los. Eine Nebelschwade wogt mir entgegen, und die stammt tatsächlich aus einer Nebelmaschine. Was für ein beknackter Einfall ist das denn?

„Hallo? Jemand da?“

„Was? Logo, Mann. Hier drüben.“

Ich folge der fremden Stimme zu einer Matratze, die in der Küche auf dem Boden liegt. Daneben steht eine Shisha und drauf sitzen zwei Rasta-Menschen, ein schwarzer und ein weißer.

„Hey, ich such Paul.“

„Der pennt. Da drinnen. Geh einfach rein.“

Da ist keine Tür, nur ein mit Perlenvorhängen verhangener Türstock. Die Plastikteile klimpern gegeneinander, als ich mich durchkämpfe.

Es riecht nach Opiumräucherstäbchen.

„Paul?“

Auf dem Bett regt sich etwas.

„Hm?“

„Kann ich ne Weile bei dir bleiben?“, frage ich und merke plötzlich, wie müde ich bin.

„David?“

Paul dreht sich zu mir. Seine Dreads sind inzwischen ziemlich lang und er schaut ziemlich müde aus.

„Ja …“

„Hier bleiben? Klar. Ich … ich bin schon wach.“

„Bleib liegen, ist schon okay. Eigentlich bin ich auch ziemlich fertig.“

„Na dann …“

Er hebt die dünne Baumwolldecke an.

„Ich soll … zu dir ins Bett?“

„Kannst auch auf dem Boden schlafen, aber da ist es verdammt kalt.“

Ich ziehe also meine Jacke aus und steige in die kratzigen Laken. Hundert Prozent Baumwolle ist nicht besonders kuschelig.

„Alles okay?“

Ich schüttle nur den Kopf.

„Kann ich was tun?“

„Ich brauch einen Platz, wo ich die nächsten Tage bleiben kann.“

„Fühl dich wie zuhause. Und wenn du noch irgendwas brauchst …“

„Schlaf …“

„Okay. Dann schlaf.“

Ich spüre genau, dass er mich noch eine Weile besorgt mustert. Aber der schwere Geruch und die Wärme lassen mich bald eindösen.

Max, er weint, er ist verzweifelt, bittet mich, ihm zu helfen. Er liegt in einem Krankenhausbett und streckt seine Arme nach mir aus. Aber ich gehe rückwärts, bewege mich von ihm weg. Das will ich gar nicht. Eigentlich will ich zu ihm, will seine Hände halten, mir seine Wunden betrachten. Abschürfungen, blaue Flecke. Aber der Abstand zwischen uns wird immer größer. Ich rufe seinen Namen, er meinen. Es hilft nichts, ich bin absolut machtlos, werde weggezogen. Arme krallen sich um meine Schultern. Noah? Nein, es ist Paul.

„David, wach doch auf. Bitte.“

Er drückt mich an sich, oder drücke ich mich an ihn? Ich kann es nicht sagen. Jedenfalls schluchze ich und flüstere Max’ Namen. Paul streicht mir geduldig über den Rücken, bis ich mich beruhigt habe, aber nur, weil ich keine Kraft mehr habe, zu weinen.

„Was ist bloß passiert, David?“

„Ich hab’s versaut. Ich hab’s einfach versaut. Und jetzt hab ich niemanden mehr. Ich hab nicht mal mehr eine Wohnung. Ich weiß nicht, wo ich hin soll oder wie es weitergeht.“

„Jetzt bist du ja erst mal hier.“

Seine Mitbewohner sind verschwunden, er kocht mir Curryreis. Ich könnte schon wieder schlafen, gehe nach dem Essen duschen und dann wieder ins Bett. Dieses Mal ist es ein tiefer, traumloser Schlaf. In der Morgendämmerung erzähle ich Paul, was passiert ist. Nach dem vorwurfsvollen Blick, den ich bei meinen Eltern gesehen habe, suche ich bei ihm vergeblich. Er sagt nur, dass es ihm leidtut, wie das alles für mich gelaufen ist, und dass ich bleiben kann, solange ich will.

Die Mitbewohner tauchen auch mal wieder auf und der Wohnraum wird eingeräuchert, ja, auch von mir. Ich kann ein bisschen Entspannung gerade gut gebrauchen. Mann, macht das hungrig. Rührei, Brot, Tofustückchen … nichts ist vor unserem übermenschlichen Appetit sicher. Jacques und Lenny sind schwer in Ordnung, um das rauszufinden, muss ich keine tiefsinnigen Gespräche mit ihnen führen, es reicht, den Tag mit ihnen zu verbringen, rumzuhängen, zu essen, zu rauchen …

Draußen wird es dunkel, wo ist nur die Zeit hingegangen? Ich habe keine Sekunde an Max oder Noah gedacht. Plötzlich stehen ein paar Mädels im Raum. Ganz selbstverständlich bekommen sie was zu essen und was zu rauchen. Lenny ist für kurze Zeit mit einer verschwunden, kommt dämlich grinsend zurück.

Irgendwann geht’s ans allgemeine Herzausschütten. Exfreundinnen, Jobsuche, Politik. Paul kommt auch wieder zurück, er hat wohl ein kleines Nickerchen gemacht. Gut zwei Stunden lang, wenn mich mein Zeitgefühl nicht trügt.

„Also David, warum bist du hier?“, fragt Jacques.

„Ich wurde gebeten, ne Weile die Wohnung zu räumen, nachdem mein Freund rausgefunden hat, dass ich was mit nem an…“

Paul springt auf, ich schaue ihn fragend an. Er erklärt:

„Lasst uns mal Musik machen!“

„Häh?“

„Percussion und so, voll meditativ.“

„Setz dich, Paul“, fordert Lenny ziemlich scharf.

Paul gehorcht.

„Wie war das, David? Sagtest du, dein Freund hat dich aus der Wohnung geschmissen?“

„Ja, … weil ich etwas mit einem anderen …“

„Du bist homosexuell?“, fragt Jacques mit einer Mischung aus Unglauben und Zurückhaltung in der Stimme.

„Gibt’s ein Problem?“, gebe ich angriffslustig zurück.

Paul lacht nervös.

„Er macht bloß Witze, Jungs.“

Ich bin viel zu perplex, um zu widersprechen.

„Stimmt das, David?“

Paul fällt mir ins Wort.

„Logisch stimmt das! Was denkt ihr denn? Dass mein bester Freund Schwänze lutscht?“

Pauls Ton ist warnend. Die beiden schauen sich kurz misstrauisch an, dann fangen sie an zu lachen. Ich sollte aufstehen und gehen. Wenn ich nur ein klein bisschen Selbstachtung übrig hätte, müsste ich diesen Leuten, allen voran Paul, die Meinung sagen und gehen. Aber wohin? Also bleibe ich einfach sitzen, rauche, verlangsame meine Gedanken.

„Es ist Freitagabend! Lasst uns was machen! Irgendwo hingehen!“

Paul springt durchs Wohnzimmer als hätte er zu viel Kaffee intus. Hat er vermutlich auch. Mir ist irgendwie übel. Aber ich stehe trotzdem auf und schlendere hinter den anderen her, greife mir noch mein Handy und ziehe die Wohnungstür hinter mir zu. Nichts. Niemand hat versucht mich anzurufen, niemand hat mir geschrieben. Nicht Noah, nicht Max, niemand. Draußen ist es stockfinster. Meine Handyuhr liefert mir die Erklärung dafür. Es ist nach zehn. Wo ist denn die Zeit hin? Und wo gehen wir hin?

In der U-Bahn bewundere ich die vorbeiziehenden Lichter, denke an meine Kindheit und daran, wie ich mich immer auf die langen Tunnel gefreut habe, die uns mitten durch die Alpen nach Italien geführt haben. Mit Klara auf dem Rücksitz UNO spielen, Nutellabrote essen, Kinderhörspielkassetten hören. Die acht Stunden haben mir nie was ausgemacht. Max wird es im Auto immer schlecht. Ich hoffe, unsere Kinder schlagen diesbezüglich nach mir.

UNSERE Kinder?? Was denke ich da? Habe ich nicht verstanden, was passiert ist? Max ist Geschichte. All unsere Pläne sind Geschichte. Alles, wofür ich gearbeitet habe, Rücklagen für eine eigene Familie: Geschichte. Aus und vorbei! Ich habe mich für Noah entschieden, aber er sich nicht für mich. Und das war’s.

„David?“

Pauls Hand rüttelt sanft an meiner Schulter.

„Komm, wir müssen umsteigen.“

„Wo fahren wir hin?“

„In unseren Stamm-Club. Ich hoffe du hast Bock auf Elektro.“

Ich zucke die Schultern und verabschiede mich von den jetzt stillstehenden Lichtern.

Mein Magen rebelliert ein wenig, aber als wir aus einer Straßenbahn steigen, beruhigt er sich an der frischen Luft. Wir stehen vor einer hohen Mauer, die ein altes, prunkvolles Gebäude umgibt. Dass es immer noch solche imposanten Sehenswürdigkeiten gibt, die ich nach fast drei Jahren in München nicht kenne … Vor einer im Vergleich zur Mauer sehr unscheinbar wirkenden Doppeltür hat sich eine verdammt lange Schlange gebildet, abgetrennt durch Samtkordeln stehen dort allerhand bunte Gestalten und warten auf Einlass. Menschen mit Rasta-Haaren, Glatzen, Vokuhilas. Leute mit bunter Kleidung oder aus naturfarbener Baumwolle. Einige tragen seltsame Brillen mit horizontalen Plastikstrichen. So kann man doch nichts sehen, oder? Lenny trägt plötzlich auch so eine. In Lila. Ich mag Lila.

Drinnen, es ist laut und stickig, ein Drink kostet doppelt soviel wie im Flags. Es riecht nach Gras. Paul raucht, mitten in der Menschenmasse. Tanzen, auf engstem Raum. Ein großer, blonder Kerl wirft mir einen Luftkuss zu, dann verschwindet er in der Menge. Ich rauche, ich trinke. Hab ich den Drink bestellt? Eigentlich nicht. Die Lichter werden dunkel und hell, wie die im Tunnel, nur bunter. Ich tanze, bis ich einen Krampf im Unterschenkel spüre. Laserstrahlen huschen durch den Raum. In Lila. Ich mag Lila. Ich trage eine Lila-Rillen-Brille.

Mein Handy vibriert. Es ist nach zwölf. Max.

„Zu laut! Ich geh raus!“, brülle ich in den Hörer.

Aber raus geht nicht, denn sonst komme ich wegen der langen Schlange nicht mehr rein. Also suche ich mir eine möglichst stille Ecke und presse mir den Zeigefinger ins andere Ohr.

„Ja? Jetzt!“

„Ich … ich brauch deine Hilfe.“

Etwas in seiner Stimme lässt meinen Puls schlagartig in die Höhe schnellen.

„Was ist los?“

„Meine Mutter ist im Krankenhaus. Ich brauch ein Auto.“

„Sonia?!“

„Nein, meine Mutter. Kannst du mich bitte nach Kleinding fahren?“

„Jetzt?! Ich meine … ich hab was getrunken und so …“

„Oh …“

Er redet nicht weiter. Was mache ich jetzt bloß?

„Ich bin so schnell ich kann bei dir.“

Was soll ich auch sonst tun?

Mein Auto steht noch am Flags. Dahin komme ich mit einer Nachtlinie.

Ich stehe kurz vor dem Laden, schaue hinein ins Dunkle. Hier habe ich mal gearbeitet. Ich kann da nicht mehr hin. Nicht solange Noah da ist. Das wird mir in dem Moment klar. Aber ich habe noch ein anderes Problem: Ich habe geraucht und getrunken. Aber ich muss jetzt mit dem Auto zu Max. Es geht nicht anders. Ich muss mich eben besonders gut konzentrieren.

Max steht schon vor dem Haus. Er hat geweint, das sieht man seinen Augen deutlich an.

„Was ist passiert?“

„Lass lieber mich fahren.“

„Bist du sicher, dass du das schaffst?“, frage ich, als ich seine zittrigen Hände bemerke.

„Du hast getrunken, also. Komm schon, ich will los.“

Ich überlasse ihm den Fahrersitz und bin insgeheim ziemlich erleichtert. Dann frage ich noch mal:

„Was ist passiert?“

„Meine Mutter wurde mit Verdacht auf Schlaganfall eingeliefert. Mein Vater sagt, sie will mich sehen. Ich soll mich beeilen. Keine Ahnung, wie schlimm es ist.“

„Oh… Tut mir so leid, dass ich nicht bei dir war, als du es erfahren hast.“

„Ja, mir auch … Ich muss mich jetzt auf’s Fahren konzentrieren, also …“

„Ja …“

Max starrt geradeaus, ich stiere aus meinem Seitenfenster. Ich würde ihm gerne die Hand auf den Oberschenkel legen, so wie immer, wenn wir nebeneinander im Auto sitzen. Er ist mit den Nerven am Ende, auch wenn er sich nicht viel anmerken lässt, ich sehe das. Ich sehe das immer. Er fährt verdammt schnell, aber ich bringe es nicht über’s Herz, ihn zu bremsen. Die Autobahn ist frei, wir sind nach zwanzig Minuten am Kleindinger Krankenhaus.

Max wirkt selbstbewusst und zielstrebig wie immer, als er auf die Pforte zumarschiert, um die Zimmernummer seiner Mutter zu erfragen. Er geht Richtung Treppenhaus, ich zögere. Er blickt sich fragend zu mir um.

„Vielleicht sollte ich lieber hier warten.“

„Wenn sie mich bittet, herzukommen, muss sie auch damit rechnen, dass ich dich mitbringe. Komm schon.“

„Okay …“

Ich habe bestimmt eine Fahne, schießt es mir durch den Kopf. Und besonders gepflegt sehe ich vermutlich auch nicht aus.

Als sich die Türe zum Krankenzimmer öffnet, ist das alles hinfällig. Ich würde Frau Weller nicht erkennen, wenn ich nicht wüsste, dass sie es ist. Ihre rechte Gesichtshälfte … irgendetwas stimmt damit nicht. Alles wirkt schlaff und alt. Herr Weller sieht auch nicht besser aus. Er sitzt neben dem Bett seiner Frau, hält ihre Hand.

„Max.“

Er klingt erleichtert, steht sogar auf und nimmt seinen Sohn in den Arm. Er flüstert etwas, Max wird noch blasser als er schon ist. Dann geht er langsam zum Bett hinüber.

„Mama? Ich weiß, du kannst nicht mit mir reden, aber … ich bin jetzt da.“

Frau Weller schaut ihren Sohn an. Ihr Mund bewegt sich, aber trotz der großen Anstrengung, die ihr in’s Gesicht geschrieben steht, bekommt Max’ Mutter nicht den leisesten Ton heraus.

„Deine Mutter will dir etwas sagen“, erklärt Herr Weller ein Stück abseits.

Ja?“

„Sie möchte, dass du das Geld für Kalifornien bekommst.“

„Was? Wirklich?“

Frau Weller nickt.

„Aber … das hat doch alles noch Zeit, Mama. Das können wir alles klären, wenn es dir wieder besser geht.“

„Deine Mutter hat darauf bestanden, dass das sofort geklärt wird, noch bevor sie operiert wird. Sie hat sogar weitere Schmerzmittel verweigert, um mitzubekommen, wie ich dir das verspreche.“

Max blickt verstört zwischen seinen Eltern hin und her.

„Ich bin grad etwas überfordert von dem Allen Ich meine, wir haben uns fast drei Jahre nicht mehr gesehen und jetzt das alles … Mama …“

Gut fünfzehn Minuten stehe ich im Türrahmen, sehe der ganzen Familie Weller beim Weinen und Versöhnen zu, höre, wie Max das Geld annimmt und auch, wie er seinen Eltern für alles dankt, seiner Mutter sagt, wie lieb er sie hat, seinem Vater sagt, dass er im September umziehen will … und ich bin völlig unbeteiligt. Niemand hat mich auch nur eines Blickes gewürdigt. Ich will nicht egoistisch sein, aber … schließlich war ich der, der in den letzten Jahren immer für Max da gewesen ist. Ich war der Grund für den Bruch zwischen ihnen. Ich wohne mit Max zusammen, zumindest offiziell. Unsere Zukunft war noch nicht so endgültig abgehakt. Wenn er sich plötzlich doch entschließt, nach Kalifornien zu ziehen, dann bin ich daran doch irgendwie beteiligt, oder? Wenigsten anschauen hätte er mich können, mir ein Zeichen geben, dass wir das miteinander klären. Warum bin ich denn eigentlich hier? Nur weil er mein Auto gebraucht hat? Nicht etwa mich. Er geht fort. Erst nach Hamburg, dann in die Staaten. Er lässt mich einfach so zurück. Ohne irgendeine Gefühlsregung. Er vergibt seinen Eltern einfach so alles, was wir wegen ihnen in den letzten drei Jahren durchmachen mussten. Und ich stehe da und kann nicht fassen, wie unbeteiligt ich mich fühle. Sollte ich nicht den Drang verspüren, mich einzumischen? Sollte ich nicht tausend Gefühle gleichzeitig empfinden? Von Freude für Max bis Abscheu gegen den großkotzigen Ausdruck in Herrn Wellers Augen. Ich bin kein Teil der Ereignisse. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Einfach nur hier stehen und die Szene auf mich wirken lassen? Erwartet man nicht mehr von mir? Soll ich mich irgendwie bemerkbar machen? Will Max vielleicht sogar von mit getröstet werden? Ich weiß es nicht. Ich bin müde, meine Beine tun weh und ich fühle mich stinkig und unwohl in meiner Haut. Wie lange ich hier wohl noch stehen muss?

Eine junge Ärztin betritt den Raum. Sie nickt Herrn Weller kurz zu, verändert dann etwas an der Infusion, deren Schlauch in Frau Wellers Unterarm führt.

„So, sie werden jetzt schläfrig. Wenn sie aufwachen, sind sie schon in München und aus dem OP raus.“

Noch ein paar Minuten, dann steht Herr Weller auf. Er bedeutet uns, ihm aus dem Raum zu folgen. Das ist das erste Mal, dass er mich direkt ansieht. Ich kann seinem Blick nicht standhalten, mein Gewissen lässt es nicht zu. Ob er in meinen Augen sehen kann, wie sehr ich seinen Sohn verletzt habe? Ob er erkennt, dass etwas zwischen Max und mir nicht stimmt? Oder wird er es auf die Situation schieben? Vermutlich wird er sogar davon ausgehen, dass wir aus Rücksicht auf ihn Abstand halten.

„Danke, dass ihr so schnell gekommen seid.“

„Was ist eigentlich passiert?“, fragt Max ruhig.

„Deine Mutter muss operiert werden. Die Ärzte haben mir auch nicht so viel erklärt. Nur, dass die Blutung in einer OP gestoppt werden muss.“

„Blutung?“, frage ich, weil ich bisher von einem Schlaganfall ausgegangen bin.

Herr Weller wendet sich mir zu.

„Ja, das kam vom hohen Blutdruck. Ich weiß auch noch nicht recht viel mehr. Wir müssen einfach abwarten.“

„Aber das wird doch wieder, oder? Ich meine, sie wird doch nicht stumm und gelähmt bleiben, oder?“

Max’ Selbstsicherheit ist weg, er wirkt wie ein kleines Kind, das von seiner Mami getrennt ist und nicht weiß, wann sie wieder zurückkommt. Wenn ich nur daran denke, wie es wäre, wenn meine Mutter da drin liegen würde … Herr Weller kann nur hilflos mit den Schultern zucken. Ich streich Max sanft über den Arm, fühle, dass er gerade an seine Grenzen kommt, sehe, wie er sich zu mir dreht, Halt sucht. Den gebe ich ihm, meine Arme umfassen ihn, ziehen ihn dicht an mich. Meine Lippen küssen seinen Nacken, er ist warm, fast heiß. Ich spüre seinen viel zu schnellen Atem, will ihn beruhigen, sage ihm, dass alles wieder gut wird, dass ich bei ihm bin und dass wir das zusammen durchstehen. Er flüstert:

„Danke David“, und beginnt, tiefer zu atmen, langsamer.

Es macht keinen Sinn, länger zu bleiben. Frau Weller wird nach München ins Klinikum Rechts der Isar verlegt. Dort wartet schon ein OP auf sie. Die Ärzte raten uns morgen früh dort hinzukommen. Nur Herr Weller bleibt an der Seite seiner Frau.

Dieses Mal besteht Max nicht drauf zu fahren. Dazu ist er gar nicht mehr in der Verfassung. Ich fühle mich ohnehin ziemlich nüchtern und sehr aufnahmefähig. Ich bin hellwach, so wie man sich in Krisensituationen eben fühlt. Vermutlich könnte ich die ganze Nacht durchmachen, ohne merkliche Anstrengung. Wenn sie nicht schalten muss, liegt meine rechte Hand auf Max’ Schenkel. Ich höre immer wieder diese typischen tiefen Atemzüge, die man braucht, wenn man leise vor sich hin weint. Wenn wir aussteigen, werde ich ihn endlich wieder in den Arm nehmen können.

Ich parke das Auto in einer engen Lücke direkt vor dem Haus. Immer noch bereitet es mir keine Mühe, mich darauf zu konzentrieren. Langsam wird das gespenstisch. Max steigt gleich aus, also folge ich seinem Beispiel. Er steht etwas unbeholfen neben der Beifahrertür und fragt mich über das Autodach:

„Bleibst du heute Nacht da?“

„Natürlich, also … wenn du das willst?“

Er nickt. Ich sperre also ab und trete um den Wagen herum. Max ist schon auf halben Weg zur Haustüre. Will er mir etwa nicht zu nahe kommen? Immerhin hält er dann doch die Türe für mich auf. Schweigend trotten wir nebeneinander die Treppe hoch.

Erst nachdem die Wohnungstüre hinter uns ins Schloss gefallen ist, traue ich mich, die Stille zu brechen.

„Also, ich geh noch kurz duschen, dann richte ich mir die Couch her …“

„Ja, okay …“

„Okay …“

Ich fühle mich in meiner eigenen Wohnung total fremd. Es scheint sogar anders zu riechen. Das heiße Wasser lässt mich nun doch entspannt und schläfrig werden.

Im Wohnzimmer liegt noch kein Bettzeug bereit, darum klopfe ich an der Schlafzimmertür.

„Komm rein.“

Max liegt im Bett, die Decke bis unters Kinn gezogen.

„Hey … ich bräuchte noch was zum Zudecken und so.“

„David?“

„Ja?“

„Kannst du … also können wir vielleicht … also hättest du vielleicht Lust … ich würde gern mit dir schlafen.“

„Du meinst bei mir?“

Er schüttelt den Kopf. Er will Sex mit mir? Jetzt? Nach allem, was war?

„Ich brauche gerade irgendwie Nähe …“, erklärt er etwas verlegen.

Langsam gehe ich auf das Bett zu. Auf unser Bett. Max hebt die Decke.

Er ist nackt. Er ist schön. Er ist traurig. Wir lieben uns. Sehr. Max kommt, ich komme, wir halten uns, wir lächeln uns an, wir streicheln uns, atmen im selben Rhythmus, küssen uns, sehen uns an.

„Komm mit mir in die Staaten.“

„Was?“

„Komm mit nach Kalifornien, David. Ich will mit dir zusammen sein.“

„Aber nach allem, was war …“

„Das Leben ist kurz. Ich weiß, was mir wichtig ist und will es jetzt. Ich liebe dich, du bist meine Familie. Bitte … denk bitte darüber nach.“

„Das werde ich.“

„Okay. Dann … lass uns schlafen. Ich will möglichst früh zu meiner Mutter zurück.“

Ganz selbstverständlich nehmen wir unsere Schlafposition ein: Max mit dem Rücken zu mir, den Kopf in meiner Armbeuge, seine Füße an meinen immer zu kalten reibend. Die Wärme, die von dieser Bewegung ausgeht, ist so vertraut und beruhigend.

Trotzdem träume ich in dieser Nacht keine angenehmen Träume. Meine Mutter in so einem Intensivstationsbett. Wie wäre es, ihre Stimme nie mehr wieder zu hören? Was, wenn sie nicht mehr gehen könnte, für immer auf Hilfe angewiesen wäre? Im Traum weine ich, aber als ich wach werde, hört das Schluchzen nicht auf. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass das Max neben mir ist.

Nach zwei Tagen im Krankenhaus, voll mit schlechtem Kaffee und noch schlechteren Besprechungen mit den Ärzten, wacht Frau Weller endlich auf. Ihre Werte sind soweit stabil, es muss noch eine Weile überprüft werden, ob das auch so bleibt und in einem Monat oder so geht es auf Reha. Routine für die Ärzte. Für Max und seinen Vater ein ewiger Nerven- und Papierkrieg.

„David?“

Die Male, die mich Herr Weller in der ganzen Zeit direkt angesprochen hat, kann ich an einer Hand abzählen. Dementsprechend überrascht bin ich, als er es diesmal tut, zumal Max gerade neuen Kaffee holen gegangen ist und wir alleine bei Frau Weller sind.

„Ja?“

„Du solltest ihn dazu bringen, nach Hause zu fahren.“

Frau Weller nickt.

„Aber er möchte eben gerne hier sein. Er hat viel Zeit mit ihnen nachzuholen …“

Diese Spitze kann ich mir nicht verkneifen.

„Da hast du recht. Aber sieh ihn dir an. Er ist müde und ausgelaugt. Und er hat sicher wichtigere Dinge zu tun, als hier rumzusitzen.“

„Ich werde mit ihm darüber reden.“

„Mehr verlange ich nicht. Ich weiß, dass man meinen Sohn zu nichts zwingen kann, was er nicht will.“

„Das stimmt allerdings.“

„Aber er neigt dazu, seine Grenzen auszudehnen, bis es einfach nicht mehr geht. Er sieht nicht gut aus, findest du nicht? Du solltest ihn besser vor sich selbst beschützen.“

Ich kann mir ein kurzes, höhnisches Lachen nicht verkneifen, was Herrn Weller sofort die Zornesröte ins Gesicht treibt. Trotzdem halte ich mich, ganz entgegen meiner Natur, nicht zurück.

„Bei allem Respekt, er hat schon wesentlich schlechter ausgesehen in den letzten Jahren. Zum Beispiel als er zwei Tage durchgeweint hat, weil sie ihn verstoßen haben. Oder als sie ihn vor die Wahl gestellt haben: Ich oder das Geld für seinen Lebenstraum. Damit hätten sie fast gewonnen. Um ein Haar wäre unsere Beziehung daran zerbrochen. Das waren die schlimmsten Wochen meines Lebens. Wenn ich Max also vor irgendwem beschützen sollte, dann vor ihnen und davor, sich wieder zu sehr auf diese Familie einzulassen.“

Herr Weller will mir ins Wort fallen, aber ich bin noch nicht fertig.

„Glauben sie, wenn sie dafür bezahlen, können sie sich alles herausnehmen? Ihren Sohn wegstoßen und wieder herankommen lassen, wie sie gerade Lust haben? Und glauben sie, sie können versuchen, mir Max wegzunehmen und dann erwarten, dass ich mir von ihnen sagen lasse, wie ich am besten auf meinen Freund aufzupassen habe? Wir sind seit 2006 prima ohne sie ausgekommen. Wir brauchen sie nicht, sie wollen uns. So stehen die Dinge. Nur damit die Fronten hier endgültig geklärt sind.“

Für ein paar Sekunden herrscht tatsächlich Ruhe im Raum. Herr Weller wendet sich Hilfe suchend zu seiner Frau um. Die sieht bekümmert drein. Dann winkt sie … mich zu sich?

Zögerlich gehe ich auf das Bett zu. Sie lächelt aufmunternd, zumindest so gut es geht. Ihre linke Hand reckt sie mir entgegen. Ich soll sie nehmen? Sie umschließt meine Rechte und ist eiskalt, wirkt so zerbrechlich. Fragend schaue ich in ihre tiefblauen, starken Augen. Ihr Mund formt ein Wort.

„Isa?“

Sie nickt und deutet mit unser beider Hände auf sich.

„Ich darf sie Isa nennen?“

Sie nickt und lächelt ein Stück befreiter. Fast ist es ein ansteckendes Lächeln, es geht hauptsächlich von ihren großen Augen aus.

„Danke.“

„Nach drei Jahren wird es Zeit“, höre ich Max hinter mir und spüre im nächsten Moment auch schon seine Arme, die sich um meine Hüfte winden. So nah ist er mir vor seinen Eltern noch nie gekommen.

„Und hierfür wird es auch endlich Zeit“, flüstert er in mein Ohr und dreht mich zu sich. Zärtlich drückt er mir einen Kuss auf die Lippen, dabei spüre ich kaum, wie seine Hand meine sucht und mir ein kaltes Stück Metall an die Ringfinger schiebt.

„Der gehört dir. Bitte trag ihn, auch wenn du dich noch nicht entschieden hast. Trag ihn einfach, ja?“

„Ich glaube, ich hab mich gerade entschieden.“

Seine Augen leuchten auf, und auch wenn das völlig ausgeschlossen ist, meine ich, darin Ähnlichkeit mit Isas zu erkennen.

„Ich gehe mit dir, wohin du willst.“

„Auch nach Kalifornien?“

„Wenn du da hingehst, gehe ich auch.“

„Als mein Verlobter?“

„Als dein Verlobter.“

Daraufhin bekommen die Wellers einen Kuss zu sehen, der, zugegebenermaßen, nicht ganz elterntauglich ist. Aber wir können nicht anders. Zum ersten Mal fühlt es sich wieder richtig an, bis hin zu den Schmetterlingen im Bauch. Ob vielleicht tatsächlich wieder alles gut wird?

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