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Along the Way

Teil 9

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Am 23. kam ich nach Hause und hatte noch verdammt viel zu erledigen. Dieses Jahr musste ich für alles alleine sorgen. Am Abend kamen schon die Vier aus Phoenix. Mum schaute mich, wie schon an Thanksgiving, ständig besorgt an und nahm mich bei der ersten Gelegenheit beiseite.

"Ich mach mir Sorgen um dich."

"Mum, mir geht's gut …"

"Ich hab Angst, dass du dich übernimmst."

"Ich hab noch drei Monate bis zur Tour. Bis dahin bin ich wieder komplett fit."

"Und was wenn nicht?"

"Dann mach ich so viel wie geht und sage, dass ich nicht mehr kann. Alle wissen was passiert ist, Mum. Das wird jeder verstehen. Und ich hab bei Bedarf einen Physiotherapeuten, der mitreist, und ich werde mich zwischendrin viel ausruhen und überhaupt, es sind noch drei Monate hin. Hör auf, dir jetzt schon Sorgen zu machen."

"Hast du jemanden?"

"Du meinst, ob ich mit jemandem zusammen bin? Nein."

"Du warst noch nie lange alleine. Wie kommst du klar?"

"Also erstens war ich schon viel länger alleine …"

"Ja, nachdem Nikki 96 weggegangen ist und du in einer Klinik gelandet bist und nachdem Vince 99 weggegangen ist und du …"

"Schon gut, schon gut. Aber vielleicht will ich jetzt ja gar niemanden. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich nach der Sache mit Xander genug habe von dem ganzen Mist? Ich meine, ich dachte wirklich, er wäre der Eine, Mum. Und wenn er es nicht ist, dann ist es Keiner."

"Oh Jordan … was du dieses Jahre alles erlebt hast, … ich hab Angst, dass du nicht mehr derselbe bist …"

"Bin ich auch nicht. Wie könnte ich danach auch noch derselbe sein? Ich hab das Gefühl, dass ich das Schlimmste überstanden habe, jetzt kann mir nichts mehr was anhaben. Das Einzige, was noch zählt, sind die Kinder, die lasse ich mir nicht wegnehmen."

"Wie du redest, macht mir wirklich Angst …"

"Hab keine Angst, Mum. Mir geht es nicht schlecht. Wirklich."

"Du kannst jeder Zeit zu mir kommen, wenn du etwas brauchst."

"Ich weiß. Danke Mum. … Ich glaub, deine Plätzchen werden langsam zu Kohle …"

"Ach Gott, die hab ich ja ganz vergessen!"

Am nächsten Tag holte ich Josh und Gwen ab. Josh war plötzlich zu cool dafür, sich mit Laura und Marie zu beschäftigen und verzog sich alleine in sein Zimmer.

"Was ist denn mit ihm los?"

"Er ist so seit ich aus der Klinik gekommen bin. Und seit er bei Nikki wohnt, ist es sogar noch schlimmer geworden … Er wurde sogar beim Gras rauchen erwischt."

"Oh mein Gott. Was habt ihr unternommen?"

"Er bekommt kein Geld mehr, aber ich hab das Gefühl, Oliver hält sich nicht wirklich daran."

"Du musst mit ihm reden, Jordan. Ich hab das damals nicht gleich ernst genommen. Mach nicht meinen Fehler. Red mit ihm, jetzt sofort."

"Und was soll ich ihm sagen?"

"Keine Standpauke. Weißt du, wie unglücklich dieses Kind sein muss, wenn er so was macht? Find raus, was ihm fehlt, sei für ihn da!"

"Er wird mich nicht mal in seinem Zimmer sehen wollen …"

"Du musst es wenigstens versuchen."

"Na schön …"

Ich klopfte, aber Josh reagierte nicht, also machte ich die Tür einen Spalt auf. Er lag auf dem Bett und hörte Musik.

"Hey …"

"Was denn? Zwingst du mich jetzt, mit ihnen ein Puzzle zu bauen?"

"Nein, ich wollte mal in Ruhe mit dir reden."

"Worüber denn?"

"Was hörst du denn?"

"Elektro-Musik. Gefällt dir bestimmt nicht."

"Okay … Josh, kannst du mal die Teile aus den Ohren nehmen?"

"Bitteschön."

"Danke. Willst du mit mir über was reden?"

"Nein, eigentlich nicht."

"Vermisst du nicht auch die Zeit, in der wir uns gut verstanden haben?"

"Tja, Zeiten ändern sich …"

"Woran liegt das? Was ist schief gegangen?"

"Ich bin älter geworden und hab ein paar Dinge verstanden, die ich vorher noch nicht verstanden habe."

"Aber ich bin immer noch dein Vater, oder? Du nennst mich wieder Jordan."

"Du weißt, dass du nicht mein richtiger Vater bist."

"Macht das wirklich einen Unterschied? Für mich nämlich nicht."

"Ach nein? Gwen ist doch dein Ein und Alles!"

"Das ist unfair, Josh. Ich versuche immer, euch gleich zu behandeln. Aber du willst mich meistens überhaupt nicht sehen. Natürlich beschäftige ich mich da mehr mit Gwen. Was soll ich denn machen? Ich kann dich nicht dazu zwingen, gern Zeit mit mir zu verbringen."

"Oliver hat keine eigenen Kinder."

"Du bist mein eigenes Kind, Josh. Ich hab deine Windeln gewechselt, dich im Bus zum Arzt gebracht, auf meinem Finger hast du rumgekaut, als du Zähne bekommen hast …"

"Daran kann ich mich aber nicht mehr erinnern."

"Natürlich nicht, aber ich. Josh, komm schon, wir Beide haben dieses Jahr genug Scheiße erlebt. Müssen wir es uns gegenseitig noch schwerer machen?"

"Vermutlich nicht …"

"Dann lass uns damit aufhöre. Ich liebe dich genau so sehr wie Gwen. Wie kann ich dir das denn beweisen?"

"Kann ich bei dir bleiben?"

"Ja, natürlich. Du kannst bei mir bleiben, wann immer du willst."

"Ich will nicht mit nach Hawaii. Ich hab keine Lust, surfen zu lernen. Und ich will nicht dauernd zuschauen, wie Mum Oliver anhimmelt. … Er redet nie richtig mit mir. Er gibt mir Geld, damit ich mich alleine beschäftige."

"Okay, so was dachte ich mir schon. Ich rede mit deiner Mum. Aber du weißt, dass ich nur noch zwei Tage hier bin und danach nach New York fliege, um ein Video zu drehen?"

"Ja, ich weiß, aber da kann ich mit, oder?"

"Ja natürlich. Und Silvester können wir dann auch in New York bleiben. Am Zweiten müssen wir dann nach Seattle, für drei Tage. Danach hab ich wieder in L.A. zu tun. Also, hast du darauf Lust?"

"Auf jeden Fall besser als Hawaii. Und Schnee liegt da bestimmt auch."

"Gut möglich. Bist du dir sicher? Soll ich gleich deine Mum anrufen?"

"Ja, ich bin mir sicher."

"Okay. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut."

Nikki war natürlich nicht gerade begeistert und wollte mit Josh sprechen, als würde ich mir nur ausdenken, dass er lieber bei mir bleiben wollte. Mein Weihnachten war gerettet. Und Josh spielte mit den Mädchen und Klaus sogar eine Runde 'Mensch ärger dich nicht'.

Am nächsten Tag brachten wir Gwen zu Nikki und holten Joshs Koffer. Oliver war offensichtlich beleidigt, aber Josh schien das nicht zu interessieren.

"Und cremt Gwen immer gut ein, ja?"

"Ja, Jordan, wir sind doch nicht blöd. Also Schatz, zieh dich immer warm an und ruf an, ja?"

"Ja, Mum …"

"Pass gut auf ihn auf, Jordan."

"Keine Sorge."

"Na gut, dann bis in zwei Wochen, mein Schatz."

Sie gab ihm einen Schmatz und es beruhigte mich zu sehen, dass er sich dagegen wehrte, genau wie bei mir.

Ich hatte mit Tammy geredet, die mir nochmal versicherte, dass für Josh gut gesorgt sein würde. Wenn ihm zu langweilig würde, fände sich bestimmt immer jemand aus dem Team, der sich mit ihm die Stadt anschauen würde oder so.

Am Morgen des 27. fuhren Mum und die Anderen ab und gegen Mittag mussten auch wir mit dem Taxi zum Flughafen. Josh wirkte irgendwie so, als würde er sich nicht wohl fühlen.

"Was ist denn los? Du hast doch keine Angst vor dem Flug, oder?"

"Nein, natürlich nicht, so ein Scheiß."

Ich hatte mittlerweile aufgegeben, ihn zu bitten, keine Kraftausdrücke zu verwenden, nachdem er mir eine Strichliste gezeigt hatte, die bezeugte, dass ich in den letzten zwei Tagen genau 32 mal vor ihm geflucht oder das Wort Scheiße verwendet hatte.

"Was ist dann los?"

"Ach, nichts …"

"Jetzt sag schon … du hast vorher mit deiner Mum telefoniert. Hat's was damit zu tun?"

"Irgendwie schon … ich will echt nicht drüber reden …"

"Naja, dazu zwingen kann ich dich nicht. Aber wenn ich was tun kann, damit du dich wohler fühlst …"

"Wie ist das eigentlich mit den Zimmern?"

"Was meinst du?"

"Im Hotel …"

"Tammy hat uns ein Zimmer mit zwei Kingsize-Betten reserviert."

"Kann ich ein eigenes Zimmer haben?"

"Das halte ich für keine gute Idee. Ich will dich schon ein wenig im Auge behalten. Du warst in letzter Zeit ja nicht wirklich ein Musterknabe …"

"Toll."

"Sorry Josh. Warum willst du überhaupt ein eigenes Zimmer?"

"Keine Ahnung, damit ich auch mal meine Ruhe haben kann und so …"

"Ich werde eh jeden Tag unterwegs sein, du kannst dann ja auch mal im Hotel bleiben, wenn noch jemand dort bleibt."

"Okay …"

Sean brachte Brian zum Flughafen. Sie hielten Händchen. Ich war davon irgendwie total irritiert. Natürlich, eigentlich sprach jetzt nichts mehr dagegen. Sean hatte Patricia alles erzählt und Brian den Jungs. Ich hatte die Beiden nur schon seit einer Weile nicht mehr zusammen gesehen. Und irgendwie war ich davon ausgegangen, dass Sean generell etwas dagegen hatte, sich öffentlich mit einem Mann zu zeigen. Damals hatte er so was jedenfalls zu mir gesagt … Oh mein Gott, ich war tatsächlich eifersüchtig, wie verquer! Tja, wenn ich damals nicht Xander kennengelernt hätte … jetzt stand ich alleine da.

"Alles okay?"

"Hm? Ja klar, Kleiner. … Wir sollten langsam zum Gate gehen …"

"Die Anderen gehen doch auch noch nicht."

"Du brauchst bestimmt noch was zu trinken und so …"

"Wie du meinst, dann gehen wir eben …"

Im Flugzeug packte Tammy wieder ihre Magazine aus. Es dauerte nicht lange und Josh schmökerte auch darin herum.

"Oh mein Gott, das ist ja Xander!"

"Mhm …"

"Interessiert dich das gar nicht?"

"Eigentlich nicht …"

"Wusstest du das schon?"

"Das mit Andy? Ja …"

"Habt ihr deshalb Schluss gemacht?"

"Ich weiß nicht, … er hat mir das nicht erzählt. Er hat eigentlich gar keinen richtigen Grund genannt."

"Er hat mit dir Schluss gemacht?"

"Ja. Warum hätte ich mit ihm Schluss machen sollen?"

"Keine Ahnung. … Ich dachte irgendwie, ihr hättet das gemeinsam entschieden oder so ..."

"Nein, er hat mich eiskalt abserviert. Ende der Geschichte."

"Tut mir leid …"

"Danke."

"Bist du sehr alleine, wenn Gwen und ich bei Mum sind?"

"Man gewöhnt sich dran. Zum Glück hab ich mit der Band genug zu tun …"

"Vielleicht findest du ja bald wieder jemanden. Am besten eine Frau …"

"Ich glaub, ich will erst mal niemanden mehr …"

"Kann ich verstehen. … Wenn man einmal verletzt wurde, dann vertraut man so schnell niemandem mehr …"

"Hör mal wie du redest! … Wie ein Großer!"

"Ich bin immerhin auf der Middle School …"

"Wahnsinn, ich weiß noch, als du mir ganz stolz erzählt hast, dass du ja schon zur Schule gehst …"

"Wie alt warst du beim ersten Mal?"

Ich verschluckte mich an dem Schluck Wasser, den ich gerade trank.

"Was? Warum willst du das wissen?"

"Warum weichst du der Frage aus? Warst du so jung?"

"17."

"Du lügst."

"Woher willst du das wissen?"

"Du hast Mum kennengelernt, als du 16 warst."

"Na schön, vielleicht war ich 16 …"

"War dein erstes Mal mit Mum?"

"Josh, können wir darüber vielleicht in ein paar Jahren reden? Oder noch besser: Niemals?"

"Wie du willst …"

"Warum fragst du mich das alles? Denkst du etwa drüber nach, selbst …"

"Nein! Ich bin Elf, hallo?!"

"Schön, dass du das so siehst wie ich. Aber bevor du soweit bist, sollten wir nochmal reden …"

"Dafür gibt's doch das Internet. Wenn ich Fragen hab, schau ich da nach. Das ist nicht so peinlich."

"Okay … aber trotzdem, ich würd mich freuen, wenn du zu mir kämst, wenn du Fragen hast …"

"Okay, Dad …"

Im Hotel schaute Josh sich noch einen Film an und ich legte mich gleich hin. Am nächsten Tag sollten wir um Fünf startklar zum Videodreh sein. Josh würde erst mal ausschlafen und dann von jemandem nachgebracht werden.

Der Dreh begann um Sechs und ging bis elf Uhr Abends. Danach fiel ich todmüde ins Bett, genau wie Josh, der auch am Set gewesen war und seit dem Tag den großen Traum hat, später auch Musikvideos zu drehen.

Am nächsten Tag wachte ich so gegen Zehn auf. Josh hatte Lust, Vince zu besuchen, also rief ich bei ihm an. Der war sofort begeistert, auch wenn er etwas müde klang. Er warnte mich, dass so ziemlich seine ganze Familie in der Stadt war. Wenn wir uns beeilten, könnten wir noch mit zu Mittag essen.

Ein Wagen brachte uns nach Brooklyn. Vince machte mit einem weinenden Danny auf dem Arm auf.

"Hey ihr Zwei …"

"Oh, was ist denn los? Gib ihn mir mal."

"Keine Ahnung, was er hat. Ich glaube er spürt einfach, wie gestresst ich bin …"

"Hey, kleiner Danny. Spür mal, wie ungestresst ich bin. Ich hab grad elf Stunden geschlafen."

"Scheint zu funktionieren … Gott sei Dank. Ich kann echt nicht mehr."

"Wo ist denn Collin?"

"Ach der … der hat einen Klienten, der so wichtig ist, dass er nicht ablehnen konnte, sich heute mit ihm zu treffen. Er versucht, zu meinem Bruder nachzukommen. Kannst du Danny noch kurz behalten? Dann pack ich seine Sachen zusammen …"

"Klar, kein Problem. Stress dich nicht. Aber auf eine Begrüßungsumarmung muss ich schon noch bestehen …"

Er lächelte und umarmte mich. Er flüsterte mir zu, wie froh er war, dass ich da war und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann verschwand er nach oben. Ich setzte mich mit Danny auf die Couch und Josh kam näher, um ihn sich anzuschauen.

"Vor Kurzem war Gwen auch noch so klein."

"Ja, kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen.", bestätigte ich.

"Willst du noch mehr Kinder?"

"Keine Ahnung. Irgendwann vielleicht. Ich bin ja noch jung …"

"Also kannst du dir auch vorstellen, wieder mit einer Frau zusammen zu sein?"

"Generell schon, klar."

"Gut."

"Willst du ihn mal halten?"

"Klar."

Ich gab ihm den Kleinen.

"Schau, er lächelt."

"Ja, das hin und her heben gefällt ihm wohl."

"Kommst du mit ihm klar? Ich würde gern mal nach Vince schauen …"

"Klar, geh ruhig."

"Vince?"

"Hier, im Kinderzimmer."

"Ah. Da bist du."

"Wo ist denn Danny?"

"Bei Josh. Keine Sorge, er kennt das alles von Gwen."

"Na schön."

"Alles okay?"

"Klar. ich bin bloß müde …"

"Wirklich?"

"Ach, ich will jetzt überhaupt nicht davon anfangen …"

"Okay. Aber jetzt bin ich da, um mit dir zu reden. Wer weiß, wann sich die Chance wieder ergibt …"

Er platzte hervor:

"Ich dachte, ein Kind würde alles perfekt machen, aber irgendwie … ich hab das Gefühl, Collin nimmt solche Termine absichtlich an, weil er es zu Hause nicht aushält. Ich meine, natürlich ist es stressig, aber zusammen würden wir das schon hinbekommen. So bin ich immer an zu Hause gebunden. Ich war schon seit drei Wochen nicht mehr in der Galerie. Und das macht mich wütend. Und dann streiten wir uns, wenn Collin endlich mal zu Hause ist. Das ist echt wie im Film, wo man sich denkt, so was passiert mir nie. Und jetzt bin ich mittendrin … verstehst du?"

"Ja, ich glaub schon. Aber das wird auch wieder anders …"

"Wann denn?"

"Das braucht alles Übung. Bald machst du das alles mit links …"

"Bei dir hat es so leicht ausgeschaut."

"Oh glaub mir, ich hatte auch die ein oder andere schlaflose Nacht. Aber ich wusste, dass ich auf mich alleine gestellt war. Man wächst ja bekanntlich mit seinen Aufgaben."

"Wann denn? Ich meine, Danny ist jetzt schon drei Monate alt und ich hab immer noch das Gefühl, total überfordert zu sein. Und Collin ist mir da keine große Hilfe. Ich glaube, er hat einen Anderen …"

"Ach Quatsch."

"Doch, wirklich. Während ich mich daheim abmühe, zieht er durch die Gegend und amüsiert sich!"

"Redet ihr darüber?"

"Ich seh ihn ja kaum und wenn, dann hab ich genug anderes im Kopf, als mit ihm ein Beziehungsgespräch zu führen. Ich hab echt Angst, Jordan. … Ich hab Angst, dass er irgendwann einfach gar nicht mehr nach Hause kommt. Und dann stehe ich mit dem Kleinen ganz alleine da …"

"Ach Vince, mach dich nicht verrückt. Du siehst das bestimmt viel zu schwarz. Collin liebt dich und den Kleinen auch. Er würde euch nie verlassen."

"Ich bin mir da nicht mehr so sicher. … Und was hab ich mir eigentlich dabei gedacht, ein Haus in Brooklyn zu kaufen?!"

"Wieso? Das ist doch eine schöne Gegend …"

"Ich vermisse meine Familie und meine alten Freunde. Ich hatte nie vor, in New York eine Familie zu gründen, so weit weg von allem …"

"Ich dachte, du liebst New York?"

"Ja, als Künstler, aber nicht als Vater. … Aber Collin will davon nichts hören. Er ist an der Ostküste verwurzelt. Alle seine Leute sind hier …"

"Das stimmt doch nicht. Scott ist in L.A. und Dennis und Lucy sind in San Francisco."

"Ich will auch wieder an die Westküste. Ich hab genug von dem kalten Wetter hier …"

"Ich seh schon, Collin und du, ihr habt viel zu besprechen. Warum nutzt du nicht die Zeit, in der deine Familie noch hier ist und lasst sie babysitten, während Collin und du euch was gönnt und euch in Ruhe unterhaltet?"

"Wenn der Herr nicht schon bis Mitte nächsten Jahres verplant wäre, dann ginge das vielleicht."

"Versuch es."

"Ja, du hast ja recht … weißt du, in letzter Zeit denke ich oft an früher und wie mein Leben hätte verlaufen können. … Wenn David nicht gestorben wäre … Wenn ich dich nicht für New York verlassen hätte …"

"Hey, New York ist dein Traum und du liebst Collin. Du siehst das alles gerade nur nicht klar. Aber das wird schon wieder …"

"Das glaube ich wirklich nicht, Jordan. … Ich meine, Collin hat sogar für Silvester Pläne ohne Danny und mich gemacht! Danny's erstes Silvester!"

"Oh …"

Mehr fiel mir dazu auch nicht mehr ein. Ich nahm Vince in den Arm.

"Ich bin für dich da, egal was passiert."

"Danke … so und jetzt lass uns nach den Jungs sehen …"

"Warte, ich hab noch was für dich."

Ich zog es unter meiner Jacke hervor.

"Der Tragebeutel, den Gwen so gemocht hat. Das ist ja klasse!"

"Und so was von praktisch. Und bei den kalten Wintern hier ist es auch nicht schlimm, dass es so warm macht."

"Danke Jordan."

"Gerne. Ich hoffe, es schweißt dich und Danny genau so zusammen wie mich und Gwen."

Wir fuhren zu Vinces Bruder Ismael nach Queens. Er hatte dort ein Haus, eine Frau und mittlerweile drei Kinder, die jüngeren davon waren Zwillingsmädchen, etwa in Gwens Alter. Und einen Jungen der ein Jahr älter war. Mirijam, Ismaels Frau, war Amerikanerin und trug kein Kopftuch. Ilias und Tamima waren dort und ihre Söhne Talib und Tahir, die in Joshs Alter waren. Assia und Rob waren ebenfalls da. Es liefen auch noch eine handvoll Kinder verschiedenen Alters herum, die ich bisher keinem der beiden Paar zuordnen konnte. Und Tamima, die bestimmt schon vierzig war, hatte einen Babybauch, den man unter ihren weiten Kleidern nur erahnen konnte. Vince flüsterte mir zu, das werde Kind Nummer fünf und der zwölfte Enkel seiner Eltern. John und Christine gingen in dem Trubel fast unter, aber Yussip war nicht zu übersehen, wie er am Kopf der improvisierten Tafel thronte. Ich bekam eine Gänsehaut, als er zu mir rüber sah und uns zu sich winkte. Vince zuckte nur die Schultern.

"Komm schon, du hast nichts zu befürchten. … Vater, erinnerst du dich an Jordan? Und das ist sein Sohn Josh."

"Ah, Joshua, ein guter Name."

"Dankeschön."

Josh versteckte sich halb hinter mir. Offensichtlich war ihm der alte Mann auch unheimlich. Wir waren froh, als wir unsere Plätze (Ich an der Tafel, Josh am Kindertisch) einnehmen konnten.

Nach dem Essen probierte Vince den Tragebeutel aus.

"Das ist echt toll. Und der Kleine mag es scheinbar auch. Und ich hab beide Hände frei. Das ist echt super. Danke Jordan."

"Ich wünschte, ich hätte einen Fotoapparat … Josh, hast du deine Kamera dabei?"

"Klar!"

"Mach mal ein Foto von Vince und Danny."

Er knipste ein paar Bilder und meinte, ich solle mich auch dazu stellen. Er machte auf Christines Bitte hin noch ein paar Bilder von den anderen Kindern. Tamima legte sich oben ein wenig hin, Ismael schlug einen Spaziergang vor. Die Kinder waren sofort begeistert, denn es hatte angefangen zu schneien. Vince blieb sitzen.

"Kommst du nicht mit?"

"Nein, ich glaub, das wird dem Kleinen zu viel. Aber geh du ruhig. Schnee siehst du bestimmt nicht allzu oft."

"Aber dich seh ich noch seltener. Ich bleib auch hier."

"Dad?"

"Hm?"

"Kannst du so lange auf meine Kamera aufpassen? Nicht dass sie nass wird."

"Klar."

"Ihr dürft auch die Fotos anschauen, aber nichts löschen!"

"Niemals. Viel Spaß."

Plötzlich war es ganz still. Alle hatten sich auf den Weg gemacht. Wir setzten uns auf die Couch.

"Wie spät ist es?"

"Halb Eins."

"Dann bekommt Danny bestimmt bald Hunger. Ich mach seine Milch."

"Bleib sitzen. Ich mach das."

"Wirklich? Alles ist in der Tasche da. Danke."

"Ich stell es hier hin, damit es abkühlen kann. Langsam musst du ihn wieder da raus nehmen … Füttern funktioniert da drin nicht richtig."

"Schade. Er hat die ganze Zeit über nicht geweint. Ihm gefällt's wohl."

"Nachher kann er ja wieder rein."

"Na gut. Aber ich sag dir, er fängt gleich an zu weinen."

"Das war bei Gwen auch so, aber jetzt bekommt er ja gleich die Flasche."

Kaum hatte Danny getrunken, wurde er auch schon schläfrig. Ich legte ihn auf die andere Couch und baute ihn mit Kissen ein. Vince lehnte sich zurück.

"Danke für deine Hilfe, Jordan."

"War doch kein Problem. Hey, wollen wir Joshs Fotos anschauen?"

"Klar. Ich hab schon gesehen, dass er einen guten Blick hat. Macht er einen Fotokurs oder so?"

"Nein, das ist eine recht neue Entwicklung."

"Fördere ihn, hörst du?"

"Ja klar, ich biete ihm das mit dem Kurs an. Auf jeden Fall besser als Baseball … Schau dir das hier mal an."

"Ja, genau im richtigen Moment abgedrückt."

Ich klickte weiter, bis wir zu den ersten Fotos zurückkamen. Ich hatte den Arm um Vince gelegt und wir schauten beide zu Danny, von dem man nur den Hinterkopf sah. Vince lehnte sich wieder zurück.

"Alles okay?"

"Das Foto ist perfekt.", sagte er wehmütig.

"Vince, du verrennst dich da in was …"

"Ach ja? Mein Ehemann treibt sich mit irgendwelchen 'Mandanten' rum, obwohl er genau weiß, dass wir hier zum Essen eingeladen sind und ich nicht gerne mit Danny alleine im Auto unterwegs bin. Er geht Silvester ohne mich weg, bietet noch nicht mal an, dass wir einen Babysitter suchen könnten, damit ich mitgehen könnte. Und ich rieche die anderen Kerle an ihm. Er macht sich noch nicht mal die Mühe, zu duschen, bevor er zu mir ins Bett kommt. Warum sollte ich noch bei ihm bleiben? Bisher hat er noch nicht mal Danny's Adoptionsunterlagen unterzeichnet, sondern muss ständig noch irgendwas überprüfen. Ich hab genug, Jordan. Etwas muss sich ändern. Ich muss etwas ändern. Aber ich hab hier niemanden, der mich dabei unterstützen kann. Keine echten Freunde, nur Bekannte."

"Was ist mit deinem Bruder?"

"Jordan, ich rede von Scheidung. Niemand aus meiner Familie würde mich dabei unterstützen."

"Aber deine Mutter hat sich scheiden lassen."

"Weil mein Vater zurück nach Algerien wollte und sie nicht. Und meine Brüder werfen ihr das heute noch vor, obwohl sie das nur für uns getan hat, damit wir hier ein schönes Leben haben können …"

"Hast du dir das alles gut überlegt?"

"Ja, hab ich. Ich will nicht, dass mein Sohn so aufwächst, mit Eltern, die sich nur streiten, in einer Stadt voller neurotischer Menschen die sich um niemanden als sich selbst kümmern."

"Wo willst du hin? Nach Phoenix?"

"Dann kann ich meine Karriere an den Nagel hängen. Nach L.A.."

"In mein L.A.?"

"In dein L.A.. In unser L.A.. In das L.A., das ich nie verlassen hätte sollen."

"Bist du dir sicher? Ich meine, wird er dich einfach so mit dem Kind gehen lassen? Er ist Jurist, er kann dich bestimmt davon abhalten …"

"Wenn er das wollen würde, dann hätte er die Adoptionspapiere schon längst unterschrieben. Sie liegen immer noch auf seinem Schreibtisch."

"Vince, ich muss dich das ein letztes Mal fragen: Bist du dir wirklich ganz sicher? Es gibt kein Zurück."

"Ich weiß. Und ich bin mir sicher. Jordan, Collin hat mich geschlagen. Ich meine, es war mehr ein Schubsen, ich bin hingefallen, er hat sich tausendmal entschuldigt, aber in dem Moment ist etwas in mir kaputtgegangen, verstehst du?"

"Du kannst auf mich zählen."

Die Haustüre ging auf und die ganze Meute kam herein. Christine sah Danny schlafen und brachte ihn nach oben, damit er von dem Lärm nicht geweckt wurde.

"Wollen wir jetzt spazieren gehen?", fragte Vince.

"Klar, natürlich."

Ich gab Josh seine Kamera wieder und ging mit Vince raus.

"Hast du dich dabei verletzt?"

"Nein, ich bin einfach nur hingefallen, weil ich überhaupt nicht darauf gefasst war. Er war so wütend, weil er einen Klienten verloren hatte, weil ich darauf bestanden hatte, dass er mit Danny und mir zu einem Arzt fährt. Ich hatte die Grippe und Danny hatte fast 40 Grad Fieber … und als wir nach Hause kamen, hatte dieser Kerl auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass er sich einen anderen Vertreter sucht …"

"Es tut mir echt leid, Vince …"

"Schon gut. Du hast damals versucht, mich zu warnen … Ich hab Collin geheiratet, obwohl er es nicht mal kurz vor der Hochzeit geschafft hat, nicht mit einem Anderen rumzumachen … Tja, das hab ich jetzt davon. So hab ich mir das alles nicht vorgestellt …"

"Wir kriegen das schon wieder hin, hm?"

"Ich bin wirklich so froh, dass du da bist. Ohne dich würd ich das nicht schaffen."

"Was hast du vor?"

"Ich will möglichst bald nach L.A. fliegen. Nur mit dem nötigsten Zeug. Am liebsten würde ich Collin erst danach mitteilen, dass ich ihn verlasse. Ich hab ehrlich gesagt Angst, dass er sonst vielleicht wieder ausrastet …"

"Okay, dann pack heimlich ein paar Sachen für euch Beide und buch über meine Kreditkarte den Flug nach L.A.. Ihr könnt in meiner Wohnung bleiben, bis du was Eigenes findest. Und du musst dir sofort einen Anwalt suchen."

"Wann fliegst du zurück?"

"Ich muss bis morgen Abend hier bleiben und am Zweiten nach Seattle. Dazwischen … keine Ahnung, ich muss darüber mit Josh reden."

"Am liebsten würde ich heute noch ausziehen …"

"Ihr könnt zu mir ins Hotel. … Und du musst rausfinden, wann Collin heute nach Hause kommt … Und ich muss das alles mit Josh absprechen."

"Können wir das alles jetzt gleich machen? Bitte Jordan …"

"Okay, natürlich. Wir verabschieden uns von deiner Familie und fahren zu dir. Und unterwegs rufst du Collin an und sagst ihm, dass er sich nicht beeilen muss mit dem Heimkommen."

Wir verabschiedeten uns recht übereilt und im Auto fragte Josh, was los sei.

"Kleiner, … Vince und Danny brauchen unsere Hilfe. Es kann sein, dass wir Silvester doch nicht in New York verbringen, sondern zu Hause."

"Kann ich dann auf Henry's Party?"

"Vielleicht, wenn ich mit seiner Mutter darüber geredet habe."

"Okay, dann find ich es cool."

Im Haus telefonierte Vince kurz mit Collin.

"Er kommt erst in ein paar Stunden, er wurde 'aufgehalten' …"

"Gut, dann haben wir ja Zeit. Also, wo sind Koffer?"

"In der Garage."

"Ich sag dem Fahrer, er soll in zwei Stunden hier her kommen, ist das okay?"

"Du hast einen Fahrer?"

"Klar. Na?"

"Ja, zwei Stunden sind gut."

"Okay, dann suchst du zusammen, was du mitnehmen willst und ich hol die Koffer. Aber nicht mehr als zwei, ja?"

"Was ist mit Danny's Sachen? Sein Babybett und so?"

"In L.A. habt ihr erst mal die Sachen von Gwen. Den Rest könnt ihr euch schicken lassen. Vince, was ist mit Geld? Hast du ein eigenes Konto?"

"Ja, hab ich. Auf getrennte Konten hat Collin immer bestanden."

"Juristen, hm? Okay, dann ist das alles ja überhaupt kein Problem. Also, vergiss deinen Laptop nicht …"

"Ich muss so viel hier lassen. Meine Bilder …"

"Du kannst dir das alles holen. Jetzt musst du erst mal weg."

Zwei Stunden später kam der Fahrer und war erstaunt darüber, dass er den Kofferraum aufmachen sollte und wir zwei große Koffer hineinpackten.

Um Sechs kamen wir ins Hotel. Ich sorgte dafür, dass Vince ein Zimmer im gleichen Stock bekam, das ich mit meiner Kreditkarte bezahlte, damit Collin hier nicht auftauchen würde. Josh half mir beim Tragen, während Vince das Baby fütterte.

"Jetzt wirkt Vince viel glücklicher als heute Mittag."

"Ja, das stimmt."

"Was war mit Collin? Hatten sie Streit?"

"Ja …"

"Und Vince kommt jetzt mit nach Hause?"

"Ja. Ist das für dich okay?"

"Klar. Ich mag Vince und ich bin froh, dass wir ihm helfen können."

"Komm her, dafür muss ich dich einfach umarmen."

"Daaaaaaad …"

Danach verzog sich Josh kurz, um seine Mum anzurufen. Vince war gerade mit füttern fertig.

"Der war aber hungrig."

"Heute war ein stressiger Tag. Ich hoffe, er hat es gut überstanden. Hilfst du mir mit dem Tragetuch?"

"Klar, komm her."

Ich wickelte es ihm um Schultern und Taille und stand so dicht bei ihm, dass ich seinen Atem spürte. Erst jetzt ging mir wirklich auf, was für eine Möglichkeit sich ergab. Vince würde wieder in L.A. sein. Ich schaute ihn an und wusste, dass er das Gleiche dachte. Deshalb legte ich ihm eine Hand an die Wange.

"Lass uns sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Ganz langsam. Das hier ist viel zu wichtig, als dass wir unüberlegt handeln dürfen …"

"Ich weiß. Ich bin nur so froh, dass du da bist."

"Ich auch."

Ich nahm ihn in den Arm und sog seinen Geruch ein. Seine Haare rochen noch genau wie damals.

"Du bist bestimmt hungrig. Lass uns was essen gehen."

Ich setzte Danny in das Tuch und band es fertig. Josh kam auch wieder und wir gingen runter ins Restaurant.

Die Jungs begrüßten Vince freundlich, sie nahmen wohl an, er hätte mal kurz mit seinem Kleinen vorbeigeschaut. Brian war total hin und weg von Danny.

"Ich liebe Babys. Es gibt nichts Tolleres, als diesen kleinen Wesen beim Wachsen zuzuschauen."

"Hast du Kinder?", fragte der arglose Vince.

"Nein, naja, ich hab Maddy, irgendwie ... Weißt du, dass ich mit Sean zusammen bin?"

"Was? Nein! Seit wann?"

"Im September war es ein Jahr."

"Dann hat er sich also von Patricia getrennt?"

"Ja, allerdings erst vor Kurzem. Sie wohnen noch zusammen, sonst wäre das mit Maddy zu kompliziert. Überhaupt ist das alles total kompliziert. Ich glaub's ja gar nicht, dass Jordan dicht gehalten hat."

"Naja, irgendwie hab ich insgesamt in den letzten Jahren recht wenig aus Jordans Leben mitbekommen. Aber das ändert sich bestimmt wieder."

"Ja, daran erkennt man die echten Freunde. Selbst wenn sie quer über den Kontinent wohnen, im richtigen Moment sind sie doch da."

"Das kannst du laut sagen."

Vince schenkte mir einen langen, intensiven Blick, der mir Gänsehaut bereitete.

Nach dem Essen spielten wir mit Josh Poker, bis ich mich auf das Konzert vorbereiten musste. Josh beschloss, bei Vince zu bleiben und etwas Kunstunterricht zu nehmen. Vince hatte natürlich seinen Skizzenblock dabei und zeigte Josh gerade, wie wichtig die Beleuchtung des Motivs war. Josh war total begeistert. Danny schlief friedlich auf dem Bett.

"Also gut, Jungs … ich werd dann mal gehen. Ich komm so gegen Mitternacht, also bleibt nicht auf."

"Was ist morgen noch?"

"Vormittags bin ich verplant und dann müssen wir schon fast zum Flughafen. Unser Flug geht um Vier."

"Du hast schon gebucht? Sehr schön, danke."

"Kein Problem. Also, schick Josh bald ins Bett und wir sehen uns dann morgen früh."

"Okay …"

Ich umarmte ihn und wuschelte durch Joshs Haare.

Der Auftritt konnte nicht schnell genug vorbei sein und die ewig gleichen Fragen der Presse nervten mich noch mehr als sonst …

Am nächsten Morgen frühstückten wir auf dem Zimmer. Vince wollte den Jungs nicht erklären müssen, warum er immer noch da war.

Als ich von Autogrammstunde und Interview zurück kam, waren die Koffer schon gepackt und wir mussten auch schon fast los zum Flughafen.

"Ich nehm Danny, wenn das für dich okay ist."

"Ja, wenn du willst …"

"Die Kleinen werden einfach zu schnell groß. Vor einem Jahr war Gwen auch noch so ein Wurm. Und jetzt rennt sie durch die Gegend und testet ihre Grenzen aus. Genieß es, dass er noch keinen eigenen Willen hat."

Danny überstand den Flug ganz gut. Ich gab ihm bei Start und Landung Ohrentropfen und dazwischen schlief er eh die meiste Zeit in seinem Beutel vor meiner Brust, genau wie Gwen immer. Auch Vince schlief. Er hatte den Kopf an meiner Schulter und eine Hand auf Danny's Rücken liegen. Josh schaute mit seltsamem Blick rüber. Als er sah, dass ich es sah, lächelte er!

Als das Taxi vor dem Haus hielt, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie seltsam es für Vince sein musste, jetzt wieder hier zu sein, fast sechs Jahre nachdem er nach New York gegangen war. Wir schleppten das ganze Zeug nach oben.

"Willkommen zurück. Fühlt euch wie zu Hause. Ich glaube, das dürfte dir nicht so schwer fallen …"

"Danke. … Das ist echt seltsam …"

"Das alte Atelier gehört ganz euch."

"Und wo schläfst du?"

"Im Büro. Das bin ich schon gewohnt. Immer wenn Besuch da ist, schlaf ich dort."

"Es ist nicht für lange, versprochen."

"Lass dir ruhig Zeit. Schau, am Zweiten bin ich eh wieder ein paar Tage weg und ich bin eh mehr unterwegs als zu Hause. Bleibt, solange ihr wollt."

"Ich weiß, ich wiederhole mich, aber danke, Jordan."

"Jetzt geh auspacken und ich hol was vom Asiaten."

"Okay, danke …"

Auf dem Weg fiel mir ein, dass ich mein Handy gestern nach dem Auftritt gar nicht mehr angeschaltet hatte. Ohoh, hoffentlich hatte Nikki nicht versucht, mich zu erreichen. …

Kaum war es an, bekam ich auch schon die Benachrichtigung, dass ich sieben neue Nachrichten auf der Mailbox hatte. Und da klingelte es auch schon. Ich schaute gar nicht auf die Nummer.

"Hey, sorry, ich hab vergessen, mein Handy anzumachen. Aber Josh geht's gut …"

"Okay, ehm …"

"Scott? Oh, ich dachte es wäre Nikki."

"Wo bist du?"

"Ähm, bei meinem Lieblingsasiaten, warum?"

"Du bist also nicht in New York?"

Ah, daher wehte der Wind. Collin hatte ihn auf mich angesetzt.

"Nein, ich bin in der Stadt. Warum?"

"Hast du was von Vince gehört?"

"Warum fragst du?"

"Also weißt du Bescheid."

"Das hab ich nicht gesagt …"

Sehr glaubwürdig, mal wieder. Innerlich klatschte ich mir gegen die Stirn. Warum fiel mir lügen eigentlich so schwer, verdammt?!

"Weißt du, wo er ist?"

"Wenn, dann würde ich es dir nicht sagen."

"Jordan, er kann nicht einfach den Kleinen nehmen und abhauen. Stell dir vor, Nikki hätte das gemacht."

"Wenn ich sie … nein, stopp. Ich weiß, was du vorhast. Du willst mich aushorchen. Vergiss es. Ich leg jetzt auf. Schönen Abend noch."

Sofort klingelte das Handy wieder. Ich machte es aus.

"So, geblatene Leis und Tofu-Cully fül alle!", verkündete ich zu Hause.

"Bitte sag mir, dass du auch Hühnchen hast!"

"Ja, fül den Fleischflessel gibt es Hühnchen."

"Puh, danke …"

"Ich mach gleich noch eine Gute-Nacht-Flasche für den Kleinen."

"Das musst du nicht, Jordan, ich mach das nach dem Essen."

"So kann es abkühlen. Wenn er uns gleich essen sieht, will er auch was und wird grummlig. Fangt ruhig schon mal an."

Gerade als ich die Flasche auf den Tisch stellte, klingelte es.

"Wer kommt denn so spät noch?"

"Ich hab eine Vermutung. Seid ganz leise, ja?"

Tatsächlich. Scott stand vor der Tür. Ich ging zu ihm raus und zog die Türe hinter mir zu.

"Hallo Scott. Was machst du denn hier?"

"Oh mein Gott, ist er etwa bei dir?"

"Wer denn?"

"Warum würdest du sonst wie ein Wachhund vor der Tür stehen?"

"Vielleicht wartet da drinnen eine heiße Blondine auf mich und ich will ihr nicht erklären müssen, warum mein Ex-Freund vor der Tür steht."

"Collin will nur sicher gehen, dass es den Beiden gut geht."

"Ihnen geht es gut, wo auch immer sie gerade sind. Und jetzt gute Nacht."

"Jordan, lass mich mit ihm reden."

"Wozu?"

"Collin macht sich Sorgen. Er weiß nicht, was los ist …"

"Vince wird ihn zu gegebener Zeit anrufen."

"Komm schon, lass mich kurz mit ihm reden. Er weiß doch nicht, was er tut."

"Scott, misch dich nicht ein!"

"So wie du dich nicht einmischt?"

"Geh jetzt."

"Erst wenn ich mit Vince gesprochen habe."

Die Türe ging auf.

"Hallo Scott."

"Hallo Vince. Können wir reden?"

"Natürlich. Komm rein."

Vince setzte sich wieder an den Esstisch und nahm sich Tofu. Scott schaute irritiert auf Josh.

"Was denn? Ich werde ihn nicht vom Esstisch verscheuchen."

"Na schön. Also Vince, was ist denn los?"

Dieser Tonfall, als würde er mit einem kleinen Kind reden! Vince antwortete gelassen:

"Ich habe Collin verlassen und werde mir hier in L.A. eine Wohnung suchen."

"Und was ist mit dem Kleinen?"

"Collin hat seine Adoptionsunterlagen nie unterschrieben, ich nehme an, er hat kein Interesse an ihm."

"Ich bin mir sicher, das hat er doch. Findest du es fair, dass du in so einer Nacht-und-Nebel-Aktion einfach verschwindest?"

"Anders ging es nicht. Collin hätte mich nie gehen lassen."

"Man kann doch über alles in Ruhe reden."

"Dazu ist es zu spät. Die Dinge sind wie sie sind. Ich bleibe in L.A.. Wenn Collin den Kleinen sehen will, muss er schon hier her kommen."

"Das kannst du doch nicht von ihm erwarten."

"Warum nicht? Ich hab jetzt fünf Jahre lang auf seiner Seite der Staaten gelebt, jetzt ist er dran."

"Vince, hast du einen Arzt?"

"Komm mir nicht so, ja?"

"Bist du sicher, dass du dich alleine um ein Kind kümmern kannst?"

"Ich hab mich seit seiner Geburt fast alleine um den Kleinen gekümmert."

"Nimmst du deine Medikamente? Hast du hier schon einen Arzt?"

"Verdammt, Scott, tu nicht so, als wäre ich todkrank. Es sind nur Antidepressiva. Weißt du wie viele Leute die nehmen?"

"Bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst? Ich meine, vor Gericht wirst du in deinem Zustand auf keinen Fall das alleinige Sorgerecht bekommen …"

Das war genug.

"So, das reicht. Du wirst ihn nicht unter Druck setzen. Was bist du nur für ein Mensch?! Ich dachte, ihr wärt Freunde. Schreckst du nicht davor zurück, deine miesen Psycho-Tricks an Freunden anzuwenden? Geh!"

"Noch ein Rat in aller Freundschaft: Such dir einen guten Anwalt, Vince."

Ich traute meinen Ohren nicht! Scott war schon fast bei der Tür und das war auch besser so. Bevor ich lange nachdachte, machte ich einen Satz zur Tür und stand bei ihm im Gang.

"Was denn? Machst du jetzt einen auf großen Beschützer?"

"Du bist ein Arschloch und dein Kumpel Collin ist sogar ein noch größeres Arschloch. Komm hier nicht nochmal her. Ich will dich nie mehr sehen!"

"Jordan … jetzt warte doch mal. Lass uns vernünftig sein. Das Ganze hat doch nichts mit uns Beiden zu tun …"

"Du würdest über Leichen gehen, nur um zu gewinnen. Mit so jemandem will ich nichts zu tun haben."

"Collin ist mein bester Freund …"

"Warum heiratest du ihn denn nicht, wenn er so toll ist? Mal sehen ob er dich besser behandelt als Vince. Aber du hast ihn ja schon immer verteidigt, schon damals, vor der Hochzeit. Warum verschwindest du nicht endlich? Wir haben uns nichts mehr zu sagen!"

"Ich hoffe du weißt, was du dir da für eine Bürde auflastest. Viel Glück."

Und damit verschwand er endlich.

Vince saß da und starrte Löcher in die Luft. Josh hatte ihm Danny abgenommen und gab ihm die Flasche.

"Vince, alles okay?"

"Glaubst du, Collin will mir den Kleinen wegnehmen?"

"Das könnte er gar nicht. Wir suchen dir einen Anwalt. Den Besten den es gibt. Mach dir keine Sorgen."

"Ich bin müde …"

"Dann geh schlafen. Ich kümmere mich um den Kleinen."

"Danke …"

Eine halbe Stunde später brachte ich Danny in Gwens Bett. Bei Vince brannte noch Licht. Ich klopfte.

"Komm rein …"

Er saß mit seinem Block auf dem Bett.

"Ich konnte dann doch nicht schlafen …"

"Hier ist es dafür eh noch etwas früh …"

"Ich bin dir so dankbar, Jordan."

"Sag das nicht dauernd. Ich weiß. … Seit wann nimmst du wieder Medikamente, Vince?"

"Seit kurz nach Danny's Geburt. Der Stress wäre mir sonst einfach zu viel geworden. Ich habe … hatte einen guten Arzt in New York. Ich muss mir hier jemanden suchen … und ich muss meiner Assistentin Bescheid geben. Es sind zwar nicht viele Termine abzusagen, aber trotzdem …"

"Darum kümmern wir uns morgen. Mach dir darüber keine Gedanken …"

"Es ist soviel zu tun …"

"Wir bekommen das hin, du und ich."

"Du bist immer da, wenn meine Welt in Trümmern liegt. Danke dafür."

"Dafür sind Freunde da. Du würdest das Gleiche für mich tun."

"Ich war nicht da, als Xander und du euch getrennt habt …"

"Das konntest du auch nicht riechen. Ich wollte sowieso lieber alleine sein. Du hättest nichts tun können."

"Du bist immer so stark."

"Ach, das ist nur Fassade …"

"Ich sehe dahinter und auch da bist du einer der stärksten Menschen, die ich kenne. Schau dich an, man sieht dir nicht an, was du in diesem Jahr alles durchgemacht hast. Jeden Anderen hätte das komplett aus der Bahn geworfen. Du bist dadurch nur noch stärker geworden. Ich wünschte, ich wäre so wie du."

"Jetzt hör aber auf, sonst werde ich noch rot. So, jetzt ist Schluss mit Zeichnen. Du warst müde, also wird geschlafen."

"Na schön …"

"Gute Nacht, Vince."

"Kannst du hier bei mir schlafen?"

"Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?"

"Ich will nur kuscheln …"

"Das hast du damals auch immer gesagt, wenn ich schon zu spät dran war zur Arbeit …"

Er grinste und ich legte mich doch zu ihm.

"Willst du in Jeans schlafen?", fragte er ganz unschuldig.

"Vergiss es, wenn ich meine Hose ausziehe, dann ist klar, was weiter passiert. Ich schlafe heute in Jeans."

Vince legte sich in meinen Arm und atmete tief durch.

"Ich fühl mich hier total zu Hause. Ich hab so viele Stunden hier oben verbracht und gemalt. Damals hab ich mir immer gewünscht, das Bett stünde hier, damit ich nachts nur kurz aufstehen muss, wenn mir im Schlaf eine Idee kommt …"

"Du hast dich dann immer aus dem Bett geschlichen und kein Licht angemacht, um mich nicht zu wecken. Und dann bist du ständig irgendwo dagegen gelaufen. Ich glaube, das Licht hätte mich nicht so oft aufgeweckt, wie deine Flüche …"

Wir kicherten zusammen und Vince kuschelte sich noch ein Stück näher an mich.

"Wir hatten eine tolle Zeit in der Wohnung."

"Naja, … wenn wir uns dann mal gesehen haben …"

"Ich war zu dir, wie Collin zu mir, oder?"

"Nur dass ich mich nicht um ein Neugeborenes kümmern musste. Das ist schon was anderes. Du warst nicht wie er, ich hab dir nie übel genommen, dass du dich um deine Karriere gekümmert hast. Ich hab ja das Gleiche gemacht. Dazu waren wir schließlich in L.A.."

"Jetzt muss ich nicht mehr so hart arbeiten. Heute wäre das anders …"

"Ich weiß. Dafür bin ich ab fünften März für drei Monate in Europa und dann noch ein paar Wochen in Japan …"

"Oh, das wusste ich nicht."

"Aber da sind ja noch zwei Monate hin. Bis dahin ist bestimmt alles Wichtige geregelt …"

"Ich hoffe es. Diese Ungewissheit ist schrecklich …"

"Danny wird bei dir bleiben. Collin will ihn doch eigentlich gar nicht. Und er ist dein Sohn, nicht seiner. Selbst Schuld, dass er die Unterlagen noch nicht unterschrieben hat."

"Aber meine Unterschrift ist drauf …"

"Wir schauen, dass wir morgen mit einem Anwalt sprechen können, ja? Ich hab schon ein paar Nummern, da werden wir gleich ganz früh anrufen."

"Okay …"

"Und jetzt lass uns schlafen. … Gute Nacht, Vince."

"Gute Nacht, Jordan … und danke."

Er drehte sich in meinem Arm um und schmiegte sich mit dem Rücken an mich. Seine Haare waren direkt vor meinem Gesicht. Dieser vertraute Geruch ließ mich schnell und tief einschlafen. So wohl hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt und so zu Hause.

Irgendwann weinte Danny. Vince saß sofort kerzengerade im Bett. Ich zog ihn zurück.

"Ich hab schon alles hergerichtet. Ich mach das."

"Langsam weiß ich nicht mehr, wie ich dir danken soll …"

Er gab mir einen Kuss auf die Wange.

Als ich eine viertel Stunde später wieder ins Bett kroch, schlief Vince schon wieder tief und fest.

Am Morgen ließ ich ihn noch schlafen, während ich Frühstück herrichtete und Danny versorgte. Das erinnerte mich so sehr an die Zeit vor den Schüssen, als ich den Tag immer mit Gwen begann. Ich vermisste sie. Und ich wollte wieder ein Baby. Tja, das konnte wohl kompliziert werden …

Vince kam die Treppe herunter, als ich Danny gerade die Flasche gab.

"Morgen. Hey, mein Kleiner, du bist ja schon umgezogen."

"Wir haben sogar schon gebadet."

"Oh, lass mich mal an ihm riechen … Mhhh, was ist das?"

"Babycreme nehm ich an."

"Ja, so muss ein Baby riechen. Ich könnte dich ja glatt auffressen, mein kleiner Schatz!"

"Dafür ist das Frühstück da."

"Na schön, das sieht auch gut aus."

"Ich wecke mal kurz Josh."

Der kannte nur ein Thema. Henry's Party heute Abend. Ich rief bei den Mendics an. Mir wurde versichert, dass immer ein Erwachsener dabei sein würde, die Jungs keine Böller in die Finger bekämen und um halb Eins Zapfenstreich war.

"Na schön, dann bringe ich Josh um Sechs und hole ihn morgen früh ab, wenn sie anrufen."

"Yeah! Danke Dad!"

Nach dem Frühstück telefonierte Vince sämtliche Scheidungsanwälte durch und bekam tatsächlich einen Termin, aber nur wenn er sofort hinkäme. Vince packte seine Unterlagen zusammen und wir machten uns auf den Weg. Josh blieb so lange zu Hause und übte Hände zeichnen.

Wir fuhren in den 13. Stock eines Hochhauses, wo die Gemeinschaftskanzlei ihren Sitz hatte. Die Räume waren fast komplett verlassen. Ein etwa 40-jähriger, dunkelhaariger Mann in schneidigem Anzug begrüßte uns.

"Mr. Yadis nehm ich an?"

Vince streckte ihm die Hand entgegen.

"Genau. Danke für den kurzfristigen Termin, Mr. Greenstein."

"Bitte, gehen wir doch in mein Büro, gleich da vorne."

Ich wollte mich mit Danny auf die edlen Designerstühle davor setzen, aber Vince winkte mich mit rein.

"Verzeihung und sie sind …?"

"Das ist mein bester Freund, Jordan Bonanno. Und das ist mein Sohn Danny."

"Na schön. Ich nehme an, sie sind hier, weil sie die Scheidung einreichen und das Sorgerecht für den Kleinen regeln wollen. Und jetzt wollen sie sich über die Formalien und ihre Rechte und Pflichten informieren."

"Ganz genau."

"Okay, also, gibt es irgendwelche Besonderheiten?"

"Ich bin im juristischen Sinn nicht verheiratet, sondern lebe in einer eingetragenen eheähnlichen Gemeinschaft."

"Okay. Und wie ist das juristisch mit dem Kleinen geregelt?"

"Mein Ehemann hat die Adoptionsunterlagen noch nicht unterschrieben, ich aber schon. Ich hab sie dabei …"

"Okay, lassen sie mal sehen. … Das ist kein Standard-Vertrag."

"Collin ist Jurist. Wirtschaftsrecht, er war in Harvard …"

"Jedenfalls wird der Vertrag erst rechtsgültig, wenn alle Parteien unterschrieben haben. Darüber brauchen sie sich also keine Sorgen zu machen. Ich setze aber noch etwas auf, das erklärt, dass sie ihre Unterschrift zurückziehen, also, ich nehme an, das ist es, was sie wollen, oder?"

"Ja, … ich meine, … Collin hat sich bisher auch nicht um den Kleinen gekümmert. Wenn er jetzt Ansprüche auf ihn erheben würde, dann nur, um mir eins auszuwischen."

"Okay, gut. Und wie steht es mit der Mutter des Kleinen?"

"Sie ist meine beste Freundin und war nur eine Art Leihmutter. Juristisch ist das auch alles geklärt, die Unterlagen hab ich auch hier irgendwo …"

"Okay, sehr schön. Also das mit dem Sorgerecht ist absolut kein Problem. Gibt es noch irgendwas, das ich wissen sollte?"

"Ich bin wegen Depressionen in Behandlung. Aber mit den Medikamenten geht es mir gut."

"Okay, dann brauche ich das schriftlich von ihrem Arzt."

"Kein Problem."

"Darf ich sie nach dem Grund für die Trennung fragen?"

"Collin ist nie zu Hause, lässt mich mit dem Kleinen ständig alleine … und ich weiß, dass er nicht wirklich immer beruflich unterwegs ist."

"Also Untreue? Können sie das beweisen?"

"Wie soll ich das denn beweisen können? Und er ist grob zu mir geworden. Das war der Punkt, wo ich für mich den Schlussstrich gezogen habe."

"Verständlich. Gibt es dafür Zeugen oder Fotos von ihren Verletzungen?"

"Ich hatte nur einen blauen Fleck am Ellbogen. Davon hab ich kein Foto gemacht. Geht es nicht auch ohne Schmutzwäsche waschen?"

"Natürlich, aber wenn ihr Partner Jurist ist, dann wird er wohl auch alle Möglichkeiten ausschöpfen."

"Ich will nur meinen Sohn und meine Sachen aus dem Haus. Unsere Konten sind getrennt, ein sauberer Schnitt sollte also kein Problem sein."

"Gut. Ja, Mr. Yadis, ich sehe da eigentlich keine größeren Probleme auf uns zukommen. Lassen sie mir die Unterlagen da, dann schaue ich das mal in Ruhe durch. Und geben sie meine Nummer an den Rechtsvertreter ihres Partners weiter."

"Das ist vermutlich Scott Douglas. Die Beiden haben zusammen studiert."

"Ja, den Namen kenne ich. Gut, ich setze mich mit ihm in Verbindung."

"Okay, danke schön. Und danke, dass sie sich heute für mich Zeit genommen haben."

"Keine Ursache."

"Sind das ihre Kinder, auf dem Foto?"

"Ja, das sind meine Beiden."

"Dann sollten sie wohl auch langsam nach Hause. Einen guten Rutsch ins neue Jahr."

"Dankeschön. Ihnen auch, den Umständen entsprechend."

Vince wirkte sichtlich erleichtert, als wir zurück zum Auto gingen.

"Na siehst du. Das wird alles gar nicht so schlimm."

"Ich hoffe es. … Was machst du eigentlich heute Abend?"

"Ich führe dich und Danny zum Essen aus, danach schauen wir uns einen möglichst dämlichen Film auf DVD an und schlafen auf der Couch ein, bis wir von Silvesterknallern geweckt werden."

"Nein, nein, du musst ausgehen! Du hast vermutlich Einladungen zu einem Dutzend Parties."

"Aber alle von Leuten, die ich kaum kenne. Das ist doch langweilig und das kann ich immer haben. Ein gemütlicher Abend mit euch Beiden ist genau das Richtige."

Vince telefonierte zu Hause noch mit einigen Leuten in New York, während Josh und ich mit Danny etwas frische Luft schnappten und Josh mir vorschwärmte, was er von Vince alles gelernt hatte und auch verkündete, dass er unbedingt einen Fotokurs besuchen wolle.

Als wir zurückkamen, wirkte Vince irgendwie niedergeschlagen.

"Ich muss es Summer sagen. Ich hab irgendwie das Gefühl, sie betrogen zu haben. … Ich hab ihr versprochen, dass der Kleine es gut haben wird. Dass er zwei Eltern haben würde, die ihn lieben und die sich lieben. Und jetzt das …"

"Das konntest du doch nicht wissen! … Sie wird es schon verstehen, Vince."

"Da bin ich mir nicht so sicher …"

Er verzog sich ins Schlafzimmer und kam erst nach fast einer Stunde wieder runter.

"Na?"

"Sie ist sauer … aber sie versteht es auch. … Naja, sie will hier her kommen. Ich hab ihr gesagt, dass das nicht nötig ist, aber sie ließ sich nicht abbringen."

"Naja, Summer wiedersehen ist was Gutes, richtig?"

"Ja, schon. … Ich sollte Collin mal anrufen …"

"Wenn du das für nötig hältst …?"

"Ja, soviel schulde ich ihm schon."

Und damit verschwand er für die nächste Stunde nach oben. Irgendwie macht mich das nervös, ich konnte aber nicht sagen, warum. Danny schlief. Er war eigentlich echt ein unkompliziertes Kind.

Vince kam gegen Vier die Treppe runter.

"Na?"

"Ich weiß auch nicht. … Jetzt macht er einen auf reumütig. … Er verspricht, dass er sich bessert. Er hat mich angefleht zurückzukommen. … Er sagt, er zieht auch hier her, wenn ich wirklich hier bleiben will."

"Das ist gut, oder?"

"Ich weiß nicht, … ich hab keine Ahnung, ich will jetzt einfach nicht mehr drüber nachdenken. … Ich glaube ich geh malen …"

"Okay. Und gegen Sechs geht's los, ja? Dann bringen wir Josh zu seinem Kumpel und gehen schön essen."

"Okay, kannst du mir …"

"… eine halbe Stunde vorher Bescheid sagen, damit du über dem Malen nicht die Zeit vergisst? Natürlich."

Er schenkte mir ein Lächeln und verschwand nach oben. Ich rief Nikki an und fragte nach Gwen. Alles okay. Dann rief ich Brian an, fragte, welchen Flug er nach Seattle nahm und buchte den gleichen. Josh kam auch mal aus seinem Zimmer, als ich gerade an einem Song rumtüftelte und schaute mir dabei auf die Finger.

"Wie geht's Vince?"

"Ganz okay, glaub ich. Summer kommt hier her und Collin scheinbar auch."

"Seid ihr Beide jetzt wieder zusammen?"

"Nein. Wie kommst du darauf?"

"Du hast heute nicht im Büro geschlafen …"

"Vince wollte nicht alleine sein. Aber wir sind nicht wieder zusammen. Und ich glaub auch nicht, dass wir wieder zusammen kommen. Ich glaube, das mit Collin ist doch nicht so ganz vorbei."

"Das ist gut für Danny, oder?"

"Vermutlich …"

"Ich weiß nicht, was ich heute Abend anziehen soll …"

"Mach dir über so was keinen Kopf. Es sind nur Klamotten. … Sag mal, da sind auch Mädchen, oder?"

"Ja, aber die übernachten in einem anderen Zimmer, keine Sorge …"

"Magst du eines davon?"

"Vielleicht, … kommt drauf an."

"Worauf denn?"

"Ob sie mich mag …"

"Verstehe. Na dann zeig mir mal deine Klamotten!"

Um halb Sechs sagte ich Vince Bescheid, duschte und machte mich und Danny fertig. Josh war nervös. Ich redete ihm gut zu, ermahnte ihn aber gleichzeitig, keinen Müll zu bauen. Nachdem wir Josh abgesetzt hatten, fragte Vince:

"Wo gehen wir eigentlich hin?"

"Wo denkst du wohl, dass wir hingehen?"

In Vinces Lieblingsrestaurant natürlich!

"Wirklich? Glaubst du, den Laden gibt es überhaupt noch?"

"Ich habe extra angerufen und mich versichert. Und die haben heute bis Zehn offen."

"Ich glaub's nicht! Gute Idee."

"Ist doch naheliegend, früher waren wir da quasi Stammgäste."

In dem kleinen italienischen Delikatessenrestaurant arbeitete tatsächlich immer noch die gleiche Kellnerin. Die Tochter des Hauses. Sie schaute uns nachdenklich an.

"Sie waren früher öfter hier, richtig? Willkommen zurück. Und ein Baby, wie niedlich. Hier sind die Karten, darf ich schon etwas zu trinken bringen?"

Wir bestellten beide nur Wasser und auch gleich Vorspeisen. Danach Pasta und danach hausgemachtes Eis.

"Ich glaub, ich platz gleich.", verkündete Vince über einem halbvollen Eisbecher.

"Früher hast du mehr davon geschafft."

"Tja, ich werde alt. Aber du auch. Bald bist du 27. Dann bist du Ende 20."

"Und du Anfang 30, also Vorsicht!"

"Na schön. … Schläft Danny?"

"Tief und fest."

"Wir sollten ihn langsam heim bringen."

"Ja, ich will auch auf die Couch und meinen Hosenknopf aufmachen."

"Uah! Kommt nicht in Frage. So eklige Sachen machen nur Heteros."

"Soso, naja, Glück für mich, dass ich meine Sexualität je nach Anlass neu definiere …"

"In der Tat sehr praktisch."

Ich winkte der Kellnerin wegen der Rechnung.

Zu Hause brachte Vince den Kleinen nach oben, während ich es mir auf der Couch bequem machte und demonstrativ den Hosenknopf aufmachte, als Vince die Treppe runter kam.

"Ist das dein Ernst?"

"Meine Couch, meine Regeln."

"Sehr sexy …"

Vince hatte schon den ganzen Abend irgendwie mit mir geflirtet, also wagte ich den Vorstoß:

"Sollte ich versuchen, sexy zu sein?"

"Du könntest gar nicht wirklich unsexy sein …"

"Es mag dich überraschen, aber in Schwulenbars komm ich nicht besonders gut an …"

"Weil dich kein Mensch für schwul halten würde. Das ist es ja, was dich sexy macht. Du bist ein echter Kerl."

"Echte Kerle machen nach dem Essen den Hosenknopf auf. So, jetzt kannst du nichts mehr dagegen sagen."

Er verdrehte die Augen und fragte:

"Wie spät ist es?"

"Kurz vor Zehn."

"Wollen wir uns noch einen Film anschauen?"

"Klar, ich hab hier 'Vergissmeinnicht'."

"Ja, von mir aus."

Ich legte die DVD ein und machte das Licht aus. Vince legte seinen Kopf in meinen Schoß. Ich wusste schon, was das bedeutete. Nach ein paar Minuten atmete er tief und ruhig. Ich kraulte ihm durch die Haare. Er drehte sich ganz unschuldig im Schlaf um. Sein Gesicht war jetzt ganz dicht an dem offenen Hosenknopf. Ich konnte nicht verhindern, was in meiner Hose passierte. Vince grinste!

"Du schläfst ja gar nicht!"

"Wie soll ich denn da noch schlafen können?"

Er setzte sich auf und schaute mich durchdringend an. Dann legte er eine Hand an meine Wange und kam langsam näher.

"Vince, du weißt, dass das eine blöde Idee ist, oder?"

"Es ist nur Silvestersex."

"Sicher?"

Er nahm meine Hand und küsste mich. Wir zogen uns aus, das Tempo wurde immer schneller.

Als ich kam, flüsterte ich Vince ein "Ich liebe dich." ins Ohr. Das meinte ich auch so. Er hielt mich ganz fest.

"Und ich liebe dich."

Die DVD war zu Ende. Ich machte den Fernseher aus, das Radio an, holte uns eine Decke und wir kuschelten uns nackt aneinander.

"Man merkt, dass du viele Erfahrungen gesammelt hast in den letzten sechs Jahren.", grinste Vince.

"Und du bist noch genau so perfekt wie damals. … Ist dir kalt? Komm her …"

Ich wickelte uns noch fester in die Decke ein. Wir schauten uns eine Ewigkeit nur an, streichelten uns, hielten uns fest, bis im Radio der Countdown begann.

"Wir müssen uns hinstellen.", verlangte Vince.

"Warum denn?"

"Das macht man eben so."

Gut, dann rappelte ich mich eben auf und umarmte Vince im Stehen mit der Decke.

"Fröhliches neues Jahr, Vince."

"Fröhliches neues Jahr, mein Herz."

Ich bekam Gänsehaut. Vince lächelte mich selig an und nahm mich in den Arm.

"Wir sollten zu Danny hoch. Die Böller wecken ihn bestimmt auf."

"Ich mach gleich noch seine Flasche, geh schon mal."

Als ich mit der Flasche nach oben kam, stand Vince mit dem Kleinen in die Decke gewickelt am Fenster. Danny war ganz fasziniert von den bunten Lichtern.

"Frohes neues Jahr, zum ersten Mal, kleiner Danny."

Vince ließ mich zu ihnen in die Decke, ich hielt die Beiden einfach nur fest, ich hätte sogar fast ein paar Tränen vergossen. Der Augenblick war einfach zu perfekt. Wir schauten alle Drei dem Feuerwerk zu. Dann fütterten wir den Kleinen und wechselten seine Windeln, alles gemeinsam.

"Ich mach unten mal alles aus."

"Ich warte im Bett …"

"Ich beeil mich …"

Mein Bauch kribbelte wie irre. Das machte alles Sinn! Ich hatte den Richtigen schon längst gefunden, meinen Vince. Aber wir mussten die sechs Jahre getrennt sein, um eine Familie gründen zu können. Jetzt hatten wir unsere Kinder und zusammen würden wir sie großziehen. Alles, was in den letzten sechs Jahren passiert war, hatte mich an diesen Punkt geführt. Da lag Vince, in meinem Bett, in unserem Bett. Nackt und wunderschön. Ich küsste ihn stürmisch und sagte ihm noch mal, wie sehr ich ihn liebte.

Am nächsten Morgen wurden wir vom Telefon geweckt. Ich sollte Josh in einer Stunde abholen.

"Komm wieder ins Bett, mein Herz …"

"Aber nur kurz, ja?"

"Nur noch ein bisschen kuscheln …", bettelte er und zog dabei einen unwiderstehlichen Schmollmund.

Ich holte Josh erst nach fast zwei Stunden ab. Das machte ihm nichts aus, so hatte er sich mit Henry noch über die Party austauschen können.

"Und wie ist es jetzt mit diesem Mädchen gelaufen?"

"Ach, die ist doch irgendwie seltsam …"

"Soso.", grinste ich wissend.

"Und wie war dein Silvester?"

"Sehr schön. Wir waren essen und haben uns einen Film angeschaut und so. Und Danny mochte das Feuerwerk."

"Hört sich langweilig an. … Was grinst du denn?"

"Tu ich doch gar nicht …"

"Doch, du kannst ja gar nicht mehr aufhören!"

"Ach Quatsch. Also, erzähl mal was jetzt mit dem Mädchen war."

Vince war fröhlich, aber er vermied es, mich vor Josh anzufassen. Sein Blick sagte mir, dass alles in Ordnung sei, aber er den Jungen nicht sofort damit konfrontieren wollte. Das war ja auch irgendwie sinnvoll. Sobald Josh in seinem Zimmer verschwunden war, wurde er wieder anhänglich.

"Musst du morgen früh wirklich wegfliegen?", fragte Vince missmutig.

"Sorry, es geht wirklich nicht anders. Aber hey, wir haben sechs Jahre gewartet. Die paar Tage schaffen wir auch noch."

"Irgendwie ist alles so surreal …"

"Bist du glücklich?"

"Ich war schon immer glücklich, wenn du bei mir warst, egal was sonst noch passierte."

Ich küsste ihn. Den ganzen Tag tat ich eigentlich nichts anderes als das. Ich fühlte, wie gelöst er jetzt war, wie entspannt, wie glücklich! Und ich war der Grund dafür!

Am nächsten Tag brachte Vince mich und Josh zum Flughafen und holte Summer ab.

Ich rief ihn an, so oft ich konnte und träumte jede Nacht von ihm. Ich war total wie auf Drogen und fühlte mich so gut wie schon lange nicht mehr. Ich erledigte die nervigsten Interviews mit links und auch alles sonst war ein Kinderspiel. Zu Hause wartete schließlich Vince auf mich! Was sollte mir da die Laune verderben können? Alles war wieder gut!

Am letzten Tag, dem Fünften, erreichte ich ihn nicht. Er hatte am Vormittag diesen Anwaltstermin mit Collin und Scott gehabt. Vermutlich hatte er einfach vergessen, sein Handy wieder einzuschalten. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Josh hatte mittlerweile auch erraten, was los war. Er zog mich ständig auf, wenn ich grinsend Löcher in die Luft starrte, aber versicherte mir auch, dass er kein Problem damit hatte. Schließlich war es Vince und nicht irgendein Kerl! Überhaupt war die Beziehung zu Josh fast schon wieder so gut wie früher. Die Redewendung trifft es genau: Ich hätte zerspringen können vor Glück!

Am Abend des Fünften kamen wir nach Hause. Scott stand vor der Tür. Das konnte meine gute Stimmung jetzt auch nicht mehr trüben.

"Hallo Scott. Lässt Vince dich nicht rein, was?"

"Jordan … er ist nicht da."

"Das glaub ich eher nicht."

"Kann ich kurz reinkommen?"

"Netter Versuch."

"Jordan … bitte."

"Was willst du denn?"

"Mit dir reden."

"Wir reden doch."

"Josh, kannst du zu Janet gehen und da warten, bitte?"

"Hey, schick meinen Sohn nicht durch die Gegend!"

"Schon gut, Dad. Ich wollte ihr eh gleich hallo sagen …"

"Setz dich wenigsten zu mir auf die Stufen.", bat Scott ernst.

"Na schön, also warum bist du hier?"

"Vince ist wieder zu Collin zurückgegangen."

So was Absurdes!

"Was wird das jetzt schon wieder für eine Psycho-Nummer?"

"Sie verkaufen ihr Haus und suchen sich was in der Stadt. Tut mir leid, Jordan … Vince hat mir erzählt, was passiert ist. Ihm tut es auch schrecklich leid …"

Warum war die Traurigkeit in seinen Augen so echt?

"Wenn du mir Scheiße erzählst, Scott ...!"

"Ich würde damit keine Scherze treiben. Es ist wahr. Tut mir leid."

Ich sah mich selbst plötzlich von oben. In meiner Brust zog sich ein Knoten zusammen.

"Ich muss das von ihm hören."

"Er hat mir den Brief hier für dich gegeben."

Ich riss ihm das Papier förmlich aus der Hand. Es war Vinces Handschrift.

'Mein Herz, es tut mir so leid, aber ich muss zu ihm zurück. Alles soll anders werden. Ich habe damals geschworen, für immer bei ihm zu bleiben. Wir sind eine Familie, das kann ich nicht aufgeben. Ich werde dich immer lieben und ich hoffe, dass du mir irgendwann verzeihst. In tiefstem Bedauern, Vince'

"Das darf nicht passieren."

"Es tut mir leid, Jordan."

Hitze stieg mir ins Gesicht. Die Wände schienen auf mich zuzustürzen. Ich musste fort! Scott wollte mich zurückhalten, ich schlug seinen Arm weg. Dann rannte ich. Ich rannte die Treppen runter und die Straße entlang, bis zum Strand. Ich lief immer weiter, bis es stockfinster wurde und ich nicht wusste, ob mein Herz oder mein Kopf zuerst explodieren würde. Ich ließ mich in den Sand fallen. Schweiß und Tränen vermischten sich in meinem Gesicht. Womit hatte ich das verdient? Warum war es mir nicht endlich vergönnt, einfach nur verliebt und glücklich zu sein? Ich hatte mir doch nichts mehr gewünscht, als Teil einer Familie zu sein. Aber anscheinend war es mein Schicksal, für immer alleine zu bleiben und nicht nur das, es war mein Schicksal, dass mir alle paar Monate das Herz aus der Brust gerissen wurde. Vielleicht war das ja die Strafe für all die schlimmen Dinge, die ich früher gemacht hatte. Die Strafe Gottes? Hatte mein Großvater am Ende recht behalten?

Aber jetzt reichte es. Ich würde niemanden mehr an mich heran lassen! Damit war es vorbei. Nie wieder. Das war genug für zwei Lebzeiten! Der Sand rieselte mir in die Klamotten und klebte überall an mir. Aber mir war das alles egal. Es muss kalt gewesen sein, aber das spürte ich nicht mal. Mein Handy klingelte. Ich schmiss es Richtung Wasser und das Geräusch hörte auf. Es gab nur noch mich, das Rauschen des Meeres und diese allumfassende Dunkelheit.

Jemand stupste mich an. Ich machte die Augen auf. Die brannten und ich rieb erst mal den Sand heraus.

"Sir, stehen sie auf."

Da standen zwei Cops. Ich rappelte mich hoch. Die Sonne ging gerade auf.

"Können sie sich ausweisen?"

"Was ist denn los?"

"Nachts ist der Aufenthalt am Strand nicht erlaubt."

"Na und? Es wird gerade hell, also ist es Tag."

"Können sie sich ausweisen, Sir?"

"Warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe, verdammte Scheiße?!"

Eine halbe Stunde später musste ich auf der Wache überlegen, wen ich anrufen sollte, um mich abzuholen. Mein Handy hatte ich im Sand aufgegabelt, also hatte ich alle Nummern. Janet ging nicht ran. Ich wollte niemanden anrufen, mit dem ich mal was hatte. Tom war der Einzige, der mir einfiel. Er ging auch dran. Ich gab ihm die Adresse, sagte aber nicht, dass es eine Polizeistation war. Er fuhr mich nach Hause, ohne groß Fragen zu stellen. Die Wohnung war leer. Josh war vermutlich bei Janet. Im Bad schaute ich in den Spiegel, ließ es aber gleich wieder sein. Mein Handy klingelte unaufhörlich. Ich duschte mir erst mal den Sand ab, bestimmt eine halbe Stunde lang. Überall hatten die feinen Körnchen gerötete Stellen hinterlassen. Meine Haut spannte und juckte. Mittlerweile war es fast Zehn am Morgen. Ich rief im Laden an und sagte Janet, dass ich zu Hause sei, aber noch etwas Zeit alleine brauchte. Danach rollte ich mich auf der Couch zusammen. Es klingelte und kurz danach hörte ich die Haustüre aufgehen. Josh legte sich zu mir. Mir war es peinlich, dass ich weinte. Er legte seine Arme um mich und machte die Augen zu.

Als ich wieder aufwachte, lag er immer noch so da, nur dass er mich mit unergründlichem Blick anschaute.

"Tut mir leid, Kleiner. … Ich hab dich einfach allein gelassen …"

"Mach dir keine Gedanken. Ich versteh das. Alles, was dir im letzten Jahr passiert ist, war so was von ungerecht. Es tut mir so leid, dass es dir so schlecht geht. Aber ich lass dich nie alleine, versprochen. Wir werden immer eine Familie sein, ganz sicher."

Ich vergrub mein Gesicht in einem Kissen, denn mein Sohn hatte damit meine größte Angst angesprochen. Ich konnte einfach keine starke Fassade mehr für ihn aufrechterhalten. Josh stand auf und machte Waffeln.

Nach dem Frühstück hatte ich wieder den Drang zu laufen. Josh bestand darauf, mitzukommen. Er hielt erstaunlich gut durch. Wir mussten nur eine kleine Pause machen. Den ganzen Tag über suchte er meine Nähe, schlief die Nacht sogar bei mir. Ich war ihm zwar dankbar, aber mich plagte auch mein schlechtes Gewissen. Ich lud ihm damit zu viel Verantwortung auf. Kinder sollten sich nicht um ihre Eltern sorgen müssen. Ich selbst hatte viel zu schnell erwachsen werden müssen, als es meiner Mutter schlecht gegangen war. Auch sie hatte es damals nicht geschafft, ihre Probleme von mir fernzuhalten.

Am nächsten Tag kamen Gwen, Nikki und Oliver aus Hawaii zurück. Josh erwähnte ihnen gegenüber mit keinem Wort, was passiert war. Ich fühlte mich irgendwie so seltsam. Ich wusste, dass ich mich freute, Gwen wiederzusehen, aber irgendwie fühlte ich es nicht. Ich verbrachte den Tag mit den Kindern, war aber mit den Gedanken ständig ganz wo anders. Ich fühlte mich wie eine leere Hülle.

Dann war ich wieder eine Woche unterwegs. Ich hatte absolut keinen Bock auf soziale Kontakte und absolvierte missmutig das Pflichtprogramm. Ich lief in jeder freien Minute durch die Gegend. Tom schaute mich oft ganz seltsam an, aber er fragte mich nie, warum er mich früh morgens von einer Polizeistation abholen hatte müssen.

Den letzten Monat vor der Tour hatten wir quasi frei. Das Team war schon nach Europa geflogen, um PR zu betreiben und alles klar zu machen. Ich hatte Zeit. Viel Zeit. Ich saß die meiste Zeit alleine vorm PC. Irgendwann entdeckte ich die Möglichkeiten der

Instant-Messenger und chattete mit allen möglichen Leuten über alles Mögliche. Ein Kerl bot mir an, dass ich vorbeikommen konnte, um mit ihm seinen Whirlpool zu genießen. Ich nahm das Angebot an. Das war mein erster One-Night-Stand mit einem Mann und ich empfand dabei wirklich absolut nichts. Ich machte mich gezielt auf die Suche nach solchen Bekanntschaften und fuhr fast jeden Abend quer durch die Stadt, manchmal sahen die Leute so schrecklich aus, dass ich einfach wieder heimfuhr. Aber die meisten Männer und Frauen taugten genug für eine Nacht. Manche Männer konnten mir danach nicht mehr in die Augen schauen und wollten einfach nur, dass ich verschwand. Manche Frauen nahmen mir das Versprechen ab, sie anzurufen, was ich niemals vor hatte. Brian rief manchmal an und wollte mich zum Essen einladen. Ich hörte den besorgten Unterton in seiner Stimme und lehnte immer ab. Ich wollte ihn nicht mit Sean sehen. Ich konnte keine glücklichen Menschen ertragen. Auch Mum's Anrufe nahm ich nur entgegen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Gwens zweiter Geburtstag wurde gefeiert, in Olivers Haus, ich war nur ein Gast unter vielen.

Dann flogen wir nach Europa. Die Anderen waren furchtbar aufgeregt deswegen und in Hochstimmung. Mein Leben änderte sich dadurch nicht großartig. Nach der Show nahm ich irgendeine Tussi mit auf's Zimmer. Manchmal betranken wir uns, seltener hatten die Frauen was zum rauchen in ihren netten kleinen Handtaschen. Interviewtermine vor Zehn Uhr morgens verpasste ich grundsätzlich und meistens wusste ich nicht, in welchem Land ich aufwachte. Aber ich fühlte mich befreit und vergaß meine Pflichten und Vorsätze und Gefühle einfach. Nichts drang an mich heran, genau so wie ich es gewollt hatte.

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