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Along the Way

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Jordan

Über einem kleinen Bett hingen Filmplakate an der Wand. Auf dem Bierkasten, der als Nachttisch fungierte, lagen Pillen verstreut. Daneben stand ein Terrarium, das von Rotlicht beleuchtet wurde. Ein kleiner Sessel war das einzige Möbelstück, das noch neu und unverziert war. Alles andere war beklebt mit Mottostickern, wobei es mehr schien, als würden sie den alten Schrank und das Regal neben dem Fenster zusammenhalten und nicht nur schmücken. Das Zimmer war nur mittelgroß, aber sah trotz der dunklen Möblierung und dem spärlichen Licht, das neben dem Rotlicht auch noch von ein paar Kerzen kam, die neben dem Bett am Boden standen, doch irgendwie einladend aus. In der Mitte des Raumes war ein Boxsack über dem Kleidung zum Trocknen hing und überall waren Hanteln verteilt, die schnell zu einer Stolperfalle für unerwünschte Besucher werden konnten. Das Parkett hatte schwarze Streifen, wie in einer Turnhalle. In der Ecke des Zimmers, wo der Schrank stand, war ein kleiner Fernseher. Es gab 2 Türen, eine zum Gang, eine in ein separates kleines Bad.

Um 3 Uhr morgens kamen von dort immer die einzigen Geräusche aus der Wohnung. Ein junger Mann in Lederjacke und Jeans hing über der Kloschüssel (das war ich) und der Raum erfüllte sich mit dem Geruch von Alkohol und Erbrochenem. Jemand rüttelte an der abgeschlossenen Zimmertür. Nach einer Weile drückte ich die Klospülung. Kaum hatte ich die Zimmertür aufgesperrt, fiel ich auch schon der Länge nach um und blieb zuckend am Boden liegen.

Ich fand mich im Krankenhaus wieder, zum 2. Mal in diesem Monat. Doch diesmal war es richtig schlimm. Ich wäre fast gestorben. Die Sanitäter hatten die Polizei verständigt. In meinem Zimmer waren verschiedenste "illegale Substanzen“ gefunden worden, wie ein Cop mir mitteilte. Mein Drogenscreening wies ebenfalls die verschiedensten Wirkstoffe auf.

Meinen 19. Geburtstag feierte ich in einer Entzugsanstalt. Während der nächsten Monate wurde niemand von meinen Freunden zu mir gelassen. Und auch nicht meine Freundinnen. Weder Conny, noch Sandy oder Kicky und Nelly.

Nach 9 Monaten war ich nur noch dem Tabak und dem Koffein verfallen, was niemand mehr für bedenklich hielt. Und so kehrte ich zurück in das Zimmer, doch der Nachttisch war jetzt aus echtem Holz und die Pillen darauf waren verschwunden. Und auch sonst schien der Raum heller und gesünder. Das klapprige Regal mit den Stickern war durch ein neues aus hellem Holz ersetzt worden. Die Abteile waren fast leer. Kein Wunder, denn das Regal hatte in erster Linie als Lagerplatz gedient. Alles war durchsucht und die "illegalen Substanzen“ entfernt worden. Der Raum wirkte jetzt freundlich, gepflegt, gesund. Alles sollte anders werden.

Da saß ich jetzt also in einem fremden Zimmer, das einmal meins war. Ich fühlte mich, als hätte ich auch gleich noch einen neuen Körper mitbekommen. Kein Zittern, keine Kopfschmerzen, ich fühlte mich fast zu gut. Nächste Woche würde ich wieder zur Schule gehen. Neue Schule, selbe Stufe. Das Abschlussjahr. Kein idealer Zeitpunkt, um Freundschaften zu knüpfen ...

Ich wollte meiner Mutter zeigen, dass sich etwas geändert hatte und sie zur Abwechslung mal stolz machen. Deshalb ging ich fünfmal die Woche in die Schule, kam gleich danach nach Hause, machte Hausaufgaben, lernte genug auf Klausuren, um meine Vierer zu schreiben und hielt mich aus jeder Form von Ärger raus. Meine alten Freunde hatten mich schon bald vergessen und meine neuen Klassenkameraden ächteten mich, oder ich sie. Zum Trost schenkte mir meine Mutter, die kaum 15 gewesen war, als sie schwanger geworden war und mich allein aufgezogen hatte, eine Stereoanlage, die sie sich von ihrem Sekretärinnengehalt kaum hätte leisten können. So stellte sie mir Klaus vor, ihren neuen Freund (und Geldgeber, wie ich in Gedanken hinzufügte). Er sei Steuerberater in der Kanzlei, in der sie arbeitet.

"Jordan, ich hoffe du verstehst mich. Ich war lange genug allein.“

Ich meinte, ich sei doch immer da gewesen. Sie darauf:

"Du warst nie da, nicht wirklich. Du warst ständig high und ich war allein mit dir.“

Ein lauter Streit folgte, Türen knallten. Plötzlich stand ich draußen im Treppenhaus. Meine Mutter schrie mir noch hinterher:

"Es ist Samstagabend. Geh und such dir ne Freundin. In deiner neuen Klasse gibt es viele hübsche Mädchen.“

Ich rannte die Treppen hinunter und stand auf der Straße. Für einen Moment überlegte ich, ob ich meine alten Freunde besuchen sollte, nur um meiner Mutter eins auszuwischen. Doch dann fiel mir wieder ein, dass heute so etwas wie eine Klassenparty stattfand, in der Zen-Bar, meiner ehemaligen Stammkneipe, jetzt, mit neuem Pächter, genauso clean wie ich selbst. Der perfekte Ort für einen Neuanfang mit neuen Leuten.

Nach zwei Kaffees in der Eckkneipe (der Therapeut hatte was von Ersatzdrogen erzählt …) war es halb elf, zwar eigentlich noch etwas früh für die Zen-Bar, aber ich vermutete, dass meine Klassenkameraden spätestens gegen zwölf Richtung Heimat abziehen würden.

Ich stand also am Eingang meiner ehemaligen Stammkneipe und war nervös. Ich kam mir richtig blöd vor. Der Türsteher war noch der Gleiche. Erst musterte er mich skeptisch, doch dann winkte er mich vorbei an der Warteschlange, die früher noch nicht so lang war, zu sich.

"Hey Jordan, hör zu: Das ist jetzt ein sauberer Laden. Du weißt, ich mag dich, also kannst du rein, aber es wird nicht verkauft, klar? Es wimmelt hier eh von Zivilen.“

Ich überlegte kurz, ob ich ihm meine Leidensgeschichte erzählen sollte, nickte dann aber nur und ging hinein.


Sean

Die Sommerferien vor meinem letzten Highschool-Jahr waren total seltsam. Meine damalige Freundin, Sara, war vier Wochen bei ihren Großeltern in Boston. Danach kam sie wieder und schien mir noch fremder als zuvor. Wir waren seit fast drei Jahren zusammen, aber über die Hälfte der Zeit überlegte ich, wie ich am besten mit ihr Schluss machen konnte. Wir hatten einfach nichts mehr gemeinsam. Trotzdem hingen wir ständig beieinander und stritten uns. Das lag vor allem daran, dass wir nun mal denselben Freundeskreis teilten. Ich war fast froh, als die Ferien vorbei waren und ich endlich wieder was Anderes zu tun hatte, als dieses ständige Drama. Und ich hatte mir vorgenommen, neue Leute kennenzulernen.

Schwierig, wenn man seit Jahren mit den gleichen Leuten in eine Klasse geht. Aber das Schicksal meinte es gut mit mir, denn es gab einen Neuen, Jordan. Er war recht still, was eigentlich gar nicht zu ihm passte, denn er sah eher aus wie jemand, der schon viel rumgekommen war. Die Mädchen tuschelten ständig über ihn. Ich musste neidlos anerkennen, dass er recht gut aussah. Aber vorerst tauchte er außerhalb der Schule nirgends auf. Meine Clique verbrachte die Freitag- und Samstagabende meistens in der Zen-Bar, die der Onkel einer Freundin gepachtet und umgebaut hatte. Da saßen wir also rum, ich betrank mich meistens mit Sara, das war das Einzige, bei dem wir uns nicht stritten und dann schlich ich mich zu Hause hoch in mein Zimmer. Wenn mein Vater was davon mitbekommen hätte, wäre das sehr unschön ausgegangen. Er ließ mich nur deshalb überhaupt in eine Bar gehen, weil er Susis Onkel kannte. Er hatte 20 Jahre bei ihm in der Führungsetage der Firma gearbeitet. Eine große Textilfirma, die mein Vater nach eigener Aussage ganz allein aufgebaut hatte. Ob das die schlecht bezahlten Fließbandkräfte auch so sahen?

Ich, als einziger Sohn, hatte schon einen Schreibtisch in der Firma. Assistent der Geschäftsführung. Zukünftiger Kopf der Firma. Nur über meine Leiche. Ich hatte mir in der Schule doch nicht den Arsch aufgerissen, um dann auf eine private Wirtschaftsschule zu gehen und danach als Chefsohn Karriere zu machen! Nur wusste ich noch nicht so recht, wie ich das meinen Eltern sagen konnte und gleichzeitig sicherstellte, dass sie mir ein Medizinstudium finanzieren.

Ich klagte ab einem bestimmten Alkoholpegel jedem mein Leid. Äußerst peinlich.


Jordan

Das Licht war zwar schummrig, aber man konnte alles gut sehen. Früher gab es hier nur Schwarzlicht und ein paar Leuchtreklamen, damit man auch die Adern finden konnte. Der Musikstil hatte sich ebenfalls ziemlich verändert. Was früher Gothik und Heavy Metal war, waren plötzlich die Charts. Zu den Klängen des neusten Britney Spears-Songs schob ich mich also in Jeans und Lederjacke zwischen Teenies hindurch, die bei den ersten Tönen der klebrig-süßen Ballade fast ausrasteten. Gerade als ich mir an der Bar einen Cocktail aus der Kategorie "extra stark“ (Wodka und Scotch standen nicht mehr auf der Karte) aussuchen wollte, hörte ich eine bekannte Stimme.

"Einen Virgin-Colada bitte.“

Susi, die Klassensprecherin, ein wandelndes Klischee. Tochter aus gutem Haus, Reitchampion, an allen außerschulischen Aktivitäten beteiligt, Schulsprecherin und natürlich mit dem Captain der Schwimmmannschaft zusammen – ein absoluter Neandertaler, der dann wohl auch nicht weit sein konnte. Ich hatte es mir anders überlegt. Nichts wie weg.

"Jason!“

"Jordan.“

"Ja natürlich. Na was machst du denn hier, ich hab dich in der Zen-Bar noch nie gesehen!“

"Nein, ich wollte einfach mal vorbei schauen, weil hier doch ein neuer Pächter drauf ist.“

"Ja, mein Onkel. Früher war das hier wohl so eine Art Absteige für Junkies. Aber mein Onkel hat aufgeräumt. Willst du dich nicht zu uns setzen? Ein paar Leute aus der Klasse sind auch noch da.“

Sie nahm mich am Arm und zerrte mich zu einer neu errichteten Sofaecke, wo zirka zehn neugierige Augenpaare auf mich gerichtet wurden. Da saßen tatsächlich die optisch ansprechendsten Mädchen aus meiner Klasse. Störend war nur, dass da auch drei Jungs saßen, die allesamt schon eine gute Wahl getroffen hatten.

Willie, der Unsympathischste von allen, war ein Schrank. Er hatte sich Tanja geangelt, die meiner Meinung nach eh zu verkniffen wirkte. Sean, der überall in der ersten Reihe saß, aber ansonsten eigentlich ganz okay zu sein schien, war scheinbar mit der hübschen Sara zusammen und Alex und Susi waren sowieso das Traumpaar schlechthin. Bestimmt waren die Beiden immer Abschlussball-König und Königin. Naja, es gab aber noch Auswahl.

"Hey Leute, seht mal, wen ich gefunden habe! Also Jordan, nur für den Fall, dass du noch Schwierigkeiten mit den Namen hast, das sind Hannah, Lisa, Tanja, Willie, Sara, Sean, Linda, Mary und natürlich mein Alex.“

Und "ihr Alex“ zog sie gleich mal auf seinen Schoß, um seine Besitzansprüche deutlich zu machen. Ich bevorzugte also das andere Ende der Couch und setzte mich neben Hannah, ein ziemlich großes Mädchen mit dunklen Locken und tollen Lippen, das mir durchaus schon aufgefallen war. Wir redeten eine Weile über Schule, Lehrer, Mathe, Sport … es stellte sich nämlich heraus, dass sie boxte und über alles was uns sonst noch so einfiel. Es entstanden zwar manchmal verlegene Pausen, doch bald hatten wir wieder ein oberflächliches Thema zu bequatschen. Gerade als ich mein Repertoire an Annäherungsversuchen abspielen wollte, unterbrach uns Lisa.

"Es ist Viertel vor Zwölf! Wir müssen gehen.“

Und somit verabschiedeten die Beiden sich. Nun saß ich plötzlich neben Tanja und Willie, die nur Augen füreinander hatten. Somit beschloss ich noch einen Schlaftrunk an der Bar zu mir zu nehmen und dann nach Hause zu gehen. Ich verabschiedete mich höflich von den beiden Traumpaaren, die noch auf der Couch zurückblieben, mich aber nicht weiter beachteten.

An der Bar wurde ich Zeuge einer Katastrophe.

Sara und Sean, scheinbar die schwarzen Schafe der Clique, waren einigermaßen angeheitert und beim Versuch auf Bruderschaft zu trinken, landete Saras Drink, der zuvor wohl aus einem Flachmann die alkoholische Note bekommen hatte, auf Seans Hose. Wüste Beschimpfungen waren die Folge und dann eine Panikattacke. Bang kam herbei und bat die Beiden höflich, zu gehen.

Ich beschloss, die Sache zu verfolgen sei amüsanter als ein Schlummertrunk.

Draußen vor der Tür ging es weiter mit Schuldzuweisungen, Bitten und Flehen.

"Sara, ich kann so nicht heimgehen! Ich kann doch einfach bei dir auf der Couch schlafen!“

Wie alt ist der Typ denn, dachte ich mir, dass der wegen nem Drink auf der Hose Angst vor Mami hat … .

"Aber so wie du riechst, kann ich dich doch auch nicht mit heim nehmen. Was denken denn dann meine Eltern?“

"Wie wär's, wenn du bei mir pennst?“

Ich war mir für einen kurzen Moment nicht sicher, ob ich das gerade wirklich gesagt habe.

"Würde das echt gehen? Das wäre klasse! Ich müsste nur noch schnell zu Hause anrufen.“

"Es ist zwölf. Willst du da echt noch anrufen?“

"Jaja, das geht schon klar. Das Dienstmädchen nimmt bestimmt noch ab … .“

Das Dienstmädchen, natürlich. Sara konnte es nicht erwarten, sich aus dem Staub zu machen.

"Also, ich geh dann jetzt mal. Bis Montag!“

"Jaja, wo ist denn die nächste Telefonzelle? Ah, da drüben. Ich bin gleich wieder da. Wartest du so lange hier?“

Ich sah Sean dabei zu, wie er in der Zelle wild gestikulierte und nach einigen Minuten mit gleichgültiger Miene zurück kam.

"Okay, wo lang?“

"Hier entlang, es ist nicht weit.“

"Ich bin dir echt dankbar. Ich hätte sonst nicht gewusst, wohin … .“

"Schon gut, kein Problem.

Als wir vor der Wohnungstür standen, gab ich letzte Anweisungen.

"Meine Mum schläft, also Ruhe bitte. Du bekommst das Bett, ich die Couch. Mein Zeug ist mein Zeug und du lässt die Finger davon, klar?“

Leise drehte ich den Schlüssel und zeigte Sean den Weg durchs Wohnzimmer zu meinem Zimmer.

"Ihr habt ja nur eine Zweier-Couch. Darauf kannst du doch nicht schlafen.“

"Ach, das geht schon … .“

"Nein, kommt nicht in Frage. Entweder ich nehme die Couch oder wir teilen uns das Bett. Ist ja groß genug. Oder ist dir das unangenehm?“

"Nein, ich … so ein Scheiß. Na gut, dann teilen wir uns eben das Bett.“

In meinem Zimmer fing Sean an, sich auszuziehen. Seine nassen Sachen hängte ich über den Boxsack und aus meinem Schrank suchte ich ihm Klamotten, mit denen er sich am nächsten Tag zu Hause blicken lassen konnte. Als ich aus dem Bad kam, lag Sean schon unter der Decke. Bei seinem Anblick musste ich kurz lachen.

"Was?!“

"Ach nichts. Ich hab nur schon mit vielen Leuten in diesem Bett geschlafen, aber keiner von denen hat mich so erwartungsvoll angeschaut wie du gerade.“

"Angeber!“

Als ich mich hinlegte, merkte Sean, dass das Bett nicht so groß war, wie es aussah. Ich bot ihm nochmal an, dass ich auch auf die Couch gehen könnte. Aber davon wollte er nichts wissen. Sean konnte lange nicht schlafen und deshalb redeten wir noch über alles Mögliche.

… Sein Vater besitzt eine große Textilfabrik, mit Sara ist er schon fast drei Jahre zusammen, er ist Klassenbester … .

Eigentlich erzählt er nur von guten Dingen. Aber seine Stimme klingt bedrückt und manchmal sogar traurig. Als er von dem strikten Alkoholverbot seines Vaters erzählt und wie rigoros er es durchsetzt, ist mir klar, warum er nicht mehr heimgehen konnte. Er erzählt, dass er gerne Medizin studieren möchte, sein Vater ihn aber schon als seinen Nachfolger in der Firma vorstellt. In der Dämmerung meine ich, Tränen auf seiner Wange zu sehen. Sean dreht sich um und bald schlafe ich ein.

Kurz nach Mittag wachte ich auf. Sean war nicht mehr im Bett und auch nicht im Bad. Er war schon weg. Es war eine seltsame Nacht. Ein Typ, den ich kaum kannte, hatte mir sein Herz ausgeschüttet. So was passierte mir nicht oft. Meistens ließen die Menschen mich mit ihren Problemen in Ruhe und ich sie mit meinen. Aber diesem Sean konnte ich das nicht übel nehmen.

Ich ging in die Küche. Meine Mutter und ihr Klaus saßen schon am Mittagstisch.

"Na, hattest du heute Nacht Besuch?“

"Ach, ein Freund konnte nicht nach Hause, drum hab ich ihm gesagt, er kann bei mir pennen.“

"Ach, ein Freund … das ist schon okay. Wir dachten schon … .“

"Oh, bitte erspart mir das!“


Sean

Einige Wochen nach Schulanfang, es war ein ganz normaler Samstagabend im Zen, schleppte Susi tatsächlich diesen Jordan an. Ich war grad mal wieder mitten in einer hitzigen Debatte mit Sara, ich kann mich nicht mal mehr erinnern, um was es eigentlich ging. Jordan gesellte sich zu Hannah. Wenn er sich da mal nicht die Zähne ausbiss. Irgendwann taten Sara und ich das, was wir am Besten konnten. Wir versöhnten uns über einem Cocktail. Tja und der landete dann auf meiner Hose. Während dem anschließenden Streit, bei dem es darum ging, dass das alles Saras Schuld war und sie mich gefälligst mit nach Hause nehmen sollte, da ich so wohl kaum bei meinen Eltern auftauchen konnte, wurden wir sogar gebeten, das Lokal zu verlassen. Große Klasse. Ich sah mich die Nacht schon auf irgendeiner Parkbank verbringen. Sara wollte mich wahrscheinlich bloß deshalb nicht mit nach Hause nehmen, weil ihr langsam die Argumente ausgingen, warum sie nach drei Jahren immer noch nicht mit mir schlafen wollte. Wenn sie mir wenigstens mal klipp und klar gesagt hätte, was Sache ist, als mich ständig an der Nase rumzuführen … aber in dem Moment hatte ich andere Sorgen.

Als Sara mir gerade sogar ihre Couch verwehrte, tauchte dieser Jordan plötzlich von irgendwo her auf und bot mir an, bei ihm zu schlafen. Perfekt. Ohne lange nachzudenken, sagte ich meinen Eltern Bescheid (Ich behauptete, Willie hätte mal wieder zu tief ins Glas geschaut und ich müsse bei ihm bleiben, was sie mir auf Grund seiner Vorgeschichte ohne weiteres glaubten.) und machte mich mit Jordan auf den Weg zu seiner Wohnung. Die war zum Glück nicht weit weg, denn langsam spürte ich, wie viel ich getrunken hatte. Jordan redete nicht viel. Er warnte mich nur, die Finger von seinen Sachen zu lassen und leise zu sein. Ich sollte in seinem Bett schlafen, er wollte die Couch nehmen. Aber das war nur ein Zweiersofa und ich wollte außerdem noch gar nicht schlafen, also überzeugte ich ihn, dass wir uns auch das Bett teilen könnten. Er machte noch einen Spruch darüber, mit wie vielen Leuten er in diesem Bett schon geschlafen hatte. Bitte, wenn sein Ego das brauchte. Das Bett war gar nicht so groß, Jordan bot nochmal an, falls ich mich unwohl fühlte, könne er immer noch die Couch nehmen. Aber ich glaube, er war der, der sich unwohl dabei fühlte, aber die Blöße gab er sich nicht.

Es dauerte nicht lange und der arme Jordan bekam meine Leidensgeschichte zu hören. Aber er reagierte gar nicht wie ich ihn eingeschätzt hätte. Er hörte wirklich stundenlang zu und sah mich verständnisvoll an. Irgendwann kamen mir peinlicherweise die Tränen. Ich wusste nicht, ob er es bemerkt hatte. Ich drehte mich um und tat so, als würde ich schlafen. Gegen Acht stand ich auf, zog die Hose an, die Jordan mir rausgelegt hatte und stahl mich aus der Wohnung, nicht ohne mich nochmal umzuschauen. Groß war sie nicht und die Möbel waren auch nicht die neusten. Man sah keine Fotos an den Wänden, ich konnte mir überhaupt kein Bild machen.


Jordan

Am Montag in der Schule war ich plötzlich nicht mehr der freakige Außenseiter. Alle hatten von meiner Heldentat nach der Zen-Bar gehört. Und Sean tat sein Möglichstes, die Wohnung, in der er die Nacht verbracht hatte, nicht näher zu beschreiben. Alle waren plötzlich an mir interessiert und ich wurde sogar zu einer Privatparty am nächsten Wochenende eingeladen. Die Gelegenheit, mit Sean alleine zu reden, um herauszufinden, ob er tatsächlich geweint hatte, hätte sich nicht ergeben, selbst wenn ich so samariterisch gewesen wäre, mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Aber die Sache beschäftigte mich aus irgendeinem Grund.

Den Rest der Woche verbrachte ich damit, mich in Sachen Schulklatsch auf den neusten Stand zu bringen. Wer hat wann mit wem geknutscht und wer hat wegen wem mit wem Schluss gemacht? Susi wusste in diesen Dingen über alles Bescheid und teilte ihr Wissen gerne.

Dann kam der Freitagabend, der Tag der Privatparty in einem riesigen Haus mit ewig langer Auffahrt und einer Eingangshalle, so groß wie unsere komplette Wohnung. Die Party fand im eigens dafür ausgebauten Keller statt. Wobei selbst der Keller größer und besser eingerichtet war, als die Wohnung eines Durchschnittsbürgers. Hannah war auch da. Während der Woche hatte ich oft das Gespräch mit ihr gesucht. Sie war mir wirklich sympathisch. Ich malte mir schon die gemeinsame Nacht aus. Doch dann wurde mir von Susi eröffnet, dass Hannah einen Freund hatte, der auf eine andere Schule ging. Mich persönlich hätte das nicht weiter gestört, doch leider hatte dieser mysteriöse Freund für diesen Abend sein Kommen angekündigt. Dass ich damit meine Pläne, zumindest für diesen Abend, streichen konnte, war selbst mir klar.

Deshalb galt meine Aufmerksamkeit ab zirka elf Uhr hauptsächlich dem Fruchtpunsch. Und auch Sean war auf dem besten Weg, eine Übernachtungsmöglichkeit zu brauchen. Er redete wie ein Wasserfall, wenn er nicht gerade Saras Zunge im Hals stecken hatte.

Zwischendurch fragte ich mich, welcher meiner werten Kameraden wohl in diesem Herrenhaus wohnen mochte. Susi führte sich jedenfalls auf wie eine echte Gastgeberin, aber ob das etwas zu sagen hatte?

Gegen halb Zwei leerte sich der Partykeller und es blieben nur noch fünf Leute übrig:

Hannah und der große Unbekannte knutschend in einer Couchecke, Sean und Sara knutschend auf dem Billardtisch und ich mit einer Flasche Martini am Boden … .

Irgendetwas zerrte plötzlich an meiner Schulter. Ich versuchte es abzuschütteln, aber es war hartnäckiger als eine Biene am Erdbeerkuchen.

"Hey man, wach auf. Hier ist es arschkalt. Komm, wach auf … .“

"Häh, was is?“

Als ich die Augen aufmachte, war Seans Gesicht dicht vor meinem. So dicht, dass ich vor Schreck zurückwich und den guten Martini über den Boden vergoss.

"Komm schon. Ich hab Sara ins Zimmer meiner Schwestern getragen und Hannah und Steven haben sich ins Bett meiner Eltern verdrückt. Du kriegst die Couch im Wohnzimmer, falls die noch frei ist. Ich kann nicht noch Jemanden in den ersten Stock schleppen.“

"Was? Moment, okay? Das ist dein Haus?! Wow, … das ist schick. Dann leg ich das Silberbesteck wohl wieder dahin, wo ich es her habe.“

"Oh ja, das wäre besser für dich. Sonst musst du die Nacht in der Hundehütte verbringen. Und jetzt komm. Kannst du aufstehen?“

Irgendwie waren meine Füße schwer wie Blei und der Raum wollte einfach nicht aufhören, sich zu drehen. Sean schleppte mich die Treppe hoch ins Wohnzimmer, wo wir feststellten, dass die Couch bereits von einem Typen besetzt wurde, den keiner von uns kannte. Der arme Sean musste mich also noch ein Stockwerk nach oben zu seinem Schlafzimmer bringen. Sein Bett war deutlich größer als meines. Ich sprang gleich mal rein und sicherte mir die Seite bei der Tür. Er schien belustigt, zog sich aus und holte sich ein Schlaf-T-Shirt aus dem Schrank.

"Also, das wäre dann wohl unsere zweite gemeinsame Nacht.“

"Tja, fühl dich geehrt, es kommt nicht allzu häufig vor, dass ich zweimal mit der gleichen Person die Nacht verbringe.“

"Angeber!“

Sean lächelte mir zu, kroch ins Bett und zog mit einem Ruck die Decke unter mir weg.

"Ich hatte mir die Nacht anders vorgestellt. Ich dachte heute würde es endlich passieren. Sara und ich, wir wollten heute eigentlich … .“

"Was, ihr habt noch nie miteinander geschlafen? Ich dachte ihr seid schon ewig zusammen?!“

"Ja, schon … aber irgendwie findet Sara immer wieder einen guten Grund, noch ein wenig zu warten. Oder sie schläft einfach auf dem Billardtisch ein, wie heute Abend. Grins nicht so doof, ich finde es langsam nicht mehr lustig.“

"Tut mir leid. Aber ehrlich gesagt, hatte ich für heute Abend auch andere Pläne. Dann ist dieser Typ aufgetaucht … Steven?“

"Du meinst doch nicht etwa mit Hannah? Die ist … unerreichbar. Steven behandelt sie wie ein Stück Dreck und trotzdem läuft sie ihm schon fast ein Jahr hinterher. Bei der hat kein Anderer eine Chance und schon gar nicht so ein Freak wie du.“

Er grinste breit.

"Wie hast du mich gerade genannt?“

"Freak!“

"Na warte, das sagst du nicht noch einmal!“

"Freak, Freak, Freak, F … .“

Ich nahm ein Kissen und schlug es Sean um die Ohren. Der stürzte sich auf mich und wir rollten auf die andere Seite des Bettes. Mein T-Shirt war verrutscht und gab den Blick frei auf das Sonnen-Tatoo an meiner Schulter.

"Wow, du hast ein Tatoo? Cooool!“

"Ich hab noch mehr … .“

"Echt? Wo?“

"Tja, das ist dem Freak sein Geheimnis.“

"Och, dann muss ich es halt selber rausfinden.“

Schon in der nächsten Sekunde hatte Sean mir das Shirt vom Leib gerissen und mein zweites Tatoo um den Bauchnabel entdeckt.

"Man, du stehst wirklich auf Sonnen, hm?“

"Ja, aber frag mich nicht warum. Das hat schon angefangen, als ich noch ein kleines Kind war. Übrigens habe ich noch ein drittes auf dem Allerwertesten.“

Ich sah Sean für den Bruchteil einer Sekunde darüber nachgrübeln, ob das ein Angebot war. Er ließ sich schnell ein anderes Gesprächsthema einfallen.

"Hey, heute Abend trifft sich die Clique wieder in der Zen-Bar. Du kommst doch, oder?“

"Ja klar, wenn ich darf. Ich hab das Gefühl, einige von euch können mich nicht ausstehen.“

Ich zog mir meine Jeans aus und lies sie neben dem Bett auf den Boden fallen.

"Ach Quatsch! Es ist nur seltsam, weil wir uns alle schon ewig kennen. Du bist gerade erst in die Klasse gekommen. Du musst ihnen etwas Zeit geben, sich an dich zu gewöhnen. Gott, ich könnte mir nicht vorstellen, der Neue zu sein. Ich meine, dass muss bestimmt schwer sein. Sag mal, ich weiß gar nicht, woher du eigentlich kommst. Du weißt schon so viel über mich, erzähl doch mal was von dir!“

Sean sah mich erwartungsvoll an. Ich überlegte für einen kurzen Moment, ob ich mich schlafend stellen sollte. So leicht würde Sean sich wohl nicht abschütteln lassen. Aber ich konnte ihm doch nicht einfach sagen, dass ich ein Heroinabhängiger bin, genau von der Sorte, über die ständig in der Clique gelästert wird und dass ich das letzte dreiviertel Jahr in einer Entzugsklinik verbracht habe. Und so erzählte ich irgendetwas von einer Kleinstadt 50 km nördlich, wo ich zur Schule ging, bis Mum einen anderen Job hier bekam, blablabla. Ich konnte richtig sehen, wie Sean sich eine heile Welt ausmalte, die parallel zu seiner existieren konnte.

Ich machte mir Vorwürfe, dass ich ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Ich fand ihn nämlich wirklich nett. Wir redeten noch lange über alles Mögliche.

Sean hatte sein erstes Mal mit einem Dienstmädchen gehabt, das daraufhin gefeuert wurde. Er war der einzige Sohn des Hauses. Seine beiden Schwestern hatten Jura studiert und waren Anwältinnen. Im letzten Dezember war er Onkel geworden. Sean solle einmal die Textilfirma übernehmen und sein Vater wolle als Bürgermeister kandidieren. Seans Vater war nie zufrieden mit der Leistung seines Sohnes. Für Dreien gab es manchmal sogar Prügel. Das fand Sean nicht weiter schlimm, sein Zeugnis bestand ohnehin fast nur aus Einsen. Nur Musik war nicht seine Stärke. Im Herbst würde er auf eine Privat-Uni hier gehen und BWL studieren. Sein Leben sei schon total verplant. Sogar Hochzeitspläne hatten seine Eltern für ihn und Sara schon geschmiedet. "Das Gesellschaftliche Ereignis des Jahres.“

Diesmal sah ich ganz deutlich wie die Tränen in seine Augen stiegen.

"Ich mag Sara zwar, aber wir sind doch noch so jung, verdammt. Was soll denn der Scheiß? Und ich will Medizin studieren, kein Textil-Unternehmen leiten! Aber meine Eltern wollen das nicht verstehen.“

Es tat mir richtig weh, ihn weinen zu sehen. Er war so ein netter Kerl, klug und ehrgeizig, das bewunderte ich. Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihn. Ich wollte ihm alles über mich erzählen. Es war schrecklich, dass er mir sein Herz ausschüttete und ich ihn über meine Vergangenheit gerade belogen hatte. Ich hielt ihn fest und wollte ihn trösten und beschützen. Ich wollte ihn küssen.

Als mir dieser Gedanke bewusst wurde, ließ ich Sean schnell wieder los. Er schaute mich verstört aus seinen glasigen Augen an.

"Entschuldigung.“

Ich wusste selbst nicht, wofür ich mich entschuldigte. Aber er wusste es anscheinend.

"Ist schon gut, ich muss mich entschuldigen. Ich heul dir hier was vor … schon wieder. Es tut mir leid … . Kannst du mich vielleicht einfach wieder in den Arm nehmen?“

Er sah so zerbrechlich aus. Ich legte meinen Arm wieder um seinen Nacken und zog ihn zu mir. Seine Haare rochen so gut. Mir war bewusst, dass ich betrunken bin, genau wie er. Und eine meiner wenigen Prinzipien ist, keine folgenschweren Entscheidungen zu treffen, wenn ich betrunken bin. Doch ich spürte, dass genau jetzt eine solche Entscheidung anstand. Sean hob seinen Kopf und sah mich aus seinen verweinten Augen an. Ich fasste den Entschluss, ihn zu küssen und konnte es selbst kaum glauben. Langsam schob ich mein Gesicht nah an seines. Ich neigte meinen Kopf und rechnete fest damit, gleich eine schallende Ohrfeige zu spüren. Stattdessen spürte ich seine Lippen auf meinen. Sie waren weich und schmeckten nach Fruchtpunsch. Ich spürte seine Zunge nach meiner tasten. Er hatte mein Zungenpiercing entdeckt und schien es zu mögen.

Ich küsste sein ganzes Gesicht, das salzig schmeckte vor Tränen.

Sean lehnte sich in sein Kissen zurück und zog mich an sich.

Ich spürte, wie sich meine Shorts spannten und zog ihm sein T-Shirt über den Kopf. Seine Haut war weich und hell. Feine blonde Härchen waren über seine Brust verteilt.

Ich küsste jeden Quadratzentimeter seines Halses und schob meine Hand in seine Hose. Er stöhnte kurz auf. Seine Finger krallten sich in meinen Rücken und wanderten dann tiefer, bis sie mir die Shorts nach unten schoben. Ich tat das Gleiche bei ihm und dann lagen wir vollkommen nackt aufeinander. Sean presste sich fest an mich. Ich konnte nicht aufhören, seinen Nacken zu küssen. Er schmeckte nach Salz und süßlichem Eau de Cologne.

Immer noch liefen Tränen aus seinen Augen, aber sein Gesicht sah jetzt nicht mehr traurig aus. Sean war wunderschön. Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben einen Menschen wirklich zu sehen. Alles von ihm. Bald spürte ich, wie er unter mir erzitterte. Am ganzen Körper bekam er Gänsehaut und vergrub sein Gesicht in meinem Hals als er kam. Ein warmer Strahl ergoss sich über meinem Oberschenkel. Mich überkam dasselbe intensive Gefühl, wie beim ersten Schuss nach langer Zeit.

Danach blieb ich noch eine Weile auf ihm liegen.

"Gott, das war … .“

Ich suchte seinen Blick, doch der wich nur aus. Er sah jetzt wieder traurig aus. Ich legte mich auf meine Seite des Bettes. Es trat eine Stille ein, die mir vorkam wie eine Ewigkeit.


Sean

Am Montag hatte Sara schon verbreitet, dass ich Infos über Jordan haben könnte. Ich enttäuschte die Clique, als ich behauptete, mich kaum noch an etwas erinnern zu können. Jedenfalls war Jordan der große Held und von da an auch immer dabei. Susi kaute ihm ein Ohr ab, mit irgendwelchen Soap-Geschichten unserer Mitschüler. Ich hätte gerne mal in Ruhe mit Jordan gesprochen, denn mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass er meinen Heulanfall bemerkt hatte. Manchmal beobachtete er mich fast besorgt, oder bildete ich mir das nur ein? Jedenfalls waren meine Eltern übers Wochenende weg und deshalb gab ich eine meiner berüchtigten Kellerpartys. Jordan tauchte auch auf. Und Sara hatte mir angekündigt, heute sei es so weit. Heute wolle sie es tun. Ich konnte es kaum erwarten, bis die Leute endlich weg waren und überbrückte die Zeit mit Bowle. Sara schien es wirklich ernst zu meinen, den ganzen Abend knutschten wir heftig miteinander. Am Ende blieben nur noch die Leute übrigen, die übernachten wollten und Jordan, schlafend, mit einer Flasche Martini im Arm, auf dem Boden. Hannah und ihr seltsamer Steven verzogen sich irgendwann in ein Schlafzimmer. Sara und ich lagen mittlerweile halb auf dem Billardtisch. Sie wurde immer ruhiger. Ich konnte es selber nicht glauben, aber sie war eingeschlafen. Das war mal wieder typisch. Langsam hatte ich echt genug davon. Ich trug sie ins Zimmer meiner Schwester. Wenn sie glaubte, ich würde mich zu ihr legen und hoffen dass sie doch noch aufwacht, hatte sie sich geschnitten. Am Ende dürfte ich ihr noch beim Kotzen zuschauen, nein danke. Ich beschloss, in meinem eigenen Zimmer zu schlafen. Da fiel mir Jordan wieder ein.

Er lag friedlich schlafend auf dem Kellerboden. Für einen Moment war mir das zu friedlich und ich überprüfte seine Atmung. In dem Moment riss er die Augen auf und wich zurück. Ich sagte ihm, dass es hier unten zu kalt zum Schlafen sei, er bewegte sich aber kein Stück. Er wusste noch nicht mal, dass ich hier wohnte. Es lief darauf hinaus, dass ich ihn bis in den ersten Stock hoch zerrte und in mein Bett verfrachtete. Langsam wurde er wieder frisch. Er legte sich quer übers Bett und erzählte etwas davon, dass ich mich geehrt fühlen sollte, dass er mit mir noch eine weitere Nacht verbringt, denn das sei nicht so häufig. Ich zog ihm die Decke, auf der er sich ausgebreitet hatte, weg und kroch drunter. Außerdem teilte ich ihm mit, dass ich mir für heute Nacht eher endlich Sara in meinem Bett vorgestellt hatte. Er war richtig geschockt darüber, dass wir noch nicht miteinander geschlafen hatten und als ich erwähnte, dass sie mir auf dem Billardtisch eingeschlafen war, bekam er sich vor lachen kaum noch ein. Er entschuldigte sich und meinte, er habe für den Abend auch andere Pläne gehabt, mit Hannah. Ich meinte dazu, er habe keine Chance bei ihr. Steven behandelte sie wirklich schlecht und trotzdem war sie total vernarrt in den Kerl. Außerdem fügte ich hinzu, dass sie nicht auf Freaks wie ihn stünde. Das konnte er natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Schon schlug er mit einem Kissen nach mir. Ich überwältigte ihn und nahm ihm das Kissen ab. An seiner Schulter sah ich ein Tattoo. Eine altmodische Sonne. Er meinte er habe noch andere. Ich kam mir fast vor wie ferngesteuert, als ich ihm sein T-Shirt auszog. Ich fand noch eine Sonne um seinen Bauchnabel. Er erzählte, er habe Sonnenmotive schon immer toll gefunden. Mit einem Grinsen teilte er mir mit, er habe noch eine auf dem Hintern, so als wolle er, dass ich das überprüfe. Ab dem Moment war ich mir sicher, dass er auf Jungs stand. Ich wusste nur noch nicht, wie ich das fand. Ich fing an, irgendwas zu reden. Und dann fragte ich ihn, woher er eigentlich komme und so Zeug. Die Geschichte war das Übliche. Mum bekommt einen neuen Job, er kommt mit und jetzt ist er hier. Danach redeten wir und redeten. Ich erzählte ihm von den politischen Ambitionen meines Vaters, von meiner Nichte, sogar von meinem ersten Mal und von den Ohrfeigen meines Vaters, wenn ich mit einer drei nach Hause kam. Am Ende landeten wir natürlich wieder bei Sara. Ich erzählte, dass meine Eltern sogar schon von Hochzeit sprachen und im Geiste schon die Gästeliste durch gingen. Ich merkte, wie mir die Tränen kamen und erklärte ihm, dass ich Sara zwar mochte, aber dass das doch noch nicht alles gewesen sein konnte. Und die Firma! Ich wolle doch Medizin studieren. Jordan nahm mich in den Arm. Ich fühlte mich so geborgen bei ihm. Ich hörte auf, nachzudenken. Er ließ mich ganz plötzlich los und entschuldigte sich. Er wollte mehr, das konnte ich mir denken. Ich sagte ihm, wenn dann müsse ich mich entschuldigen, weil ich ihm ständig etwas vorheule und dann bat ich ihn, mich einfach wieder in den Arm zu nehmen. Er zog mich wieder an sich. Es dauerte nicht lange und er küsste mich. Ich küsste ihn zurück. Die Tränen wollten einfach nicht aufhören. Ich mochte die Art, wie er küsste, als hätte er nichts zu verstecken. Er hatte ein Zungenpiercing. Ich lehnte mich zurück und zog ihn auf mich. Ich war zu Allem bereit und Jordan machte den Eindruck, als wüsste er, was er da tut. Er zog mir mein T-Shirt aus und küsste meinen Bauch, dann arbeitete er sich wieder zum Hals hoch. Langsam schob er seine Hand in meine Hose. Ich zog ihm seine Shorts aus, er mir meine. Wir lagen völlig nackt aufeinander, so nah wir nur konnten. Ich schaute Jordan fest in die Augen. Er war so schön und sein Gesicht kam mir plötzlich so vertraut vor. Er schaute mich an, als könne er direkt in meinen Kopf sehen. Es war als würden unsere Seelen sich plötzlich erkennen. In dem Moment liebte ich ihn, egal wie wenig ich ihn tatsächlich kannte. Als es vorbei war, verflog meine Euphorie. Ich sah nur noch, was jemand sehen würde, der zufällig in den Raum kam. Zwei Männer, nackt aufeinander liegend. Jordan sagte etwas, er suchte meinen Blick, aber ich konnte nicht. Panik stieg in mir auf. Was war da gerade mit mir passiert? Wir lagen noch eine Weile nebeneinander im Bett. Ich konnte nichts sagen, ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, bis ich es nicht mehr aushielt.


Jordan

Dann zog Sean Shorts und T-Shirt wieder an und entschuldigte sich ohne mich anzusehen. Auch ich zog mich wieder an. Gerade wollte ich sagen, dass es nichts gab, wofür er sich entschuldigen müsste, als die Schlafzimmertür auf flog. Sara stand völlig aufgelöst in der Tür.

"Kommt schnell! Steven hat Hannah geschlagen! Sie blutet ziemlich stark.“

Als wir in das Elternschlafzimmer kamen, blutete Hannah wirklich ziemlich stark aus einer Wunde am Kopf.

"Ich bin hingefallen, mit dem Kopf an den Schrank, schrecklich ungeschickt … .“

"Wo ist der Mistkerl?“

"Er hat an meiner Tür geklopft und ist weggefahren.“

"Ohjeh, ich fürchte, das muss genäht werden. Komm, wir fahren dich ins Krankenhaus.“

Sean holte ein Handtuch und drückte es Hannah an die Wunde. Ich dachte daran, dass er wirklich einen guten Arzt abgeben würde. Die restliche Nacht verbrachten wir in der Notaufnahme. Hannah musste mit vier Stichen genäht werden. Ich hatte in meiner Junkie-Zeit schon Schlimmeres gesehen. Natürlich war dieser Steven ein Wichser und so. Aber es war für mich nichts Neues, dass Frauen verprügelt werden. Sogar meine Mutter hatte eine Zeit lang einen Typen der sie schlug. Einmal musste ich sogar den Krankenwagen rufen, weil sie nicht mehr aufwachte. Damals war ich acht. Sara schien das ganze ziemlich mitzunehmen. Sean tröstete sie und nahm sie in den Arm. Als er sie küsste, spürte ich, zu meiner eigenen Verwunderung, Eifersucht in mir aufsteigen. Die ganze Zeit sprach er kein einziges Wort mit mir und meinen Blicken wich er auch aus. Es ist normalerweise absolut nicht meine Art, mich in eine Sache so hineinzusteigern, aber diesmal war es anders. Es war etwas zwischen uns passiert, das über das Körperliche hinausging.

Gegen Acht konnten wir gehen. Sean verkündete, dass sie mich zu Hause absetzen würden und die Mädchen erstmal mit zu ihm kommen sollten. Seine Eltern würden ja nicht vor Sonntag zurückkommen. Er verabschiedete sich nicht einmal von mir.

Zu Hause versuchte ich vergebens, ein wenig zu schlafen. Wie würde es weitergehen? Würden wir uns von nun an meiden? Sollte ich am Abend zur Zen-Bar gehen, oder würde nach dem Vorfall mit Hannah sowieso niemand dort sein? Ich beschloss, dass ich Sean Zeit geben sollte. Heute würde ich nichts mehr unternehmen.


Sean

Kurz darauf stand Sara plötzlich in der Tür und erzählte, dass Hannah blutete. Von da an spulte ich nur noch ein Programm ab. Blutung stillen, Notaufnahme, Sara trösten, warten, warten, warten. Ich konnte mich nicht damit auseinandersetzen, was Jordan wohl gerade dachte. Gegen Acht konnten wir gehen, ich setzte Jordan zu Hause ab und fuhr mit den Mädels zurück zu mir. Hannah legte sich noch ein wenig auf die Couch, Sara und ich frühstückten. Am frühen Nachmittag fuhr ich die Beiden nach Hause. Als ich zurückkam, ging ich in mein Zimmer, um vielleicht auch noch etwas Schlaf zu bekommen. Mein Bett sah natürlich noch genau so aus, wie Jordan und ich es verlassen hatten. Ich legte mich hin und konnte an nichts anderes denken, als an ihn.


Jordan

Auch am Sonntag unternahm ich nichts. Ich wusste ja nicht, wann genau Seans Eltern zurückkommen würden und ich wollte es nicht riskieren, ihnen über den Weg zu laufen. Ich hatte Zeit, die ganze Geschichte etwas zu überdenken. Schließlich war es für mich das erste Mal mit einem Mann. Gut, ich hatte schon mal einen Jungen geküsst. Aber nur aus Neugier. Damals war ich 14. Das war hiermit nicht zu vergleichen. Was bedeutete das denn jetzt? War ich jetzt schwul? Ich hatte eigentlich kein generelles Interesse an Männern. Nur an Sean. Und was war mit ihm? Hatte er bereits Erfahrungen auf dem Gebiet? Dann wäre er wohl kaum danach so verschreckt gewesen. Hatte er überhaupt Interesse an mir, oder hatte ich mir was eingebildet und war nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Ich durfte gar nicht darüber nachdenken. Mein Bedürfnis nach Drogen war so groß wie seit Monaten nicht mehr.


Sean

Das restliche Wochenende verließ ich mein Zimmer kaum noch. Ich pendelte zwischen absoluten Glücksgefühlen und abgrundtiefem Selbsthass. Ich durfte mich nicht auf ihn einlassen. So etwas konnte ich meinen Eltern nicht antun und Sara. Ich wusste genau, wenn ich nicht jetzt sofort einen Schlussstrich unter die Sache zog, dann würde ich es nie schaffen. Ich hatte mir immer geschworen, die Albträume, die ich hatte, nie wahr werden zu lassen, aber jetzt war es doch passiert. Und schlimmer noch, ich hatte mich nicht nur körperlich auf einen Kerl eingelassen, sondern ich hatte Gefühle für ihn. Ich versuchte, das alles wegzuschieben und zu lesen oder mich sonst wie zu beschäftigen.

Am Sonntag kamen meine Eltern zurück, aber ich konnte ihnen nicht unter die Augen treten. Ich befürchtete wirklich, sie würden mir ansehen, was passiert war. Also behauptete ich, die Grippe zu haben und blieb im Bett. Ich konnte an nichts anderes denken, als daran, Jordan endlich wiederzusehen, aber das durfte ich mir nicht erlauben.


Jordan

Am Montag fühlte ich mich richtig krank. Sogar meine Mutter meinte, ich solle lieber zu Hause bleiben. Aber das ging natürlich nicht. Ich wollte ja auf keinen Fall, dass Sean dachte, ich ginge ihm aus dem Weg. Und so schleppte ich mich zu Schule, nur um festzustellen, dass Sean sich krankgemeldet hatte. Zu meiner Überraschung war aber Hannah da. Sie kam mit ihrer direkten Art mal wieder gleich auf den Punkt.

"Du siehst schrecklich aus.“

"Ja danke, ich weiß.“

"Schreibst du heute eine Klausur oder so?“

"Nicht dass ich wüsste … wieso?“

"Warum sonst solltest du dich denn in die Schule schleppen?“

"Das gleiche könnte ich dich auch fragen.“

"Meine Eltern löchern mich zu Hause eh nur mit Fragen.“

"Zu Recht, meinst du nicht? Du solltest den Kerl in den Wind schießen.“

"Ja, ich weiß. Du hast Recht. Begleitest du mich am Mittwoch zum Fäden ziehen?“

"Ist das ein Date?“

"Ich glaube, du hast schon längst auf jemand Anderen ein Auge geworfen.“

"Was, wie …? Wie kommst du denn darauf?“

"Ach komm, so wie du und Sean euch verhalten habt, da lag es ja auf der Hand!“

"Was?! Ja, aber … nein!“

"Ich frage mich nur, warum sie meint, es vor mir geheim halten zu müssen. Ich bin doch ihre beste Freundin.“

"Was? Von wem redest du eigentlich?“

"Na von Sara. Zwischen euch muss was gelaufen sein. Und Sean hat es herausgefunden, deshalb war er am Samstag doch so seltsam zu dir, stimmt's?“

"Oh je, da bist du aber auf dem ganz falschen Dampfer. Und ums dir zu beweisen, begleite ich dich am Mittwoch zum Fäden-Zieh-Date.“

"Na gut. Das überzeugt mich. Also, man sieht sich!“

Ich hatte soeben ein Date mit der unerreichbaren Hannah klargemacht. Aber trotzdem konnte ich nur an Sean denken. Ich musste mit ihm reden. Das war die Idee! Ich könnte ihm ja die Hausaufgaben vorbeibringen.

Am Nachmittag stand ich also wieder vor der riesigen Eingangstür und klingelte. Ein Dienstmädchen machte mir auf und ließ mich hoch in Seans Zimmer gehen. Ich klopfte und er rief mich herein.

"Hey, ich … Ich wollte mit dir reden, wie geht's dir?“

"Was? Was machst du denn hier? Was, wenn meine Eltern mich fragen, was du hier wolltest?“

"Na ich hab dir die Hausaufgaben gebracht, hier … .“

"Die hat mir Sara schon gefaxt und Hannah bringt mir nachher Chemie vorbei.“

"Oh, okay. Eigentlich bin ich ja auch hier, um mit dir zu reden … über Freitagnacht.“

Schon klopfte es wieder an der Tür, das Dienstmädchen wollte wissen, ob wir Tee oder Ähnliches wünschten.

"Nein, verdammt. Ich wünsche in Ruhe gelassen zu werden und das war's. Ist das denn so schwer zu verstehen?“

Die junge Frau schlich rückwärts und sich entschuldigend wieder hinaus. Und ich hatte das Gefühl, dieser Ausbruch hatte mehr mir gegolten als ihr.

"Entschuldige, ich hätte nicht herkommen sollen. Vielleicht sehen wir uns ja morgen in der Schule. Weißt du, für mich ist die ganze Sache auch nicht leicht.“

Ohne eine Antwort abzuwarten verließ ich das Zimmer und kurz darauf das Haus.

Weder am Dienstag, noch am Mittwoch kam Sean zur Schule. Ich wurde immer verzweifelter. Am liebsten hätte ich mir eine Dröhnung verpasst. Ich überlegte, am Abend vielleicht mal wieder eine Therapiegruppe zu besuchen, aber zuerst hatte ich ein Fäden-Zieh-Date mit Hannah. Ich holte sie zu Fuß zu Hause ab und wir machten uns auf den Weg zu ihrem Hausarzt. Es dauerte nicht lange, da fiel sie mit der Tür ins Haus.

"Du siehst echt Scheiße aus.“

"Dankeschön. Aber du hast ja Recht.“

"Ich glaub, ich hab's jetzt raus.“

"Was denn?“

"Na was oder wer dir so zu schaffen macht.“

"So? Dann lass mal hören.“

"Am Montag haben wir uns bei Sean nur knapp verpasst. Ich habe dich weggehen sehen. Du warst ziemlich durch den Wind, hast mich nicht mal rufen hören. Er sah auch nicht besser aus. Ich glaube er hatte geweint. Also, willst du mir nicht endlich erzählen was los ist? Sean ist ein guter Freund. Ich will nicht, dass es ihm schlecht geht. Und ich will auch nicht, dass es dir schlecht geht.“

Sie blieb stehen und legte mir die Hand auf die Wange. Ich konnte sie nicht ansehen.

"Wenn ich dich jetzt küssen würde, dann würdest du dir wünschen, ich sei Sean, stimmt's?“

Sie hatte es herausgefunden. Es hatte keinen Zweck sie anzulügen.

"Bitte, sag es niemanden. Es war nicht geplant. Am Freitag hatten Sean und ich was miteinander. Seitdem ignoriert er mich.“

Sie schwieg kurz, dann:

"Oh Mann, Sean muss dich wirklich mögen.“

"Ja klar, deshalb behandelt er mich also so. Da hätte ich auch allein draufkommen können … .“

"Nein ernsthaft. Verstehst du das denn nicht? Er macht sich doch ständig Vorwürfe, weil er nicht der perfekte Sohn ist, den sein Vater gerne hätte. Und damit nicht alles noch schlimmer wird, will er sich vor dir abschirmen. Wenn das Ganze nur ein Ausrutscher gewesen wäre, würde er es dir sagen und hätte keine Sorgen. Aber so bist du eine Gefahr …du musst unbedingt mit ihm reden. Lass dich nicht abwimmeln. Euch Beiden geht es mies … und er lebt ja schließlich nicht für seinen Vater … oh, hier sind wir, ich hab Angst.“


Sean

Am Montag ging ich nicht zur Schule. Sara faxte mir die Hausaufgaben, sie wollte sich nicht anstecken. Hannah hatte angekündigt, mir Chemie vorbeizubringen. Als es am Nachmittag klingelte, rechnete ich mit ihr. Loraine, das Dienstmädchen, machte auf und kurz darauf klopfte es an meiner Zimmertür. Jordan kam herein. Ich war total vor den Kopf gestoßen. Panik stieg in mir auf, meine Eltern waren beide zu Hause. Er sagte er wolle reden, klar, das wollte ich auch, aber bevor ich ihm das sagen konnte, klopfte es wieder und Loraine fragte, ob sie uns was zu trinken bringen sollte. Zum zehnten Mal fragte sie mich heute schon, ob ich Tee wolle. Das war einfach zu viel. Ich schrie sie an, lauter als ich eigentlich wollte, dass ich doch einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte, ob das denn so schwer zu verstehen sei. Sie ging sofort, Jordan sah mich ganz seltsam an. Er dachte offensichtlich, der Ausbruch hätte ihm gegolten, vielleicht war das auch so, ich wusste es selber nicht. Er entschuldigte sich und sagte noch, dass es für ihn auch nicht leicht sei. Dann war er wieder verschwunden. Ich wollte ihm hinterher rufen, aber was, wenn meine Eltern das mitanhörten? Ich zog mir die Decke über den Kopf und weinte vor Zorn über mich selbst. Kurz darauf klingelte es wieder. Ich hoffte tatsächlich, er sei vielleicht zurückgekommen, ich riss mich zusammen. Es klopfte und Hannah kam rein.

Sie fragte mich, wie es mir denn gehe und sah sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich schob es auf die Grippe und sie bohrte nicht weiter nach.


Jordan

Hannah überzeugte mich davon, dass die Zen-Bar der günstigste Ort sei, Sean "von der Herde abzusondern“, wie sie es nannte, um mit ihm zu reden.

Ich entschloss mich also, am Freitagabend dorthin zu gehen, obwohl ich selbst nicht so genau wusste, was ich ihm eigentlich sagen wollte. Schließlich war ich nicht schwul oder so …

Am Eingang stand diesmal ein anderer, mir unbekannter Zwei-Meter-Mann. Die Schlange war, obwohl es noch nicht mal zehn war, schon ziemlich lang. In der Couchecke saßen schon die drei Pärchen. Hannah war nirgendwo zu sehen. Ich machte mich schon auf einen spannenden Abend gefasst, an dem es mir nicht gelang, mit Sean alleine zu reden. Er hatte nur Augen für Sara. Die übrigen brachten wenigstens noch ein "Hi!“ über die Lippen, bevor sie sich wieder ihren Liebsten zuwendeten. Sean ignorierte mich komplett und knutschte heftig mit Sara.

Langsam fragte ich mich, was ich hier überhaupt wollte. Ich beschloss, mich an die Bar zurückzuziehen. Nachdem ich meinen Zombie halb leer hatte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

"Na, heute ganz allein da, um dich zu betrinken? Du machst doch hier nicht etwa Geschäfte, oder? Dann hätten wir nämlich ein Problem.“

"Bang! Nein, ich bin clean, schon seit Monaten. Ich mach bald meinen Abschluss. Die alte Clique habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Ehrlich gesagt, haben wir uns nicht im Guten getrennt. Ich hab den Cops ein paar Namen von Lieferanten gesteckt. Die haben dann natürlich die Zufuhr gekappt.“

"Schön zu hören, dass es dir besser geht. Ich hab mir am Ende wirklich Sorgen um dich gemacht. Dachte schon, dich hätt's erwischt, als du nicht mehr aufgetaucht bist. Also, ich muss jetzt raus. Viel Spaß noch mit deinem Drink.“

Ich saß noch eine Weile an der Bar und schlurfte meinen Cocktail. Jeder Versuch, Blickkontakt mit Sean aufzubauen, schlug fehl. Es war gerade Elf. Eigentlich ein bisschen früh um nach Hause zu gehen, also warf ich noch einen letzten verzweifelten Blick Richtung Couch. Sean war in ein Gespräch mir Sara vertieft und machte keine Anstalten, dieses bald zu beenden. Also erhob ich mich und schlug mich Richtung Ausgang durch. Eine endlos lange Menschenkette wartete darauf, endlich rein gelassen zu werden. Lauter Mini-Business-Leute mit ihren Barbie-Anhängseln. Früher war diese Bar vielleicht nicht ganz gesetzestreu, aber dafür hatten die Leute dort Stil. Ich merkte, dass ich dort einfach nicht mehr hingehörte.

Ganz hinten in der Schlange stand Hannah. Sie hatte ein Veilchen.

"Diesmal siehst du echt Scheiße aus. Lässt du dir von diesem Typen also immer noch alles gefallen, wie? Ich jedenfalls hab genug von den Spielchen, ich geh jetzt. Diese Bar hat mich zum letzten Mal gesehen. Und Sean auch.“

"Warte, du musst mit ihm reden!“

Hannah hielt mich am Arm fest, doch ich riss mich etwas unsanft los.

"Man, Jordan!“

"Gibt's hier Probleme?“

Bang hatte uns wohl von der Tür aus beobachtet. Als er Hannahs Veilchen sah, war für ihn die Sache klar.

"Ihr Junkies ändert euch nie, ich hätte es wissen sollen. Ich erteile dir hiermit Lokalverbot. Und wenn ich dich noch mal hier sehe, dann ruf ich die Cops und lass sie mal ordentlich deine Bude filzen. So Kleine, geh rein, ist schon okay.“

"Man Bang! Ach, denk doch was du willst, du siehst mich hier nicht mehr, verlass dich drauf!“

Bang verschwand mit Hannah hinter der Tür.

Da war ich also wieder. Allein und als nichtsnutziger Junkie und Schläger abgestempelt. Was machte die Wahrheit schon für einen Unterschied. Wenigstens konnte ich jetzt wieder ich selbst sein.


Sean

Ich hatte den Entschluss gefasst, Jordan zu ignorieren und mich stattdessen auf Sara zu konzentrieren. In der Schule mochte das ja einigermaßen klappen, aber am Freitagabend im Zen musste ich mich wirklich zusammennehmen. Ich sah Jordan an, dass er mit mir reden wollte, aber ich hatte Angst davor. Er suchte immer wieder Blickkontakt, aber das ließ ich nicht zu. Irgendwann zog er sich an die Bar zurück. Ich überlegte schon, zu ihm zu gehen, aber ich wusste das würde nicht gut enden. Irgendwann war er verschwunden. Nach einigen Minuten kam Hannah mit einem Veilchen an und erzählte irgendwas davon, dass Jordan draußen Stress mit dem Türsteher habe. Ich sah ihn gerade noch weggehen und rannte hinterher. Er sah ziemlich geladen aus. Ich wusste, dass ich entweder jetzt mit ihm reden oder ihn für immer abschreiben konnte.


Jordan

"Jordan, können wir reden, bitte?“

Sean kam auf mich zu gerannt. Er sah in seinem Polo-Shirt und mit den gegelten Haaren aus wie ein wandelndes Snob-Klischee.

"Warte Jordan. Hannah sagte, du hättest Stress mit dem Türsteher? Was … .“

"Ach deshalb bis du raus gekommen? Klar, was hätten wir auch sonst zu besprechen?“

"Nein, natürlich, darüber müssen wir auch reden.“

"Spar dir das. Ich weiß schon, was du sagen willst. Dass es dir leid tut, du wolltest das nicht. Du warst betrunken und enttäuscht, weil Sara dich nicht rangelassen hat. So etwas kommt nie wieder vor. Lass uns Freunde bleiben. Aber darauf scheiß ich! Ich war auch betrunken, aber ich wollte, dass es passiert. Ich habe dabei etwas empfunden und ich weiß, du auch! Sei doch ehrlich! Du willst das perfekte Söhnchen spielen, aber du machst dir nur etwas vor. Du kannst dich selbst nicht verleugnen! Hör endlich auf, dich zu verstellen!“

"Jordan, es ist nicht … .“

"Nein, gib dir keine Mühe. Ich schmeiß die Schule. Das ist eh nix für mich. Du musst mich nie wieder sehen und kannst brav verdrängen, dass je etwas zwischen uns war. Lebe wohl!“

Ich musste mich schnell umdrehen, sonst hätte er gesehen, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Ich spurtete über die Straße und dachte, ich könne nicht mehr atmen. Mein Herz pochte in meinen Ohren. Da hörte ich Seans Stimme näher kommen.

"Jordan, du Idiot! Warte!“

Ich blieb stehen und wandte mich um.

"Jordan, lass mich doch auch mal was sagen! Du hast Recht, mit allem was du über mich gesagt hast. Ich war so ein Blödmann. Jordan, ich mag dich wirklich. Aber ich brauche noch ein bisschen Zeit, okay? Bitte lauf nicht weg. Lass uns sehen, wo uns das Ganze hinführt, ja? Gib mir noch eine Chance!“

Genau das hatte ich mir zu hören gewünscht. Ich brachte kein Wort mehr heraus und fiel ihm um den Hals.

"Is ja nett, Jordan! Hast du eine neue Freundin?!“

Die Stimme hinter mir war mir nur all zu vertraut.

"Mex, wie geht's?“

Als ich mich umgedreht hatte, sah ich, dass praktisch meine ganze alte Clique dastand. Allesamt dunkel gekleidet, in Nieten und Lederjacken. Zum ersten Mal erfuhr ich, wie Respekt einflößend es war, so einer Gruppe gegenüber zu stehen und nicht dazu zu gehören. Conny kam auf mich zu und begrüßte mich mit dem üblichen Zungenkuss. Auch die Anderen schienen nicht so verärgert, wie ich gedacht hatte. Alle umarmten mich und meinten, wir sollten mal wieder was zusammen unternehmen. Die Geschäfte liefen gut.

"Wir wollen uns die Zen-Bar zurückholen. Bist du dabei oder bist du jetzt einer von denen?“

"Das solltet ihr besser lassen. Hier wimmelt es nur so von Zivilen. Der neue Pächter tut alles, um den Club sauber zu halten.“

"Also kneifst du mal wieder, hm? Dir passiert schon nichts. Die Bullen sind doch deine Freunde.“

"Macht doch was ihr wollt. Aber sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.“

"Wahrscheinlich will er nur sein Revier verteidigen. Er verkauft dort und will nicht teilen!“

Conny war die Letzte, von der ich erwartet hätte, dass sie mir in den Rücken fällt.

"Nein, ich bin raus. Aber bitte, geht ruhig. Ihr kommt nicht mal am Türsteher vorbei.“

"An Bang? Na das werden wir ja sehen. Kommt Leute!“

Die Clique zog weiter auf die andere Straßenseite.

"Woher kennst du denn solche Typen?“

"Das ist ne lange Geschichte. Hör zu, ich muss da mit. Können wir morgen weiter reden?“

"Wieso musst du da mit? Halt dich da raus. Das gibt nur Ärger. Susis Onkel versteht da keinen Spaß. Komm schon, wir gehen.“

"Nein, das geht nicht. Ich hab bei denen noch was gutzumachen. Ich kann sie nicht einfach auffliegen lassen. Also geh jetzt. Du sollst da nicht mit reingezogen werden.“

"Nein, ich lass dich nicht mit denen allein. Warte, ich komm mit.“

"Hey Jordan, würdest du deinen Leuten mal erklären, dass sie sich ein anderes Stammlokal suchen müssen. Der Kundenstamm hat sich verändert und ihr würdet sowieso keine Abnehmer mehr finden. Sag es ihnen. Schließlich hast du uns in den letzten Wochen für sie ausspioniert. Ich hätte nicht gedacht, dass du mich so dermaßen verarscht.“

Der Türsteher war sichtlich verärgert.

"Okay Leute, lasst uns halt woanders hin gehen. Hier machen wir wirklich kein Geschäft mehr. Kommt schon!“

Aber mit Mex und den Anderen war nicht zu reden. Mir fiel ein Typ um die dreißig auf, der das Ganze zu genau beobachtete. Ein Ziviler.

"Es wird gleich Ärger geben. Also verschwindet jetzt besser.“

Bang hatten den Bullen wohl auch bemerkt. Im selben Augenblick sprangen von allen Seiten Cops in zivil wie in einem Actionfilm, mit gezogenen Schlagstöcken auf uns zu. Alle von uns, außer Sean, den Bang mit einem "Der ist in Ordnung“ rettete, wofür ich ihm auf ewig dankbar war, wurden in Handschellen gesteckt und durchsucht. Und die Cops wurden durchaus fündig. Ich sah in den Augen des Beamten, der mich filzte, wie enttäuscht er war, auch nach der zweiten Durchsuchung bei mir nichts zu finden. Er musste mich gehen lassen.

Mein erster Gedanke galt Sean. Was er von mir halten musste! Ich ging zurück zum Eingang, wo Bang auf Sean einredete. Gesprächsfetzen genügten, um zu verstehen, dass der Türsteher ihn gerade über meine glorreiche Vergangenheit aufklärte.

"Lass mich das erklären. Ich … .“

"Spar dir das! Ich soll mich selbst nicht verleugnen und was machst du?! Du lügst mir was vor, von einem idyllischen Nest und benutzt mich und meine Freunde, um die Zen-Bar auszuspionieren. Lass mich bloß in Ruhe!“

Sean lief nach drinnen. Als ich hinterher wollte, hielt Bang mich zurück.

"Du hast Lokalverbot, weißt du noch? Das ist ein sauberer Club.“

"Bang! Ich bin sauber. Die Bullen haben mich gefilzt und nichts gefunden. Sonst wäre ich wohl kaum hier! Und Hannah hab nicht ich das Veilchen verpasst, das war ihr toller Freund.“

"Ja, das hat sie mir auch erzählt … .“

"Siehst du! Bang, ich hab den Club nicht ausspioniert. Ich bin zufällig wieder hier gelandet. Susi ist in meiner Klasse! Bitte, ich weiß nicht, was du Sean erzählt hast, aber ich muss jetzt zu ihm und ihm die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit. Ohne Beschönigungen, aber auch ohne falsche Anschuldigungen, bitte, lass mich rein! Bitte!“

Ich merkte, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Gerade erst hatten wir die Dinge halbwegs in Ordnung gebracht und jetzt das.

"Bitte Bang, du verstehst das nicht! Lass mich bitte rein!

"Das kann ich nicht machen. Und außerdem, warum ist es dir denn so wichtig, was dieser Schnösel von dir denkt? Du tust ja grad so als hättest du Streit mit deiner Freundin.“

Bang musste nur in mein erschrockenes, ertapptes Gesicht sehen und ihm war alles klar.

"Du … , verdammt, Jordan … Hast du etwa, seit ihr … etwa … .“

"Bitte Bang, sprich es nicht aus. Ja, aber niemand weiß davon, alles ist noch so neu und zerbrechlich. Bitte, ich muss es ihm erklären … .“

Diese Ehrlichkeit kam wohl gut an.

"Na schön, … aber keine krummen Dinger!“

Sean saß wieder bei der Clique auf der Couch und Sara hing an ihm. Nach ihren Blicken zu urteilen, hatte er ihnen erzählt, was passiert war.

"Sean, lass mich das doch erklären!“

Willie und Alex bauten sich vor mir auf. Susis Stimme dröhnte in meine Richtung.

"Ich wusste zwar, dass du abgedreht bist, aber das hätte ich nicht von dir gedacht.“

"Sean, bitte, es tut mir leid. Ich hätte dich nicht anlügen sollen, aber ich habe mich geschämt. Ich wusste nicht, dass die alte Clique hier auftauchen würde und ich habe auch ganz sicher nichts für sie ausspioniert. Das ist die Wahrheit! Bitte Sean, du musst mir glauben!“

Er stand auf, kam auf mich zu und blieb in etwa einem Meter Sicherheitsabstand vor mir stehen, um vor seinen Freunden nicht verdächtig zu wirken.

"Warum hast du mir nicht einfach gleich die Wahrheit gesagt? Uns wäre vieles erspart geblieben.“

"Ich wollte es. Aber ich konnte nicht.“

Ich senkte meine Stimme.

"Ich konnte es dir aus dem gleichen Grund nicht sagen, aus dem du mich jetzt und hier nicht vor allen küsst, obwohl du es willst. Aus Scham und weil ich wusste, dass ihr mich deshalb verurteilen würdet. Was würde uns in Zukunft nicht alles erspart bleiben, wenn du mich jetzt einfach küssen würdest?“

"Aber ich kann nicht … .“

"Ja, ich weiß. Versteh mich doch. Aber ich will dir ja alles erzählen, am liebsten jetzt sofort. Bitte, wir könnten zu mir gehen und ich erzähle dir jedes Detail … .“

"Aber was ist mit den Anderen? Das geht jetzt nicht. Ich komme morgen zu dir, ja? Ich muss Sara nach Hause bringen.“

Sara zerrte an seinem Ärmel.

"Aber morgen komme ich zu dir, ja?“

Hannah kam rüber.

"Jordan, könntest du mich vielleicht nach Hause bringen? Ich weiß nicht, ob Steven vielleicht irgendwo wartet … .“

"Klar, natürlich. Komm mit.“

Beim Hinausgehen sprach Hannah den Türsteher an.

"Er ist einer von den Guten, Bang, wirklich.“

"Dein Wort in Gottes Ohr. Pass gut auf ihn auf, Kleine. Ein gebrochenes Herz hat schon viele Männer in den Abgrund gestürzt.“

Für einen Moment lag eine Bärenpranke auf meiner Schulter.

"Gute Nacht Bang und Danke für Alles.“

"Und?“

"Was und?“

"Na, du hast mit Sean geredet. Wie geht es jetzt weiter?“

"Keine Ahnung. Du hattest Recht, ich bedeute ihm was. Aber ich weiß nicht, wie die Sache weitergehen soll. Auf so etwas war ich nicht gefasst. Ich kenne euch alle doch erst seit ein paar Wochen. Und mein Therapeut empfiehlt mir sowieso, erst eine Beziehung einzugehen, wenn ich ein Jahr clean bin.“

"Also ist es wahr?“

"Was denn?“

"Jetzt stell dich doch nicht blöd! Du warst abhängig … .“

"Nein, ich bin abhängig und werde es wohl auch bleiben. Weißt du, wie oft ich mir in den letzten zwei Wochen eine Nadel setzen wollte? Ich kann es gar nicht mehr zählen. Das ganze ist einfach total schlechtes Timing … .“

"Machst du jetzt 'nen Rückzieher?“

"Vor was denn? Eigentlich ist ja noch nicht viel passiert.“

"Du weißt, dass das nicht wahr ist. Du bekommst nur kalte Füße, das ist normal.“

"Ja, Frau Beziehungsratgeberin, sie wissen offenbar wo's lang geht, hm?“

"Jetzt werde nicht gemein. Ich weiß, dass sich bei mir etwas ändern muss, es ist nur nicht so leicht.“

"Ich weiß, tut mir leid. Vielleicht solltest du mal mit meiner Mutter reden. Sie hatte mal das gleiche Problem wie du … Oh oh, das sieht nach Ärger aus.“

Stevens Wagen stand vor Hannahs Haus, er konnte also nicht weit sein.

"Gut, solange er uns nicht gesehen hat, haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder ich kralle ihn mir und er bekommt alles, was er mit dir gemacht hat, doppelt und dreifach zurück, oder wir verpissen uns und du schläfst heute Nacht bei mir.“

"Ehrlich gesagt, hatte ich heute Abend schon genug Aufregung. Wenn es dir keine Umstände macht, dann bliebe ich lieber bei dir … .“

Wie zwei Wochen früher mit Sean schlich ich mich also mit Hannah in mein Zimmer. Wir stellten gleich klar, dass wir uns das Bett teilen würden. Kaum hatten wir uns hingelegt, war sie auch schon friedlich eingeschlafen.

Sie war bis Mittag nicht wach zu bekommen. Natürlich saßen Mum und Klaus am Mittagstisch und grinsten mich an.

"Na, hast du Besuch? Wieder nur ein Freund?“

"Nein, diesmal ist es eine Freundin. Aber nicht meine Freundin. Mum, du weißt doch, die Sache mit Robert damals? Hannah hat auch so einen Kerl. Vielleicht könntest du ja mal mit ihr darüber reden? Letzte Woche mussten wir sie sogar in die Notaufnahme bringen … .“

"Mein Gott, das arme Ding! Natürlich red ich mit ihr. Ich hab auch noch Nummern von Beratungsstellen und natürlich kann sie hier bleiben, so lange sie will.“

Klaus verschwand irgendwann und die beiden Frauen unterhielten sich bestimmt zwei Stunden lang in der Küche. Dann klingelte es an der Tür und Sean war da. Ich hatte noch gar nicht mit ihm gerechnet. Am liebsten wäre er sofort in meinem Zimmer verschwunden, aber ich bestand darauf, ihn meiner Mum vorzustellen.

"Mum, das ist Sean. Der Freund, der letztens hier übernachtet hat.“

Sean war natürlich erstaunt darüber, Hannah in unserer Küche sitzen zu sehen. Er stellte sich, wohlerzogen wie er war, ordentlich bei meiner Mum vor. Doch dass er sich nicht wohl fühlte, sah man ihm an.

"Mum, ich möchte den Beiden heute alles über meine Drogenzeit erzählen. Und ich möchte, dass du das auch hörst. Das meiste weißt du zwar schon, aber eben nicht alles.“

Das kam bestimmt überraschend, aber die Drei setzten sich gespannt an den Tisch, meine Mum links und Sean rechts von mir.

Ich fing an zu erzählen, erst von den Dingen, die sich jeder denken konnte. Meinem ersten Joint mit 12, das erste Mal Koks und so weiter. Mum wollte wissen, wo ich denn nur das ganze Geld für die Drogen her hatte. Ich musste also offen zugeben, dass ich auch verkauft habe. Außerdem erzählte ich zum ersten Mal jemanden von den drei Einbrüchen in Elektromärkte, an denen ich beteiligt gewesen war. Ich erzählte von den regelmäßigen Abstürzen in der Zen-Bar, von den Mädchen, die sich an mich klammerten, weil sie dann billigeren Stoff bekamen und vom Drogentod eines Freundes. Ich erzählte auch von all den Lügen, die ich meiner Mum aufgetischt hatte und von der einen Ohrfeige, die ich ihr mit 16 zurückgab. Hannah schluckte merklich. Das traf sie natürlich. Am Ende erzählte ich von den verschiedenen Reha-Aufenthalten und wie ich dorthin gelangt war. Das Schwierigste hatte ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Der Schuss, der beinahe golden gewesen war. Der Schuss, der mir den letzten Klinik-Aufenthalt bescherte. Mein bisheriger Tiefpunkt.

"Es war wirklich wie im Film. Ich sah die wichtigsten Augenblicke meines Lebens an mir vorbeiziehen. Ich sah auch all die Dinge, die ich verpassen würde. Als Musiker mein Geld verdienen, den einen Menschen für mich finden, eigene Kinder haben, die Welt entdecken. All so was. Ich stand an der entscheidenden Weggabelung und musste mich für einen Tod mit der Droge oder ein Leben ohne sie entscheiden. Und obwohl so ein Leben für mich die Qualen eines langen Entzuges bedeutete, habe ich mich dafür entschieden. Ich sah immer wieder ein Gesicht vor Augen. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie es aussah. Entscheidend war das Gefühl das ich dabei empfand. Da draußen war Jemand, dessen Glück völlig von meinem Weiterleben abhing und ich konnte diese Person nicht im Stich lassen. Als ich im Krankenhaus zu mir kam, hatte ich so viel Angst wie noch nie zuvor auch nur annähernd. Die qualvollsten Monate meines Lebens begannen und mehr als einmal wollte ich dem ganzen ein Ende setzen.“

Mein Blick fiel auf eine kaum noch sichtbare Narbe an meinem Unterarm.

Sean legte seine Hand auf meine und sah mir fest in die Augen.

"Ich bin froh, dass du es nicht getan hast.“

Tränen standen in seinen Augen und auch in den Augen der Frauen. Als würde deren Anwesenheit Sean erst jetzt wieder einfallen, zog er seine Hand schnell zurück und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Meine Mutter konnte ihre Tränen nicht mehr länger zurückhalten und umarmte mich stürmisch.

"Ich auch, ich bin auch froh, dass du es nicht getan hast. Sonst hätte deine kleine Schwester dich niemals kennengelernt.“

"Meine kleine Schwester? Mum, bist du schwanger?“

"Ja. Wir wollten es dir schon längst sagen, aber in letzter Zeit warst du so unglücklich und wir wollten nicht, dass dich die Nachricht aus der Bahn wirft.“

"Nein, warum denn, das ist ja … phantastisch!“

Meine Mum servierte tatsächlich selbst gebackenen Kuchen (Soviel Häuslichkeit war ich von ihr gar nicht gewöhnt, Klaus hatte auch seine Vorteile.) und Sekt. Wir feierten den restlichen Nachmittag die tolle Nachricht. Gegen Vier machte Hannah sich auf den Weg. Ich merkte deutlich, dass sie meinem Blick auswich. Sie lehnte auch ab, als ich sie nach Hause bringen wollte. Wenigstens ließ sie sich von Sean begleiten.

Meine Mum und ich blieben alleine in der Küche zurück.

"Ich freue mich wirklich auf das Baby, das war nicht bloß so dahin gesagt, Mum.“

"Ich weiß, Jordan.“

Wenn meine Mum mich so beim Vornamen nennt, dann stimmt irgendetwas nicht.

"Was ist los Mum? Ist es wegen dem was ich erzählt habe? Sieh mal, das ist alles vorbei … .“

"Natürlich, das weiß ich doch.“

"Was ist es dann?“

"Deine neuen Freunde sind wirklich sehr nett, Jordan.“

"Ja und weiter?“

"Du hast deine Partnerinnen in der Vergangenheit nicht immer gut behandelt, aber diese Mädchen haben auch nichts anderes von dir erwartet. Doch diese Beiden haben etwas Besseres verdient, Jordan. Du darfst dich auf nichts einlassen, was du dann nach 2 Wochen wieder beendest.“

"Mum, wovon redest du denn da?“

"Hannah hat sich wahrscheinlich in dich verguckt, weil du ihr großer Retter warst. Ich glaube nicht, dass sie sich ernsthaft Hoffnungen bei dir macht.“

"Nein, das glaub ich auch nicht. Worauf willst du hinaus?“

"Ich bin mir nicht sicher wie viel ich sagen kann, ohne dich zu verschrecken und ich weiß auch nicht, wie viel du vielleicht sogar schon ahnst, Schatz.“

Oh Mann, sie war auf der richtigen Spur, ich hätte mir denken können, dass so was meiner Mutter nicht lange verborgen bleibt. Aber für so ein Gespräch war ich noch nicht bereit. Ich wusste ja noch nicht einmal selbst, was sich noch entwickeln würde, da konnte ich meiner Mutter doch noch keinen reinen Wein einschenken. Das würde die ganze Sache in Stein meißeln.

"Jordan, was grübelst du denn nach? Ich sehe schon, ich hätte nicht davon anfangen sollen. Denk nicht weiter drüber nach, vergiss einfach, dass ich was gesagt habe.“


Sean

Wie ich später heraus fand, ließ Jordan bei seinen Ausführungen einiges weg. Ich brachte Hannah nach Hause. Auf dem Weg redeten wir über Jordans Geschichte.

Steven wartete schon vor ihrem Haus. Ohne groß Fragen zu stellen, ging er auf mich los. Der erste Schlag saß, das würde ein Veilchen geben. Aber danach bekam ich ihn ganz gut auf Abstand. Kurz bevor Hannahs Eltern aus dem Haus stürmten und verkündeten, schon die Polizei gerufen zu haben, landete ich noch einen Treffer an seinem Kinn. Steven verzog sich.

Nachdem sich alles etwas beruhigt hatte und wir der Polizei alles geschildert hatten, ging ich wieder zu Jordan. Nicht nur, weil ich so natürlich nicht nach Hause konnte, sondern auch, weil ich ihn unbedingt sehen wollte. Nur sehen, das war doch nicht verboten …


Jordan

Sean kam spät an diesem Abend überraschenderweise noch einmal wieder. Diesmal hatte er ein Veilchen.

"Du solltest erst Steven sehen. Ich habe ihm ordentlich eine mitgegeben. Allerdings kann ich so nicht nach Hause. Wäre es okay, wenn ich hier auf der Couch schlafe?“

"Besser würde ich es finden, wenn du bei mir im Bett schlafen würdest … .“

"Aber deine Eltern … .“

"Mum und Klaus sind zu Klaus' Eltern gefahren. Ultraschallaufnahmen herzeigen und so nen Kram. Sie übernachten da, nachts wollen sie die Strecke nicht mehr zurückfahren.“

"Oh, okay, dann schlafe ich bei dir.“

Die Situation war so seltsam. Ich wusste überhaupt nicht, was er von mir erwartet. Als ich aus dem Bad kam, lag er, wie damals, bereits unter der Decke. Ich legte mich in gebührendem Abstand zu ihm.

"Erzähl doch mal wie du zu deinem Veilchen gekommen bist.“

Es schien, als sei Steven jetzt endgültig abgeschrieben. Er hatte vor dem Haus gewartet und Sean angegriffen, weil er dachte, er hätte was mit Hannah. Nach der kleinen Auseinandersetzung hatten Hannahs Eltern die Polizei eingeschalten und die hatte Steven zum Verhör mitgenommen. Wir würden wohl nicht so bald wieder etwas von ihm hören.

"Gut gemacht. Du bist mein Held. …Und was ist mit uns Beiden, hier … allein in der Wohnung …?“

Ich wagte es und legte vorsichtig meine Hand auf seinen Bauch.

"Jordan, ich glaube wir sollten das besser lassen. Wir sind Freunde, kann das vorerst nicht genug sein?“

"Doch, natürlich. Tut mir leid. Ich dachte nur, wir haben doch eigentlich alles geklärt, deshalb sah ich keinen Grund … .“

"Ich bin mit Sara zusammen. Das letzte Woche kann ich als Ausrutscher verbuchen. Aber alles was heute hier liefe wäre, vorsätzliches Fremdgehen.“

"So hab ich das noch gar nicht gesehen … .“

"Ich aber. Ich bin dir sehr dankbar, dass du mir von deiner Vergangenheit erzählt hast und ich war wirklich gerührt von dem, was du gesagt hast. Aber ich muss vernünftig sein und die Dinge realistisch sehen. Wo würde uns diese Geschichte hinführen? Das nähme für keinen von uns ein gutes Ende … Wo gehst du hin?“

"Na auf die Couch, wohin sonst?“

"Aber warum denn?“

"Du hast mich gerade abserviert … Glaubst du denn wirklich, da will ich noch mit dir in einem Bett schlafen? So unbequem ist keine Couch der Welt.“

"Aber Jordan, wir können doch … .“

" … Freunde bleiben? Wag es nicht, diese abgedroschene Floskel auszusprechen. Wie kalt bist du eigentlich? Meinst du wirklich, dass könnte ich nach all dem noch? Für mich hat sich durch dich alles verändert. Ich hab so was doch auch noch nie erlebt und hab, genau wie du, ne scheiß Angst. Aber ich wollte allen Konsequenzen ins Auge sehen … .“

"Welche Konsequenzen hat es denn für dich? Du hast keine Freundin zu verlieren und wenn du die Unterstützung deiner Eltern verlierst, entschuldige, aber ich glaube, dass würdest du nicht mal merken. Du lebst nur für dich und brauchst niemand Anderen und was ist, wenn du dich in zwei Monaten entscheidest, dass ich dir doch zu spießig oder zu clean bin, oder du eben doch wieder eine Frau haben willst? Was dann? Dann stehe ich ganz alleine da. Du zwar auch, aber dadurch ändert sich ja für dich nichts.“

Das hatte gesessen. Wollte meine Mutter mir das sagen? Dass meine neuen Freunde, im Gegensatz zu mir, etwas zu verlieren hatten? Eine Zukunft, Geld, Ansehen, Menschen die sie liebten? Ich hatte genug davon. Ich packte meine Klamotten und stürmte ohne mich umzusehen aus der Wohnung.


Sean

Jordan stand da wie vom Blitz getroffen. Sein Gesicht war total starr, nur in seinen Augen konnte ich sehen, dass ich ihn tief getroffen hatte. Dann raffte er eilig seine Kleider zusammen und rannte aus der Wohnung. Einfach so. Nach allem was er am Nachmittag erzählt hatte, galt mein erster Gedanke einem Rückfall. Ich spulte mal wieder ein Programm ab. Ich rief seine Mutter an und fragte sie nach ihrer Einschätzung. Sie war sich sofort sicher, dass er sich Drogen besorgen würde. Sie machte sich gleich auf den Heimweg. Danach bekam ich erst recht Panik. Erst da wurde mir bewusst, dass ich seiner Mutter quasi gerade erzählt hatte, was zwischen uns lief, aber darüber konnte ich im Moment gar nicht nachdenken. Ich musste etwas tun, also ging ich ins Zen und suchte dort nach ihm. Den Anderen erzählte ich etwas von einem Streit mit seinen Eltern und dass seine Mutter denkt, er könnte rückfällig werden. Alle machten sich sofort mit auf die Suche. Nach einer Stunde machte ich mich auf den Weg zurück, wo seine Mutter schon wartete. Ihr Freund sei bei seinen Eltern geblieben, da er morgen früh dort einen wichtigen Termin habe. Wir telefonierten alle Krankenhäuser durch. Die ganze Nacht hörten wir nichts. Seine Mutter erzählte mir zwischendrin von früheren Rückfällen vor dem großen Entzug, die durch viel kleinere Dinge ausgelöst worden waren. Wir saßen die ganze Nacht in der Küche und telefonierten durch die Gegend. Ich konnte Jordans Mum nicht dazu bewegen, sich etwas hinzulegen. Zwischendurch weinte sie immer wieder. Ich versuchte, stark zu bleiben, auch wenn ich mittlerweile fast davon überzeugt war, dass ich Jordan nie im Leben wiedersehen würde. Nachdem die Sonne aufgegangen war, telefonierten wir noch ewig durch die Gegend. Ich hatte beschlossen, einfach so lange auf dem Stuhl neben dem Kühlschrank sitzen zu bleiben, bis er wieder da war und wenn es Jahre dauern würde. Ich wusste nicht, wie spät es war, aber irgendwann ging die Haustüre auf. Jemand kam in die Küche.


Jordan

Später erfuhr ich, dass Sean im Zen nach mir suchte und dort die ganze Clique traf und auf mich ansetzte. Er rief auch meine Mutter an, die ihre Nummer am Kühlschrank hinterlassen hatte. Sie machte sich sofort auf den Heimweg. Keine Ahnung, wie viel Sean ihnen erzählte, aber alle gingen davon aus, dass ich mir ne Nadel setzen würde und alles wieder von vorne anfinge. Mum und Sean waren in Panik. Hannah suchte mit Alex und Willie die üblichen Fixer-Treffpunkte ab. Mum telefonierte die Krankenhäuser und Polizeiwachen durch. Sean machte sich große Vorwürfe, weil er mich weggehen hatte lassen. Niemand fand mich. Wie auch, denn sie suchten am ganz falschen Ende. Ich schlief seelenruhig auf der Couch meines Arztes. Ich schlief bis nach Mittag. Dann bedankte ich mich für die Unterstützung und machte mich auf den Heimweg. Zu Hause fand ich meine Mutter mit verquollenen Augen am Küchentisch sitzend. Sie telefonierte gerade alle Krankenhäuser durch.

"Mum, was ist denn los, ist was passiert?“

"Kind! Da bist du ja!“

Meine Mum fiel mir um den Hals und gab mir gleich darauf eine schallende Ohrfeige. Sie krempelte meine Ärmel hoch und überprüfte meine Venen.

"Mum, was ist denn los? Was machst du?!“

"Wo bist du gewesen?“

"Bei Doktor Bishop! Ruf an und frag ihn, wenn du mir nicht glaubst!“

"Genau das mache ich jetzt auch.“

Sie rauschte ab ins Wohnzimmer um seine Nummer zu holen. Erst jetzt bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt in der Ecke kauern.

Sean schaute mich an, als sei ich ein Geist. Er war so weiß wie die Wand, an die er lehnte.

"Es stimmt, er war die ganze Nacht bei seinem Arzt. Jordan, wie konntest du uns nur so einen Schrecken einjagen. Ich muss den anderen Bescheid geben. Sie suchen nach dir. Warum warst du die ganze Nacht weg? Warum hast du nicht wenigstens angerufen?“

"Aber ihr wart doch gar nicht da! Verdammt was soll denn das hier? Warum macht ihr alle so ein Theater? Was hätte ich denn machen sollen? Sean! Sag's mir!“

Sean regte sich nicht. Er stierte mich nur ungläubig an. Ich beugte mich zu ihm hinunter. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich trotz der verquollenen Augen fest an. Er flüsterte fast.

"Jordan, so viel Angst wie heute Nacht hatte ich noch nie in meinem Leben. Der Ausdruck in deinen Augen als du gingst. Ich dachte wirklich, ich würde dich nie wiedersehen.“

Ich zog ihn von seinem Stuhl hoch und hielt ihn fest. Er war eiskalt und sein Herz raste wie verrückt. Er fing an zu schluchzen.

"Ist ja gut, ich bin doch da. Und ich gehe nirgendwo mehr hin. Ich bleibe bei dir, solange du das willst. Versprochen. Nicht weinen, Sean, bitte. Das wollte ich nicht, damit hab ich nicht gerechnet.“

Ich wusste nicht, ob meine Mutter noch immer in der Küche stand, aber ich konnte nicht anders. Ich nahm Seans Kinn in meine Hand und führte unsere Münder zueinander. Ich küsste ihn zuerst ganz vorsichtig, dann immer leidenschaftlicher. All die Angst der vergangenen Nacht fiel spürbar von ihm ab. Seine Wangen wurden wärmer und bald lächelte er mich an und flüsterte:

"Ich will mit dir zusammen sein, egal was es kostet. Bitte vergiss alles, was ich gestern gesagt habe.“

"Ich weiß, es ist schwerer für dich als für mich. Ich werde in Zukunft geduldiger sein, versprochen. Alles ist gut, ja? Alles ist gut.“

Erst das Klingeln an der Tür trennte uns. Meine Mutter kam in die Küche.

"Seid ihr bereit? Das sind eure Freunde. Ich hab ihnen gesagt, dass du wieder hier bist und dass alles ein Missverständnis war. Aber sie wollen sich selbst davon überzeugen, dass es dir gut geht.“

"Gut, okay. Danke Mum. Das Ganze tut mir wirklich leid.“

"Ich weiß, Schatz, ich weiß.“

Sean verschwand im Badezimmer.

"Mum, ich … wir … ich weiß nicht … .“

"Es ist schon gut. Bestimmt wird das alles nicht leicht, aber du hast so viel Kraft, Jordan. … Ich mach jetzt die Türe auf.“

Zu meiner Überraschung fiel Susi mir um den Hals.

"Jordan, zum Glück geht es dir gut. Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Wir waren in den letzten Winkeln der Stadt und haben dich gesucht! Mach das nie wieder! Du gehörst doch jetzt zu uns. Wir müssen doch aufeinander aufpassen.“

Sie schluchzte tatsächlich in mein T-Shirt. Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich von dem allen halten sollte. So viele Menschen kümmerte es plötzlich, wo ich blieb. Ich war schon oft nächtelang unterwegs gewesen und nie hat es jemanden gekratzt. Plötzlich dieses ganze Theater. Und Sara. Sie stand hinter Susi und sah sich ganz offensichtlich nach Sean um. Ich wusste nicht, wie ich reagieren würde, wenn Sean seiner Freundin zur Begrüßung einen Kuss gäbe. Alex und Willie sahen tatsächlich froh aus, mich zu sehen. Sie reichten mir herzlich die Hände. Mein Blick fiel auf Hannah, die noch nicht durch die Türe getreten war. Sie winkte mich zu sich in den Gang und schloss die Tür. Drinnen konnten wir die Jungs grölen hören. Sicher, die Clique würde mich bestimmt gerne als Hannahs neuen Freund sehen …

"Jordan, geht es dir gut?“

"Ja, ich denke schon. Das ist alles ein bisschen viel auf einmal. Ich bin so einen Auflauf nicht gewöhnt.“

"Sie haben sich wirklich Sorgen um dich gemacht. Das ist das Tolle an diesem Freundeskreis. Du kannst dich immer 100% auf die Leute verlassen, auch wenn sie ansonsten sicher ihre Schrullen haben.“

"Und was ist mit dir? Hast du dir auch Sorgen um mich gemacht?“

"Nach deiner Erzählung gestern glaube ich, dass du zu sehr vielem fähig bist. Du reagierst sehr impulsiv. Ich hätte dir schon zugetraut, dass du rückfällig wirst.“

"Hannah, das kam mir heute Nacht noch nicht mal in den Sinn, wirklich. Hör mal, ich habe gestern gemerkt, dass, seit ich das mit der Ohrfeige erzählt habe, etwas zwischen uns steht. Aber du musst wissen, dass das die Drogen waren und nicht ich. Ich war so verzweifelt und brauchte unbedingt einen Schuss. So etwas würde mir heute niemals mehr passieren.“

"Okay. Ich denke wir sollten wieder reingehen, bevor die da drinnen auf falsche Gedanken kommen.“

Ich spürte, dass die Sache noch nicht aus der Welt war.

Drinnen hatten sich alle in der Küche versammelt. Sean kam gerade aus dem Bad. Er sah erschreckend normal aus. Fast so als wäre nichts passiert. Unsere Blicke trafen sich. Mir fiel ein, dass Sean keinen Schimmer hatte, dass Hannah Bescheid wusste. Sonst war niemand in der Nähe.

"Sean, hör mal. Hannah weiß Bescheid. Sie hat es schon letzte Woche erraten. Ich will nur, dass du's weißt.“

Für einen Moment dachte ich, er würde losbrüllen, aber dann lächelte er resignierend.

"Gut, das ist ein Anfang. Lasst uns rein gehen.“

Natürlich wurden in der Küche die Plätze knapp. Es gab nur noch einen freien Stuhl. Sara stand auf und ließ Sean sich setzen. Sie sprang auf seinen Schoß und küsste ihn zur Begrüßung innig. Meine Mutter sah mich erstaunt an. Hannah setzte sich auf den letzten freien Stuhl. Meine Mutter bat mich, ihr kurz im Keller zu helfen. Das fand ich zwar seltsam, da wir gar kein Kellerabteil gemietet hatten, folgte ihr aber gehorsam in den Hausflur.

"Sean hat eine Freundin?“

"Ja, seit drei Jahren.“

"Und das macht dir nichts aus?“

"Doch, natürlich … .“

"Und was tust du diesbezüglich?“

"Ich weiß nicht, ich hab noch nicht drüber nachgedacht … .“

"Das solltest du aber, denn ich kenne solche Geschichten. Denk nur an deinen Vater. Am Ende heiratet er sie und du bleibst auf der Strecke. Ich habe heute Nacht gesehen, wie viel du ihm bedeutest. Du solltest ihm ein Ultimatum stellen. Besser gleich jetzt wissen woran du bist, als nach ein paar Jahren Heimlichtuerei gegen sie zu verlieren.“

"Mum, das geht zu schnell. Ich warte erst mal ab … .“

"Wie du meinst, aber sag nicht ich hätte dich nicht gewarnt.“

Zum Glück blieb die Clique nicht mehr lange, ich brauchte dringend Zeit, um über alles nachzudenken. Sean ging natürlich zusammen mit Sara. Die ganze Zeit über hatte er vielleicht drei Sätze mit mir gewechselt. Ich ahnte bereits, dass genau das eintreten könnte, was meine Mutter prophezeit hatte.

In der Schule verbrachte ich die meiste Zeit mit Hannah. Wir waren ja das einzige Nicht-Paar, was uns absurderweise meistens als Paar dastehen lies. Wenn ich Sean sah, war in 90% der Fälle Sara oder jemand Anderes aus der Clique dabei. Unbeobachtet waren wir sowieso nie. Mehr als ein kurzer Plausch war da nicht drin. Das ging mir ganz schön an die Nieren. Ständig konnte ich zusehen, wie Sara Sean halb auf aß.

Am Freitag in der Pause saßen wir alle zusammen und redeten über die Wochenendplanung, die auf Grund der beiden Klausuren in der nächsten Woche wohl eher mau ausfallen würde. Sean und Sara saßen etwas abseits und schienen eine Auseinandersetzung zu haben.

Susi wusste wie immer über alles Bescheid.

"Sara will dieses Wochenende unbedingt mit Sean Campen fahren. Ich glaube, sie will es endlich tun. Sean meint aber, er müsse lerne. Ich kenne diesen Blick in Saras Augen. Sie ist wild entschlossen und wird ihn schon noch überzeugen.“

Tatsächlich schien der Streit sich gelegt zu haben. Sara saß nun auf Seans Schoß und die Beiden knutschten heftig, es war nicht mehr jugendfrei.

"Seht ihr? Am Montag wird Sara endlich ihre Unschuld verloren haben.“

Ich übergab mich. Einfach so, ohne Vorwarnung und direkt neben die Bank auf der wir saßen. Ich musste sofort weg. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Sean mich beobachtete. Irgendwer lief hinter mir her und half mir die Treppen zum Schulgebäude hoch. Ich übergab mich noch mal auf der Treppe. Es muss ein kläglicher Anblick gewesen sein. Ich spürte, dass die fremden Arme fast mein ganzes Gewicht hielten, während ich mein Sandwich wieder hoch würgte. Alex, den ich bis dahin für einen hirnlosen Schrank gehalten hatte, war mir hinterher gekommen und führte mich jetzt in die nächste Toilette. Mit Peinlichkeiten konnte ich mich jetzt nicht auseinandersetzen. Sean und Sara würden dieses Wochenende miteinander schlafen. In Saras Welt war das fast so etwas wie ein Heiratsversprechen. Wenn das erst mal geschehen würde, dann hätte ich keine Chance mehr. Seine Schuldgefühle würden ihn an sie binden …

"Geht's wieder?“

Ich konnte mich Alex nicht zuwenden, um mich für seine Hilfe zu bedanken. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Der Versuch, meine Schluchzer als Würgegeräusche zu tarnen, scheiterte kläglich.

"Weinst du? Geht's dir so schlecht?“

"Nein nein, es geht schon wieder. Du kannst ruhig wieder zu den Anderen gehen.“

"Spinnst du, ich lass dich doch so nicht allein. Hör mal Jordan, es ist nicht okay, wie er dich behandelt. Das solltest du dir nicht gefallen lassen.“

"Was? Wovon redest du?“

"Schon gut, sonst ahnt niemand was, glaube ich. Ich hab zufällig gehört, wie Hannah Sean deinetwegen zur Schnecke gemacht hat. Zuerst war ich schon etwas erschüttert, aber dann hat plötzlich einiges Sinn gemacht. Dass dir im Zen so viel dran lag, dich ihm zu erklären und dass er am nächsten Tag so aufgelöst zu uns kam und dich gesucht hat. Ich bin schon seit der Grundschule mit Sean befreundet, aber so wie in den letzten paar Wochen habe ich ihn noch nie erlebt und dass es mit Sara nicht gut läuft, wissen alle. Komm, trink einen Schluck Wasser. Du siehst gar nicht gut aus. Hör zu, du kannst natürlich einfach so tun, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche, aber ich will dir die Nummer von meinem Bruder geben. Er ist 21, studiert an der staatlichen Uni hier Journalismus und ist schwul. Ich hab mit ihm geredet und er hätte nichts dagegen, wenn du ihn anrufst, wenn du ein offenes Ohr brauchst. Ist nur ein Vorschlag … .“

Die Toilettentür ging auf und Sean stand da. Alex gab mir den Zettel mit der Nummer seines Bruders drauf und ging, nicht ohne Sean einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen.

"Alex, ich weiß wovon du sprichst. Danke.“

"Klar doch.“

Sean sah mich äußerst verwundert an. Als Alex den Raum verlassen hatte, blockierte Sean die Tür mit einem Mülleimer.

"Hör zu Jordan, ich muss es jetzt wissen. Wie soll es weitergehen? Ist es dir ernst mit mir?“

"Wie kannst du mich das noch fragen. Seit Wochen geht's mir mies wegen dir. Ich muss tag-täglich mit ansehen, wie du mit Sara rummachst. Es vergeht keine Nacht, in der mich dieses Bild nicht bis in meine Albträume verfolgt. Ich halte das so nicht mehr aus. Du musst dich endlich entscheiden … .“

"Stellst du mir ein Ultimatum?“

"Nein, ich bin nur ehrlich. Ich kann nicht so weitermachen. Und wenn du dieses Wochenende mit ihr schläfst … .“

"Was? Woher weißt du davon? Ich hasse diese Clique. Niemand kann mal was für sich behalten. Was ich mit Sara mache, geht ja wohl niemanden etwas an!“

"Verstehe, dann ist die Sache ja klar. Ich mische mich nicht mehr ein, keine Sorge.“

"Nein Jordan, dich meinte ich damit doch nicht. Ich rede von den Anderen, die sich ständig einmischen.“

"Das tun sie doch nur, weil sie sich Sorgen machen. Ohne Alex würde ich jetzt im Pausenhof hinter den Büschen in meiner eigenen Kotze liegen und dir wäre es egal.“

"Hey, ich bin doch hier, oder? Hast du Alex auch gleich noch alles auf die Nase gebunden?“

"Nein, das warst du selbst. Er hat dich und Hannah über mich reden hören.“

"Na wunderbar. Wenn das so weitergeht, können wir nächste Woche auch gleich Händchen haltend durch die Schule schlendern.“

"Bisher haben es jedenfalls alle viel besser aufgenommen als du selbst.“

Irgendetwas änderte sich in Seans Blick.

"Du hast Recht, das haben sie. Lass uns nicht schon wieder streiten, ja? Wenn wir endlich mal allein sind, dann schreien wir uns an. Ich will dieses Wochenende nicht mit Sara campen fahren. Ich will auch nicht mit ihr schlafen.“

"Nicht? Dann sag ihr das doch.“

"Jordan, das ist nicht so einfach. Ich kann ihr ja auch keine Gründe nennen … .“

"Wie wäre es denn mit der Wahrheit? Was befürchtest du?“

"Das geht nicht. Wenn ich sie so enttäusche, nach drei Jahren, dann ist sie bestimmt zu allem fähig und rennt zu meinen Eltern um mich wiederzubekommen. Und selbst wenn nicht, werden die mich fragen, was schief gegangen ist. Und was soll ich dann sagen?“

"Keine Ahnung, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es nicht so weitergehen kann. Vielleicht sollten wir klein anfangen. Du brauchst einen Grund, dieses Wochenende nicht mit ihr Campen zu fahren, richtig?“

"Ja …?“

"Gib mir Chemie-Nachhilfe. Ich hatte in der ersten Klausur 'ne Fünf. Ich brauche wirklich dringend einen Intensiv-Kurs dieses Wochenende. Und du bist der Beste in Chemie. Du könntest das ganze Wochenende bei mir verbringen und wir pauken zusammen Chemie. Und du hättest noch nicht mal gelogen.“

"Stehst du wirklich so schlecht in Chemie?“

"Ja, aber darum geht es doch jetzt gar nicht. Wie findest du die Idee?“

"Nicht übel. Ich rede gleich mir Sara.“

Gerade als er gehen wollte, fiel ihm noch ein, warum wir uns in einer Toilette unterhielten.

"Wie geht es dir denn jetzt eigentlich?“

Er legte fast professionell die Hand an meine Stirn, um meine Temperatur zu fühlen.

"Fieber hast du jedenfalls keines. Werd nicht krank, so kurz vor unserem Büffel-Wochenende.“

Schon war er verschwunden.

Am Abend in der Zen-Bar tauchten Sean und Sara nicht auf. Susi und ihre Freundinnen kicherten die ganze Zeit vor sich hin. Ich fragte möglichst beiläufig, wo die Beiden denn steckten. Susi sah mich ganz verschwörerisch an.

"Versprich mir, dass du niemandem etwas sagst!“

"Klar … .“

Mir schwante Übles.

"Scheinbar hat Sara beschlossen, wenn das Campen schon ins Wasser fällt, muss sie eben gleich den heutigen Abend nutzen. Sie hat sich sogar überlegt, ein Motelzimmer zu mieten. Unglaublich, oder?“

"Das ist … .“

Mir wurde wieder übel …

"Ich glaub ich brauche frische Luft … .“

Am Ausgang rannte ich gegen den Türsteher. Ich entschuldigte mich und ging schnell um die Hausecke, außer Sichtweite. Natürlich übergab ich mich wieder. Ich war froh, dass mir diesmal niemand dabei zuschaute. Als mein Magen sich etwas beruhigt hatte, drehte ich mir zum ersten Mal seit Wochen wieder eine Zigarette. Es war mittlerweile halb elf. Bestimmt hatten die Beiden schon längst miteinander geschlafen oder waren gerade dabei. Bilder gingen durch meinen Kopf, ich hielt es nicht mehr aus. Mit voller Wucht schlug in mit der Faust gegen die Hausmauer. Heißer Schmerz durchfuhr meinen Körper und ich hörte ein Knacken. Ich spürte wie sich Knochen verschoben. Mir wurde schwindlig und ich sah Punkte vor den Augen. Ich beugte mich vorne über und versuchte, ganz tief einzuatmen. Der stechende Schmerz wich einem dumpfen Pochen. Ich nahm ein paar Züge meiner Zigarette. Jede Bewegung der Hand tat höllisch weh. Ich wünschte, ich hätte Gras dabei, um den Schmerz zu betäuben. Meine Hand schwoll so schnell an, dass man zusehen konnte. Sean wüsste jetzt, wie er mir helfen könnte. Sean … Der Schmerz wurde unaushaltbar. An meinen Fingerknöcheln bildeten sich lila Flecken. Das Pochen ging durch Mark und Bein. Ich richtete mich auf und trat auf den Parkplatz vor dem Zen. Ich versuchte, an nichts zu denken. Dann traute ich meinen Augen kaum. Da in der Schlange vor dem Einlass standen Sean und Sara. Sahen sie anders aus? Gab es Indizien dafür, dass sie es getan hatten? Ich musste näher ran. Sie waren in der Schlange etwa drei Meter vor mir. Ich konnte nicht hören worüber sie redeten, aber sie berührten sich nicht. Normalerweise hing Sara immer an Seans Arm. Ein stechender Schmerz riss mich aus meinen Gedanken. Der Typ hinter mir hatte beim Drängeln versehentlich meinen Arm berührt. Unwillkürlich ächzte ich laut auf.

"Boah, sorry man! Krass, damit solltest du echt zum Arzt gehen.“

"Jordan!“

Ganz toll, jetzt hatten sie mich bemerkt.

"Jordan, lass mich das mal sehen.“

Sean nahm meinen Arm vorsichtig am Ellbogen und betrachtete mit besorgtem Gesichtsausdruck meine Hand.

"Was ist denn passiert, was hast du gemacht?“

"Ich … es war ein Unfall … ich.“

"Du musst zum Arzt, das sollte geröntgt werden. Wie das aussieht, ist auf jeden Fall was gebrochen. Ich bin mit dem Auto meiner Mutter hier, ich kann dich fahren.“

"Ich weiß nicht, so schlimm wird es schon nicht sein … .“

"Also bitte, da muss man nicht Medizin studieren wollen um zu sehen, dass du damit zum Arzt solltest. Wir fahren dich hin.“

Das war, glaub ich, das erste Mal, dass Sara direkt mit mir redete. Und sie wusste von Seans eigentlichem Berufswunsch. Ich hatte mir eingebildet, Sean hätte nur mich ins Vertrauen gezogen.

"Sara, das hat doch keinen Sinn. Geh du rein zu deinen Freundinnen und ich bring Jordan zum Arzt. Wirklich, das ist okay.“

"Wirklich? Na gut, ruf mich an, wenn du zu Hause bist, ja Schatz?“

Sara drückte Sean einen Kuss auf die Lippen, der mich beinahe wieder dazu veranlasst hätte, irgendwo dagegen zu schlagen.

"Macht's gut, ihr Beiden … .“

"Komm, ich parke gleich da hinten. Ist dir schwindlig? Musst du dich übergeben?“

Und ob ich das musste. Sean versuchte, mir die Haare aus dem Gesicht zu halten, aber ich schubste ihn beiseite.

"Verdammt, Jordan! Lass mich dir doch helfen!“

"Du willst mir helfen? Weißt du, was mir wirklich helfen würde? Wenn du mir eine Zigarette drehst. Mit einer Hand bekomme ich das nicht hin.“

"Ich werde dir bestimmt keine drehen! Das ist schlecht für dich! Weißt du eigentlich, wie viele krebserregende Stoffe da drin sind?“

"Oh, Zigaretten sind also schlecht für mich. Du bist auch schlecht für mich, Sean! Aber trotzdem gehst du nicht weg!“

STILLE

"Gib schon her. Ich dreh dir deine scheiß Zigarette.“

Auf den Weg ins Krankenhaus sprachen wir kein einziges Wort.

In der Notaufnahme war nicht viel los, wir waren die Einzigen im Wartebereich.

"Willst du mir nicht sagen was passiert ist? Die Ärzte werden dich das auch fragen. Hattest du Ärger? War Steven da?“

"Nein, Schwachsinn. Der lässt sich nicht mehr blicken.“

"Gut, was ist dann gewesen?“

"Nichts.“

"Wie, nichts? Die Hand ist ja wohl kaum von selbst blau angelaufen.“

"Nein … das war einfach ein dummer Unfall. Ich hab nicht nachgedacht. Ist doch egal … .“

"Jordan, warst du das selbst? Was hast du gemacht, verdammt, jetzt sag schon!“

"Ich … man, ich hab gegen die Wand geschlagen. Zufrieden?“

"Was, warum solltest du so was machen?“

"Weil, ach … aus dem Affekt heraus eben. Susi hat mir von eurem Motelzimmer erzählt. Ich hab durchgedreht. Ich bin raus, hab gekotzt und gegen die Wand geschlagen. Das war's.“

"Jordan, das darf doch nicht wahr sein.“

Er sah mich traurig an.

"Jordan, ich hab nicht mit ihr geschlafen. Sie sagte, sie hätte eine Überraschung für mich und lotste mich auf den Parkplatz des Hotels. Sie erzählte, sie habe da drinnen ein Zimmer gemietet, damit wir ungestört sein könnten. Ich konnte nur noch an dich denken. Ich hab mir das Zimmer angesehen und ihr gesagt, wie schäbig ich es finde. Eigentlich war es nur ein ganz normales Zimmer. Aber mir fiel nichts Besseres ein. Ich habe ihr gesagt, dass ich mir nicht vorstellen könnte, dort unser erstes Mal zu erleben. Sie war ziemlich enttäuscht, aber sah es dann ein. Wir gingen Essen und kamen dann ins Zen. Da haben wir dich dann getroffen. Tut mir leid, dass du dir Sorgen machen musstest. Aber ich verspreche dir, ich werde nicht mit ihr schlafen, glaub mir das, bitte.“

Mir liefen mal wieder die Tränen über die Wangen. Langsam war ich es leid. Ich hatte seit meinem 10. Geburtstag nicht mehr geweint. Aber in den letzten paar Wochen häufte es sich.

Ein junger Arzt kam und brachte mich in ein Untersuchungszimmer.

"Brauchst du ein Taschentuch?“

"Nein, geht schon … .“

"Alles in Ordnung?

"Ich glaub, ich hab mir was gebrochen … .“

"Das meinte ich nicht. Ist er dein Freund?“

"Was?!“

Lief ich etwa mit 'nem Stempel am Hirn rum? Ich war schlichtweg geschockt.

"Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Manchmal rede ich ohne nachzudenken. Das ist meine erste Schicht in der Notaufnahme. Wenn ich nervös bin, rede ich noch mehr und denke noch weniger nach. Tut mir leid.“

Er nahm meinen Arm am Ellbogen und betrachtete die Hand genau wie Sean zuvor.

"Wie ist das passiert?“

"Muss ich das sagen?“

"Zwingen kann ich dich nicht, aber es würde mir helfen herauszufinden, welche Knochen ich mir genauer anschauen sollte. Hör mal, ich unterstehe der ärztlichen Schweigepflicht. Wenn du also Ärger hattest … .“

"Das ist es nicht. Es ist nur ziemlich peinlich.“

"Ich verspreche, ich werde nicht lachen oder so.“

"Ich habe mit der Faust gegen eine Hausmauer geschlagen.“

" … Und, wer hat gewonnen?“

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ich verdrehte die Augen.

"Tut mir echt leid, ich hab schon wieder schneller geredet als gedacht. Okay, warum hast du das denn gemacht?“

"Hilft ihnen das auch bei der Diagnose?“

"Nein, aber ich würde es einfach gerne wissen.“

"Einfach so, Affekt, ohne nachzudenken.“

"Warst du wütend?“

"Ja … .“

"Auf ihn da draußen?“

"Ja … .“

"Bist du immer noch sauer auf ihn?“

"Ich weiß nicht, nein, eigentlich nicht. Wie kommen sie auf das alles?“

"Als ich dich rein holen wollte, habe ich gesehen, wie er beschwichtigend auf dich einredete … und dass du weinst. Ich bin wieder zurück und hab gewartet bis er mit seinem Vortrag fertig war.“

"Oh … Danke, es war wichtig, dass ich hörte, was er zu sagen hatte.“

"Das konnte ich sehen. So also, zu deiner Hand. Wir müssen sie röntgen und dazu sollte sie möglichst flach sein. Kannst du die Faust aufmachen?“

"Das tut höllisch weh.“

"Gut, dann spritze ich dir zuerst mal ein Schmerzmittel.“

"Oh, besser nicht. Ich … ich bin seit 254 Tagen clean.“

"Verstehe. Ich befürchte, dann musst du beim Röntgen die Zähne zusammenbeißen.“

Das war noch weit untertrieben. Ich war froh, als die Prozedur vorbei war.

"Gut, der Bruch ist nicht kompliziert, keine Splitter. Wir machen dir zur Stabilisation einen Gips. In sechs Wochen kann der ab. Das ist nicht das Problem. Aber dein Gesamtzustand macht mir Sorgen. Dein Blutzuckerspiegel ist viel zu niedrig, du hast bestimmt ewig nichts mehr gegessen. Du wirkst fahrig und nervös. Ich habe mittlerweile deine Akte bekommen. Du warst Anfang des Jahres hier mit einer Überdosis Heroin. Du wärst fast gestorben.“

"Ja, das stimmt, aber danach habe ich nie wieder was genommen. Ich habe meine Lektion gelernt.“

"Wenn ich dich anschaue, muss ich sagen, dass du auf mich stark gefährdet wirkst. Eigentlich sollte ich dich aufnehmen und morgen deinen Arzt anrufen.“

"Also bitte, das wäre maßlos übertrieben!“

"Findest du? Du hast aus Wut gegen eine Wand geschlagen. Dein Selbstzerstörungstrieb ist stark und du reagierst impulsiv. Und der Grund für das Ganze sitzt da draußen im Wartebereich. Und ich soll dich mit ihm weggehen lassen? Das kann ich wirklich nicht verantworten.“

"Gibt es denn keine andere Möglichkeit, vielleicht eine, die meine Mutter nicht in Angst und Schrecken versetzt?“

"Doch, die gibt es. Geh mit mir Essen.“

"Was, wie bitte?!“

"In einer Stunde ist meine Schicht vorbei. Es gibt hier eine Nachtkantine. Essen hilft gegen deinen niedrigen Blutzuckerspiegel. Dein Fr … also der Typ da draußen kann nach Hause fahren und ich bring dich später heim. Ich muss dich nicht mit dem Grund für deine Wut weggehen lassen und kann mich versichern, dass du heil zu Hause ankommst. Es besteht also keine unmittelbare Rückfallgefahr mehr. Du musst morgen dann natürlich gleich deinen Arzt anrufen und für Montag einen Termin abmachen. Also, was sagst du? Du kannst die Nacht natürlich auch gerne im Krankenhaus verbringen.“

"Hört sich nicht wirklich an, als hätte ich eine Wahl.“

"Gut, dann geh und sag deinem … diesem Typen … .“

"Sean.“

" … Sean Bescheid. Danach kommst du einfach wieder rein und eine Schwester macht dir den Gips.“

"Jordan! Und, was haben sie gesagt? Wie schlimm ist es?“

"Der Bruch ist nicht kompliziert und wird in sechs Wochen wieder okay sein. Aber sie wollten mich trotzdem fast hier behalten. Sie haben meine Akte von der Überdosis damals. Und scheinbar denken sie, ich könnte rückfällig werden.“

"Was, wirklich? Und jetzt?“

"Ich musste mich auf einen Deal einlassen. Einer der Ärzte bringt mich in die Nachtkantine, mein Blutzuckerspiegel sei zu niedrig und dann fährt er mich nach Hause, um sich zu überzeugen, dass ich heute Nacht keinen Müll mehr mache. Ich hatte keine Wahl, ich musste einwilligen. Meine Mutter würde durchdrehen, wenn sie einen Anruf aus dem Krankenhaus bekäme.“

"Ich verstehe. Na gut, dann fahre ich jetzt wohl. Ist zwischen uns alles in Ordnung?“

"Ja, na klar. Ich ruf dich morgen wegen Chemie an.“

"Gut, dann bis Morgen.“

Nachdem ich den Gips bekommen hatte, ging ich noch eine Weile in die Warteecke. Mittlerweile war ein Paar mit einem kleinen Kind dort, das wohl starkes Fieber hatte. Der Mann und die Frau agierten, als wären sie eine Person. Zusammen überprüften sie regelmäßig die Temperatur, flößten dem Kind Wasser ein und putzten seine Nase. Ich dachte an meine Mutter und Klaus und dass sie bald Eltern sein würden. Zusammen. Klaus würde nicht einfach verschwinden wie die Übrigen. Wahrscheinlich würden sie sogar heiraten. Ich musste meine Mutter unbedingt danach fragen.

Der Arzt kam durch die Tür, auf der stand "Nur in Begleitung von Angestellten“. Er hatte seinen weißen Kittel gegen ein lässiges Sweatshirt eingetauscht und kam zum Wartebereich rüber. Als erstes fühlte er die Temperatur des Kindes. Er sprach beruhigend auf die Eltern ein und sagte, sein Kollege würde sie jeden Moment reinholen. Dann kam er auf mich zu und fragte ob es losgehen konnte. Ich nickte und folgte ihm einen Seitengang entlang. Über die Schulter warf ich noch einen Blick auf die Eltern. Sie hatten sich bereits wieder ihrem Kind zugewandt, aber ihre Gesichter wirkten entspannter. Erst jetzt sah ich, dass sie nicht viel älter waren als ich.

"Vorsicht!“

Der Arzt hielt mich am Arm zurück. Ich war an einer T-Kreuzung gerade aus weiter gelaufen.

"Was hast du nur gegen Wände? Alles okay? Du wärst fast dagegen gelaufen. Was ist denn los? Was ..., ah, du hast die Drei angeschaut. Die Eltern sind höchstens Anfang 20. Wie alt bist du eigentlich?“

Der Typ redete wirklich viel.

"Ich bin 19.“

"Und was machst du? Studierst du hier?“

"Nein, ich mache meinen Schulabschluss. Ich hab ein Jahr verloren als ich in der Klinik war.“

"Oh, richtig, hier entlang. Es ist nicht mehr weit.“

Die Nachtkantine bestand aus einer Reihe von Warmhalteplatten und drei Tischen. Niemand war zu sehen, nicht mal ein Angestellter an der Kasse.

"Selbstbedienung. Fred schläft meistens im Hinterzimmer, das Geld stecken wir einfach in die Dose da. Ich lad dich natürlich ein. Also mal sehen … was möchtest du? Pasta oder Hähnchen?“

"Pasta, ich mag kein Fleisch.“

"Wirklich, du bist Vegetarier?“

"Nein, ich mag Fleisch einfach nur nicht gern.“

Meine Stimme hatte einen schrofferen Ton als ich es wollte. Aber ich war auch genervt. Wenn Sean mich heimgebracht hätte, hätte er vielleicht bei mir geschlafen. Und jetzt saß ich hier in der Nachtkantine des Krankenhauses mit einem Wildfremden.

"Okay, hab ja verstanden. Jetzt iss, dann fahr ich dich nach Hause.“

"Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Ich komm mir einfach blöd vor, ich weiß nicht warum sie das tun … .“

"Nenn mich Chris, ich duze dich ja schließlich auch. Ich weiß auch nicht, warum ich das mache. Du warst traurig, dir ging es schlecht, aber du wolltest um keinen Preis im Krankenhaus bleiben. Mir ist nichts Besseres eingefallen.“

Meine Hand fing wieder an zu pochen.

"Macht dir die Hand zu schaffen? Ist der Gips zu eng? Lass mal sehen.“

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der Gips passte, schaufelte er mir massig Nudeln in Tomatensoße auf den Teller und nahm sich Hähnchen.

"Hier, Guten Appetit.“

Während dem Essen redeten wir über belangloses Zeug. Er fragte mich nach meinem Lieblingsfach, ob ich Sport mag, wo ich aufgewachsen bin und so weiter. Er erzählte, dass er 26 sei und im ersten Assistenzjahr. Ich erzählte ihm, dass Sean auch gern Medizin studieren würde.

"Wirklich? Und hat er die Noten?“

"Ich denke schon. Er schreibt ständig Einsen. In Chemie weiß er meistens mehr als unser Lehrer.“

"Nicht übel und wo würde er am liebsten studieren?“

"Keine Ahnung. Ich glaube, er denkt, dass es eh nicht klappt.“

"Aber warum denn nicht, wenn er so gut ist, wie du sagst?“

"Das ist kompliziert. Sein Vater hat eine Firma aufgebaut und Sean soll sie übernehmen. Er ist der einzige Sohn … .“

"Ernsthaft? So was passiert heute noch? Da sollte er Daddy lieber gleich eine Absage erteilen, bevor er sich sein ganzes Leben verpfuscht.“

"Ganz deiner Meinung, aber Sean kann einfach zu niemandem nein sagen. Er will es allen Recht machen. Er schafft es zum Beispiel auch einfach nicht, mit seiner Freundin Schluss zu machen.“

"Habt ihr euch deshalb gestritten?“

Treffer. Irgendwie schafften die Leute es immer wieder, mich auszufragen …

"Ja, so was in der Art … .“

"Du scheinst in einer kritischen Phase zu stecken. Meinst du nicht, dass du dich im Moment aus solchen Verwicklungen lieber raushalten solltest?“

"Das ist leichter gesagt als getan … .“

"Verstehe. Na ja, dann geh wenigstens regelmäßig in eine Therapiegruppe und sprich mit deinem Arzt, ja? Hör mal, du musst Sean zu verstehen geben, dass du momentan nicht voll belastbar bist. Er muss auf dich acht geben. Wenn er das nicht schafft, sollte er sich lieber gleich von dir fern halten. Vielleicht kannst du ihn auch mal zur Therapiegruppe mitnehmen, damit er das Ganze besser versteht.“

"Ich weiß nicht, ich will ihn mit so was nicht nerven, das ist doch eigentlich meine Sache … .“

"So funktioniert das aber nicht. Er muss schon wissen, worauf er sich einlässt. Egal wie alt ihr seid, so eine Teeny-Beziehung funktioniert mit Suchtkranken eben nicht. Und noch was: Sich immer verstellen zu müssen geht einem an die Nieren, auch das kannst du dir eigentlich nicht leisten.“

Ich wusste ja, dass er Recht hatte, aber die Sache war einfach viel zu verfahren. Ich musste einen Weg finden, wie Sean und ich ohne Druck miteinander umgehen konnten. Dass meine Mum Bescheid wusste, war gut, so mussten wir uns zumindest bei mir zu Hause nicht verstellen. Ansonsten auf öffentliche Berührungen und so weiter verzichten zu müssen, war zwar schade, aber aushaltbar. Aber Sean musste dringend mit Sara reden, darauf musste ich bestehen …

Nach dem Essen fuhr Chris mich nach Hause. Er bestand darauf, mich bis vor die Wohnungstür zu bringen. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss während wir uns verabschiedeten.

"Also, danke für das Essen und fürs nach Hause bringen. Und auch für den Rest.“

"Gern geschehen. Ich gebe dir noch meine Karte. Du kannst mich jederzeit anrufen, ja?“

"Danke, das weiß ich zu … .“

Die Wohnungstür flog auf.

"Jordan, Sean, da seid ihr ja endlich! Öhm … du bist nicht Sean.“

"Nein, ich … .“

"Jordan, Hannah ist hier. Sie ist vor einer Stunde aufgetaucht und sieht nicht gut aus. Sie hatte sich mit Steven getroffen. Sie nimmt gerade ein Bad. Ich durfte sie nicht zum Arzt bringen.“

"Nicht schon wieder, … Chris, würdest du mir noch einen Gefallen tun und dir Hannah ansehen?“

"Natürlich.“

Wir setzten uns in die Küche, wo meine Mum bereits Kaffee gemacht hatte.

"Schatz, was ist denn mit deiner Hand?“

"Ach, das ist halb so schlimm. Ein glatter Bruch, in sechs Wochen ist es vergessen.“

Dass mir der ganze Arm höllisch weh tat, sagte ich ihr lieber nicht.

"Wie ist das denn passiert, um Himmels Willen?“

"Ach, das war saublöd. Sollten wir nicht lieber über Hannah reden?“

"Du bist mein Kind und deshalb sorge ich mich zu aller erst um dich, also erzähl schon!“

Sie klang ziemlich gereizt. Unter ihrem T-Shirt fiel mir das erste Mal die Wölbung ihres Bauches auf.

"Na gut, aber bitte reg dich nicht auf. Denk an meine kleine Schwester … Naja, ich hab mit der Faust gegen eine Hausmauer geschlagen. Das war alles.“

"Aber warum denn Jordan?“

"Ich weiß nicht … ich war wütend oder so … .“

"Auf wen denn? Geht es um Sean? Wegen seiner Freundin? Ich hab doch gewusst, dass das noch Ärger macht. Jordan, ich verbiete dir Sean wiederzusehen, so lange er noch mit diesem Mädchen zusammen ist!“

Sie schrie fast.

"Musst du denn meine Fehler wiederholen? Und was, wenn dich die ganze Sache aus der Bahn wirft? In drei Monaten bekomme ich das Baby, ich kann mich nicht um euch Beide Sorgen müssen Jordan! Das schaffe ich nicht!“

"Ja Mum, ich weiß. Ich passe schon auf mich auf. Ich rufe gleich morgen Doktor Bishop an. Und ich gehe regelmäßig zur Gruppe und ich rede mit Sean. Bitte Mum, mach dir keine Sorgen. Ich komm klar. Und Chris, er ist Arzt. Ich kann ihn jederzeit anrufen. Er hat die Hand versorgt … .“

"Naja viel konnte ich nicht tun. Es muss von selber heilen. Und Schmerzmittel konnte ich ihrem Sohn natürlich auch nicht geben. Aber ich kenne seine Akte und wenn ich den Eindruck gehabt hätte, dass er unaufhaltsam auf einen Absturz zusteuert, dann hätte ich ihn in der Klinik behalten. Machen sie sich keine zu großen Sorgen und vor Allem: Denken sie an das Baby. Im Mutterleib können Kinder auch schon Stress empfinden. Ich habe erst gestern eine Studie darüber gelesen, dass … .“

Hannah kam aus dem Bad. Sie trug mein Shirt und meine Schlabberhose. Ihre Nase war angeschwollen und ihre Arme waren mit blauen Flecken übersät.

"Hannah, du siehst schrecklich aus. Was ist denn passiert? Komm setz dich zu uns. Das ist Chris. Er ist ein Freund von mir und Arzt.“

"Hallo Hannah. Darf ich mir deine Nase mal ansehen? Ich will nur sichergehen, dass nichts gebrochen ist.“

Vorsichtig tastete er ihre Nase ab. Sie verzog das Gesicht. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass das weh tat.

"Noch mal Glück gehabt. Es scheint nichts gebrochen zu sein. Hast du sonst noch irgendwo schlimmere Verletzungen?“

Hannah schüttelte den Kopf.

"Ist dir schwindlig? Gibt's hier eine Taschenlampe?“

Chris überprüfte die Pupillen und tastete den Kiefer ab. Dann schien er zufrieden zu sein.

"Das heilt alles wieder. Du musst nicht ins Krankenhaus. Diesmal. Aber du hast viele Narben. Das ist nicht zum ersten Mal passiert, stimmt's?“

Sie nickte nur.

"Du solltest dir Hilfe suchen, es gibt Selbsthilfegruppen und du solltest zur Polizei gehen. Ich werde mich jetzt auf den Heimweg machen. Jordan hat meine Nummer, wenn noch was ist. Gute Nacht, zusammen. Keine Sorge, ich finde alleine raus.“

Wir redeten nicht mehr viel, sondern gingen schlafen.

Am nächsten Tag weckte mich der Schmerz in meiner Hand gegen Mittag. Hannah, Mum und Klaus saßen in der Küche.

"Guten Morgen beisammen.“

"Guten Morgen … .“

"Jordan was ist denn mit deiner Hand? Du hast doch nicht etwa Steven … .“

"Nein, davon wusste ich doch noch gar nichts. Lange Geschichte, lasst uns erst mal essen … .“

"So lang ist die Geschichte doch gar nicht. Er war wütend und hat gegen eine Mauer geschlagen.“

"Was?!“

"Ja ich weiß, ziemlich dämlich … Ich hab nicht nachgedacht und einfach dagegen geschlagen … .“

"Na hoffentlich steht das nächste Mal nicht zufällig ein Mensch vor dir. Ich glaub, ich geh jetzt lieber. Meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.“

"Hannah, warte. Es war nicht so wie du denkst!“

Sie war schon in den Hausflur verschwunden. Gerade als ich ihr nach wollte, hielt Klaus mich zurück.

"Jordan, lass sie gehen. Sie muss sich erst wieder beruhigen. Bleib bitte hier, wir wollen mit dir reden.“

"Aber … muss das denn jetzt sein? Was wenn … .“

"Sie kommt schon klar, Jordan. Komm, setz dich zu uns.“

Mum hatte die Hände am Bauch und sah fast ein bisschen ängstlich drein.

"Jordan, bevor deine Schwester geboren wird, sollten noch ein paar Veränderungen stattfinden. Deine Mutter und ich wollen bald heiraten, was hältst du davon?“

Oh Mann, welchen Erziehungsratgeber hatte der denn verschluckt?

"Das hab ich mir schon gedacht. Erscheint mir logisch. Das ist ne gute Sache.“

"Schön, freut mich, dass wir da einer Meinung sind. Natürlich möchte ich dann auch mit euch und dem Baby zusammenwohnen … .“

"Klar, das gehört dazu … .“

"Ja, genau. Und deshalb möchte ich euch anbieten, bei mir einzuziehen. Deine Mutter hat schon zugestimmt … .“

"Was?! Von hier wegziehen? Ich lebe seit ich fünf war in dieser Wohnung! Warum ziehst du denn nicht zu uns?“

"Mir gehört das Haus in dem ich lebe. Und hier ist zu wenig Platz für vier Personen. Bei mir hättest du ein riesen Zimmer und im Keller könntest du deine Musik machen ohne dass sich die Nachbarn beschweren.“

"Mum!“

"Jordan bitte! Das ist das Vernünftigste!“

"Und was ist mit meinen Freunden?“

"Ich wohne im gleichen Schulbezirk, du bleibst natürlich in der Klasse.“

"Ja aber Hannah wohnt gleich um die Ecke und die Zen-Bar ist auch hier … .“

"Du weißt doch gar nicht, wo mein Haus ist! Willst du mich das nicht zuerst mal fragen?“

"Na schön … .“

"Brasskottstreet 104.“

Mir blieb der Mund offen stehen.

"Tja, jetzt findest du die Idee gar nicht mehr so blöd, hm? Deine Mum hat mir erzählt, dass du mit dem Wittmore-Jungen befreundet bist. Seine Familie wohnt, wie du wohl weißt, in Nummer 93. Das ist schräg gegenüber. Sein Vater ist ein Klient von mir. Und zur Schule brauchst du auch nur noch 15 Minuten. Na, was sagst du?“

Klaus war Seans Nachbar? Er kannte seinen Vater? Warum hatte meine Mum das noch nicht erwähnt?

"Na, was sagst du Jordan?“

"Von mir aus … So ein eigenes Musikzimmer wäre schon nicht schlecht.“

"Gut. Euer Mietvertrag läuft zum Monatsende ohnehin aus und deine Mutter hat ihn noch nicht verlängert. Ihr könnt also von mir aus sofort bei mir einziehen.“

"Jetzt überrumpelst du ihn aber! Jordan, wir würden gern für nächstes Wochenende die Möbelpacker bestellen. Wenn dir das aber zu schnell geht, dann können wir den Vermieter bitten, uns noch Zeit zu geben.“

"Nein, das ist schon okay. Aber, könntet ihr mir das Haus vielleicht vorher zeigen? Heute sogar schon?“

"Das lässt sich einrichten. Ich hab jetzt gleich noch einen Termin und um Fünf spiele ich Tennis. Danach komme ich euch abholen. Also dann bis heute Abend.“

"Mach's gut, Liebling.“

Wir hörten wie Klaus die Haustür hinter sich zuzog.

"Jordan, ich weiß, ich hätte dir früher sagen sollen, dass ich Sean kenne. Aber ich dachte, du regst dich nur darüber auf, dass ich Klaus deshalb noch nicht die Wahrheit über euch Beide erzählen konnte.“

"Nein, das ist schon okay, aber warte mal, irgendwann willst du es ihm doch erzählen, oder? Ich meine, wenn wir bei im wohnen und Sean vorbeikommt … .“

"Ja, natürlich. Es ist nur so, Jordan … Klaus hat beruflich wirklich viel mit Seans Vater zu tun. Er erledigt den ganzen Steuerkram für die Firma. Und die Beiden sind auch privat befreundet. Sie sind ja fast Nachbarn. Ich weiß einfach nicht wie Klaus reagiert. Ich finde, wir sollten das ganze Thema behutsam angehen, damit er Zeit hat, sich dran zu gewöhnen.“

"Oh Mum, noch mehr Geheimnistuerei? Aber nicht für lange. Versprochen?“

"Ja, natürlich. Das kriegen wir schon hin. Ich hab schon einen Plan. Aber das erzähl ich dir später. Ich leg mich ein bisschen hin, meine Beine fühlen sich an wie Blei.“

Ich sprang unter die Dusche und rief danach Sean an, denn eigentlich sollten wir ja Chemie lernen …

"Hier bei Wittmore, wen möchten sie sprechen?“

Wenigstens konnte ich dank dem Dienstmädchen immer sicher sein, nicht irgendwann mal Mr. oder Mrs. Wittmore an der Strippe zu haben.

"Sean bitte.“

"Ich verbinde.“

"Sean Wittmore.“

"Hey, ich bin's, ich … .“

"Warte mal … Danke Loraine. Sie können auflegen.“

Man hörte ein deutliches Klicken in der Leitung.

"Hey Jordan, ich dachte schon, du rufst gar nicht mehr an.“

"Ja, ich weiß, tut mir leid. Hier war soviel los. Wann kannst du denn kommen? Ich hab soviel zu erzählen.“

"Ich mach mich gleich auf den Weg. Dann bin ich in einer halben Stunde da. Warum musst du auch so weit weg wohnen … .“

Ich hatte einen Lachanfall.

"Was denn?“

"Ich erzähl dir alles wenn du da bist, ja?“

"Du machst es aber spannend. Also, wir sehen uns gleich.“

Nach einer halben Stunde klingelte es.

"Hallo, … komm rein.“

"Hey Jordan.“

Sean gab mir tatsächlich einen Kuss auf die Wange.

"Wie geht es deiner Hand? Tut's weh?“

"Ziemlich, ehrlich gesagt. Aber ich halt das schon aus.“

"Du Armer.“

Er legte kurz seine Hand an meine Wange.

"Wo ist deine Mum?“

"Sie schläft. Beine wie Blei. Muss so ein Schwangerschaftsding sein … .“

"Vermutlich Durchblutungsstörungen … Naja, dann erzähl mal, was war denn vorher so lustig?“

Wir setzten uns auf mein Bett und ich begann von Anfang an zu erzählen. Von Chris und Hannah und dass Hannah sauer auf mich war.

"Naja, du musst ihr erst mal Zeit geben, red einfach am Montag mit ihr. Aber ich kann das schon irgendwie nachempfinden. Gegen die Wand zu schlagen, ist eine ganz schön aggressive Nummer … .“

"Aber so war das gar nicht. Es war nicht wirklich aus Wut. Ich wollte eigentlich nur nicht mehr daran denken müssen, was du und Sara vermutlich gerade tun.“

"Das ist ja fast so wie sich schneiden, um seelische Schmerzen zu vergessen. Echt selbstzerstörerisch.“

"Mein Arzt sagt das auch über mich. Ehrlich gesagt, hab ich das mit dem schneiden früher auch ausprobiert. Ich fand dann aber eine Alternative … .“

"Drogen?“

"Ich bin nicht stolz drauf. Und das ist auch Vergangenheit.“

"Naja, das mit der Wand war erst gestern … .“

"Ich weiß. Das war ein Ausrutscher. Und ich rede auch am Montag gleich mit meinem Arzt und gehe wieder regelmäßig montags und mittwochs in die Therapiegruppe … .“

"Das finde ich gut. Vielleicht, … wenn zwischen uns … , oder auch nur als Freunde … , also was ich sagen will: Vielleicht nimmst du mich ja mal in so eine Gruppe mit. Das wäre bestimmt gut, um dich besser kennenzulernen. Und außerdem interessiert es mich auch, mit welchen Methoden die da arbeiten und so. Ich hab mir ein paar Bücher ausgeliehen … .“

"Was denn für Bücher?“

"Naja, Fachbücher … Psychiatrie und so. Über die Ursachen und die Behandlung von Sucht und so 'n Zeug … .“

"Wirklich? Wegen mir?“

"Natürlich warst du der Anlass, aber das Thema interessiert mich auch so.“

"Das ist echt … nett, wirklich. Ich glaub, ich würde dich gern mal mitnehmen.“

Wir guckten uns für ein paar Sekunden an.

"Du hast mir immer noch nicht erzählt, was am Telefon so lustig war.“

"Du wirst dich wundern! Als Hannah weg war, eröffneten mir Mum und Klaus, dass sie noch vor der Geburt heiraten wollen. Und wir sollen zu Klaus in sein Haus ziehen.“

"Wow, das sind große Neuigkeiten. Wie findest du das denn?“

"Am Anfang dachte ich, die spinnen. Aber dann hat Klaus mir gesagt, wo er wohnt.“

"Und? Wo wohnt er?“

"Näher bei dir als wir … .“

"Ah, das fandest du also so zum schreien.“

Ich grinste über beide Ohren.

"Er wohnt wirklich sehr nah bei dir … In der Brasskottstreet 104.“

"Was? Das ist ja fast nebenan! Aber das gibt es doch nicht! Ich dachte da wohnt … Moment … Mr. Kamsky? Der Steuerberater meines Vaters? Heißt der nicht Klaus? Der ist mit deiner Mum zusammen?“

Sean wurde irgendwie blass.

"Weiß er von uns? Weiß er Bescheid? Er spielt heute mit meinem Vater Tennis! Jordan …!“

Er hielt mich an den Schultern und sah mich panisch-flehend an.

"Sean, beruhige dich. Meine Mum ist doch nicht blöd. Sie hat es ihm noch nicht gesagt … .“

"Daher kam sie mir so bekannt vor! Ich hab sie bei ihm schon oft gesehen, als ich für meinen Dad Unterlagen abgeholt habe!“

"Ja, sie hat dich erkannt. Sean, jetzt reg dich nicht auf. Wir bringen es ihm schonend bei. Freu dich doch lieber … .“

"Ihr wollt ihm das sagen? Aber wenn er es bei meinem Vater ausplaudert, dann bin ich tot!“

"Sean, übertreib nicht. Wir tun nichts ohne dein Einverständnis, okay?“

" … ja … Das ist echt ein Riesenzufall. Das muss ich erst mal verdauen … Du wirst bald mein Nachbar sein. Wir können einfach mal eben so vorbeischauen. Und ich muss meinen Eltern nicht mehr erklären, warum ich quer durch den Bezirk latsche, um dir Chemie zu erklären … Und ihr werdet euch kennenlernen. Mr. Kamsky ist oft zum Essen bei uns. Er wird euch dann natürlich mitbringen. Oh Gott, ich kann mir das gar nicht vorstellen! Deine Mum und der spießige Typ! Und wenn du bei uns rumhängst, wird sich niemand darüber wundern und wenn meine Eltern unterwegs sind können wir zusammen kochen. Und … endlich muss ich mir, wenn ich krank bin, die Aufgaben nicht mehr faxen lassen, weil du eh an unserem Haus vorbei gehst. Und überhaupt, wir haben dann den gleichen Weg zur Schule und können zusammen gehen! So viele Möglichkeiten! Jordan, das wird wunderbar!“

Überschwänglich fiel mir Sean um den Hals und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

"Wann zieht ihr denn um?“

"Nächstes Wochenende kommen schon die Möbelpacker … .“

"Noch vor den Herbstferien? Das ist ja toll, da sind meine Eltern bei meiner Schwester! Ich geb wieder eine Party und ich sag meinen Eltern, dass ich Loraine nicht brauche und wir haben das ganze Haus für uns.“

Er freute sich wie ein kleines Kind. Es war toll mit anzusehen.

"Oh, es ist schon spät! Wir sollten langsam mal das Chemiebuch aufschlagen, du willst doch keine Fünf im Zeugnis haben. So was schickt sich in deiner neuen Nachbarschaft nicht!“

Er zwinkerte mir überdreht zu, schlug das Buch auf und fing an, mir das Orbitalmodell zu erklären.

Gegen halb Sieben hörten wir, dass meine Mum in der Küche anfing, das Abendessen zu machen.

"Ich dachte sie fühlt sich nicht gut? Sollen wir ihr nicht helfen?“

"Sie lässt mich seit einem kleinen Zwischenfall mit einem brennenden Topfhandschuh nicht mehr in die Küche wenn sie kocht. Ich wäre ihr ohnehin keine große Hilfe, nicht nur wegen dem Gips, ich bin völlig untalentiert. Dabei bin ich halb Italiener. Man sagt doch, dort seien die Männer die besseren Köche … Tja, … .“

"Ich weiß nicht … ich bin halb Ire und koche gern. Meinst du es wäre okay, wenn ich ihr helfe?“

"Ob das okay wäre? Ich glaub, sie würde sich freuen wie ein Schnitzel. Ich bleib hier mit dem Chemiebuch. Ich hab das Gefühl, ich steh kurz vor dem Durchbruch. Ich werde bestimmt der nächste Albert Einstein!“

"Nur dass der Physiker war … .“

"Natürlich!“

Sean tätschelte mir den Kopf und ging zu meiner Mutter in die Küche.

Natürlich blieb ich nicht in meinem Zimmer, sondern setzte mich in Hörweite auf den Flur.

"Guten Abend Mrs … sie heißen nicht Bonanno wie Jordan, oder?“

"Nein, Mason, aber nenn mich Carol.“

"Kann ich ihnen helfen, Carol? Ich koche sehr gerne.“

"Wirklich? Ja natürlich! Schnapp dir ein Messer und schneid die Karotten. Es gibt selbst gemachte Bolognese. Das ist das einzige Fleischgericht, das Jordan gern isst. Er hat ständig zu wenig Eisen. Weil er so blass war, fragten mich die Leute in der Schule ständig, ob er krank ist.“

"Sie sehen auch ein wenig blass aus. Nehmen sie Eisentabletten?“

"Ja, mein Arzt hat mir welche verschrieben. Ich bin nur ein bisschen müde.“

"Wann ist denn der Geburtstermin?“

"Am 10. Januar. Ich habe noch 12 Wochen.“

"Naja, mehr als zwei Drittel sind geschafft. Ihr Bauch ist dafür eh noch sehr klein … .“

"Du kennst dich aber gut aus. Willst du Medizin studieren oder so?“

"Nein, ich werde wohl Betriebswissenschaft machen. Medizin ist nur ein Hobby. Letztes Jahr hat meine Schwester eine Tochter bekommen. Da hab ich ein bisschen was aufgeschnappt.“

"Betriebswirtschaft? Willst du bei deinem Vater einsteigen?“

"Naja, das bietet sich doch an. Verdienen tut man da besser als so mancher Mediziner. Und mein Vater muss die Firma, die er aufgebaut hat, nicht irgendwelchen Investoren überlassen, die sie für maximalen Gewinn ausschlachten.“

"Ja, das hört sich vernünftig an. Aber du hast ja noch bis zum Frühjahr Zeit, bis die Uni-Bewerbungen losgehen.“

"Ja, klar … So, soll ich jetzt die Zwiebeln schneiden?“

"Gerne. Der Trick ist, dabei nicht durch den Mund zu atmen.“

"Wirklich, das wusste ich nicht.“

"Und was will deine Freundin studieren?“

"Sara? Sie ist die geborene Ökonomin. Jeden Abend guckt sie die Börsen-Nachrichten. Ich glaube, ihr gehören schon ganze Konzerne, ständig kauft oder verkauft sie ihre Aktien. Meinem Vater imponiert das sehr.“

"Und dir?“

"Naja, ich kann mit so was nichts anfangen.“

"Aber du willst BWL studieren?“

"Ich glaube, ich hab doch durch den Mund geatmet. Ich gehe mir mal das Gesicht waschen.“

Ich sah zu, dass ich wieder in mein Zimmer kam. Unglaublich, was meine Mum Sean alles aus der Nase zog.

"Hey.“

"Hey, was gibt's?“

"Ich will mir nur schnell das Gesicht waschen. Ich hab Zwiebeln geschnitten.“

"Der Trick ist, nicht durch den Mund zu atmen.“

"Was du nicht sagst. Das ist nur nicht so leicht, wenn ich deiner Mum gleichzeitig Frage und Antwort stehen muss.“

"Quetscht sie dich aus? Ist es sehr schlimm?“

"Nein nein, sie ist ja nicht die erste Mutter, die mich verhört. Sie ist dabei auf jeden Fall höflicher und subtiler als Saras Mum damals.“

Ich hatte diesen Namen heute Abend definitiv schon zu oft gehört.

"Tut mir leid, das war echt unsensibel. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich deine Mum nett finde. Ich werde mich dann mal wieder an die Zwiebeln machen. Und dieses Mal … “

" … fragt dir meine Mum auch wieder ein Loch in den Bauch und du heulst weiter.“

"So wird es wohl laufen. Was tut man nicht alles für … .“

Er brach ab und sah drein als hätte er versehentlich ein wichtiges Geheimnis ausgeplaudert. Ich hatte fast ein bisschen Mitleid mit ihm. Er machte es sich wirklich nicht einfach.

"Schon gut, Sean, ich weiß was du meinst. Geh zu deinen Zwiebeln. Ich komm gleich nach.“

Ich wollte Mum noch einen Moment mit Sean geben und ging dann in die Küche.

"Ah, Spaghetti Bolognese! Das duftet aber schon gut. Ihr kocht das doch nicht bloß, damit ich Fleisch esse, oder?“

"Also Jordan, für wie berechnend hältst du uns denn? Kannst du vielleicht schon mal den Tisch decken?“

Sie wandte sich zu Sean.

"Lass ihn nie zu nah an den Herd, es sei denn, du hast eine gute Brandschutzversicherung … .“

"Mum, damals war ich 14! Du solltest mir langsam wieder etwas mehr zutrauen.“

"Oh, den Tisch zu decken ist die wichtigste Aufgabe von allen!“

Genau pünktlich zum Essen kam auch Klaus.

"Hallo, ich bin wieder da! Oh, wie das duftet! Sean! Du hier? Wir haben heute erst über dich gesprochen. Hat dir Jordan die Neuigkeit schon erzählt?“

"Ja, vorhin. Ich freue mich schon. Bisher wohnt niemand aus der Klasse in meiner Gegend.“

"Du musst mir danken. Zuerst hat Jordan nicht so recht gewollt. Aber mein Angebot eines eigenen Musikzimmers im Keller hat ihn dann doch noch überzeugt“

"So, tatsächlich?“

Sean lächelte mich vielsagend an.

"Ich habe ihn noch nie irgendwas spielen hören.“

"Wirklich nicht? Er ist auf der Gitarre echt talentiert. Jordan, spielst du uns nach dem Essen etwas vor?“

"Dürfte schwierig werden mit dem Gips … .“

"Ach, das hatte ich ja ganz vergessen. Da fällt mir ein: Beim Umzugskisten schleppen wirst du also keine große Hilfe sein.“

"Oh, ich helfe ihnen natürlich gerne. Dazu sind Nachbarn doch da.“

"Das ist wirklich nett von dir, Sean.“

Die Beiden hatten während dem ganzen Essen Tonnen von Gesprächsstoff. Meistens redeten sie von Tennis oder Menschen aus der Firma. Ich fand es toll, dass sie sich gut verstanden und auch meine Mum warf mir einen "Siehst du, das wird schon“ -Blick zu.

Sean und Klaus räumten die Teller ab.

"Schwangere und Invaliden dürfen sitzen bleiben. Jordan, willst du denn immer noch das Haus anschauen?“

"Klar, ich kann's kaum erwarten.“

"Na gut, dann nichts wie los! Sean, ich denke wir fahren in deine Richtung.“

Im Auto quasselte Klaus die ganze Zeit über seine Tricks am Netz und wie er es immer wieder schaffte, Seans Vater mindestens 6:3; 6:2 zu schlagen. Scheinbar wurde Mr. Wittmore schnell jähzornig, sobald er ein Spiel zurücklag. Deshalb war er, laut Klaus, beim Sport selbst sein größter Feind.

Wir fuhren an Seans Haus vorbei und bogen in eine Auffahrt.

Der Garten war riesig und das Haus war auch nicht klein.

"So, ich werde dann mal … .“

"Sei nicht albern, komm mit rein. Du kannst Jordan bei der Zimmerauswahl helfen. Seine Schwester muss dann das nehmen, das er übrig lässt.“

Der Eingangsbereich war offen gestaltet, man stand quasi schon im Wohnzimmer. Alles wirkte sehr freundlich. Die Küche war riesig und es gab ein extra Esszimmer. Außerdem gab es drei Bäder, dass hieß, ich hatte wieder eines für mich. Eigentlich hatte ich sogar ein ganzes Stockwerk für mich, denn Klaus' Schlafzimmer und ein Bad befanden sich im 2. Stock. Im ersten Stock gab es ein Arbeitszimmer, ein Badezimmer und zwei riesige Schlafzimmer, von denen eines meines werden sollte. Ich fand es seltsam, dass die Zimmer völlig leer waren. Jeder normale Mensch würde so viel Raum doch nutzen …

Mum und Klaus ließen Sean und mich alles alleine erkunden.

"Fragst du dich, warum hier alles leer ist?“

"Ja, irgendwie seltsam … .“

"Seine Frau und seine beiden Söhne hatten vor zwei Jahren einen Autounfall. Vor einem halben Jahr hat er die Zimmer endlich ausräumen und renovieren lassen. Das ganze Haus sogar.“

"Davon hatte ich keine Ahnung. Das muss ja schrecklich für ihn gewesen sein!“

"Ja, er war in der Zeit danach regelmäßig zum Essen bei uns und hat sich lange mit meinem Vater unterhalten. Sie hatten viel gemeinsam. Als ich noch ein Baby war, starb mein Bruder an Leukämie. Er war 12. Ich glaube meine Eltern haben mich gezeugt, nachdem bei Jacob die Diagnose gestellt wurde.“

"Oh Sean, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … .“

"Schon okay, ich kannte ihn ja gar nicht. Und jetzt grüble lieber darüber nach, welches der beiden Zimmer du haben willst.“

"Keine Ahnung, sie sind ja eh identisch … .“

"Ja, die Zimmer vielleicht. Aber die Aussicht nicht. Bei dem da drüben schaust du direkt auf die Straße, von hier ist tagsüber der Waldrand zu sehen. Und es gibt da unten ein kleines Vordach. Ich könnte mir gut vorstellen, dass man nachts hier hochklettern könnte, wenn man wollte … .“

Sean lächelte schelmisch.

Wir sahen uns noch den Keller an, dann war ich rundum zufrieden. Beiläufig erwähnte Klaus, er habe auch einen Pool. Wahnsinn!

Ich verabredete mich mit Sean für den nächsten Tag zum Chemie lernen.

Zu Hause kam mir mein Zimmer plötzlich richtig klein vor. In das neue Zimmer würde ein größeres Bett passen. Ich schmiedete die halbe Nacht in Gedanken Pläne, wo was am besten untergebracht sein würde.

Pünktlich um Zwei kam Sean. Wieder begrüßte er mich mit einem Kuss auf die Wange.

"Hey, na bist du bereit für die zweite Runde, Einstein?“

"Ha ha, grins du nur, das wird dir schon noch vergehen, wenn mir erst der Nobelpreis verliehen wird.“

Sean konnte komplizierte Dinge ganz einfach erklären. In den paar Stunden lernte ich vermutlich mehr, als in allen meinen Chemie-Schulstunden zusammengenommen. Sean half Mum wieder das Essen vorzubereiten. Ich durfte wieder den Tisch decken. Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Ich lehnte mich einfach zurück und genoss, wie gut sich Sean beim Essen mit Mum und Klaus verstand.

"Iss doch wenigstens ein bisschen von dem Fleisch! Du siehst dünn aus … .“

"Mum, ich hab im letzten Jahr ungefähr 10 Kilo zugenommen. Ich glaube nicht, dass ich dünn aussehe … .“

Das alte Lied. Diese Unterhaltung führten wir im Durchschnitt jeden zweiten Abend.

Sean sah mich besorgt an.

"Wenn du 10 Kilo zugenommen hast, wie sahst du dann letztes Jahr aus? Du wiegst doch jetzt höchstens 65?!“

"68. Jetzt fang du nicht auch noch an.“

"Wenn du schon nicht auf mich hören willst, dann hör doch wenigstens auf Sean! Soll ich alte Fotos suchen? Willst du wieder so aussehen?“

"Hier, ich esse ein Stück Fleisch, seht ihr? … Man, das hat es jetzt bestimmt gebracht. So, zufrieden? Können wir das jetzt lassen?“

Die Beiden gaben endlich Frieden und räumten den Tisch ab. Ich hatte das Gefühl, hier war eine Verschwörung im Gange. Ich wusste plötzlich nicht mehr so recht, ob es mir gefiel, dass Sean sich mit Mum und Klaus so gut verstand. Nach dem Essen besprachen wir noch mögliche Prüfungsfragen. Klaus bot an, Sean nach Hause zu fahren. Aber der wollte natürlich niemanden Umstände machen, da Klaus heute bei uns übernachten würde. Er bestand darauf, zu Fuß zu gehen. Ich schlug ihm vor, ihn wenigstens ein Stück zu begleiten.

"Das musst du aber nicht … .“

"Ich weiß, aber ich will eh noch ein bisschen an die frische Luft … .“

"Also gut.“

Wir schlenderten an Hannahs Haus vorbei und mir fiel wieder ein, dass sie ja noch sauer auf mich war.

"Willst du mal bei ihr klingeln?“

"Ich weiß nicht. Vielleicht auf dem Rückweg.“

Vor der Zen-Bar standen viele Autos. Sonntags war sie meistens für geschlossene Gesellschaften reserviert. Mir fiel auf, dass das meiste Limousinen waren.

"Das hab ich ja ganz vergessen. Heute feiert Susis Onkel seinen 40. Geburtstag. Meine Eltern sind auch da.“

"Deine Eltern gehen auf die Geburtstagsfeier eines Nachtclub-Besitzers?“

"Ja, jetzt ist er Nachtclub-Besitzer, aber davor hat er bei meinem Vater gearbeitet. Außerdem gilt das Zen ja als anständiger Club. Warum meinst du, dass meine Eltern nie Stress machen, wenn ich da hingehe?“

Schon wieder so eine "Ich hab Schiss vor meinen Eltern“-Nummer … Ich fragte mich, wann er das wohl ablegen würde. Da fiel mir auf, dass ich gar nicht wirklich wusste wie alt er war. In der Klasse gab es alles, von 17 bis fast 20.

"Sag mal Sean … wie alt bist du eigentlich? Ich meine, du bist doch schon 18, oder?“

"Nein, ich dachte das wüsstest du? Ich bin einer der Jüngsten aus der Klasse.“

Schluck.

"Okay … , nein, das wusste ich nicht. Und wann wirst du 18?“

"Na nächstes Wochenende. Deshalb geb ich ja auch eine Party.“

"Gott sei Dank … .“

"Was denn? Hast du schon Angst bekommen, wegen Verführung Minderjähriger belangt zu werden?“

Sean grinste über beide Ohren.

"Keine Sorge, falls das raus käme, würdest du deinen Prozess eh nicht mehr erleben. Mein Dad würde dich vorher finden … .“

Sein Tonfall war zwar sarkastisch, aber man merkte, dass ihm der Gedanke nicht so abwegig vorkam.

"Außerdem glaub ich nicht, dass das so streng gehandhabt wird. Du bist ja wohl auch erst knapp über 18 … .“

"Machst du Witze? Ich bin fast 20!“

"Was, wirklich?“

"Ich hab im Januar Geburtstag.“

"Oh … , naja, trotzdem.“

"Weißt du, ich bin vorgeschädigt. Kurz nach meinem 18. Geburtstag wollten sie mich wegen einer 16-Jährigen dran kriegen. Zum Glück hat sie gesagt, dass wir nur geknutscht haben und ich dann eingeschlafen bin.“

"Aber das stimmte nicht, oder?“

"Keine Ahnung, ich konnte mich an nichts mehr erinnern, nachdem wir das Zen verlassen hatten … .“

"Ernsthaft? Krass … Sag mal, mit wie vielen Mädels hast du eigentlich schon geschlafen?“

"Sean … das willst du nicht wissen … .“

"Doch, wirklich. Ich halt's schon aus …5... mehr? 10? Noch mehr? Wirklich? Sag schon“

"34 an die ich mich erinnern kann …plus zirka 10 Dunkelziffer.“

"!!“

"Sean, sag was! Du wolltest es doch wissen.“

"Ja … wow … das sind viele … .“

Sean wirkte echt schockiert. Ich versuchte die Sache zu retten:

"Kann sein dass ich ein paar doppelt gezählt habe.“

Das machte die Sache eher schlimmer …

"Was?! Wie kann man sich denn nicht sicher sein, mit wem man schon geschlafen hat und mit wem nicht?“

"Indem man high ist! Sean, das hatte doch alles nichts zu bedeuten. Das war wie Essen. Wenn man hungrig ist, holt man sich eben nen Snack. An mehr denkt man dabei nicht.“

"Wah, ich will das nicht mehr hören!“

"Tut mir leid … Aber hätte ich denn lügen sollen?“

"Und was ist mit Krankheiten? Ich meine, denkt man, wenn man high ist daran, sich zu schützen?“

"Meistens … .“

"Meistens?! Und hast du dich testen lassen oder sollte ich besser mal zum Arzt gehen?“

Er wirkte leicht hysterisch.

"Sean! Beruhige dich erstmal. Denk nach! Wie hättest du dich denn anstecken sollen, hm? Und ich hab mich natürlich testen lassen, mehrmals, auf alles Mögliche. Nichts. Ich bin gesund, okay? Du kannst es selbst lesen, ich hab alles aufgehoben.“

"Ich, … okay.“

"Gut, alles wieder okay?

"Ich glaub schon. Es ist nur … mit so einer großen Zahl hätte ich nicht gerechnet. Das ist ein Schock. Ich meine, du warst Nummer 2.“

"So kannst du das nicht sehen. Du kannst dich als Nummer 3 betrachten. Ich hab nur mit 2 Mädchen so was Ähnliches wie eine Beziehung gehabt.“

"Okay … und wie alt warst du beim ersten Mal?“

"Willst du wirklich noch weiter über das Thema reden?“

"Ja. Ich kenne gerne jede auch noch so unangenehme Wahrheit. Solang es nur die Wahrheit ist.“

"Na schön. 13. Und du?“

"Fast 15. Danach kam ich mit Sara zusammen. An meinem 15. Geburtstag.“

"Wirklich? Das heißt ja ihr habt dieses Wochenende euer Dreijähriges.“

"So ist es wohl, ja …an Halloween.“

"Das wird ne tolle Party. Soll ich da wirklich hinkommen?“

"Jordan! Es ist mein Geburtstag! Du musst da sein, ich will, dass du der Erste bist, den ich sehe, wenn ich 18 bin. Danach wird alles anders. Ich bekomme ein eigenes Auto von meinen Eltern. Und ich will mit ihnen noch mal über ein Medizinstudium sprechen. Und mit Sara will ich auch reden. Ich weiß es ist viel verlangt, aber ich wünsche mir, dass du da bist, auch wenn du Sara und mich ertragen musst. Bitte.“

"Sean, wie lange soll das denn noch so weiter gehen?“

"Ich rede mit ihr. Aber nicht an unserem Jahrestag, das kann ich ihr nicht antun.“

"Aber sie will bestimmt den Anlass und die Abwesenheit deiner Eltern nutzen … .“

"Da lasse ich mir schon was einfallen. Sie hat mich drei Jahre lang hingehalten, da schaffe ich das ja wohl eine Woche. Vertrau mir, Jordan.“

Ich hatte wohl keine andere Wahl.

Als wir in seine Straße einbogen, verabschiedete ich mich und machte mich auf den Heimweg. Ich beschloss, nicht mehr bei Hannah zu klingeln, sondern mich auf die Chemieklausur am nächsten Tag, gleich in der ersten Stunde, zu konzentrieren.


Sean

In der Schule verbrachten wir die meiste Zeit mit der ganzen Clique. Sara war die ganze Woche seltsam überdreht und anhänglich. Ständig wollte sie rummachen. Hannah wusch mir deshalb gehörig den Kopf. Ich solle mich entscheiden. Sie fragte, ob es mir egal sei, wie es Jordan dabei ging. Sie hatte leicht reden, ich verhielt mich eben wie es von mir erwartet wurde. Ich wollte ja nicht verdächtig wirken. Ich fragte mich langsam, ob Sara etwas ahnte, denn plötzlich wollte die übers Wochenende mit mir campen fahren. Im Oktober und kurz vor ein paar wichtigen Klausuren. Das allein war schon Grund genug, ihr abzusagen. Jordan bekam Wind davon und das Ganze gipfelte in seiner gebrochenen Hand. Das machte mir ganz schön Angst. Meine kleinsten Handlungen hatten so einen starken Einfluss auf Jordans Gemütszustand.

Am nächsten Tag eröffnete er mir, dass der Freund seiner Mutter der Steuerberater meines Vaters sei und dass sie zu ihm ziehen würden und damit in meine unmittelbare Nachbarschaft. Ich stand dem anfangs mit gemischten Gefühlen gegenüber, wie man sich vorstellen kann. Denn das barg ganz neue Risiken, aber auch jede Menge Chancen.

Beim Zimmer aussuchen erzählte ich Jordan von Klaus' Familie und meinem Bruder Jacob. Jordan und ich wussten eigentlich ja noch recht wenig voneinander. Das wurde mir auch am nächsten Tag bewusst, als Jordan ganz überrascht war, dass ich noch nicht 18 war und ich erfuhr, dass er schon fast 20 war. Auch das was er über seine sexuelle Vergangenheit erzählte, überraschte mich, gelinde gesagt.


Jordan

Die Prüfung lief wirklich gut. Die Fragen kamen mir fast zu einfach vor. Ab der ersten Pause war der Alltag wieder eingekehrt. Die Clique saß beieinander, Sean und Sara turtelnd etwas abseits. Susi erzählte vom Geburtstag ihres Onkels und dass "Ash of the Phoenix“ dort gespielt hatten, eine lokal ziemlich erfolgreiche Band, die vor allem Covers von den großen Rockbands der 80er spielte. Was mit meiner Hand geschehen war, hatte sich wohl schon rumgesprochen, jedenfalls fragte niemand danach. Eigentlich war alles wie immer und ich schaute einfach nicht in Seans Richtung. Diesmal machte mir etwas anderes zu schaffen. Hannah würdigte mich keines Blickes.

"Hannah, kann ich mal mit dir reden?“

"Ich will aber nicht mit dir reden.“

"Dann hör mir wenigstens zu. Du musst wissen, ich würde dir nie wehtun … .“

"Ja, das hat Steven auch gesagt.“

"Hannah, ich bin nicht Steven. Ich bin ehrlich zu dir. Nur deswegen weißt du überhaupt von der Sache mit meiner Mutter. Sie hat es mir verziehen, kannst du das dann nicht auch?“

"Und was ist mit deiner Hand? Was, wenn da stattdessen ein Mensch gestanden hätte?“

"Ich hab nicht gegen die Wand geschlagen, weil ich wütend war. Ich hab dagegen geschlagen, weil ich verzweifelt war.“

"Soso. Du wolltest also nur dir selbst wehtun? Dann ist es ja nicht schlimm. Du bist echt ziemlich kaputt, Jordan!“

Sie wandte sich zum gehen. Mittlerweile beobachtete uns die ganze Clique.

"Warte!“

"Jordan, lass sie gehen!“

Sara hielt mich am Arm zurück. Ich sah sie verwundert an.

"Jordan, du verstehst nicht was los ist, also lass sie einfach gehen.“

"Was weißt du denn davon?“

"Ich weiß, dass Hannah meine beste Freundin ist und am Samstag ganz aufgelöst vor meiner Türe stand und mir alles erzählt hat.“

Ich sah Sean an, der hinter ihr stand und leichenblass wurde.

"Und … was hat sie dir erzählt?“

"Na zum Beispiel, dass du mal deine Mutter geschlagen hast, als du high warst. Und dass du aus Wut auf irgendwas, gegen die Wand gedroschen und dir dabei die Hand gebrochen hast.“

Pah, sie wusste gar nichts und das sagte ich ihr auch.

"So, na zumindest habe ich Augen im Kopf und sehe was um mich herum vorgeht!“

"Was meinst du?“

"Stell dich nicht blöd, du musst wissen wovon ich rede!“

Ich sah sie erstaunt an

"Ich rede davon, dass Hannah sich in dich verliebt hat!“

"Was? Ach Schwachsinn! Wir sind Freunde, mehr nicht.“

"Ich glaube, dass sieht sie anders … .“

Ich fiel aus allen Wolken. Meine Mum hatte auch so etwas angedeutet. Hatte ich nur noch Augen für Sean und bekam deshalb gar nicht mehr mit, was um mich herum vorging?

"Das … aber sie weiß doch … .“

Ich biss mir auf die Zunge.

"Hat sie das wirklich gesagt?“

"Das musste sie nicht, es war offensichtlich.“

Alle nickten zustimmend. Mir wurde das zu viel, ich musste erst mal weg, um einen klaren Kopf zu bekommen. Sara lief mir hinterher.

"Jordan, warte!“

"Bitte lass mich zufrieden.“

"Aber wo willst du denn hin? Die Pause ist gleich aus, wir haben Musik!“

"Na und? Dann nehm ich mir eben frei.“

"Das würde Hannah bestimmt nicht toll finden! Jetzt warte doch, komm, die Anderen haben doch eh Kunst, komm schon, komm mit.“

Sie hakte sich unter und zog mich Richtung Musiksaal.

Die restliche Pause setzten wir uns vor dem Raum auf den Boden.

"Also, magst du Hannah auch?“

"Natürlich mag ich sie, aber doch nicht so … .“

"Warum denn nicht?“

"Wie, warum nicht? Das sucht man sich doch nicht aus!“

"Nein, aber es gibt trotzdem Gründe für Gefühle. Du bist mit ihr befreundet, das heißt, du findest sie nett. Hübsch ist sie ohne Zweifel und einen Freund hat sie auch nicht mehr, also was ist es?“

"Naja, Steven ist noch nicht so wirklich abgeschrieben, habe ich das Gefühl … .“

"Mag sein, aber du weißt so gut wie ich, dass er das schnell wäre, wenn du Interesse bekunden würdest. Hannah will nur nicht allein sein. Also, was hält dich ab? Eigentlich dachte ich schon, dass du auf sie stehst. Auf Seans Party damals hast du sie ganz schön angegraben. Was hat sich seitdem denn verändert?“

"Ich weiß auch nicht, jetzt sind wir Freunde. Und das will ich nicht aufs Spiel setzen … .“

"Ach komm schon, das kann doch nicht alles sein! Hast du mittlerweile jemanden kennengelernt?“

"Ja, das auch … .“

"Was Ernstes?“

"Eigentlich schon … .“

"Weiß Hannah das?“

"Ja, natürlich.“

"Das sieht ihr gar nicht ähnlich, dass sie sich in andrer Leute Beziehung einmischen will. Hm, vielleicht solltest du später mal mit ihr reden … .“

Der Gong befreite mich aus dem Verhör. Mir war es lieber gewesen, als Sara mich noch ignoriert hat. Sie setzte sich sogar neben mich.

"Wie war dein Wochenende mit Sean?“

"Was …?“

"Na euer Chemie-Crashkurs. Hast du das Gefühl, es hat was gebracht?“

"Oh, ja, die Klausur ist gut gelaufen.“

"Na dann hat es sich gelohnt, dass wir das Campen verschoben haben. Wäre vermutlich eh etwas kalt geworden … .“

Jedes meiner Worte dachte ich dreimal im Kopf vor, damit ich auch ja nichts Falsches sagte. Ich tat angestrengt so, als würde ich dem Unterricht folgen, aber sie tuschelte mir trotzdem ständig etwas zu und wartete auf eine Antwort.

Nach der Stunde war ich ein nervliches Wrack. Ständig hatte ich Angst davor gehabt, dass sie mich durchschaut.

Am Nachmittag hatte ich einen Termin bei Doktor Bishop. Ich erzählte ihm von Sean und den Ereignissen der letzten Wochen. Er riet mir nach wie vor, mich auf nichts einzulassen, bevor ich nicht mindestens ein Jahr clean war. Vor allem, da die Situation so verfahren war, riet er mir, die Sache zu beenden, bevor es richtig anfing. Auch der Umzug machte ihm Sorgen, da er Stress bedeute und ich mich ja lieber auf den Schulabschluss konzentrieren sollte. Als ich ihm erzählte, was mit meiner Hand geschehen war, hätte er mich am liebsten eingewiesen. Ich konnte ihn aber doch überzeugen, dass das Schlimmste überstanden war und ich regelmäßig Gruppensitzungen besuchen würde. Er brummte mir zusätzlich eine wöchentliche Stunde mit ihm auf. Gleich im Anschluss begann die Gruppensitzung und es wurde halb Acht bis ich mich auf den Heimweg machte. Ich überlegte noch, ob ich bei Hannah vorbeischauen sollte, hatte aber keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte. Also machte ich mich lieber an meine Bücher. Es stand vor den Herbstferien ja schließlich noch eine Englisch-Klausur an.

Auch die ging vorbei, Hannah ignorierte mich und Sean sah ich nur aus der Ferne. Unser Umzug und Seans Geburtstag rückten immer näher. Im Laufe der Woche packte ich meine Sachen in Kisten. Ich fand tatsächlich noch ein paar Pillen, die ich ohne zu zögern im Klo runterspülte.

Am Freitag vor der Schule kamen schon die Möbelpacker. Das neue Bett sollte bis zum Nachmittag zu Klaus geliefert werden. Wurde es aber nicht. Naja. Abends standen die meisten Kartons noch im Wohnzimmer, wo die Umzugsfirma sie hatte stehen lassen. Ein heilloses Durcheinander. Ich war froh, dass ich gegen Sieben zu Sean gehen konnte, um ihm bei den Vorbereitungen für die Party zu helfen.

"Hey, du bist der Erste.“

Wieder begrüßte er mich, nachdem er die Haustüre geschlossen hatte, mit einem Wangenkuss. Das schien sich langsam einzubürgern, was mir gefiel.

"Hast du dein Kostüm in dem Rucksack?“

"Kostüm? Nein, da ist dein Geschenk drin.“

"Ich bekomme ein Geschenk von dir?

"Eigentlich sogar mehrere. Eines für gleich und eines für später. Das erste ist eher für die Allgemeinheit und um ehrlich zu sein von meiner Mutter. Brownies. Aber ich hab die Schüssel ausgeleckt. Meine Mami sagt, das ist der wichtigste Job dabei.“

"Brownies? Hab ich seit Jahren nicht mehr gegessen. Sag ihr Danke von mir. Und ich danke auch dir. Deine Mami hat Recht. Wenn die Schüssel nicht richtig ausgeleckt wird, dann sind die ganzen Brownies nur halb so gut. Ich bin schon so aufgeregt. Ich weiß gar nicht warum. Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich heute Nacht mit dem zwölften Gongschlag plötzlich erwachsen werde … oder?“

"Also bei mir hat es danach noch ne Weile gedauert … Ehm, das mit dem Kostüm war vorhin nicht dein Ernst, oder?“

"Doch klar, ist doch schließlich ne Halloween-Party. Aber keine Sorge. Wir finden oben schon noch was für dich. Ich hab ne ganze Truhe voll. So ist das halt, wenn man jedes Jahr eine Halloween-Geburtstagsparty gibt.“

"Oh Mann, na schön. Aber ich geh nicht als irgendwas Peinliches!“

"Wir werden schon was für dich finden. Komm mit!“

Er nahm meine Hand und schleifte mich nach oben in sein Zimmer. Als ich es betrat, kamen alle Erinnerungen an die Nacht mit Sean in diesem Zimmer auf mich herein gestürzt. Er erriet wohl, was in mir vorging.

"Ich weiß wie du dich fühlst. Als Hannah und Sara damals gingen und ich hier rein kam, ging es mir genauso. Ich wollte gar nicht mehr raus. Komm, zieh deine Sachen aus.“

"Was?“

"Hier, ich glaub ich hab was Passendes gefunden. Du bist der geborene Vampir. Probiers mal an.“

"Irgendwie ist es seltsam, mich vor dir auszuziehen … .“

"Oh, soll ich lieber draußen warten?“

"Nein, Schwachsinn! Es ist nur komisch, gewöhnlich habe ich kein Problem, mich vor anderen Typen auszuziehen. Aber ich kann dich einfach nicht so recht einstufen, verstehst du? Ich weiß auch nicht. Alles Körperliche zwischen uns scheint mir ein Tabu zu sein … Ich kann's auch nicht erklären.“

"Komm her.“

Er schien zu verstehen was ich meinte, denn er küsste meinen Hals und legte somit fest, dass es kein Tabu mehr gab. Dann zog er mir mein Sweatshirt aus. Ich hielt mich noch zurück, weil ich nicht sicher war, was genau er vor hatte. Als er mir dann auch noch mein T-Shirt über den Kopf zog, war ich mir relativ sicher, was er wollte, auch wenn es überraschend kam.

Er nahm sich zusammen und wandte sich um, um mir ein langes schwarzes Hemd zu geben. Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen. Dann biss er mir in den Hals.

"Ich verspreche dir, dass du noch mehr davon bekommst. Aber erst wenn ich 18 bin. Sonst verhaften sie dich noch wegen dem Trinken von minderjährigem Blut oder so. Nur noch viereinhalb Stunden. So ich geh mal in die Küche. Kommst du runter wenn du fertig bist? Gesichtsfarben sind in dem Beutel da, genau wie die Zähne. Und dein Umhang liegt da.“

Und schon war er weg. Woah. Der Vampir konnte es kaum noch erwarten, dass die Uhr zur Geisterstunde schlug …

Sean hatte Recht behalten. Als Vampir machte ich mich wirklich gut. Als ich fertig war, klingelte es an der Tür. Unten war Sara gekommen. Ich wartete noch zwei Minuten und ging dann auch zu den Beiden. Sara war als Business-Woman verkleidet, in grauem Hosenanzug, Dutt und Yuppie-Brille.

"Hey Jordan! Wow, düster!“

"Danke. Eigentlich gehört das Sean … .“

"Das hattest du aber nie an oder Schatz?“

"Es stand mir nicht besonders … .“

"Als was gehst du eigentlich?“

"Ach Jordan, da braucht man nicht fragen. Er verkleidet sich seit Jahren immer gleich. Als Arzt.“

"Ich geh mich dann auch mal umziehen.“

Mit Sara allein zu sein, behagte mir fast noch weniger, als sie mit Sean zu sehen …

"Und, wie läuft der Umzug?“

"Eine Katastrophe jagt die andere. Alles steht voller Kartons, nichts findet man wieder und mein Bett wurde auch noch nicht geliefert. Ich muss wohl heute auf dem Boden schlafen … .“

"Hier wird doch bestimmt noch ein Bett für dich frei sein. … Naja, wenn ich so nachrechne, liefe es wohl darauf hinaus, dass du dir mit Hannah das Zimmer von Elisabeth teilen müsstest. Der Rest ist, glaub ich, mit Pärchen besetzt und Willie schläft auf der Couch. Wo ist eigentlich deine Freundin? Kommt sie auch?“

"Wer sagt denn, dass ich ne Freundin habe?“

"Na du! Deshalb wird das mit Hannah doch nichts?“

"Aso, ja, das stimmt.“

Mist, verdammter. Das war genau das, was ich befürchtet hatte. Warum war ich manchmal nur so … gnargh!

Sara sah mich verwundert an. Bevor sie weiter fragen konnte, kam zum Glück Sean in OP-Kleidung die Treppe runter. Er hatte ein Beil in der Schulter stecken.

"Na, das ist doch mal was anderes, oder? Was guckt ihr denn so komisch?“

Ich schaute von Sean zu Sara und wieder zurück. Ich konnte nicht mal antworten …

"Ach, dein Anblick ist nur echt schockierend und das ganze Blut.“

"Ja, nicht wahr? Das ist Himbeersirup.“

Warum hatte sie nicht nachgehakt sondern die Situation vor Sean vertuscht?

"Ich geh mal wieder in die Küche. Könntet ihr vielleicht die Getränke aus dem Keller holen?“

Ich stiefelte hinter Sara die Treppe hinunter und ahnte, dass sie mich gleich zur Rede stellen würde.

"Jordan, kannst du mir das bitte erklären? Am Montag sagst du mir, dass du mit Jemandem zusammen bist und heute weißt du nichts von einer Freundin. Das gibt doch keinen Sinn … .“

"Doch, ich stand nur auf dem Schlauch … .“

"Es sei denn … .“

Oh oh …

"Du hast ja eigentlich nie behauptet, eine Freundin zu haben … .“

BÄNG

Ich wusste mir nicht anders zu helfen und ließ eine Flasche fallen. Das reichte erstmal, um Sara von ihren Gedanken abzulenken oder sie zumindest davon abzuhalten, sie auszusprechen.

Sean kam sofort herbei gelaufen, fast so als hätte er oben an der Treppe gewartet …

"Hat sich wer wehgetan?“

"Nein, ich, man, ich bin so ungeschickt, tut mir leid. Ich hoffe das war kein teurer Wein … .“

"Nein nein, mach dir keine Sorgen. Jetzt bring erst mal deinen Gips in Sicherheit. Ich mach das sauber.“

Sara sah mich immer noch skeptisch an …

"Nein, ich mach das sauber, ich schaff das schon. Geht ihr ruhig schon mal hoch.“

Ich konnte mich zwar nicht ewig da unten verstecken, aber vielleicht hatte ich Glück und die ersten Gäste würden eintreffen und Sara von mir ablenken …

Tatsächlich klingelte es bald danach an der Tür. Ich hörte Susis quietschige Stimme.

"Du weißt nicht wer ich bin? Ich bin die größte Dame im Filmgeschäft, Susan Philipps. Und das sind meine Bodyguards.“

Willie schnaubte merklich auf. Gut, das würde ne Weile für Gesprächsstoff sorgen. Ich stieß zu den Anderen in die Empfangshalle.

"Hey Jordan! Du hast dich ja gar nicht verkleidet!“

Uhuhu, Susi war sich für diesen Dauerbrenner offensichtlich nicht zu schade.

"Hey Susi, genauso wenig wie du. Donnerwetter, was für ein Kleid.“

Sie trug ein rotes, rückenfreies Abendkleid und eine passende Federboa.

"Aber du hast da was im Gesicht.“

Ich deutete auf ihren aufgemalten Schönheitsfleck, woraufhin sie ihre Boa zurück warf und mit ihren Bodyguards gekonnt einen Abgang vollführte. Gleich darauf kam sie wieder und holte sich ihren Applaus ab.

"So, jetzt fehlen eigentlich nur noch Hannah und Tanja. Dann können wir essen.“

Schon klingelte es und die Krankenschwestern "Hanny & Tanny“ standen vor der Tür. Beim Anblick der knappen Kittel pfiffen die Bodyguards durch die Zähne, was Alex einen Stoß in die Rippen einbrachte.

Es gab drei verschiedene indische Gerichte mit Safran-Reis. Sean sagte mir, welches davon vegetarisch ist. Ich probierte trotzdem alle durch und fand eines köstlicher als das andere. Bald kamen auch die übrigen Gäste nach und nach eingetrudelt und das Haus wurde immer voller. Ich hatte meine Flasche Martini schon fast leer als mir auffiel, dass Sean nur Orangensaft trank.

"Hey du Bald-Geburtstagskind! Ich hab dich durchschaut! Da ist kein Alkohol in deinem Glas! Was ist denn los?“

Er zog mich in die Küche und flüsterte mir zu:

"Ich will nichts, was heute Abend passiert, auf den Alkohol schieben können.“

Schnell küsste er mich auf die Wange und wollte wieder ins Wohnzimmer gehen.

"Sean, warte! Du hast weiße Farbe auf den Lippen. Ich färbe wohl ab … .“

"Was? … Ist es jetzt weg? Man, das war knapp. Danke.“

Und schon war er wieder weg.

Auf der Couch traf ich Hannah und diesmal konnte sie mir nicht aus dem Weg gehen …

"Hey … .“

"Hey.“

"Also … es sind wirklich massig Leute hier … .“

"Jordan, willst du jetzt echt Smalltalk mit mir betreiben?“

"Eigentlich nicht, aber ich weiß nicht, wie ich dich das fragen soll, was ich fragen will … .“

"Wenn ich dir nen Tipp geben darf: Frag einfach.“

"Na gut. Hannah, empfindest du mehr für mich als Freundschaft?“

"Ehrlich gesagt schon … .“

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie es so schnell zugeben würde und war erstmal baff.

"Jordan, ich weiß, dass du gerade … jemand Anderen toll findest, aber sieh es ein. Die Person ist vergeben und ich glaube auch nicht, dass sich das so schnell ändert, nach allem was ich von … Ach, das ist echt blöd. Wollen wir kurz raus gehen, damit ich offen reden kann?“

"Klar … .“

"Also gut Jordan, ganz ehrlich: Sean ist nicht gut für dich und glaub mir, ich bin Fachfrau für Männer, die nicht gut für einen sind. Er hat dich nicht verdient und er wird auch ganz bestimmt nicht in naher Zukunft mit Sara Schluss machen. Ich hingegen bin frei und ungebunden. Und ich würde dir gut tun. Wir verstehen uns so super, du und ich. Können wir es nicht wenigsten Mal probieren? Wenn es nicht klappt, dann können wir einfach wieder Freunde sein, versprochen. Na, was sagst du?“

Erst mal sagte ich gar nichts. Dann, irgendwann:

"Hannah, ich mag dich wirklich sehr. Und vor einem Monat wäre das hier das Beste gewesen, was mit hätte passieren können. Aber mittlerweile hat sich einfach alles verändert. Ich will dich als Freundin nicht verlieren, aber ich möchte es mit Sean probieren, auch wenn es nicht leicht wird. Und ich denke, er will das Gleiche. Bitte sei nicht sauer, ich kann auch nichts dran ändern, so empfinde ich nun mal.“

"Wie du meinst … .“

Ich sah ihr an, dass ich sie tief getroffen hatte.

"Hannah, bitte, sei nicht traurig. Du bist eh viel zu gut für mich. Und bald findest du wieder jemanden … .“

"Spar dir das mitleidige Getue. Renn doch in dein Unglück, aber wenn du in der Scheiße steckst, rechne nicht mit mir.“

"Hannah … .“

Weg war sie.

Ich brauchte dringend Sean …

"Sean, kannst du mir kurz im Keller helfen? Ich schaff es nicht mit dem Gips … .“

"Klar … .“

Unten erzählte ich ihm im Dunkeln, was passiert war. Er verstand gleich, wie nah mir das ging und legte tröstend seinen Arm um mich.

"Jordan, das wird schon wieder, ich verspreche es dir. Hannah reagiert oft impulsiv. Ich bin mir sicher, dass ihr das, was sie gesagt hat, jetzt schon leid tut.“

"Ich hoffe du hast Recht … .“

"Ja, du wirst sehen. Komm her.“

Er legte eine Hand in meinen Nacken und zog mich an sich. Unser erster Kuss seit Ewigkeiten. Er presste mich gegen die Wand und tastete mit der Zunge nach meinem Piercing. Mir kam es vor als würde sich der Raum um uns auflösen. Bald konnte ich nicht mehr sagen, wie viel Zeit seit dem Beginn des Kusses vergangen war. Ich spürte nur noch seine Zunge wie sie sich um meine schlängelte.

"Sean, es ist … oh, sorry, ich dachte … Was?! Oh mein Gott! Oh mein … .“

Sean hatte sich sofort von der Wand abgestoßen, aber es war zu spät.

Tanja war wohl lautlos um die Ecke gekommen. Auch wenn es fast ganz dunkel war, ihre Reaktion ließ keine Zweifel zu. Sie knipste das Licht an.

"Was zum Teufel?“

"Tanja, es ist nicht so wie du denkst, wir … .“

"Du hast weiße und schwarze Schminke überall im Gesicht verteilt. Ich glaube es ist so, wie ich denke.“

"Na gut, vielleicht. Aber bitte sag Sara nichts davon, ja? Bitte!“

"Sara ist meine Freundin! Ich kann ihr doch so was nicht verheimlichen! Und du Jordan, du drängst dich in unseren Freundeskreis und machst nichts als Ärger! Aber dass … dazu fällt mir nichts mehr ein. Willst du wirklich eine dreijährige Beziehung auf dem Gewissen haben?“

"Wenn diese Beziehung jemand auf dem Gewissen hat, dann ja wohl ich. Und ich werde auch Sara die Wahrheit sagen, aber nicht an unserem Dreijährigen. Und du auch nicht. Das würde alles noch schlimmer machen als es ohnehin schon ist. Ich rede bald mit ihr, versprochen.“

"Das will ich dir geraten haben. Und jetzt solltest du dir das Gesicht waschen. Es ist gleich Zwölf.“

Sie dampfte, diesmal nicht wirklich lautlos, ab.

"Sean, tut mir leid … .“

"Was denn, du konntest doch nichts dafür. Früher oder später musste so was ja passieren.“

"Aber die dämliche Dracula-Schminke … .“

" … hab ich dir aufgeschwatzt. Komm, wir waschen uns und dann nichts wie hoch.“

Oben hatten sich alle im Wohnzimmer versammelt. Es waren tatsächlich nur noch 2 Minuten bis Zwölf.

Sara hakte sich bei Sean unter und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Hannah war nirgends zu sehen.

"Wo ist Hannah?“

"Interessiert dich das wirklich? Sie hat sich im Bad eingeschlossen.“

Der Countdown begann.

"10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, Happy Birthday to you … .“

Der ganze Raum voller Monster, Helden und Sonstigem stimmte das Lied an. Einen kurzen Blick konnte ich mit Sean austauschen, bevor er erst von Sara und dann von allen anderen, mit Umarmungen, Glückwünschen und Ähnlichem überhäuft wurde. Ich beschloss, dass es sinnvoller war, erst mal nach Hannah zu sehen.

Die Türe des Bades im ersten Stock war verriegelt.

"Hannah, bist du da drin?“

Ich hörte ein leises Schluchzen.

"Hannah, mach die Tür auf, bitte!“

"Verschwinde!“

"Das kann ich nicht! Du bist meine Freundin! Ich kann nicht so einfach weggehen. Bitte, lass mich rein.“

Nach ein paar Sekunden wurde das Türschloss gedreht.

Hannah stand da, ihre Wimperntusche war vom Weinen über das ganze Gesicht verteilt.

"Oh Süße, komm her.“

Ich nahm sie in den Arm.

"Nicht mehr weinen, das ist ne Party. Komm, machen wir dich erst mal sauber.“

Mit nassem Papier tupfte ich vorsichtig ihr Gesicht ab. Sie sah mich an. Mir fiel auf, dass sie mit ihren Schuhen fast so groß war wie ich. Dann küsste sie mich.

Ich wich zurück.

"Hannah, ich kann das nicht. Es tut mir leid.“

Sie sah über meine Schulter. Ich drehte mich um, um zu sehen, was sie sah.

Sean stand in der Tür. Seinen Blick konnte ich nicht deuten.

Bevor ich etwas sagen konnte, kam Hannah mir schon zuvor.

"Du hast gewonnen, Sean. Aber wenn du ihn schlecht behandelst, mache ich dir das Leben zur Hölle.“

Mit diesen theatralischen Worten verließ sie die Toilette und Sean sperrte die Tür hinter ihr ab. Er schien nicht verärgert oder so.

"Alles okay, Jordan?“

"Das fragst du mich? Ja, das kam nur überraschend … und ich finde es schrecklich, ihr weh tun zu müssen.“

"Ich weiß wie du dich fühlst. Genau so geht es mir mit Sara. Aber wir können es eben nicht allen Recht machen, oder?“

Ich verstand plötzlich, was Sean in den letzten Wochen durchgemacht haben musste.

"Sean, es tut mir leid, dass ich dich so gedrängt habe und dass ich dich nicht besser verstanden habe.“

"Schon gut, du hattest ja auch Recht, ich musste mich entscheiden. Und ich hab mich für dich entschieden. Und jetzt will ich meinen Geburtstagskuss.“

Und den sollte er bekommen.

"Ich mag dein Piercing … .“

"Das hab ich schon gemerkt … .“

"Und wo ist mein Geschenk?“

Ich zog einen Umschlag aus der Hosentasche.

"Hier.“

Eifrig öffnete er das Kuvert und zog zwei Busfahrkarten nach L.A. heraus.

"Wir fahren nach L.A?“

"Ja, wenn du Lust hast …?“

"Na klar hab ich Lust. Ich war schon ein paar Mal in der Stadt, aber da hab ich meistens nur den Flughafen und irgendeine Firma gesehen. Mit dir nach L.A. fahren wird klasse! Wir können die Stadt zusammen erkunden, Hollywood, die Filmstudios, die UCLA … .“

"Lustig, dass du die UCLA erwähnst. Ich hab mit Chris gesprochen, der Arzt, weißt du noch? Jedenfalls hat er dort studiert und ein Freund von ihm arbeitet an der Medizinischen Fakultät, der David Geffen School of Medicine. Sei nicht sauer, aber ich hab ihm gesagt, dass du überlegst, dort zu studieren und dieser Freund hat angeboten, uns alles zu zeigen … .“

"Das hast du gemacht?“

"Ich dachte, es kann ja nicht schaden, aber wir können ihm auch absagen, wenn du willst … .“

"Nein, nein! Ich find das toll, wirklich! Danke, das ist ein tolles Geschenk.“

Er gab mir einen Schmatz.

"Wir sollten uns mal wieder unten sehen lassen …“

Für den restlichen Abend passierte nichts Spannendes mehr, sondern erst wieder als die Meisten sich auf den Nachhauseweg machten und es um die Verteilung der Betten ging. Willie war, nachdem seine Tanja gegangen war, worüber ich sehr froh war, auf der Couch eingeschlafen, die sowieso für ihn bestimmt war. Hannah hatte ihren Frust scheinbar in Wodka ertränkt und hing über der Kloschüssel. Sara war bei ihr. Susi und Alex wollten natürlich ein Zimmer zusammen, sie verzogen sich also in eines der drei Schlafzimmer.

Sara kam aus der Toilette, mittlerweile war es halb 5.

"Ich denke, Hannah braucht noch eine Weile. Ich werde bei ihr bleiben. Am Sinnvollsten wäre es, wenn sie das Elternschlafzimmer bekommt, das ist am Nächsten bei der Toilette. Geht ruhig schon mal ins Bett, ich werd wohl bei Hannah schlafen, nur um sicher zu gehen. Tut mir leid Schatz, aber wir haben ja noch eine Woche bis deine Eltern zurückkommen.“

Sie drückte Sean einen Kuss auf die Lippen und verschwand wieder ins Bad, von wo man deutliche Würgegeräusche hören konnte. Sean sah mich an und ich wusste genau, was er dachte. Sein Zimmer gehörte uns, für den Rest der Nacht.

Als es gegen Sechs langsam dämmerte, fingen wir an, Pläne für L.A. zu schmieden. Irgendwann fragte Sean

"Und wo werden wir schlafen?“

"Ich hab mit ner Freundin telefoniert, die seit einem Jahr in der Nähe vom LAX-Flughafen wohnt. Wir können bei ihr übernachten.“

"Wirklich? Du hast eine Freundin in L.A.?“

"Sie hat vorher hier gewohnt, deshalb … .“

"Warum guckst du so komisch? Wart mal … du hattest was mit ihr, oder? Sie ist eine von den 45, hm?“

Sean wirkte nicht verärgert, nicht mal verunsichert. Nur neugierig.

"Ja … eigentlich ist sie sogar eine von den Big Three, wenn du so willst. Ich hab so gut wie bei ihr gewohnt, damals … .“

"Und was ist dann passiert?“

"Sie ist nach L.A. gezogen, weg von den alten Leuten, um clean zu werden. Und das hat sie auch geschafft. Sie hat sich mit dem Geld ihrer Eltern eine Stretch-Limo bauen lassen und kutschiert jetzt die Schönen und Reichen durch die Stadt.“

"Wann war das denn?“

"Ein paar Monate bevor ich in die Klinik kam. Der totale Absturz begann damals. Wir waren eineinhalb Jahre zusammen.“

"Krass … und da willst du wirklich übernachten? Mit mir? Ich meine, weiß sie denn … .“

"Sean, natürlich hab ich ihr gesagt, wer du bist. Und Eifersucht oder so was war zwischen uns nie ein Thema. Jeder konnte tun was er wollte … .“

"Willst du damit sagen, dass … .“

"Wir haben auch mit Anderen geschlafen, ja. Das war für uns normal.“

"Willst du denn dann jetzt auch noch mit Anderen … .“

"Nein, um Gottes Willen! Die Zeiten sind vorbei! Und das ging eh nur, weil die Drogen dafür gesorgt haben, dass wir nicht weiter drüber nachdachten. Mach dir keine Gedanken. Du reichst mir völlig. Ich meine, allein heute Nacht, das war … wow.“

"Ja, find ich auch. Wir haben noch ein wenig Zeit bis die Anderen wach werden … .“

Er zog mich zu sich. Unsere Klamotten lagen schon lange neben dem Bett. Er küsste zuerst meinen Hals, dann wanderte er immer tiefer, bis zum Bauchnabel und noch tiefer.

"Sean, du musst das nicht machen, wenn es seltsam für dich ist … .“

Scheinbar war es das nicht …

Gegen Zehn gingen erst Sean und dann ich unter die Dusche. Mit der Plastiktüte, die ich mir um den Gips wickelte, brauchte ich etwas länger. Als ich fertig war, hörte ich auf dem Flur schon Getrampel und traf dann dort auch auf eine blasse Hannah, die mich zynisch fragte:

"Na, hattest du eine gute Nacht?“

"Ja, danke. Deine war wohl nicht so toll, hm?“

"Nicht wirklich, nein. Zum Leidwesen von Sara und zum Glück für euch Turteltauben … .“

"Pssst, Hannah! Bist du verrückt?“

"Keine Sorge, Sara und dein Lover sind schon unten in der Küche und bereiten das Frühstück vor. Sara will heute Abend mit Sean in ihr Lieblingsrestaurant und danach will sie ihn hier verführen. Na, wie findest du das?“

"Warum erzählst du mir das?“

"Na damit du siehst, auf was du dich da eingelassen hast. Oder glaubst du wirklich immer noch, dass sich Sean bis heute Abend dazu entschließt, mit Sara Schluss zu machen? An ihrem Dreijährigen?“

"Jedenfalls wird er nicht mir ihr schlafen, heute nicht und niemals.“

"Ein typischer Fall von rosa Brille. Ihm wird kein Grund einfallen, um sie den Rest der Woche hinzuhalten. Irgendwann wird er garantiert schwach.“

"Deshalb fahren wir auch am Montag nach L.A.“

"Bitte, ihr tut was?“

"Richtig gehört. Wir sehen uns die Stadt und die Uni an und übernachten bei einer Freundin von mir.“

"Und was erzählt ihr Sara?“

"Das hat doch nichts mit ihr zu tun!“

"Doch, natürlich! Die Beiden hatten schließlich geplant, die ganzen Ferien zusammen zu verbringen. Saras Eltern sind ja auch nicht da. Wusstest du das nicht?“

"Nein … .“

"Tja … .“

In der Küche war der Tisch bereits mit allen möglichen Frühstücksutensilien gedeckt. Sean brutzelte sogar Speck und Eier.

Ich setzte mich Sara schräg gegenüber.

"Morgen … .“

"Guten Morgen, Jordan. Du siehst aus, als hättest du nicht so gut geschlafen. War Sean etwa kein guter Bettnachbar?“

"Doch doch, ich weiß auch nicht, irgendwie hab ich keine Ruhe gefunden … Ich hoffe, mein Bett wurde schon geliefert. Dann schlafe ich da nachher gleich noch ne Runde.“

Hannah schaute mich mit einem "Oh bitte, ich kotz gleich“ -Blick an.

Nach dem Frühstück machten Hannah und ich uns auf den Weg. Sean brachte uns noch zur Tür. Blöde Situation.

"Also … .“

"Ja … ehm … Tolle Party.“

"Danke … und danke für die Geschenke.“

"Klar … gern.“

"Naja, dann … .“

"Habt ihr es bald?“

"Du kannst gern schon mal vorgehen.“

"Nicht doch, ich schau mir das schon noch an.“

Ich konnte ja verstehen, dass Hannah sauer war, aber langsam fing sie an, mir auf die Nerven zu gehen.

"Na schön. Also, ich bin dann nebenan.“

"Ja, ich ruf dich heute auf jeden Fall noch an.“

"Gut, bis dann.“

"Bis dann. Tschüss Hannah.“

Zu Hause war mein Bett immer noch nicht geliefert worden. Auf der Couch schlafen war auch blöd, denn da räumten Mum und Klaus gerade Kisten um und aus. Somit landete ich im Bett der Beiden. Aber das war mir dann auch schon egal. Als ich aufwachte, war es schon wieder dunkel. Sean hatte sich noch nicht gemeldet. Es war halb Acht. Saras Auto stand nicht mehr in der Einfahrt. Ich dachte daran, was Hannah mir erzählt hatte. Wahrscheinlich waren die Beiden beim Essen.

Mal wieder saß ich rum und machte mir Gedanken, ob Sean sich nicht doch rumkriegen ließ. Aber daran konnte ich eh nichts ändern. Ich räumte noch ein paar Kartons aus und ging dann, kaum zwei Stunden nachdem ich aufgewacht war, wieder schlafen. Auf einer Luftmatratze, die Klaus bei seinen Campingausflügen verwendete. Natürlich war ich um vier Uhr morgens hellwach. Ich dachte daran, dass ich, wenn alles lief wie geplant, in 24 Stunden schon mit Sean in einem Greyhound-Bus Richtung L.A. sitzen würde.

Ich ging nach draußen und sah Saras Wagen in der Einfahrt stehen. Im Haus war alles dunkel. Ich überlegte, ob ich mal ums Haus schleichen sollte. Was machte ich da eigentlich? Als mir mein lächerliches Verhalten bewusst wurde, ging ich schnell wieder ins Haus zurück und trank eine Tasse Kaffee. Normalerweise würde ich in solchen Situationen meine Gitarre aus dem Schrank holen. Blöder Gips. So saß ich in der Gegend rum, schaltete den Fernseher ein und bald wieder aus, starrte Löcher in die Luft … Ich hätte auch für L.A. packen können, aber ich wollte um jeden Preis vermeiden, dass ich die Koffer wieder auspacken musste, wenn Sean mir absagte. Und momentan war ich wirklich der Überzeugung, dass das geschehen würde. Ich ging unter die Dusche und später aß ich Frühstücksflocken. Gegen Acht kam Klaus in die Küche.

"Guten Morgen. Na, hast du deine erste Nacht hier gut überstanden? Ich hoffe die Luftmatratze war nicht zu unbequem.“

"Guten Morgen. Nein, das ging schon. Ich hab in den letzten 24 Stunden eh fast nur geschlafen. Jetzt bin ich seit Vier wach … .“

"Wirklich? Und was hast du die ganze Zeit gemacht?“

"Ich weiß auch nicht, die Zeit ging schon irgendwie rum … .“

"Und, hast du schon für deinen Trip nach L.A. gepackt?“

"Ich bin nicht sicher ob es klappt.“

"Warum denn nicht?“

"Sean hat noch nicht hundertprozentig zugesagt. Er und seine Freundin wollten die Woche wohl eigentlich gemeinsam verbringen.“

"Ach, gehört ihr der Wagen in der Auffahrt? Na wenn das der alte Wittmore wüsste. Der ist da recht konservativ.“

"Hm. Aber Sean ist seit gestern 18, weißt du?“

"Deshalb ist er immer noch der Sohn seines Vaters. Naja, das ist Gott sei Dank nicht unsere Sorge, stimmt's?“

Was wollte er mir denn damit sagen?

"Naja, Sean ist schließlich mein Freund. Und ich glaube nicht, dass er gut mit den Methoden seines Vaters zurecht kommt.“

"Naja, das ist trotzdem ein Kampf, den er und seine Freundin alleine führen müssen, meinst du nicht?“

"Ja, wahrscheinlich … .“

Als ich gegen Mittag immer noch nichts von ihm gehört hatte, konnte ich nicht länger warten. Schließlich musste ich in L.A auch noch ein paar Leuten Bescheid geben, ob wir denn nun kamen. Ich beschloss also, drüben anzurufen. Saras Stimme dröhnte überdreht ins Telefon.

"Wittmore-Residenz, was kann ich für sie tun?“

"Äh, ich … .“

"Sara, lass das! Gib schon her! Sean Wittmore.“

"Hey, ich bins. Ich wollte mit dir über morgen reden.“

"Ja, ich hab Sara gerade von der Campusführung erzählt. Was willst du denn wissen?“

"Na ob ich den Leuten jetzt zusagen soll … .“

"Na klar, was sonst. Sara ist auch schon ganz gespannt drauf. Übrigens: die Bustickets können wir stornieren lassen, Sara hat angeboten, mit ihrem Auto zu fahren.“

"Was? Was ist los? Wovon redest du da?“

"Gut, klar, dann mach ich das, kein Problem.“

"Hallo, reden wir aneinander vorbei? Was soll denn der Scheiß?“

"Okay, ich hol sie mir gleich bei dir ab. Bis gleich!“

KLICK

Ich konnte es nicht fassen!! Er wollte doch nicht im Ernst Sara mit auf unseren Trip nach L.A. nehmen? Ich dachte ich dreh durch! Alle hatten doch versucht, mich zu warnen. Er würde sich niemals von Sara trennen. Es war alles vergebens.

DING-DONG

Klaus öffnete die Tür. Ich hörte Seans Stimme aus dem Wohnzimmer.

"Hallo Mr. Kamsky, ich wollte zu Jordan.“

"Hallo Sean, alles Gute nachträglich. Hattest du eine schöne Feier?“

"Oh, ja natürlich. Es war klasse.“

"Na schön, dann will ich mal sehen, wo Jordan steckt. Er hat, seit er von dir nach Hause kam, fast nur geschlafen oder Löcher in die Luft gestarrt. Ich hoffe er brütet nichts aus. Das würde wohl euren Trip nach L.A. gefährden. Also, entschuldige mich kurz … .“

Klaus kam die Treppe hoch, auf der ich mittlerweile saß. Er senkte seine Stimme.

"Jordan, warum sitzt du denn hier und belauscht uns? Willst du nicht runter gehen?“

"Doch, ich geh schon … .“

"Hey … .“

"Hey, ehm. Können wir in dein Zimmer gehen? Ich muss mit dir reden.“

"Klar … .“

Das war's also. Jetzt würde er mir eröffnen, dass er mit Sara nicht Schluss machen kann, dass ich ihn entweder mit ihr teilen oder verlieren könne …

"Jordan, es tut mir leid, wie das am Telefon gelaufen ist. Ich wollte gerade zu dir rüber. Als ich Sara von dem Trip erzählt habe, ist sie sofort davon ausgegangen, dass du für uns alle drei Fahrkarten gebucht hast. Und ich hab versucht, ihr die Wahrheit zu sagen, aber ich wusste nicht wie. Wie hätte ich ihr denn erklären sollen, warum ich unbedingt mit dir allein fahren will? Also hab ich sie in dem Glauben gelassen, dass sie mit eingeplant war.“

"Klasse und da glaubst du, mache ich mit?“

"Nein, natürlich nicht. Jetzt lass mich doch mal zu Ende erzählen. Die Uni-Führung ist ja erst am Donnerstag. Und deshalb musste ich nur dafür sorgen, dass Saras Eltern schon am Mittwoch zurückkommen. Ich habe die Sekretärin meines Vaters angerufen, um sie zu bitten, Saras Mum zu sagen, dass ein wichtiger Kunde gerne am Donnerstagmorgen einen Termin bei ihr hätte. Daraufhin haben ihre Eltern beschlossen, am Mittwoch nach Hause zu fahren. Wenn Sara nachher Heim fährt, hat sie bestimmt schon die frohe Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Und das heißt, der Trip fällt für sie ins Wasser.“

Sean war mir richtig unheimlich. So ein durchdachter und aufwendiger Plan, nur um Sara nicht die Wahrheit sagen zu müssen?

"Wäre es nicht einfacher gewesen, gleich mit ihr Schluss zu machen, statt so ein Theater zu veranstalten? Hannah hat Recht, du wirst dich nie von ihr trennen … .“

"Sag so was nicht, bitte. Ich verspreche dir, ich mache mit ihr Schluss, sobald wir aus L.A. zurückkommen. Wie kann ich dir das nur beweisen? … Ich weiß, komm mit!“

Er nahm meine Hand und zerrte mich hinunter in die Küche, wo meine Mum am Herd stand und Klaus seine Sonntagszeitung las. Sean ließ meine Hand nicht los.

"Mr. Kamsky, ich muss mit ihnen sprechen, bitte.“

Klaus blickte von seiner Zeitung auf und schien nichts Ungewöhnliches zu entdecken.

"Ja, natürlich, was ist denn, Sean?“

Meiner Mum stockte der Atem. Sie stellte sich hinter Klaus, mit den Armen auf seinen Schultern, so als wolle sie sichergehen, ihn im Notfall zurückhalten zu können. Ich sah alles wie in Zeitlupe, unfähig, selbst in das Geschehen einzugreifen.

"Mr. Kamsky, ich schätze sie sehr und deshalb will ich sie nicht belügen. Ich bin in Jordan verliebt und möchte mit ihm zusammen sein.“

Plötzlich schien er unsere ineinander gelegten Hände zu bemerken. Er wurde aschfahl.

"Das ist ein Scherz, richtig?“

"Nein, ich befürchte das ist mein Ernst.“

"Aber … du hast doch eine Freundin, wir haben erst vorhin über sie gesprochen … .“

"Ja, das stimmt. Ich habe noch eine Freundin, von der ich mich nach L.A. trennen werde. Ich will nur mit Jordan zusammen sein. Ich verstehe, wenn sie noch Zeit brauchen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, mir ging es am Anfang ähnlich. Aber ich hoffe, sie schaffen es, diese Tatsache als unveränderbar hinzunehmen und sie bald auch zu akzeptieren. Ich respektiere sie sehr und ich möchte ungern Unfrieden in ihre neue Familie bringen.“

Klaus saß mit offenem Mund da. Mum stand hinter ihm und lächelte Sean stolz an. Nach einer Weile fasste er sich genug um reden zu können.

"Aber ich hätte nie gedacht, … bei keinem von euch Beiden … .“

Meine Mum schaltete sich ein.

"Liebling, das ist doch ganz gleich. Wie Sean gesagt hat, dass die Beiden sich mögen ist Fakt, diese Grübeleien bringen doch nichts. Ich freue mich für meinen Sohn, dass er jemanden gefunden hat, der ohne wenn und aber zu ihm steht.“

Sie kam herüber und umarmte uns. Langsam war ich auch wieder soweit klar, um zu begreifen, was Sean da gerade geleistet hatte. Er hatte sich zu mir bekannt, vor einem Freund seines Vaters. Als ob er meine Gedanken gelesen hatte, fragte Klaus plötzlich:

"Und was ist mit deinem Vater? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er davon weiß. Er ist mein Freund. Erwartest du, dass ich ihn in so einer wichtigen Sache anlüge?“

"Nein, natürlich nicht. Ich bitte sie nur um ein wenig Zeit. Ich will einen Schritt nach dem anderen machen. Zuerst möchte ich meiner Freundin die Wahrheit sagen. Sie müssen ja nicht lügen. Ich nehme nicht an, dass mein Vater sie direkt danach fragen wird … .“

"Sean, dabei habe ich kein gutes Gefühl … .“

"Ich weiß, ich auch nicht. Ich verheimliche auch nicht gern was vor ihm. Aber sie kennen meinen Vater. Es würde ihm das Herz brechen.“

"Vermutlich hast du Recht. Was für ein Tag. Ich werde das erst mal verdauen müssen. Aber ich bin mir sicher, dass ich mich irgendwann an den Gedanken gewöhnt haben werde. Wenn ihr euch so sicher seid. Ich weiß eure Aufrichtigkeit sehr zu schätzen. Danke.“

Wir verkrümelten uns kurz darauf wieder in mein Zimmer.

"Wow, Sean, weißt du was du da gerade gemacht hast und mit so viel Ruhe und Überzeugung!“

"Ja … .“

Er sah blass aus.

"Sean, alles okay? Geht's dir nicht gut?“

"Doch, es ist nur … ich kann es selbst nicht glauben! Hab ich das tatsächlich gerade gemacht? Ich muss verrückt sein! Was wenn er zu meinem Vater rennt und … .“

"Sean, das wird er nicht. Du warst klasse, er hat es gut aufgenommen und ehrlich zu sein war das das einzig Richtige. Sean, ich liebe dich dafür!“

"Was sagst du da?“

"Ich glaube ich hab gerade gesagt, dass ich dich liebe.“

Sean sah mich plötzlich ganz klar und ernst an.

"Ich liebe dich auch, Jordan Bonanno.“

Das war der 1. November 1997. Das erste Mal, dass mir jemand wirklich aufrichtig seine Liebe gestand.

Am nächsten Morgen saßen Sean und ich tatsächlich im Greyhound nach L.A.. Alles war genau so gelaufen, wie er es vorhergesagt hatte. Wir stiegen schon um vier Uhr früh in den Bus und würden kurz vor Mittag ankommen. Ich freute mich schon darauf, Nikki endlich wiederzusehen. Sean schlief kurz nachdem wir eingestiegen waren ein. Sein Kopf fiel immer wieder auf meine Schulter. Die ersten paar Mal merkte er es und lehnte sich auf die andere Seite, aber irgendwann blieb er einfach liegen. Ein paar Menschen sahen neugierig und zum Teil auch irritiert zu uns herüber. Das war wohl etwas, woran ich mich gewöhnen musste. Ich vertrieb mir die Zeit mit Musik hören, bis Sean gegen Acht wieder aufwachte.

"Hey … .“

"Hey, na, gut geschlafen?“

"Ging so. Aber jetzt fühl ich mich seltsamerweise ziemlich ausgeruht. Wie lang hab ich geschlafen?“

"Fast vier Stunden. Es ist Acht. Zeit zum Frühstücken. Meine Mum dachte mal wieder, ich würde verhungern und hat darauf bestanden, mir Käsebrote und Äpfel mitzugeben. Willst du was davon?“

"Gern, ich hab schon irgendwie Hunger.“

Nachdem wir fast alles aufgegessen hatten, stellte mir Sean noch ein paar Fragen über Nikki.

"Und ihr ward eineinhalb Jahre zusammen? Wie alt ist sie denn?“

"Sie ist älter als ich, 21. Wir haben uns vor über drei Jahren in der Zen-Bar kennengelernt, sie war damals gerade erst hergezogen. Dann waren wir erst mal nur Bekannte die gelegentlich mal Sex hatten. Nach nem halben Jahr hatte ich schlimmen Stress mit meiner Mum und bin ein paar Wochen bei Nikki untergekommen. Und da blieb ich dann die meiste Zeit.“

"Und, hast du sie geliebt und so?“

"Ich weiß nicht. Wir waren uns sehr ähnlich, wir haben genau gewusst wie es dem Anderen ging und so weiter. Aber richtig ineinander verliebt waren wir eigentlich nicht. Es war eher wie Familie, weißt du?“

"Und wird es jetzt nicht seltsam für dich, mit ihr unter einem Dach und so?“

"Das schöne an unserer Beziehung war ihre Unkompliziertheit. Ich glaub nicht, dass es seltsam wird.“

Seine Wissbegier schien gestillt. Aber da war noch eine Sache, die ich Sean sagen musste.

"Hör mal, Nikki wohnt nicht allein … Josh wohnt bei ihr.“

"Josh? Ihr Freund?“

"Nein, ihr Sohn.“

Ich sah Sean an, was er dachte.

"Josh ist nicht unser Sohn, nur ihr Sohn. Er war schon fast ein Jahr alt, als ich die Beiden kennengelernt habe. Er hat auch damals bei ihr gelebt. Er ist der Grund, warum sie nach L.A. ging, um von den Drogen loszukommen.“

"Okay … und ihr habt euch gemeinsam um ihn gekümmert? Ich meine, ihr wart doch beide abhängig …?“

"Ja und ich sage auch nicht, dass alles optimal gelaufen ist, aber bis sich das Jugendamt einschaltete, ging es dem Kleinen auch nicht schlecht. Wir haben immer einen Babysitter für ihn bezahlt, wenn wir weggingen um zu feiern und was zu drücken. Wir hatten nie was in der Wohnung. Josh war eh sehr pflegeleicht. Er wurde nie krank und konnte sich ewig allein beschäftigen. Ich sag nicht, dass das damals nicht Scheiße von uns war, Drogen zu nehmen, obwohl es den Kleinen gab, ich sage nur, wir haben unser Möglichstes getan.“

"Okay, das ist krass. Du hast so was wie einen Ex-Stiefsohn, das ist schon krass … .“

"Ja, ich weiß. Und jetzt wo ich auch clean bin, würde ich ihn gerne öfter sehen. Ich denke, ich werde nach der Schule nach L.A. gehen. Ich würde gerne eine Band aufbauen und nebenbei irgendeine Ausbildung machen. Irgendwas mit Musik und Medien. Auch deshalb wollte ich, dass du dir den Campus dort anschaust. Wenn du auf der Firebird studierst, dann sehen wir uns wohl kaum noch.“

"Du hast ja schon ganz schön weit geplant. Lass uns mal sehen, was in L.A. so passiert, ja?“

Kurz vor Elf standen wir schon im typischen Los-Angeles-Stau und waren erst um Zwölf an der Haltestelle Airport. Ich merkte Sean an, dass er nun doch nervös war, Nikki kennenzulernen.

Als wir aus dem Bus stiegen, mussten wir nicht lange suchen. Nikki hatte uns schon entdeckt. Wir fielen uns in die Arme. Sie sah gut aus. Ihre Haare waren jetzt lang und blond. Wir sahen Beide nicht mehr aus wie vor einem Jahr.

"Mensch Jordan, du siehst ja so normal aus! Wo sind denn deine Springerstiefel? Und die Haare! Ist das deine Naturfarbe?“

"Ja und schau dich erst an! Du siehst ja aus wie Barbie! Aber es steht dir!“

"Soso und du musst dann wohl Sean sein. Schön dich kennenzulernen. Auch wenn ich überrascht bin. Jordan, dass du auf Jungs stehst, hättest du mir wirklich früher sagen können. Das erklärt einiges.“

"Wirklich? Das musst du bei Gelegenheit genauer ausführen. Aber jetzt will ich erst mal schauen, was Josh so treibt. Wo ist er denn?“

"Bei meiner Nachbarin. Ich hatte heute Vormittag noch einen Auftrag. Musste jemand ganz Wichtigen zu einem noch wichtigeren Treffen kutschieren. Ihr glaubt ja gar nicht, was ich im letzten Jahr alles mit der Limo erlebt habe. Da drüben steht sie.“

Die Limo war ewig lang und sah innen aus, wie man solche Autos aus dem Fernsehen kennt.

"Hawthorne ist nicht weit von hier, also macht es euch nicht zu gemütlich.“

Nikki lebte tatsächlich nicht etwa in einer Wohnung, sondern in einem netten kleinen Häuschen in einer genauso netten Nachbarschaft.

"Krass, das ist ja richtig … bürgerlich!“

"Ja meinst du, ich lasse meinen Sohn in irgendeinem Ghetto aufwachsen? Und es ist gar nicht so teuer. In 15 Jahren ist es abbezahlt. Und hier kommt mein Stern auch schon!“

Josh kam aus dem Nachbarhaus gelaufen und stürzte sich mit einem "Jordan!“-Schlachtruf in meinen Arm.

"Kleiner! Bist du groß geworden!“

"Ich geh schon in den Kindergarten!“

"Wirklich? Wie die Zeit vergeht!“

"Jetzt sind Ferien. Hast du auch Ferien?“

"Ja, wir haben auch Ferien, deshalb besuchen wir dich und Mami. Das hier ist mein Freund Sean.“

In den nächsten Tagen besuchten wir sämtliche Sehenswürdigkeiten und Nikki gab uns eine Tour durch Beverly Hills. Wir schlenderten über den Rodeo Drive, aber am besten gefiel uns Venice Beach, wo alle Arten von Künstlern ihr Können unter Beweis stellten. Nachts hatten wir ein Zimmer für uns, auch das gefiel uns. Am Donnerstag sahen wir uns dann den Campus und die Forschungsgebäude der David Geffen School of Medicine an. Sean war hellauf begeistert. Er war sofort in seinem Element und auch Tim, der uns alles zeigte, bestärkte ihn darin, dort zu studieren. Abends im Bett sagte Sean mir, sein Entschluss stünde fest. Das war es, was er wollte. Jetzt müsse er das nur noch seinen Eltern begreiflich machen. Während der ganzen Zeit hatten wir nie über zu Hause gesprochen. Nicht über Sara und auch nicht über Seans Eltern. Er hatte sie jeden Tag angerufen, um zu verhindern, dass sie zu Hause durch klingeln und feststellen, dass er nicht dort war.

Wir hatten viel Zeit mit Josh verbracht, den wir fast überall mit hin nahmen. Ich war mir nicht sicher, ob es daran lag, aber Sean hatte in der Öffentlichkeit jegliche Berührungen mit mir vermieden. Abends auf einer Party hatte Nikki es tatsächlich fertig gebracht, ein Foto davon zu knipsen, wie ich ihn auf die Wange küsste. Als Nikki es mir später schickte, trug ich es in meinem Geldbeutel mit mir herum, was Sean schrecklich nervös machte.

Unser Trip nach L.A. ist eine der schönsten Erinnerungen, die ich überhaupt habe, auch wenn Sean es nicht mal in dieser weltoffenen Millionenstadt, in der kein Mensch uns kannte, schaffte, öffentlich meine Hand zu halten.

Am Freitagmorgen verabschiedete ich mich schweren Herzens von Josh und versprach ihm, im Sommer wiederzukommen und ab Herbst ganz in seiner Nähe zu wohnen. Er verdrückte eine Träne und vergrub sich im Arm seiner Mama. Auch Nikki war sichtlich bedrückt.

"Hey, Nikki, guck nicht so, ich komm ja wieder. Pass gut auf meinen Kleinen auf und auf dich auch. Ich bin echt stolz auf dich und was du alles geschafft hast.“

"Ach Jordan und wehe wenn du nicht wiederkommst … So und jetzt geht, der Bus fährt sonst ohne euch. Sean, ich bin froh, dich kennengelernt zu haben, jetzt weiß ich, dass mein Jordi in guten Händen ist … .“

"Ih, nenn mich nicht so!“

Auf der Heimfahrt war Sean ungewohnt still. In den letzten Tagen war er immer sehr unbeschwert gewesen und tollte mit Josh durch die Gegend. Jetzt stierte er aus dem Fenster und hatte seit einer halben Stunde kein Wort geredet.

"Alles in Ordnung?“

"Ja ja, es ist nur … das waren tolle Tage. Ich wünschte, wir müssten noch nicht zurück.“

Standen da tatsächlich Tränen in seinen Augen?

"Sean, ich fand es auch schön, aber das war doch erst der Anfang. Wenn zu Hause erst mal alles geregelt ist, dann … .“

"Ja eben, wenn erst mal alles geregelt ist. Aber denk mal nach, wer das regeln muss!“

Seine Stimme klang ziemlich wütend.

"Tut mir leid, aber ich helfe dir ja dabei so gut ich kann.“

"Wie denn? Willst du für mich mit Sara Schluss machen? Oder gibst du mir 180.000 Dollar für ein Medizinstudium? Wie genau kannst du mir denn dabei helfen, hm?!“

"Sean, verdammt, jetzt reicht es aber! Das ist alles nicht meine Schuld, also lass es auch nicht an mir aus, ja?! Ich bin für dich da bevor du mit Sara redest und danach auch. Und das Gleiche gilt für das Gespräch mit deinen Eltern. Das ist alles, was ich tun kann und ich fühl mich schon schlecht genug deswegen, also bitte … .“

Er schien es einzusehen, denn er legte sanft seine Hand auf mein Knie.

"Schon gut, tut mir leid. Ich hab nur Angst. Ich hab eine Scheiß-Angst davor, dass Sara aus Rache zu meinen Eltern rennt, wenn ich ihr die Wahrheit sage. Und ich habe Angst, nicht an der UCLA studieren zu können. Ich habe Angst davor, dich zu verlieren, wenn wir sechs Stunden Busfahrt voneinander entfernt wohnen und ich habe Angst davor mit dir in L.A. zu leben. Ich hab momentan einfach vor allem Angst … .“

"Ich weiß, aber das ist wohl der Preis. Sieh mal, Sara ist nett. So was trau ich ihr nicht zu. Und wegen dem Geld: Du hast fantastische Noten. Bestimmt bekommst du ein Stipendium und den Rest können wir im Ernstfall schon auftreiben. Nicht jeder Medizinstudent hat einen reichen Vater. Mit Nebenjobs und Kreditprogrammen kriegen wir das auch allein hin. Ich bin für dich da, Sean. Du musst ab jetzt nichts mehr allein durchstehen, ich bin doch bei dir … .“

"Danke. Wirklich, ich bin dir sehr dankbar.“

Er gab mir schnell einen Kuss auf die Wange und sah sich dann verstohlen in alle Richtungen um.


Sean

Ich kannte Jordan erst seit ein paar Wochen, aber ich war mir trotzdem sicher, in ihn verliebt zu sein. Alles erschien mir wie in Watte gepackt, nichts war wirklich schlimm, solange ich ihn bei mir hatte und dieses Gefühl hielt sich auch während der nächsten Tage in L.A. Jordan erzählte mir von Josh, was mir mal wieder vor Augen führte, wie viel lebenserfahrener er war. Während der paar Tage dort dachte ich einfach nicht an zu Hause. Ich wusste, ich musste so bald wie möglich mit Sara Schluss machen, es endlich hinter mich bringen. Wir hatten unser eigenes Zimmer in Nikkis Haus. Auch wenn wir immer total fertig ins Bett fielen und früh aufstanden, um möglichst viel zu erleben, war es trotzdem toll, neben Jordan einzuschlafen und neben ihm wieder aufzuwachen. Wir redeten immer noch kurz über den Tag und das war etwas, das ich noch nie mit jemandem geteilt hatte.

Das High Light war natürlich der Campus. Die David Geffen School of Medicine war noch toller als ich es mir vorgestellt hatte, sowohl in Lehre als auch Forschung. Mein Entschluss, dort zu studieren, stand fest. Eine Sache blieb mir noch besonders in Erinnerung. Wir waren alle zusammen am Pier und Jordan und Josh tollten durch die Gegend. Nikki schaute mich plötzlich recht Ernst an und fragte, wie es Jordan ginge. Was meinst du, fragte ich. Sie wollte wissen, ob er nachts gut schlief, ob er regelmäßig aß, ob er mit seiner Mum zurecht kam, was mit seiner Hand passiert sei, ob er manchmal traurig sei. Ich wunderte mich über diese Fragen und beantwortete sie so gut ich konnte.

Die Rückfahrt war für mich ziemlich schlimm. Ich hatte die Zeit dort so genossen und zu Hause würde ich sofort mit Sara Schluss machen müssen. Das hatte ich schon so lange vor mir her geschoben. Über ein Jahr. Aber jetzt ging es einfach nicht mehr. Und früher oder später würde ich meinen Eltern von meinen Studien-Plänen erzählen müssen. Ich würde meinen Freunden von Jordan und mir erzählen müssen, sonst würde das sicher Sara tun. Ich konnte mich nicht vor allen verstecken.


Jordan

Zu Hause holte Klaus uns vom Busbahnhof ab. Mum hatte schon gekocht. Bald wurde Sean wieder nervös. Wir zogen uns in mein Zimmer zurück.

"Alles okay? Du sieht recht blass aus.“

"Ich hab mit Sara abgemacht, dass ich in einer Stunde zu ihr komm.“

"Oh und dann willst du … .“

"Ich will es hinter mich bringen, ja. Ich muss zu Hause noch duschen und so. Kommst du mit?“

"Klar.“

"Home sweet home. Komm mit.“

"Wohin?“

"Unter die Dusche.“

Er zerrte mich am Arm die Treppe hoch zum Badezimmer im ersten Stock. Nervös schien er nicht mehr zu sein, als er mich auszog. Ich war froh, zumindest ein klein wenig dazu beitragen zu können, dass es ihm besser ging.

"Wann kommt denn dein Gips endlich ab?“

"Ein paar Wochen sind es schon noch … .“

"Ich hol ne Tüte. Bin gleich wieder da.“

Nachdem wir wieder trocken waren, musste Sean schon fast los.

"Wartest du hier auf mich?“

"Hier, in diesem Haus? Allein?“

"Bitte.“

"Klar, kein Problem. Es wird bestimmt halb so schlimm. Sara ahnt bestimmt schon, dass etwas nicht stimmt. Und wenn du kein gutes Gefühl dabei hast, musst du ihr ja auch nicht gleich die ganze Wahrheit sagen.“

"Doch, das bin ich ihr schuldig. Und der halbe Freundeskreis weiß es eh schon. Was, wenn sie es von jemand Anderem erfährt? Nein, ich zieh das heute durch. Sei einfach da wenn ich wieder komm, ja?“

"Natürlich. Ich bin da. Nimm dir die Zeit die du brauchst. Und wenn irgendwas sein sollte, ruf an, ja? Ich liebe dich, Sean.“

"Ich weiß, bis bald.“

Ich wusste überhaupt nicht, was ich in dem fremden Haus alleine anfangen sollte, also schaltete ich den Fernseher an. Nach zwei Stunden rechnete ich langsam mit Seans Rückkehr. Es war auch schon dunkel geworden. Weitere zwei Stunden später war er immer noch nicht zu Hause. Ich fragte mich immer mehr, was wohl grad passierte. Bevor ich mich noch in irgendwas hineinsteigerte, beschloss ich, mich lieber hinzulegen. Aber an schlafen war nicht zu denken. Mit jeder Minute wurde ich besorgter. Was konnte da nur so lange dauern? Um Mitternacht gab ich die Hoffnung auf, dass Sean heute überhaupt noch heimkommen würde. Ich zählte tatsächlich Schafe. Bei 1255 beschloss ich, es sein zu lassen. Ich schaltete wieder den Fernseher ein. Um Eins überlegte ich, was ich tun konnte. Nichts. Ich konnte ja kaum anrufen und nachfragen, wann Sean denn zu mir ins Bett kommen würde. Und ich konnte auch nicht nach Hause gehen, denn vielleicht kam er ja doch noch. Es war schließlich Freitag, eigentlich wäre ich jetzt in der Zen-Bar, so wie alle. Moment mal, alle? Aber die Beiden waren ja wohl kaum in die Zen-Bar gegangen. Wozu? Sean hatte Sara bestimmt gleich zu Beginn reinen Wein eingeschenkt. Es sei denn sie waren nicht allein gewesen. Was wenn Tanja oder irgendwer Anders schon bei Sara gewesen war? Was hätte Sean dann getan? Er hätte sich normal verhalten müssen. Das musste es sein, sie waren in der Zen-Bar, ganz sicher. Aber was brachte mir diese Erkenntnis? Ich konnte ja wohl kaum da auftauchen. Andererseits würden sich die Anderen bestimmt schon fragen wo ich war. Aber wie sollte ich denn da hin kommen? Früher waren es nicht mal 10 Minuten zu Fuß, heute eher 40. Das wäre zwar machbar, aber was wenn Sean in der Zwischenzeit zu Hause auftauchen würde? Aber ich wollte wirklich hin, ich hielt es nicht mehr aus nur rumzusitzen. Klaus war meine einzige Chance. Aber konnte ich ihn mitten in der Nacht darum bitten? Ich beschloss, zumindest mal kurz zu Hause vorbeizuschauen und tatsächlich brannte im Wohnzimmer noch Licht.

"Jordan, bist du es?“

"Ja, ich … ich müsste dich um einen Gefallen bitten … .“

"Spucks aus!“

"Ich weiß es ist viel verlangt, aber könntest du mich vielleicht zur Zen-Bar fahren? Ich würd dich nicht drum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.“

"Klar, das kann ich machen. Aber ich würde schon gern wissen, was los ist.“

"Ich erzähl es dir im Auto, ja?“

"Gut.“

"Also?“

"Sean ist heute Nachmittag zu Sara, um mit ihr Schluss zu machen. Er ist bisher noch nicht wieder aufgetaucht und ich halt das Rumsitzen einfach nicht mehr aus. Es ist Freitagabend, ich weiß es klingt absurd, aber ich denke, sie könnten in der Zen-Bar sein. Zu Fuß würde ich zu lang brauchen, am Ende verpassen wir uns noch. Deshalb … .“

"Okay, verstehe. Dann warte ich im Auto, während du nachschaust, ob sie da sind.“

"Das wäre toll, Danke.“

Am Eingang stand Bang.

"Hey, weißt du ob Sean hier ist?“

"Ja, die ganze Truppe ist hier. Hab mich schon gefragt wo du steckst. Alles in Ordnung?“

"Eigentlich nicht, egal. Ist irgendwas passiert oder so?“

"Nein, was meinst du?“

"Kannst du mir einen Gefallen tun und ihn hier rauslotsen? Bitte?“

"Ja, warte, ich muss erst meinem Kollegen Bescheid sagen.“

Einige Minuten später kam er tatsächlich mit Sean im Schlepptau wieder heraus.

"Hey … .“

"Was machst du denn hier?“

"Tut mir leid, ich hab das Rumsitzen nicht mehr ausgehalten.“

"Ich bin froh dass du da bist, ich hätte dich angerufen, aber irgendwie … .“

"Schon gut. Ich musste nur wissen, dass es dir gut geht. Ich bin schon wieder weg. Klaus wartet im Auto, ich kann ihn nicht länger warten lassen.“

"Du kannst doch mit mir heimfahren.“

"Ja?“

"Natürlich. Komm, sagen wir Klaus Bescheid.“

"Ah, du hast ihn gefunden.“

"Ja, du kannst also fahren, danke noch mal.“

"Keine Ursache. Schönen Abend noch.“

"Also, was ist denn passiert?“

"Ich hab mit ihr Schluss gemacht. Sie hat es mit Fassung getragen und sie wollte, dass wir es zusammen allen sagen. Und das haben wir getan. Ich dachte mir, den Rest könnten wir Beide vielleicht zusammen sagen?“

"Jetzt?!“

"Warum nicht? Die meisten wissen ja eh schon Bescheid. Nur Willie, Lisa, Linda, Marie und Susi nicht.“

"Und Sara.“

"Klar.“

"Warte kurz, ich würd da gern noch mit dir drüber reden.“

"Was denn?“

"Welchen Grund hast du Sara gesagt?“

"Na dass ich nach L.A. gehen werde und sie ja hier bleibt und dass wir uns dann eh nicht mehr sehen. Und dass ich nicht mehr glücklich in der Beziehung bin. Die Wahrheit eben.“

"Aber du hast nicht gesagt, dass du jemand Anderen hast?“

"Nein, noch nicht.“

"Ich weiß nicht, es ist schon ein gravierender Unterschied, ob man nicht mehr glücklich ist oder sich schon jemand Anderen gesucht hat. Das macht es so endgültig.“

"Aber es ist ja auch endgültig. Ich will nicht, dass sie sich noch Hoffnungen macht.“

"Ja, du musst es ihr sagen, klar. Aber vielleicht nicht vor allen. Damit stellst du sie ja vor denen als die Betrogene hin.“

"So hab ich das noch nicht gesehen. Und was soll ich machen?“

"Geh mit ihr raus, red mit ihr. Ich warte hier auf dich. Und je nachdem, wie es dann aussieht, können wir es den Anderen dann auch noch sagen, wenn du das dann immer noch willst.“

"Ich bin wirklich froh, dass du da bist. Danke. Also, dann wollen wir mal zu den Anderen gehen … .“

"Hey Jordan, wo kommst du denn plötzlich her?“

"Irgendwie ist mir vorhin erst aufgefallen, dass es Freitagabend ist.“

"Sara, können wir vielleicht ein bisschen rausgehen?“

"Klar.“

Als die Beiden weg waren, grinste Susi.

"Ich hab es ja gewusst, jetzt kommt er wieder angekrochen. Er wollte Sara wahrscheinlich nur endlich dazu bringen, mit ihm zu schlafen. Oh, Jordan, du hast es ja gar nicht mitbekommen. Sean hat heute mit Sara Schluss gemacht.“

"Das weiß ich. Wir waren grad zusammen in L.A., weißt du noch?“

"Ah, da hat er das also ausgeheckt. Dann weißt du bestimmt auch, was er damit bezwecken will?“

"Was er damit bezwecken will, was soll denn das schon wieder heißen? Er will eben nicht mehr mit Sara zusammen sein. Er hat gemerkt, dass das nicht das ist, was er will. Was sonst sollte er denn damit bezwecken wollen?“

"Tja, man wird sehen.“

"Allerdings.“

Tanja sah mich die ganze Zeit über ungläubig an.

"Komm mit!“

"Was denn?“

Sie zerrte mich am Arm nach draußen.

"Du musst sehr zufrieden mit dir sein.“

"Was meinst du?“

"Du hast es geschafft. Er hat mit Sara Schluss gemacht. Und wie geht es jetzt weiter? Bist du jetzt seine Freundin?“

"Das muss ich mir echt nicht anhören.“

"Doch, das musst du. Sara ist total am Ende. Und Sean wird es auch bald sein, wenn jemand das mit euch herausfindet.“

"Also zunächst mal hat Sean gesagt, Sara hat das Ganze gut aufgenommen … .“

"Ja, natürlich. Sie wird ihm das nicht auf die Nase binden, mir aber schon!“

"Wie auch immer und außerdem: Was heißt da, wenn es jemand herausfindet? Sean will euch nachher allen die Wahrheit sagen. Was glaubst du, warum er noch mal mit Sara reden wollte?“

"Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

"Doch … .“

Ihr Blick war echt beängstigend.

"Wo sind sie?“

"Ich weiß nicht, um den Block gegangen oder so, hey, wo willst du hin?“

"Das kann er ihr doch nicht einfach so hin knallen. Das wird ihr den Rest geben.“

"Jetzt warte doch auf mich!“

Sie joggte um die nächste Straßenecke. Bald hatte ich sie eingeholt.

"Was hast du denn vor?“

"Verhindern, dass er es ihr sagt, wenn er es nicht schon getan hat.“

"Aber warum denn?“

"Checkst du es nicht? Sie war heute so fertig, dass sie zu allem fähig ist. Und wenn sie dann auch noch erfährt, dass er sie mit einem Typen betrogen hat. Das ist krank. Und wer weiß, was sie dann macht.“

Plötzlich hörten wir irgendwo vor uns Gebrüll.

"Das müssen sie sein, dann ist es schon zu spät.“

Hinter der nächsten Ecke sahen wir sie.

"Fass mich nicht an! Du bist pervers!“

"Jetzt beruhige dich doch!“

"Nein, oh mein Gott, deine arme Familie! Haben sie nicht schon genug durchgemacht? Musst du ihnen das auch noch antun?“

"Lass meine Familie aus dem Spiel!“

"Der kleine Mustersohn ist ne Schwuchtel, na das wird die politische Karriere deines Vaters beenden!“

"Nicht, wenn es niemand erfährt.“

"Oh, eine feige Schwuchtel bist du also?! Das wird ja immer besser! Wie kannst du mir das bloß antun? Wenn ich daran denke, dass ich fast mit dir geschlafen hätte! Widerlich!“

"Jetzt reicht es aber langsam. Sara, verdammt. Was macht es denn für einen Unterschied?“

"Sollen wir mal deinen Vater fragen, was es für einen Unterschied macht?“

"Wag es nicht!“

"Oh, jetzt hast du Angst, hm? Mr. Wittmore, ihr Sohn hat sich nen Junkie-Lover geangelt!“

"Nenn ihn nicht so!“

"Oh, verteidigst du jetzt deine neue Freundin?“

"Verdammt, Sara, wie kannst du nur so sein?“

"Wie kannst DU nur so sein?! Ich will dich nie wiedersehen und wenn ich der Clique alles erzählt habe, brauchst du dich da auch nicht mehr sehen zu lassen.“

"Sara, das kannst du doch nicht machen, bleib hier!“

"Sonst was?!“

"Bitte, denk nach!“

Sean redete eindringlich auf sie ein.

Tanja und ich hatten uns in eine Nische gedrückt und alles unbemerkt mitangesehen. Mir tat Sean so verdammt leid. Die Verzweiflung und die pure Panik standen auf seinem Gesicht. Und das alles meinetwegen. Das war alles meine Schuld. Tanja, die ich komplett vergessen hatte, flüsterte mir etwas zu.

"Siehst du jetzt, was du angerichtet hast? … Jordan, du weinst ja.“

"Es tut mir so leid. Das wollte ich doch alles nicht. Ich wollte doch nur, dass es Sean gut geht. Ich liebe ihn so sehr. Das alles hab ich nicht kommen sehen. Ich will nur, dass er glücklich ist. Was soll ich bloß machen, Tanja?“

"Ich weiß, das wolltest du nicht. Jordan, shhhh! Sonst hören sie uns noch. Hör auf zu weinen, komm schon.“

Ich versuchte mich zusammenzureißen.

"Am Besten ich verschwinde einfach wieder in das Loch, aus dem ich gekrochen bin. Sag Sean, dass es mir leid tut. Und sag den Anderen, dass es meine Schuld war. Sean war nur … verwirrt, aber jetzt ist alles wieder normal. Ich will nur, dass es ihm gut geht. Er ist ohne mich besser dran.“

"Warte, wo gehst du hin?“

In diesem Moment hörte man das Geräusch einer schallenden Ohrfeige, was Tanja dazu veranlasste, aus ihrem Versteck zu kommen und zu den Beiden zu laufen. Was war passiert? Sean hatte doch nicht etwa Sara geschlagen? Das würde er doch nie tun.

"Verdammt, Tanja, was willst du denn hier?“

"Ich dachte … ich dachte du hättest Sara geschlagen.“

"Tja, falsch gedacht und würdest du uns jetzt bitte wieder allein lassen?“

"Aber warum denn, sie kann doch ruhig hier bleiben. Weißt du Tanja, Sean fickt Jordan. Da staunst du, was?“

"Ich weiß … .“

"Wie bitte?!“

"Sean, deine Lippe blutet. Sara, ich hab die Beiden letzte Woche zusammen gesehen, deshalb weiß ich es.“

"Und erzählst mir nichts davon?!“

"Es war Seans Aufgabe, dir davon zu erzählen. Sonst hätte ich es bloß noch schlimmer gemacht. Sara, du kannst nichts dran ändern und es ist auch nicht deine Schuld. Soll ich dich nach Hause bringen? Du kannst auch bei mir schlafen, wenn du willst.“

"Ja, hier halt ich es jedenfalls nicht mehr aus. Lass uns gehen.“

"Ich komm gleich nach, ich geb Sean wenigstens noch Taschentücher. Hol schon mal unsere Sachen aus dem Zen.“

Aus irgendeinem Grund blieb ich, auch nachdem Sara weg war, noch in der Nische und hörte zu, was weiter geschah.

"Hier, das blutet ganz schön.“

"Danke. Ich meine nicht die Tempos. Gut dass du da warst. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen.“

"Bist du dir sicher?“

"Was meinst du?“

"Bist du dir sicher, dass die Sache mit Jordan das alles wert ist?“

"Ich war mir noch nie im Leben einer Sache so sicher.“

"Du bereust es also nicht? Es wäre dir nicht lieber, er würde einfach verschwinden und du könntest alles auf ihn schieben und weitermachen wie vorher?“

"Nein, natürlich nicht, das wäre das Schlimmste was passieren könnte. Ich … Ich liebe ihn, verstehst du? Ich hab selbst niemals mit so was gerechnet, aber so stehen die Dinge eben. Solange ich weiß, dass ich es für uns tue, stehe ich auch diese Scheiße durch. Warum fragst du mich das alles?“

"Weil ich glaube, dass er das hören musste. Er versteckt sich da hinten im Hauseingang. Ich gehe jetzt mal. Eines noch: ich bin seit der Grundschule mit dir befreundet. Und ich werde auch weiter deine Freundin sein, ja?“

"Danke Tanja.“

Sean kam langsam auf meine Nische zu. Mittlerweile saß ich am Boden.

"Jordan, … .“

"Entschuldige, es tut mir so unendlich leid. Das ist alles meine Schuld.“

"Nein, ist es nicht. Wie sich Sara aufgeführt hat, ist ganz allein ihre Schuld. Und ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe, entschuldige dich also nie wieder für uns. Wir lieben uns, dafür braucht man sich nicht zu schämen. Komm her. Du siehst schrecklich aus.“

"Deine Lippe sieht auch nicht gut aus. Da hat sie dich ganz schön erwischt.“

"Endlich hat sie ihr wahres Gesicht gezeigt. Was sie alles gesagt hat, werde ich ihr nie verzeihen können. …Wir sollten ins Zen gehen. Am Ende hat sie den Anderen schon alles erzählt. Wäre mir nur Recht. Ich werde jetzt herausfinden, wer meine wahren Freunde sind.“

Er sah ziemlich entschlossen aus.

Die ganze Clique stand am Eingang, scheinbar wollten gerade alle heimgehen. Sara und Tanja standen auch dabei. Aber es sah nicht so aus, als hätten sie die Bombe schon platzen lassen. Susi redete mal wieder als Erste.

"Sean, was ist mit deiner Lippe passiert?“

"Nichts, ich hab wohl draufgebissen … .“

"So, draufgebissen. Nicht wirklich, ich hab ihm eine verpasst.“

"Was, warum hast du das denn gemacht?“

Mittlerweile hörten alle zu.

"Na? Willst du, oder soll ich?“

Tanja zerrte Sara am Arm ein paar Meter weg.

Hannah kam zu mir herüber und hakte sich unter.

"Der Moment der Wahrheit, was?“

Auch Alex suchte meinen Blick.

Sean stand ganz aufrecht da und sah seine Freunde geradewegs an.

"Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben, weil ich ihr gesagt habe, dass ich in jemand Anderen verliebt bin.“

"Was? In wen?“

"In Jordan.“

"Habt ihr das alle gehört, ja? Willie, Alex, nehmt euch in acht!“

"Sara, mach dich nicht lächerlich.“

"Wenn sich hier jemand lächerlich macht, dann bist du das und dein Lover natürlich.“

"Eigentlich ist mir egal, was ihr davon haltet, ich wollte nur, dass ihr Bescheid wisst.“

Susi war sichtlich geschockt.

"Das ist jetzt etwas viel für mich … Das ist doch … ihhh.“

Alex lies ihre Hand los.

"Dann findest du meinen Bruder also auch … ihhh? Gut zu wissen.“

"So meinte ich das nicht, ich...“

"Schon gut, spar es dir. Mir ist es scheiß egal, in wen Sean sich verliebt oder mit wem er schläft und euch sollte das genauso egal sein. Was ist denn euer Problem?“

Willie war ziemlich rot im Gesicht, für einen Moment dachte ich, er würde gleich einen von uns schlagen. Dann ging er wortlos weg.

"Schatz, warte!“

Damit lief Tanja ihrem Freund hinterher. Linda meinte nur, dass sie und die anderen Mädels jetzt nach Hause müssen. Auch Sara ging mit ihnen weg, nicht ohne uns nochmal einen angewiderten Blick zuzuwerfen. Übrig blieben nur Hannah, Alex, Susi, Sean und ich. Alles erschien mir ziemlich unwirklich.

"Und jetzt?“

Sean sah fragend in die Gesichter seiner Freunde. Alex sah recht zuversichtlich aus.

"Ihr müsst ihnen ein bisschen Zeit geben, das wird schon. Die Wahrheit zu sagen war richtig. Und ein echter Freund freut sich für dich.“

"Aber was ist mit Sara?“

"Auch sie beruhigt sich bestimmt.“

"Das glaube ich nicht. Was sie alles für Dinge gesagt hat und der Ausdruck in ihren Augen, als sie mich geschlagen hat...“

"Das hört sich alles gar nicht nach Sara an.“

"Ich weiß, Susi, ich bin selbst total geschockt.“

"Bringt mich noch jemand heim?“, fragte Hannah.

Alle antworteten gleichzeitig mit "Klar.“

So setzten wir uns Richtung Hannahs Wohnung in Bewegung. Susi schien verwundert zu sein.

"Warum stellt denn niemand irgendwelche Fragen? Bin ich die Einzige, die überrascht ist?“

"Hannah und ich wussten es schon.“

"Was?! Wie lange?“

"Ne Weile … .“

"Wunderbar. Noch mehr Geheimnisse?“

Sean grinste.

"Also ich habe mich entschlossen, nach der Schule an der UCLA Medizin zu studieren.“

"Und was sagt dein Vater dazu?“

"Man wird sehen.“

"Er hat noch von nichts eine Ahnung, oder?“

"Nein, aber das mit dem Studium bespreche ich mit meinen Eltern, wenn sie heimkommen.“

"Und dass du schwul bist …?

"Zuerst einmal glaube ich nicht, dass ich schwul bin. Jordan ist der einzige Typ, der mich interessiert. Und das denke ich, wissen nach dem heutigen Tag vorerst mal genug Leute. Bei meinen Eltern lasse ich mir da mehr Zeit, oder was meinst du, Jordan?“

"Absolut.“

"Okay, aber ihr seid jetzt zusammen?“

Sean sah mich an.

"Was sagst du dazu?“

"Fragst du mich, ob ich mit dir gehen will?“

"So was in der Richtung. Ich kann dir in der Schule auch einen Zettel zum Ankreuzen zustecken, wenn dir das lieber ist.“

"Wenn ich jetzt nein sagen würde, dann wäre das ganze viel Lärm um nichts gewesen, hm?“

"Allerdings. Also sag lieber nicht nein.“

"Dann schätze ich, wir sind jetzt zusammen.“

Sean lächelte mich an, dann nahm er meine Hand. So gingen wir weiter.

"Nur für das Protokoll, mittlerweile ist Samstag, der 8. November. Damit ihr wisst, wann ihr euren Jahrestag feiern dürft.“

"Danke Hannah, was täten wir nur ohne dich?“


Sean

Bald nachdem wir heimgekommen waren, fuhr ich zu Sara. Wir gingen hoch in ihr Zimmer und setzten uns. Sie gab mir keinen Kuss zur Begrüßung. Ich wusste natürlich nicht, wie ich anfangen sollte. Dann fragte sie mich gerade heraus.

"Machst du mit mir Schluss?“

Ja, sagte ich und dass ich es ihr erklären wollte. Ich hätte mich entschieden, in L.A. zu studieren und sie würde ja hier bleiben. Wir würden uns also eh nicht mehr sehen und eine Fernbeziehung kam für mich nicht in Frage. Sie fragte mich, ob ich nicht mehr glücklich mit ihr sei. Ich senkte den Blick, das war ihr Antwort genug. Ich hatte Tränen erwartet, oder Wut, aber statt dessen resignierte sie.

"Na schön, wie du meinst. Aber der Clique sagen wir es zusammen. Bald kommt Tanja vorbei und dann gehen wir ins Zen. Ich möchte, dass wir ihnen zusammen sagen, dass wir uns dazu entschlossen haben, Schluss zu machen.“

Ich war einverstanden. Natürlich konnte ich nicht mal eben schnell Jordan anrufen, um ihm Bescheid zu sagen. Saras Dad rief mich nach unten, er versuchte sich mal wieder als Handwerker und wollte den Kühlschrank verschieben, um an die Leitungen dahinter zu kommen. Bald kam Tanja und ging zu Sara nach oben. Nach einer halben Stunde entließ Saras Dad mich wieder. Die Mädels überlegten gerade, was sie anziehen sollten.

Im Zen sagten wir allen, dass wir nicht mehr zusammen waren und Sara betonte, dass das eine Trennung im gegenseitigen Einverständnis war. Vor allem Susi war sichtlich geschockt, aber irgendwann ging der Abend normal weiter. Ich überlegte, ob ich mich vielleicht mal absetzen könnte, um Jordan anzurufen. Es hatte alles so gut geklappt, ich wollte einfach gleich so weiter machen und den Anderen von uns erzählen. Im Nachhinein kommt mir das ziemlich naiv vor. Mir fiel jedenfalls ein, das Jordan ja zu Fuß gehen müsste und das dauerte bestimmt eine dreiviertel Stunde, also verwarf ich die Idee wieder. Irgendwann kam der Türsteher auf mich zu und sagte, Jordan würde draußen warten. Perfekt.

Jordan teilte meinen Enthusiasmus zum Glück aber nicht so ganz.

Dann ging ich mit Sara raus, um es ihr zu sagen. Was sie mich nicht alles nannte und wie angewidert sie mich anschaute und dann schlug sie mich mit voller Wucht ins Gesicht. Sie war wie eine Furie und in dem Moment wusste ich, dass ich es nie wieder jemandem sagen würde, wenn ich nicht müsste.

Als ich danach Jordan, der ja alles gehört hatte, in dieser Eingangsnische am Boden sitzen sah und er total davon überzeugt war, dass das alles seine Schuld war und er total verzweifelt war, da dämmerte mir, was Nikki gemeint haben könnte. Er schien zu sehr mitgenommen, aber ich dachte nicht weiter drüber nach. Ich musste Sara zuvorkommen. Sie war schon bei den Anderen und würde nicht zögern, ihnen davon zu erzählen. Ich war echt froh darüber, dass wenigstens Hannah und Alex schon Bescheid wussten. Susi war geschockt, Willie angewidert. Die Anderen reagierten gar nicht.


Jordan

Als wir zu Seans Haus zurück kamen, war es schon spät, aber Sean sah genauso wenig müde aus wie ich. Er setzte sich auf die Couch und deutete mir an, mich zu ihm zu setzten.

"Ich denke, wir sollten mal reden.“

"Klar. Worüber willst du reden?“

"Über das zwischen uns. Ich meine, wir kennen uns seit gerade mal zwei Monaten und reden tun wir erst seit einem Monat. Alles ist ziemlich schnell passiert und es war ein ständiges auf und ab. Ich will nur zur Abwechslung mal ganz in Ruhe mit dir über alles reden.“

"Bist du da nicht ein wenig spät dran? Ich meine, du hast gerade wegen mir mit deiner Freundin Schluss gemacht.“

"Nein, ich hatte schon vor, mit ihr Schluss zu machen, bevor ich dich überhaupt gekannt habe. Natürlich war das zwischen uns der Anlass, es endlich hinter mich zu bringen. Aber ich hab einfach das Gefühl, dass du und ich die ganze Zeit um das gekämpft haben, dass wir zusammen haben wollten, aber dabei haben wir uns oder zumindest ich mich nie gefragt, ob das wirklich das ist, was ich will.“

"Du machst mir Angst, Sean.“

"Nein, keine Angst. Ich will nur nicht wieder in eine Sache hineinschlittern, die, bevor ich mich versehe, so weit gegangen ist, dass ich keine Wahl mehr habe. Ich will meine Wahl diesmal bewusst treffen und mich nicht einfach in was hineintreiben lassen, verstehst du das?“

"Ich denke schon. Ich meine, das alles ist unfassbar. Wenn mir jemand vor zwei Monaten davon erzählt hätte, ich hätte ihn für verrückt gehalten.“

"Genau. Und das würde ich gerne endlich mal verarbeiten. Ich hab so viele Fragen an dich.“

"Schieß los!“

"Na gut, zum Beispiel: Bist du schwul?“

"Ob ich … ich weiß nicht. Ich finde dich toll. Auch körperlich. Ich hatte mit dir wirklich gute Nächte. Aber ich laufe nicht durch die Gegend und checke Typen aus oder so. Ich steh wirklich auf Frauen, weißt du?“

"Ja, offensichtlich. Bei über 40 Eroberungen … Das führt mich zu meiner nächsten Frage: Ich hab dich nach der Anzahl von Frauen gefragt, mit denen du geschlafen hast. Aber was ist mit Typen? Hast du da Erfahrungen?“

"Nein, überhaupt nicht. Ich hab mit 14 mal einen geküsst. Aus Neugierde. Aber sonst überhaupt nichts.“

"Also warst du nicht drauf gefasst, dass so was passieren könnte? Auf meiner ersten Party mein ich.“

"Nein, natürlich nicht. Hattest du den Eindruck, ich hatte das geplant?“

"Ich war mir nicht sicher. Ich meine, du hast nicht wirklich gezögert. Und auch danach warst du nicht durch den Wind oder so.“

"Oh doch, wirklich, ich war total geschockt. Es war für mich wohl nicht ganz so schlimm wie für dich, weil ich nicht auch noch die Last der Heimlichtuerei vor einer Freundin auf mich nehmen musste. Es kam überraschend, aber es war nicht unbedingt eine schlechte Überraschung. Aber jetzt bin ich mal mit fragen dran.“

"Ja …?“

"Also … in jener Nacht. Wie denkst du wäre es weiter gegangen, wenn nicht plötzlich Sara in der Tür gestanden wäre? Ich meine, was ging dir durch den Kopf, was hattest du vor?“

"Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Ich glaube, ich wäre weggelaufen. Deshalb hab ich mich auch angezogen.“

"Aber warum?“

"Machst du Witze? Das war das Intensivste, was ich je erlebt hatte. Und eben nicht nur körperlich. Ich wusste in dem Moment einfach, dass es mehr war. Nicht nur ein besoffener Ausrutscher. Schon die Woche vorher wusste ich, dass wir Freunde werden würden. Aber, dass das Ganze in so eine Richtung gehen könnte, dass hatte ich nicht geahnt. Nicht bis zu dem Moment, als du mich so abrupt losgelassen hast. Erst da wurde mir bewusst, dass ich mir nicht nur wünsche, von dir getröstet zu werden. Und dann hast du mich geküsst. Und ich war so froh darüber. All diese Gefühle brachen über mich herein. Und du hast mich angesehen als … als wäre ich das Faszinierendste, das du jemals gesehen hast. Und alles hat sich einfach so richtig angefühlt, alles passierte ganz von allein. Und dann war es plötzlich vorbei und die Realität wurde mir bewusst. Da lag ich also völlig nackt mit einem anderen Typen im Bett. Ich habe Panik bekommen. Alles kam mir vor wie im Film, das konnte doch nicht wahr sein. Aber es war real. Und als mir bewusst wurde, dass du von mir erwarten würdest, dass wir darüber reden oder so, da wollte ich nur noch weg. So tun als wäre nichts passiert. Ziemlich feige, ich weiß.“

"Deshalb warst du auch nicht in der Schule?“

"Ja und ich hab Panik bekommen, als du mit den Hausaufgaben da standest. Zu dem Zeitpunkt war mir schon klar, dass sich alles verändern würde. Es war schon um mich geschehen, da konnte ich mir selbst nichts vormachen. Am Wochenende drauf in der Zen-Bar wollte ich noch einen letzten Versuch starten, mir zu beweisen, dass ich mich auch dagegen entscheiden kann. Ich hab dich, so gut es ging, ignoriert. Wie es weiterging, weißt du ja selbst. Und am nächsten Tag, als du uns deine Geschichte erzählt hast … Jordan, das war … unglaublich. Von da an war ich mir sicher, dass du und ich zusammengehören. Aber der Preis war so hoch. Ich wollte Sara nicht betrügen. Ich dachte, wenn wir nur Freunde wären, wäre das für alle das Beste. Aber jedes Mal wenn ich dich ansah, wollte ich dich küssen. Ich konnte das noch nicht, vor allem wegen Sara. Ich war so ein Idiot. Und dann bist du weggelaufen und ich hatte solche Angst. Jordan, seit jener Nacht weiß ich, dass ich dich liebe. Ich weiß, dass du der eine Mensch für mich bist. Ich bin mir sicher. Ich weiß, dass wir uns noch nicht gut kannten, aber ich wusste es einfach schon.“

"Ich weiß. Mir ging es genau so. Ich hab mich selbst nicht wiedererkannt. Normalerweise erhebe ich keine Besitzansprüche auf Menschen. Aber dich mit Sara zu sehen, das war kaum auszuhalten. Ich bin froh, dass das jetzt vorbei ist.“

"Ja, ich auch. Und um es mit Susis Worten zu sagen … Sind wir jetzt zusammen?“

"Was bedeutet denn zusammen sein? Ich meine, wirst du mich jedem als deinen Freund vorstellen? Sollen wir zusammen beim Frühjahrsball aufkreuzen? Sollen wir händchenhaltend durch die Schule laufen?“

"Nein, natürlich nicht … .“

"Was bedeutet denn dann zusammen sein?“

"Ich weiß auch nicht. Es bedeutet, dass ich mit niemandem sonst ausgehen will. Und dass ich zuallererst dich frage, was du am Wochenende machen willst … solche Sachen eben.“

"Ich würde sagen, wir lassen das Schubladendenken. Wir werden immer ehrlich zueinander sein, füreinander da sein, miteinander Spaß haben, niemanden zwischen uns kommen lassen und uns lieben. Versuch nicht, das was wir haben in eine Schublade zu zwängen, okay?“

"Okay. Eine Frage hätte ich noch.“

"Ja?“

"Ist es für dich gar nicht seltsam, ich meine, mit mir rumzumachen, statt mit einem Mädchen …?“

"Natürlich ist es ungewohnt, aber es gefällt mir. Und ich hab dabei kein schlechtes Gewissen oder so, wenn du darauf hinaus willst. Wie ist das bei dir?“

"Manchmal hab ich schon … so was wie Schuldgefühle. Oder ich denke darüber nach, was die meisten Menschen von uns denken würden, wenn sie uns so sehen könnten. Meine Eltern gehen auch zur Kirche und so. Ich wurde katholisch erzogen. Auch solche Sachen schießen mir durch den Kopf … .“

"Ernsthaft? Nein, also so geht es mir dabei überhaupt nicht. Ich bin diesbezüglich im Reinen mit meinem Gewissen. Wir tun doch niemandem was. Wieso sollte dieser Gott also was dagegen haben? Ich weiß, dass diverse religiöse Gruppen was dagegen haben, aber das sind doch alles Spinner. Mir ist bewusst, dass wir auf Probleme stoßen werden, wenn wir öffentlich zeigen, was wir haben, aber ehrlich gesagt, hat es mich noch nie sonderlich interessiert, was Andere von mir halten.“

"Beneidenswert. Bis ich soweit bin, wird wohl noch viel Zeit vergehen … .“

"Aber du hast doch Klaus die Wahrheit gesagt und all deinen Freunden, das war der Anfang … .“

"Jordan, dränge mich nicht, noch weiter zu gehen. Ich werde nie ganz offen damit umgehen können und schon gar nicht, solange ich noch hier in diesem Kaff lebe.“

"Aber wie stellst du dir das denn vor? Wir können uns doch nicht für immer zu Hause verkriechen.“

"Nein, aber deshalb müssen wir ja nicht so miteinander umgehen, dass unsere Beziehung für jeden offensichtlich ist.“

"Okay, ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst, aber das muss ja nicht mehr heute geklärt werden. Wir sollten langsam ans Schlafen denken.“

"Ja, du hast recht, lass uns nach oben gehen.“


Sean

Ich hatte bis zu unserem großen Gespräch angenommen, dass er schon öfter was mit Kerlen gehabt hatte, ich war ziemlich erstaunt, als er mir sagte, ich sei der Erste gewesen. Wir redeten endlich mal darüber, wie wir uns so fühlten und ich merkte, dass es Jordan ähnlich ging wie mir. Bis auf die Tatsache, dass er es scheinbar kaum erwarten konnte, der ganzen Welt von uns zu erzählen, wohingegen ich nach den Ereignissen des Tages lieber nie wieder irgendjemandem davon erzählt hätte. Jedenfalls betrachtete ich uns ab dem Tag als fest zusammen. Tut mir leid, aber ich konnte mich diesem Schubladendenken eben nicht erwehren.


Jordan

Am nächsten Tag entschieden wir uns besser nicht zu den Anderen ins Zen zu gehen, sondern den Abend lieber bei Sean zu verbringen. Wir kramten die verstaubtesten Videos aus seiner Sammlung hervor und achteten bald nicht mehr auf die Handlung von Waterworld, sondern waren ganz aufeinander konzentriert.

"Warte Jordan, nicht hier unten. Lass uns nach oben gehen.“

"Warum denn? Deine Eltern kommen doch erst morgen Nachmittag zurück.“

"Trotzdem, oben fühl ich mich wohler.“

"Okay … wie du meinst, dann komm.“

Ich zog ihn ungeduldig die Treppe hoch in sein Zimmer und auf sein Bett. Als ich seinen Gürtel aufmachen wollte, hielt er mich zurück.

"Warte.“

"Was ist denn?“

"Willst du es diesmal richtig tun?“

"Du meinst … .“

"Ja.“

"Ich weiß nicht, ich meine, klar will ich es. Aber ich will nichts von dir verlangen, dass ich nicht auch selbst tun würde. Und dazu bin ich noch nicht bereit. Deshalb denke ich, dass wir uns damit noch Zeit lassen sollten. Ich meine, das was wir machen gefällt mir gut. Dir nicht?“

"Doch, ich bin ganz deiner Meinung. Ich wollte nur sichergehen, dass dir das nicht fehlt oder so.“

"Nein und wenn ich soweit bin, dann lass ich es dich wissen. So komm her, ich wollte mich noch für das was du an deinem Geburtstag gemacht hast revanchieren.“

"Aber fühl dich nicht unter Druck gesetzt. Das ist nämlich echt …woah woooooah … .“

Es war gar nicht so seltsam, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Danach sah mich Sean total selig an und zog mich in seinen Arm. So schliefen wir dann ein.

"Guten Morgen, Jordan. Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf. Es ist fast Zwölf.“

"Wirklich? Ich hab geschlafen wie ein Stein.“

"Ja, mein Arm ist eingeschlafen, aber du hast ihn mich nicht wegziehen lassen. Du siehst so friedlich aus, wenn du schläfst, ich hätte den ganzen Tag zuschauen können, aber ich weiß nicht wann genau meine Eltern heimkommen. Deshalb sollten wir lieber bald zu dir gehen.“

Am Montagmorgen machten wir uns zusammen auf den Weg zur Schule.

"Hast du deinen Eltern das mit Sara erzählt?“

"Ja. Sie waren nicht begeistert und konnten es nicht verstehen. Aber sie haben wohl keine andere Wahl als meine Entscheidung zu respektieren.“

"Wie meinst du verhalten sich die Anderen?“

"Ich weiß nicht. Ich glaub nicht, dass wir da zusammen aufkreuzen sollten, zumindest nicht bis sich die Wogen geglättet haben.“

"Gut, dann verbringen wir die Pausen eben zu Zweit.“

"Aber falls schon Gerüchte im Umlauf sind, dann sollten wir uns lieber nicht zusammen sehen lassen … .“

"Worauf willst du hinaus? Sollen wir uns in Luft auflösen? ... Ach so, nein, nur ich soll mich in Luft auflösen, hm?“

"Jordan, ich will einfach erst mal schauen wie die Situation ist. Vielleicht könntest du einfach ein wenig Abstand halten …?“

Wut keimte in mir auf. Ging das wieder los. Aber ich versuchte auch, Sean zu verstehen. Und ich war es ja eigentlich gewohnt, mit niemandem was zu tun zu haben.

"Gut, aber sieh zu, dass du die Dinge schnell regelst, ja?“

"Ich tu mein Bestes.“

Den restlichen Tag sprach ich mit niemandem. Und so ging es für den Rest der Woche weiter. Sean erzählte mir, dass vor allem die Mädchen ziemlich sauer auf ihn waren, irgend so ein Frauen-Solidaritäts-Ding. Sara versuchte tatsächlich wieder bei ihm zu landen. Als er ihr klipp und klar sagte, was er von ihr hielt, machte das die Stimmung im Freundeskreis natürlich nicht gerade besser. Willie schien auch ziemlich Stress zu machen. Er kündigte an, wenn Sean und ich uns jemals zusammen blicken lassen würden, wäre er raus aus der Clique. Naja, es würde also scheinbar noch eine Weile dauern, bis ich mein einsames Schul-Dasein beenden könnte … Ich fragte mich, warum nicht wenigstens Hannah mal mit mir aß oder so.

Am Donnerstagmittag saß ich mal wieder in einer Ecke der Cafeteria und beobachtete Sean mit seinen Freunden.

"Hat die Yuppie-Clique dich verstoßen?“

Vor mir stand ein Mädchen aus der Stufe unter mir, das immer komplett in schwarz gekleidet war und es mit dem Augen-Make-up stark übertrieb. Kurz gesagt: Vor einem Jahr wäre ich noch total auf sie abgefahren. Sie setzte sich mir gegenüber hin und bediente sich an meinem Essen.

"Also, was ist passiert? Haben die reichen Kids schon genug von dir?“

"Ich glaub nicht, dass dich das was angeht.“

"Ich hab ins Schwarze getroffen, hm? Und jetzt sitzt du hier allein rum? Warum suchst du dir denn keine richtigen Freunde?“

"Schmeckt dir mein Essen?“

"Kein Fleisch, das gefällt mir. Du gefällst mir. Du bist einer von uns, nicht einer von denen.“

"Und wer ist uns?“

"Meine Leute. Sie sitzen da hinten. Wenn du dich uns anschließen willst, komm einfach rüber.“

Sie zeigte auf eine Gruppe von ungefähr 8 Leuten, die alle mehr oder weniger aussahen wie sie.

"Ich glaub nicht.“

"Wie du meinst. Du kannst natürlich auch allein rumsitzen und darauf warten, dass die Snobs dir wieder erlauben, ihnen in den Arsch zu kriechen.“

"Red nicht über Leute die du überhaupt nicht kennst und jetzt lass mich in Frieden.“

"Wow, du stehst echt auf die Leute, hm? Oder stehst du auf jemanden besonders?“

"Geh einfach wieder zurück zu deinen Ich-bin-so-anders-Freunden.“

"Gerne. Die lassen mich zumindest nicht nach einem Monat fallen wie ne heiße Kartoffel. Warum verteidigst du die denn immer noch?“

"Als würde dich das wirklich interessieren. Ich kenne Menschen wie dich. Du magst niemanden, am wenigsten dich selbst.“

"Schon gut, du regst dich ja richtig auf. Was ist denn los?“

"Nichts, ich will hier nur in ruhe essen, ist das möglich?“

"Okay, ich bin schon weg. Aber falls du mal jemanden zum Reden brauchst, komm rüber.“

Wenigsten den Heimweg musste ich nie alleine antreten. Ab da waren Sean und ich wieder unzertrennlich.

"Willie scheint sich einfach nicht beruhigen zu können. Und Sara erzählt die ganze Zeit von ihrem neuen Lover, ich bin mir sicher, dass sie den erfunden hat. Aber morgen wird es sich ja rausstellen.“

"Morgen?“

"Ja, Willies Geburtstagsfeier.“

"Oh, verstehe. Dann kann ich wohl morgen Abend nicht mit deiner Gesellschaft rechnen, hm?“

"Tut mir leid, aber ich muss da wirklich hin. Sonst hält mir Willie das auch noch vor.“

"Nicht schlimm, ich gewöhne mich langsam wieder dran, der Aussätzige zu sein.“

"Jordan, das bist du doch nicht. Alex und Hannah fragen jeden Tag nach dir.“

"So? Seltsam, ich bin doch nur fünf Tische weiter, warum fragen sie mich nicht selbst?“

"Du weißt, dass das momentan nur Stress bedeuten würde.“

"Ja und das wäre sehr unbequem für euch, hm?“

"Ich versteh ja, dass du sauer bist, aber momentan geht's halt nicht anders.“

"Schon gut, vergiss es.“

Am nächsten Tag bekam ich wieder Besuch an meinem Eck-Tisch. Lila Strähnen waren über Nacht in den schwarzen Haaren aufgetaucht.

"Was machst du heute Abend?“

"Was?“

"Ne Freundin von mir feiert Geburtstag. Schau vorbei, was hast du zu verlieren? Oder hast du schon was vor?“

"Nein, aber … .“

"Siehst du? Wo wohnst du? Ich hol dich ab.“

"Das glaub ich nicht. Gib mir die Adresse, ich überlegs mir.“

"Cotton-Drive. Ich glaub Nummer 56, aber das hörst du dann schon. Wunder dich nicht, die Eltern von meiner Freundin sind stinkreich. Und das sieht man auch am Haus. Aber die Leute dort sind cool.“

"Was auch immer … .“

"Also dann bis heute Abend.“

"Vielleicht.“

Sie schaute mir noch tief in die Augen und ging dann. Das konnte ja noch interessant werden …

Sean stand nach der Schule nicht an unserem Treffpunkt, also machte ich mich allein auf den Heimweg. Er lies sich auch den ganzen restlichen Nachmittag nicht mehr blicken. Ich sah gar nicht ein, dass ich den ganzen Abend daheim sitzen würde um zu warten, bis er genug Diplomatie mit seinen sogenannten Freunden betrieben hatte. Da konnte ich auch genauso gut auf diese ominöse Party gehen. Und das tat ich dann auch. Gegen Zehn stand ich vor einem riesigen Haus mit Säulen und allem drum und dran. Irgendwo hinterm Haus hörte ich Musik. Gerade als ich durch den Garten Richtung Lärm gehen wollte, war sie wieder da und schleppte mich Richtung Haustür.

"Falsche Party. Die coolen Menschen feiern im Keller. Komm mit.“

In einem kleinen Raum im Keller saßen zehn Leute im Kreis und kifften sich die Birne voll. Wunderbar, das war also deren Vorstellung von einer Party.

"Hey Leute, Jordan is hier.“

Alle hoben die Hand zur Begrüßung und pafften weiter an den drei Joints die im Umlauf waren.

"Also, was willst du trinken?“

"Keine Ahnung, was habt ihr denn da?“

"Schau dich um.“

Bier und Wein, das war alles.

"Ich denke ich nehm irgendeinen Wein … Wie heißt du eigentlich?“

"Summer.“

"Wie passend … .“

"Ich hasse meine Eltern dafür.“

"Kann ich verstehen.“

Wir setzten uns in den Kreis.

"Und wer hat denn jetzt Geburtstag?“

Ein grünhaariges Mädchen, das mir gegenüber saß, hob die Hand.

"Na dann alles Gute … .“

"Danke … .“

Irgendwie sprach keiner was, Musik lief auch keine und alle starrten nen Meter vor sich auf den Boden und schienen nur drauf zu warten, dass ein Joint zu ihnen kam.

Von rechts wurde mir einer gereicht, den ich einfach weitergab.

"Du rauchst nicht?“

"Ich hab's mir abgewöhnt.“

Eine Weile saß ich einfach nur da. Aber irgendwann wurde mir die Stille richtig unangenehm, also versuchte ich, ein Gespräch zu beginnen.

"Also, ich hab doch vorher aus dem Garten Musik gehört oder war das nebenan?“

"Minnies Zwillingsbruder feiert oben.“

"Verstehe. Und ich nehmen nicht an, dass ihr die Parties zusammenlegen wollt?“

"Warum sollten wir das wollen?“

"Richtig.“

"Und deine Freunde reden wohl nicht viel, hm?“

"Sie reden nur, wenn sie was zu sagen haben. Ich find das gut.“

"Und was macht ihr so den ganzen Abend?“

"Na, rumhängen halt und zur Feier des Tages Gras rauchen.“

"Alles klar. Wisst ihr, mir ist grad eingefallen, dass ich noch jemanden versprochen habe, vorbeizuschauen. Also, ich wünsche euch noch viel Spaß. Man sieht sich.“

Und schon war ich wieder auf dem Weg nach oben. An der Haustüre hatte Summer mich eingeholt.

"Warte, ich weiß, dass wir auf den ersten Blick komisch erscheinen, aber bleib doch noch ein bisschen, die tauen schon noch auf.“

"Mag sein, aber ich muss jetzt echt los.“

"Dann komm ich mit.“

"Wie bitte? Deine Freundin feiert da unten Geburtstag, du kannst doch nicht einfach weggehen.“

"Das merken die doch gar nicht. Also, wo gehst du jetzt hin?“

"Nach Hause.“

"Das ist doch langweilig. Geh mit mir nach oben.“

"Was?!“

"Komm schon, wir könnten in Minnies Zimmer gehen und unsere eigene Party veranstalten. Na, was meinst du?“

"Öhm, danke für das Angebot, aber … nein.“

"Warum nicht?“

"Ich kenn dich überhaupt nicht.“

"Dann lernen wir uns einfach kennen.“

Sie schmiss sich mir an den Hals und steckte mir die Zunge in den Rachen. Hinter uns ging eine Tür auf. Da stand Hannah.

"Ups, ich will nur aufs Klo … Jordan! Was machst du denn hier?“

"Er ist mit mir hier.“

"Summer, lass den Scheiß! Was machst du denn hier?“

"Was mach ich wohl auf Willies Geburtstagsfeier?“

"Das ist … Oh fuck. Das wusste ich nicht. Ich wollte eh gerade gehen.“

"Warte, also was machst du hier?“

"Ich war auf der Feier im Keller.“

"Ernsthaft? Dröhnen sich Minnies Grufti-Freunde wieder zu? Wie bist du denn da rein geraten?“

"Wie gesagt, ich hab ihn hergebracht. Und jetzt geh aufs Klo, Hannah.“

"Ich verschwinde jetzt hier.“

"Aber warum denn? Schau doch mal zu deinen alten Freunden rein.“

"Summer, du hast keine Ahnung, also lass das. Hast du mich absichtlich hierher gelotst oder was?“

Die Tür zum Wohnzimmer ging wieder auf. Gleich würde Willie da stehen und dann gäb es richtig Ärger. Ich wandte mich schon zur Haustür um, um schnell fliehen zu können.

"Jordan? Was machst du denn hier?“

Das war Sean!

"Boah, erschreck mich halt. Summer hat mich eingeladen, ich wusste nicht, dass Willie ne Zwillingsschwester hat. Ich dachte, das wäre ne andere Feier. Bin quasi schon weg.“

"Oh, okay, ich komm noch mit raus.“

"Ich auch.“

"Summer … muss das sein?“

"Gehen wir ein Stück?“

"Klar.“

"Ich meinte Jordan … .“

"Er ist mit mir hier, also komm ich mit.“

"So?“

"Summer, was soll denn das?“

"Was, wir haben uns schließlich geküsst!“

"Du hast mir deine Zunge in den Mund gesteckt, unter küssen versteh ich was anderes.“

"Ich wusste nicht mal, dass ihr euch kennt.“

"Tun wir auch nicht.“

"Hey, wir haben schon zweimal zusammen gegessen!“

"Du hast dich unaufgefordert zu mir gesetzt und mir mein Zeug weg gegessen … .“

"Jedenfalls hab ich dich eingeladen und du bist gekommen, oder?“

"Das stimmt.“

"Okay und kannst du jetzt verschwinden?“

"Sean, charmant wie immer. Kein Wunder dass Sara dich abserviert hat!“

"Ich hab mit ihr Schluss gemacht, okay?!“

"Natüüüüüüürlich. Was auch immer du sagst.“

"Verdammt, mir egal, dann bleibst du eben hier. Jordan, es tut mir leid, dass ich mich heute Nachmittag nicht mehr gemeldet habe. Ich bin mit Willie gleich hierher gefahren und hab ihm bei den Vorbereitungen geholfen. Ich dachte, ich könnte vielleicht noch mal mit ihm über alles reden.“

"Über was denn?“

"Das geht dich nichts an, halt dich raus. … Jedenfalls hat er sich noch nicht annähernd beruhigt. Jedes Mal wenn ich auch nur in die Nähe von diesem Thema komme, dann bekommt er rote Flecken im Gesicht.“

"Und was willst du weiter machen? Ich meine, es kann ja nicht ewig so weitergehen … .“

"Nein, ich lass mir was einfallen, ich brauch aber noch ein wenig Zeit, okay?“

"Ich hab wohl keine Wahl, oder? Aber ich finds echt Scheiße.“

"Worum geht's denn? Was soll denn die Geheimniskrämerei?“

"Hör zu, Summer, kannst du jetzt bitte einfach zurückgehen?“

"Warum denn?“

"Geh einfach!“

"Nein, ich bleib hier, wenn du mir keinen Grund nennen kannst.“

"Na schön. Jordan, ich finds auch Scheiße, aber was soll ich machen? Sags mir!“

"Ich weiß nicht, ich … ich, Mensch Summer, geh weg!“

"Ist schon gut, Jordan, ich weiß. Komm her.“

Sean nahm meine Hand.

"Summer, ich gebe meinem Freund jetzt einen Abschiedskuss und wenn du irgendwem davon erzählst, halten deine Eltern am nächsten Tag die Fotos von deinem letzten Absturz in den Händen, klar?“

Seans Küsse wurden immer noch besser.

"Komm mit mir heim.“

"Das geht jetzt noch nicht, aber ich schlaf auf jeden Fall bei dir. Ich komm bald, okay? Ohne dich ist ne Party keine Party.“

Er gab mir noch einen Kuss auf die Nase und ging zum Haus zurück. Ich sah ihm noch voller Bewunderung nach. Dieser Kerl hatte es mir wirklich angetan.

"Krass.“

Summer, natürlich, die war ja auch noch da.

"Spar's dir, okay?“

"Was soll ich mir sparen?“

"Egal was. Sag am besten einfach gar nichts.“

"Aber ich wollte doch gar nichts sagen! Ich bin eben überrascht, das ist alles. Das erklärt, warum du nicht mit mir nach oben gehen wolltest … Aber Sean? Hättest du dir nicht jemand Nettes aussuchen können?“

"Sean ist der netteste Kerl den ich kenn, er will es immer allen Recht machen.“

"Reden wir schon von der gleichen Person? Seit ich ihn kenne und das ist quasi schon immer, waren er und Willie immer mies zu uns. Daddys Liebling und Musterschüler. Und der hat ne Vorliebe für Jungs. Das finde ich sehr amüsant. Was sagt sein Vater denn dazu? Natürlich weiß er von nichts, oder? Im Vor-Daddy-Verheimlichen war Sean schon immer gut. Man, das ist der beste Tag meines Lebens, endlich hab ich was gegen ihn in der Hand!“

"Sag mal, spinnst du? Is das alles, was dir dazu einfällt?“

"Eigentlich schon, ja.“

"Du bist ja schlimmer als Sara.“

"Oh, deswegen hat sie Schluss gemacht, sie hat rausgefunden, dass ihr toller Sean auf Jungs steht … .“

"Nein, er hat Schluss gemacht. Warum red ich eigentlich noch mit dir?“

"Jetzt warte doch. Ist ja gut, ich sag schon nichts mehr. Ich mag Sean einfach nicht besonders, aber ich mag dich. Und dass du was mit Jungs hast, stört mich nicht. Aber warum ausgerechnet mit Sean. Der ist wie der nervige große Bruder, den ich zum Glück nie hatte.“

"Was soll ich denn darauf sagen?“

"Vielleicht erzählst du mir einfach, was passiert ist? Warum meiden dich alle?“

Sie begleitete mich nach Hause und ich erzählte ihr tatsächlich so ziemlich die ganze Geschichte.

"Wow, also ist es euch richtig Ernst, hm?“

"Ich denke schon, ja. Mir zumindest auf jeden Fall.“

"Dann brauch ich also gar nicht mehr versuchen, dich ins Bett zu kriegen?“

"Ich befürchte das hätte keinen Sinn. Ich bin echt ziemlich verknallt in den Kerl.“

"Er sollte nicht so viel auf seine so genannten Freunde geben. Willie is ein richtiger Vollidiot. Und wenn Sara echt all das gesagt hat, dann hat sie es wirklich verdient, abserviert zu werden.“

"So, hier wohne ich.“

"Oh, dann bist du also auch eines von den reichen Kids?“

"Das Haus gehört dem Freund meiner Mutter. Ich wohne erst seit kurzem hier.“

"Naja, dann werd ich mal zu den Anderen zurückgehen.“

"Danke fürs nach Hause bringen.“

"Jederzeit, also, dann sehen wir uns am Montag in der Kantine.“

"Wahrscheinlich. Gute Nacht.“

"Nacht.“

Ich ließ den Schlüssel unter der Fußmatte und ging ins Bett. Irgendwie war ich froh, jemanden zu haben, der nicht mit Sean befreundet war, sondern tatsächlich nur mit mir. Ich schlief relativ schnell ein und wachte erst wieder auf, als es schon hell wurde. Sean lag dicht neben mir. Ich drehte mich zu ihm und küsste ihn auf die Stirn. Er machte die Augen auf.

"Hey, ich wollte dich nicht wecken.“

"Schon gut, ich war schon wach. Ich hab über gestern Abend nachgedacht. Willie ist schon so lange mein Freund und mich hat seine Starrköpfigkeit bisher nie gestört. Aber jetzt sollte er langsam echt über seinen eigenen Schatten springen. Und die Mädels, vor allem Susi und Linda, mischen sich auch ständig ein. Ich hab versucht, ihnen zu erklären, dass ich schon vorher mit Sara Schluss machen wollte und auch, dass das zwischen uns Beiden nicht nur du weißt schon … irgendwas ist, sondern eben was … du weißt schon, … etwas Großes.“

Ich lächelte ihn an.

"Etwas Riesengroßes!“

"Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch tun soll … .“

"Vielleicht kann ich ja was tun …?“

"Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Vielleicht könntest du mal mit Susi reden, damit sie dich kennenlernt und sieht, warum ich mich in dich verliebt hab.“

"Ach Sean … sie mag mich eben nicht, das glaub ich, kann ich nicht ändern, aber ich werd versuchen, ihr klar zumachen, dass wir niemanden verletzen wollten und dass man sich eben nicht aussuchen kann, in wen man sich verliebt.“

"Das wäre klasse. So und jetzt zu deiner neuen Freundin. Summer, hm?“

"Ja, ich weiß, sie ist nervtötend. Aber ich bin froh um jede Gesellschaft. Und sie verurteilt mich nicht dafür, dass ich mit dir zusammen bin. Sie versteht zwar nicht, wie ich diesen gemeinen Kerl nur mögen kann … .“

"Summer und Minnie haben Willie und mich schon immer zur Weissglut getrieben, man kennt ja solche Geschichten. Überall wollten sie dabei sein und alles wollten sie wissen und wenn man sie nicht gelassen hat, haben sie uns nach spioniert und uns verpetzt. Tief drin sind wir so was wie Freunde, alleine schon, weil wir so viel zusammen erlebt haben, aber das würde ich natürlich niemals zugeben.“

"Verstehe. Naja, ihre Freunde sind echt sehr seltsam, aber ich denke, mit ihr komm ich ganz gut aus. Alleine essen ist ungesund, hab ich gehört.“

"Na dann, aber keine fremden Zungen mehr in deinem Mund, ja?“

"Das hoffe ich doch. Da hat sie mich kalt erwischt.“

Endlich zeigte Sean auch mal so was wie Eifersucht. Das gefiel mir. Jetzt waren wir wirklich zusammen.

Das restliche Wochenende verbrachten wir bei mir. Wir lernten oder halfen meiner Mum beim Essen machen. Ich durfte jetzt sogar schon von Zeit zu Zeit mal was umrühren. Sean und ich wussten beide nicht so recht, wie wir miteinander umgehen sollten, wenn Klaus und Mum dabei waren. Irgendwann schnitt Klaus das Thema an.

"Hört zu, ihr Beiden. Carol und ich wissen wie ihr euch fühlt. Im Büro vor Klienten müssen wir auch Distanz bewahren. Das kann ganz schrecklich sein. Und ihr müsst das schon in der Schule durchmachen. Hier braucht ihr euch nicht verstellen, okay?“

Sean und ich sahen uns erstaunt an. Wir waren beide erleichtert. Von da an mussten wir uns die kleinen Gesten zwischendurch nicht mehr verkneifen. Zumindest nicht bei mir zu Hause.

Am Montag sprach ich natürlich nicht mit Susi. Wie hätte ich das auch machen sollen? Sie war ja, wie immer, mitten im Geschehen. Ich setzte mich an Summers Tisch.

"Hey! Schön, dass du es an unseren Tisch geschafft hast!“

Alle hoben wieder zur Begrüßung die Hand.

Summer verwickelte mich bald in ein Gespräch über Verschwörungstheorien. Ab und an hatte sogar auch mal jemand von den Anderen was dazu zu sagen. Die Leute waren seltsam, aber ich fühlte mich wohl bei ihnen.

Irgendwie bürgerte es sich ein, dass Sean und ich in der Schule keinen Kontakt hatten, dafür aber die restliche Zeit ständig zusammenhingen. Irgendwann hörte ich auf nachzufragen, wie die Diplomatie lief. Nur an den Wochenenden war es anfangs schwierig. Im Zen wollte ich mich nicht blicken lassen, aber sogar Summer und die Anderen gingen ab und an da hin, wenn ihnen ihr Keller doch mal zu langweilig wurde. Mein Gips kam ab und es wurde Dezember. Endlich konnte ich wieder Gitarre spielen, wenn meine Finger anfangs auch noch etwas steif waren. Meine Mum und Klaus hatten endlich einen Hochzeitstermin. An Silvester. 60 Leute waren eingeladen, die meisten natürlich von Klaus' Seite. Aber irgendwann klopfte Mum an meiner Tür, als Sean und ich gerade Mathe lernten. Meine Noten waren mittlerweile gar nicht mehr so übel.

"Hey, stör ich gerade?“

"Nein, natürlich nicht. Was gibt's?“

"Ich wollte mit dir über die Gästeliste reden. Ich werde natürlich meine Eltern einladen.“

"Ja, das lässt sich wohl nicht vermeiden.“

"Leider. Jedenfalls hab ich mir aber auch überlegt, dass es eine gute Gelegenheit wäre, dass du deinen Vater wieder siehst.“

"Ist das dein Ernst? Anthony auf deiner Hochzeit? Warum willst du dir das antun?“

"Wir waren auch auf seiner Hochzeit … .“

"Das war vor 15 Jahren! Und das war so ungefähr der schrecklichste Tag in deinem Leben. Was bezweckst du damit, Mum?“

"Die Bonannos sind Familie. Sie sollten dabei sein.“

"Moment, du willst doch wohl hoffentlich nicht die ganze Sippschaft einladen!“

"Nein, natürlich nicht. Nur deine Großeltern, deinen Onkel und deine Brüder.“

"Mum, nenn sie nicht so. Ich hab sie in meinem ganzen Leben erst einmal getroffen.“

"Hör mal, ich will sie dabei haben. Und ich will deinem Vater zeigen, dass ich dich nicht komplett verkorkst habe. Dir geht's wieder gut und ich will, dass er das weiß. Und jetzt Ende der Diskussion.“

Und weg war sie.

"Was war das denn? So … autoritär hab ich deine Mum ja noch nie erlebt.“

"Ich auch schon lang nicht mehr. Man, was soll denn das jetzt.“

"Was ist denn so schlimm dran Verwandte wiederzutreffen? Freust du dich nicht auf deinen Dad?“

"Anthony ist ein Arschloch. Aalglatt und nur auf seinen Vorteil bedacht. Mich würde er sowieso am liebsten einfach streichen. Als ich fünf war, hat er geheiratet und seine Muster-Familie gegründet. Eine Italienerin, drei Söhne, seine Eltern müssen so stolz auf ihn sein. Meine Mum und er sind nebeneinander aufgewachsen. Sandkastenliebe. Mit nicht mal 15 wurde sie schwanger, seine Eltern haben drauf bestanden, dass sie wegzieht. Erzkatholisch, wie sie waren, wollten sie nicht, dass die Nachbarn was von den Sünden ihres Ältesten mitbekamen. Er hat uns oft besucht, bis raus kam, dass er schon längst eine Neue hat. Dann hat er geheiratet und von da an hab ich nur noch den monatlichen Scheck von ihm gesehen. Tja und als er dann von meinen Drogenproblemen erfahren hat, wollte er mich tatsächlich zu sich holen, da meine Mutter ja versagt hat. Ich war genau 2 Wochen bei ihm, dann hat er mich wieder zurückgeschickt. Ab und an hat er angerufen, aber seit ich in die Klinik kam, hab ich nichts mehr von ihm gehört. Und das ist auch gut so.“

"Mir war gar nicht bewusst, wie jung deine Mum gewesen sein muss, ich hab noch nie drüber nachgedacht. Aber wenn sie ihn einladen will, dann kannst du wahrscheinlich nichts dagegen machen, oder?“

"Ich glaube eh nicht, dass er kommt. Aber das sehen wir dann an Silvester. Sag mal, Klaus hat deine Eltern doch bestimmt auch eingeladen, oder? Ich hab bisher keinen der Beiden auch nur ums Haus laufen sehen oder so. Da lerne ich sie wohl dann mal kennen?“

"Warum, ihr seid doch diese Woche auch eingeladen, oder?“

"Was, nicht dass ich wüsste, wann denn?“

"Doch, bestimmt. Am Mittwoch hat meine Mutter Geburtstag. Meine Schwestern kommen und es gibt Abendessen im kleinen Kreis. Klaus war da bisher immer dabei, deshalb denk ich nicht, dass es heuer anders ist. Ich frag mal deine Mum.“

Und schon war er weg. Als er nach 10 Minuten immer noch nicht wieder kam, schaute ich mal nach. Die Beiden saßen am Küchentisch und waren in ein Gespräch vertieft. Leider bemerkten sie mich.

"Hey, belauscht du uns etwa?“

"Wieso? Habt ihr was zu verbergen?“

"Nein, ich hab Sean gerade nur erklärt, warum ich es gut fände, wenn du wieder Kontakt zu deinem Vater hättest.“

"Bist du der Meinung, das Fehlen eines männlichen Vorbildes hat mich schwul werden lassen?“

"Jordan, sei nicht albern! Aber du brauchst Geld für L.A. und dein Vater soll auch sehen, was aus dir geworden ist. Ich hab ihm noch nicht gesagt, dass du clean bist. Ich wollte abwarten, bis ich mir sicher bin. Er hat sich große Sorgen um dich gemacht … .“

"Dass ich nicht lache. Mach was du willst, aber ich werde ihm nicht der Kohle wegen in den Arsch kriechen. So, auf Wiedersehen.“

"Wo gehst du denn hin?“

"Samstagabend, Sean, wo werde ich wohl hingehen? Ich verstecke mich in Minnies Keller, damit deine Freunde nicht darüber nachdenken müssen, dass du es mit Jungs treibst.“

"Ihr habt das immer noch nicht geklärt?“

Meine Mum sah ziemlich verärgert aus. Das sollte Sean mal schön alleine ausbaden.


Sean

Irgendwann Anfang Dezember stand der Hochzeitstermin von Klaus und Carol fest und die Idee kam auf, Jordans Vater samt Familie einzuladen. Ich fand das spannend, Jordan hielt es eher für eine ganz, ganz schlechte Idee. Ziemlich zornig erzählte er mir von seinem Dad. Er fühlte sich verlassen, soviel konnte ich raushören. Ich beschloss, mal mit seiner Mum darüber zu reden. Sie bestätigte meinen Eindruck. Am schlimmsten hatte ihn wohl getroffen, dass er vor ein paar Jahren für einige Zeit zu seinem Vater gezogen war, aber nach ein paar Wochen schon wieder vor die Tür gesetzt wurde.


Jordan

Ich ging zur Außentreppe die in den Keller führte. Summer und Minnie waren die einzigen dort. Sie schminkten sich gerade.

"Hey, wo sind denn die Anderen?“

"Wir treffen uns im Zen.“

"Och nö. Warum das denn?“

"Uns fällt hier die Decke auf den Kopf und Gras haben wir ohnehin keines mehr. Zusaufen können wir uns auch dort. Und über die Menschen lästern.“

"Super, dann geh ich wohl wieder heim zu meiner Gitarre.“

"Jetzt hör aber auf. Langsam wird es Zeit. Das Zen ist ein öffentlicher Club, du kommst mit.“

Eigentlich hatten sie Recht. Es war an der Zeit!

"Völlig richtig. Mir reicht's. Sollen die doch woanders hingehen, wenn ihnen was nicht passt.“

"Genau. Also, willst du auch Mascara?“

"Nein, die Zeiten sind nun wirklich vorbei.“

"Du meinst du hast dich schon mal geschminkt?“

"Klar. Warum überrascht dich das? Eure Jungs schminken sich doch auch.“

"Ja, schon. Gut, dann können wir gleich los. Wir haben ne Flasche Wodka für unterwegs.“

Und die war, bis wir am Zen ankamen, leer. Ja, ich war gut drauf. Sollte mir nur einer dumm kommen. Bang sah mich skeptisch an.

"Na, sieht man dich auch mal wieder? Du bist schon gut dabei, hm? Deine Leute ham sich's schon in der Couchecke gemütlich gemacht.“

"Das sind nicht mehr meine Leute, aber danke für die Info. Dann bleib ich an der Bar.“

"Mach keinen Ärger, ja?“

"Wenn mir niemand Ärger macht, kein Thema.“

Drinnen platzierten wir uns an der Bar, die Anderen schienen noch nicht da zu sein. Ich bestellte mir irgendwas und leerte es in einem Zug. Auch Summer und Minnie machten es dank ebenfalls gefälschter Ausweise so. Bald musste ich aufs Klo und wen traf ich da? Natürlich Willie.

"Schau an, ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, dass Kanalratten wie du in unserem Freundeskreis nichts verloren haben?“

"Soweit ich weiß, ist das hier ein öffentliches Lokal.“

"Verschwinde oder ich wische mit dir den Fußboden.“

"Wow, der Spruch ist deinem IQ angemessen.“

"Wie du willst.“

Schon kam seine Faust auf mich zugeschnellt. Ich konnte im letzten Moment ausweichen, schlug meinerseits ins Leere und hatte schon seine Hand am Hals. Er schubste mich in eine Kabine. Willie war gut zwei Meter groß und Leistungssportler. Ich hatte keine Chance. Er drückte meinen Kopf für einige Sekunden ins Klo.

"So, du kleine Schwuchtel, worauf stehst du denn so?“

Er drückte mich gegen die Wand und fummelte tatsächlich an meinem Hosenknopf rum. Langsam bekam ich Panik. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich ordentlich verprügelt, damit konnte ich leben. Aber das! Ich versuchte wirklich, mich zu wehren. Aber ich konnte nichts tun. Er hatte mich zwischen Wand und sich selbst eingekeilt. Mit einer Hand presste er mein Gesicht gegen die Fliesen. Ich schmeckte Blut. Ich betete, dass jemand in den Raum kommen möge, aber vermutlich würde jeder denken, da schiebe eben jemand ne Nummer in der Kabine. Ich konnte nichts tun und auf Hilfe konnte ich auch nicht hoffen. Was würde er wohl mit mir machen? Bald rutschte meine Hose in die Kniekehlen. Ich versuchte zu schreien aber dann drücke er mein Gesicht nur noch fester gegen die Wand. Ich bekam ihn nicht zu fassen. Ich war absolut machtlos. Er hielt mir ein Kondom vors Gesicht.

"Wer weiß was man sich bei dir alles holen kann. Mal sehen, wie dir das gefällt.“

Tränen vermischten sich mit dem Blut das mir übers Gesicht lief. Ich wollte nur noch, dass es vorbei ist, ich hatte aufgehört mich zu wehren.

Ich hörte einen Knall und spürte wie Willie mich losließ, meine Beine nachgaben und ich hart aufschlug. Ich blieb einfach liegen. Mein Körper hörte auf keinen Befehl, den ich ihm gab. Ich sah Summers Gesicht. Sie weinte.

"Jordan, sag was, sag doch was!“

Da war Bang, der Willie aus dem Raum zerrte. Und da war Sean. Er beugte sich über mich.

"Jordan, hörst du mich?“

Endlich gehorchte mir mein Körper wieder. Ich schubste Sean so kräftig ich nur konnte von mir.

"Geh weg! Das ist alles deine Schuld! Ich hasse dich und alles was du tust. Geh weg!“

Die letzten Worte bekam ich kaum noch über die Lippen. Meine Gesichtsmuskeln verzerrten sich und ich konnte nur noch weinen. Summer hob meinen Kopf in ihren Schoß und beugte sich weit über mich, als könne sie mich so von allem Bösen beschützen. Ich krümmte mich zusammen und wir weinten einfach nur.

Irgendwann kam Bang zurück. Danach kann ich mich an nicht mehr viel erinnern. Ich wachte nachts in einem fremden Bett auf und Summer saß neben mir.

"Wo sind wir hier?“

"Bei Bang zu Hause, kannst du dich nicht mehr erinnern? Willst du einen Schluck trinken?“

"Nein. Ich will einen Spiegel.“

Die Wunde an meiner Augenbraue sah gar nicht so schlimm aus. Dafür sah ich aus wie tot. Leichenblass, mit dicken Augenringen und eingefallenen Wangen.

"Kann ich dir irgendwie helfen?“

"Wo ist Sean?“

"Nebenan, im Wohnzimmer.“

Wortlos ging ich aus dem Raum. Bang saß auf einem Sessel, Sean auf dem Sofa.

"Jordan … .“

Ich setzte mich zu Sean und nahm ihn in den Arm.

"Was ich gesagt habe tut mir leid. Es ist nicht deine Schuld.“

"Doch, du hattest Recht. Ich war so ein Feigling und ich war viel zu nachsichtig mit Willie. Ich hätte ahnen müssen, zu was er fähig ist.“

Bang schlich aus dem Raum.

"Nein, bitte, lass uns das Ganze einfach vergessen.“

"Aber du musst doch zur Polizei gehen.“

"Bestimmt nicht, ich will einfach nicht mehr dran denken, okay?“

"Aber was er dir angetan hat … .“

"Was hat er mir denn angetan?“

"Jordan … er … .“

"Er hat gar nichts gemacht. Er hätte es bestimmt gemacht, aber er kam nicht dazu.“

"Wir waren also doch noch rechtzeitig da?“

"Ja.“

"Gott sei Dank!“

"Also, können wir bitte einfach nie wieder drüber reden?“

Bang hatte Willie wohl ordentlich zugerichtet und ihm gesagt, was passiert, wenn er mir je wieder zu nahe kommt. Das hatte seine Wirkung. Er ließ mich in Ruhe. Sean saß von da an in der Mittagspause an unserem Tisch. Genau wie irgendwann Hannah und Alex. Daraufhin auch Susi und darauf auch die anderen Mädchen. Tanja trennte sich von Willie, keiner wusste wieso, aber alle akzeptierten es. Er war weg, kein Teil der Clique mehr.


Sean

Als ich an dem Abend ins Zen kam, war die Stimmung irgendwie gedrückt. Willie und Tanja schienen Streit zu haben. Irgendwann sah ich Jordan mit Summer und Minnie reinkommen. Er schien schon angetrunken zu sein. Ich entschied mich, nicht rüber zu gehen, weil Willie mir gerade sein Leid klagte, Tanja zickte nur noch rum, sei eifersüchtig und was weiß ich noch alles. Aus dem Augenwinkel schaute ich Jordan dabei zu, wie er einen Cocktail nach dem anderen in sich rein schüttete. Gerade als ich mich dazu entschieden hatte, mal rüber zu gehen, ich war auch schon auf halbem Weg, stand er auf und torkelte Richtung Toilette. Ich drängelte mich also wieder durch die Leute zurück zu den Couchen, aber Willie war auch nicht mehr da. Konnte das Zufall sein? Klar, warum auch nicht. Trotzdem entschied ich mich langsam Richtung Toilette zu bewegen. Summer kam grad aus dem Mädchenklo. Sie fragte mich, ob ich vor hatte, mit Jordan heimlich aufs Klo zu verschwinden. Meine Antwort war, ich wolle natürlich nur sehen, ob es ihm gut ginge, nachdem sie ihm ja einen Cocktail nach dem anderen bestellte hatte, vermutlich um ihre Chancen bei ihm zu steigern. Bevor Summer was darauf sagen konnte, kam der Türsteher auf uns zu. Er fragte, ob mit Jordan alles in Ordnung sei. Wir beschlossen mal rein zuschauen. Es war nur eine Kabine besetzte, also musste Willie wohl schon wieder draußen sein, seltsam, wir hätten ihn doch sehen müssen. Jemand in der Kabine flüsterte etwas. Als ich noch versuchte, mir das zu erklären, holte Bang schon aus und trat die Tür ein. Einfach so. Ich sah erstmal nur, dass er Willie raus zerrte. Summer stürmte in die Kabine und redete auf Jordan ein. Jordan war da drin? Erst da wurde mir klar, was passiert war. Ich drängte Summer bei Seite und beugte mich über ihn. Er reagierte erst nach einer Weile. Sein Gesicht verzog sich zu einer zornigen Fratze. Mit voller Wucht schubste er mich von sich und schrie auf mich ein, das sei alles meine Schuld. Ich wusste, dass er Recht hatte. Ich blieb draußen stehen. Bang kam zurück. Ich sah alles wie in einem Film. Er fragte Jordan, ob er die Polizei einschalten sollte. Jordan wollte das auf keinen Fall. Bang half ihm auf und brachte uns nach oben in seine Wohnung. Dort schlief Jordan sofort ein. Summer blieb bei ihm. Ich hatte das Gefühl, nicht das Recht zu haben, bei ihm zu sein. Er wollte mich nicht da haben. Bang machte Kaffee und setzte sich zu mir ins Wohnzimmer. Er sah auch ziemlich mitgenommen aus.

"Ich kenne den Jungen jetzt schon seit Jahren. Mindestens seit fünf und ich weiß nicht mal, wie alt er eigentlich ist. Ich weiß nicht, wo er wohnt, wer seine Eltern sind. Das alte Zen war schrecklich. So viele junge Menschen die sich selbst aufgegeben hatten. Die meisten kommen und gehen, fallen einem nicht weiter auf. Aber dann gibt es welche wie Jordan. Ich hab mich immer gefragt, wie es bei ihm so weit kommen konnte. Er ist klug, hat sich immer freundlich mit mir unterhalten und er hat echt Talent. Hast du ihn mal mit einer Gitarre in der Hand erlebt? Unbeschreiblich. Aber er fiel immer tiefer in dieses Loch und ich konnte nur zuschauen. Irgendwann tauchte er einfach nicht mehr auf. Von heute auf morgen. Ich hab immer gehofft, dass er es geschafft hat, aber eigentlich dachte ich, ihn hätte es erwischt. Und jetzt ist er plötzlich wieder aufgetaucht, ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Und er hatte es wirklich geschafft. Nicht nur von den Drogen wegzukommen meine ich, sondern er hat sich neue, bessere Freunde gesucht und dich. Ich hoffe diese Scheiße heute Abend macht das alles nicht kaputt.“

Ich war natürlich erstaunt drüber, dass der Türsteher über uns Bescheid wusste. Ich erzählte ihm über Jordan so viel ich wusste. Irgendwann ging die Tür auf und Jordan kam auf mich zu. Er sah aus wie eine wandelnde Leiche. Er umarmte mich und sagte mir, es sei nicht meine Schuld, aber bis heute fühle ich mich deshalb schuldig. Er sagte mir auch, wir seien gekommen, bevor wirklich etwas passiert war, ich bin mir nicht sicher, ob er das nur sagte, um mich zu beruhigen. Er wollte jedenfalls nicht zur Polizei gehen. Willie bekam auch so seine Strafe. Die Türsteher hatten ihn ganz schön zugerichtet und, man mag es Charma nennen, Tanja machte ein paar Tage später mit ihm Schluss. Obwohl ich niemandem davon erzählte, entfernte sich die Clique zunehmend von ihm, was wohl auch an Tanja lag. Von da an zog er mit seinen Mannschaftskollegen durch die Gegend. Ich hab nie wieder wirklich mit ihm gesprochen.


Jordan

Am Mittwoch waren wir tatsächlich zum Geburtstag von Seans Mutter eingeladen. Sie wurde 57, über 20 Jahre älter als meine Mutter. Seans älteste Schwester war nur 3 Jahre jünger als Mum. Das faszinierte mich sehr. Ich war ziemlich nervös, aber Mr. und Mrs. Wittmore nahmen eigentlich keine Notiz von mir. Das war mir eh lieber so. Seans Schwestern hießen Elisabeth und Josephine. Beide waren ziemlich hübsch und sahen Sean ähnlich.

Josie war 32, verheiratet und hatte eine kleine Tochter namens Jennifer. Natürlich arbeitete sie trotzdem noch, war sogar Juniorpartnerin einer großen Kanzlei in San Diego. Sie war mir vom ersten Moment an nicht sehr sympathisch.

Im Gegensatz zu Beth. Ihr Fachgebiet war Umweltrecht und ihre Aufgabe war es, Konzernen das Leben schwer zu machen. 28 fand sie viel zu jung, um sich langfristig zu binden und so brachte sie jedes Mal einen neuen Typen mit nach Hause. Diesmal einen Ingenieur, dessen Namen ich mir gleich gar nicht merkte. Sie war beruflich viel unterwegs und hatte gar keinen festen Wohnsitz. Jetzt wäre sie erstmal für ein paar Wochen in der Stadt. Der Abend verging, Klaus schien quasi zur Familie zu gehören. Seans Vater war sehr imposant in seinem Auftreten, man merkte, dass er beruflich viele Leute unter sich hatte. Gegen Mitternacht gingen wir nach Hause. Wir lobten noch das Essen, Mum träumte davon, in einem Jahr selbst ein so niedliches Mädchen wie Jennifer haben zu können, ich sagte gleich, dass ich beim Namen Mitspracherecht wollte, um Ausrutscher wie diesen zu vermeiden. Es war ein netter Abend und jetzt kannte ich Seans Familie.


Sean

Dann kam der Geburtstag meiner Mutter. Meine Schwestern waren da und auch Klaus war wie immer eingeladen. Ich sah Jordan an, dass er sich bei meiner Familie nicht wirklich wohl fühlte. Natürlich hatte ich nicht vor, ihn als zukünftigen Schwiegersohn vorzustellen, aber ich dachte eigentlich schon, dass meine Eltern wenigstens ein klein bisschen Interesse an ihm zeigen würden, wo ich doch die meiste Zeit, wie sie wohl wussten, bei ihm verbrachte. Aber das Einzige, was in der Richtung geschah, war, dass mein Vater Klaus dankte, dass er mich die Hälfte der Zeit mitversorgte. Klaus meinte daraufhin, dass ich mich durchaus nützlich machte, gerade beim Kochen. Mein Vater kam wieder mit dem alten Lied, dass er mich, wenn alle Stricke reißen, auf jeden Fall in der Firmenkantine gebrauchen konnte. Ansonsten beschäftigte ich mich viel mit der kleinen Jennifer.


Jordan

Am nächsten Tag auf den Weg von der Schule nach Hause wollte ich mit Sean wie immer abmachen, was wir den restlichen Tag über tun würden.

"Meine Schwester ist doch noch da. Wir fahren in die Stadt einkaufen. Heute Abend kochen wir für alle.“

"Aso, hab ich vergessen. Gut, dann widme ich mich mal wieder meiner Musik.“

"Du hast mir immer noch nichts vorgespielt!“

"Ich will erst wieder zu meiner alten Form finden. Sonst blamiere ich mich noch vor dir.“

"Niedlich, du willst mir imponieren.“

"Mach dich nicht lustig über mich, sonst spiel ich dir nie was vor.“

Es war wieder so ein Moment, in dem ich ihm am liebsten in die Rippen gepiekst hätte, um ihn danach in meinen Arm zu ziehen und ihm einen versöhnlichen Kuss zu geben. Aber auf offener Straße ging das natürlich nicht. Es war frustrierend.

Der nächste Tag war ein Freitag. Auf dem Heimweg fragte ich mal vorsichtig an.

"Und, wie steht's heute so? Hast du Zeit für mich?“

"Eigentlich hab ich Beth schon versprochen, sie auszuführen.“

"Oh, klar … .“

"Aber morgen halt ich mir für dich frei, ja?“

"Ja bitte. Seit Dienstag hatten wir keinen unbeobachteten Moment mehr. Ich vermisse dich, weißt du?“

"Ich glaube ich könnte jetzt noch ein paar Minuten mit zu dir kommen … .“

Den Abend verbrachte ich mit Summer. Wir sahen uns Musikvideos an, aßen alles mögliche durcheinander und lachten über jeden Scheiß. Ich war ihr so dankbar, dass sie den Vorfall im Zen nicht erwähnte. Das Ganze hatte uns auf jeden Fall zusammengeschweißt.

Nachts um Zwölf schaute Sean plötzlich zum Fenster rein. Er war tatsächlich über das Vordach hochgeklettert. Ich machte das Fenster auf und ließ ihn herein.

"Was machst du denn hier?“

"Beth ist schon im Bett. Wir waren Essen und im Kino. Man merkt eben, dass sie nicht mehr die Jüngste ist … Jedenfalls will sie morgen mit mir shoppen fahren. Sie findet meine Klamotten zu altbacken. Und ich wollte dich fragen, ob du mitkommen willst.“

"Mit deiner Schwester zum Einkaufen? Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“

"Warum nicht? Ich glaub ihr würdet euch gut verstehen. Ich meine, wir müssen uns halt ein bisschen zurückhalten, aber das is ja klar. Das ist ja eh Öffentlichkeit.“

Summer kam aus dem Bad zurück.

"Ja wer ist denn da rein geschneit? Hat Betty dich jetzt genug babygesittet?“

"So nennt sie seit Jahren keiner mehr und ja, sie ist ins Bett gegangen, aber morgen machen wir wieder was zusammen.“

"So? Kann ich mitkommen?“

"Das ist ein Familiending.“

"Hey, gehör ich schon zur Familie? Wenn ich mitkommen kann, warum dann nicht auch Summer? Dann würd ich mich nicht so sehr wie das fünfte Rad fühlen.“

"Na toll. Gut, dann kommt ihr eben beide mit. Wir fahren um Eins los. So, ich geh dann auch mal ins Bett. Morgen früh gibt's Familienfrühstück. Also, Gute Nacht Summer. … Und Gute Nacht Jordan.“

Er gab mir einen sehr innigen und langen Kuss. Warum hatte ich das Gefühl, dass das dem Demonstrieren von Besitzansprüchen dienen sollte?

Summer blieb gleich über Nacht. Als wir um Zwölf aufstanden und zu Mum und Klaus in die Küche gingen, sahen die uns irritiert an, sagten aber nichts weiter dazu. Summer amüsierte das sehr. Um Eins gingen wir rüber zu Sean. Beth machte uns die Tür auf.

"Hey, Summer! Wow, wenn ich dich anschaue, dann fühl ich mich richtig alt. Und du bist Jordan. Tut mir leid, dass ich dich auf Ma's Geburtstagsfeier nicht weiter beachtet hab, ich dachte du wärst nur der Junge von nebenan. Ich wusste nicht, dass du und Sean befreundet seid. Er redet ständig nur von dir. Dafür hüllt er sich über die Trennung von Sara in Schweigen. Und auf die Frage, ob er denn eine neue Freundin hat, sagt er auch nichts … .“

"Beth, jetzt versuch nicht, aus ihm was rauszukitzeln! Er hat strikte Anweisung dicht zu halten.“

"Na mal sehen, der Nachmittag ist ja noch lang.“

Sean hatte Recht behalten, ich verstand mich prima mit Beth. Wir hatten viele Themen zu besprechen. Neben Musik und dem Üblichen war da auch noch Sean. Wir traten alle seine nervigen kleinen Angewohnheiten breit. Beth erzählte mir von früher, ich erzählte ihr, wie ihr Bruder jetzt so tickte. Nebenbei suchten wir immer wieder Klamotten raus und schickten Sean damit in die Umkleidekabine. Summer hatte sich abgeseilt, um im Skatershop coole Jungs aufzureißen. Beth und ich hatten monsterviel Spaß, Sean war bald leicht genervt. Wir gingen zum Food-Court, um Pizza zu essen. Beth war Vegetarierin und sah Sean ganz vorwurfsvoll an, als er sich eine Salami-Pizza bestellte. Danach suchten wir auch für uns Klamotten und bald hatte jeder ne Riesentüte zu schleppen, außer Sean. Der hatte bisher nur einen Gürtel gekauft. Gegen Fünf saßen wir wieder im Auto auf dem Weg nach Hause.

"Jordan, hast du eine Freundin?“

"Warum? Hast du Interesse?“

"Wenn du nur fünf Jahre älter wärst … .“

"Komm schon, wenn du 38 bist, bin ich 30, wen stört das dann noch?“

"Also hast du keine Freundin?“

"Das hab ich nicht gesagt … .“

"Also bist du mit jemandem zusammen?“

"Jep.“

"Was ernstes?“

"Jep.“

"Typisch, die Besten sind entweder vergeben oder schwul.“

Summer platze heraus:

"Oder beides!“

"Wohl war. Was habt ihr denn heute Abend vor?“

Summer überraschte mich mit ihrer Offenheit:

"Ein Freund von mir hat Gras besorgt, das wird in Minnies Keller konsumiert.“

"Hört sich nach Spaß an. Kann ich mitkommen?“

Sean war entsetzt.

"Das ist ja wohl hoffentlich nicht dein Ernst?!“

"Doch klar, warum nicht? Jordan, was meinst du?“

"Ich verbringe meine Samstagabende meistens in dem Keller.“

"Cool, dann sehen wir uns da ab Zehn?“

"Beth, was wenn Mum und Dad … .“

"Ist das dein Ernst, Sean? Wie alt bist du denn? Wenn du nichts von den Sachen, die Mum und Dad verurteilen, tätest, dann hättest du ein recht trauriges Leben.“


Sean

Meine Schwester Beth blieb danach, ohne ihren damaligen Freund, noch ein paar Wochen bei uns. Natürlich verbrachte ich viel Zeit mit ihr und Jordan fühlte sich bald vernachlässigt. Also beschloss ich, die Beiden müssten sich kennenlernen. Summer heftete sich mal wieder an Jordan dran. Sie schien ständig bei ihm zu sein und sogar ab und an zu übernachten. Jedenfalls fuhren wir zu Viert ins Einkaufszentrum. Schon davor hatte Beth mich gelöchert, warum ich denn mit Sara Schluss gemacht hatte. Es dauerte nicht lange und sie versuchte auch Jordan darüber auszufragen. Wie ich mir gedacht hatte, verstanden die Beiden sich gut. Zu gut sogar. Bald hatten sie sich gegen mich verschworen und schickten mich mit den grässlichsten Klamotten in die Umkleidekabine. Als Beth dann auch noch irgendwelche alten Geschichten über mich auspackte, war ich echt genervt. Das einzig positive war, dass Summer sich bald irgendwohin absetzte.


Jordan

Als ich an dem Abend in den Keller kam, saß Beth schon mit einem Joint in der Hand im Kreis. Sean saß abseits und konnte es scheinbar gar nicht fassen.

"Jordan, man, bin ich froh, dass du hier bist. Kneif mich mal!“

"Scheint als hätte ich mir den falschen Wittmore-Ableger geangelt. Deine Schwester weiß wie man Spaß hat.“

"Bitte, nicht du auch noch.“

"Willst du dich denn nicht dazusetzen? Ich jedenfalls schon.“

Ich setzte mich neben Beth, die mir einen Kuss auf die Wange drückte und mir den Joint anbot.

"Nein danke, ich versuch aufzuhören.“

"Wirklich? Warum?“

"Das Ganze war etwas außer Kontrolle. Deshalb hab ich nen Schlussstrich gezogen.“

"Okay, wie du meinst. Und, wo ist deine Freundin?“

"Das ist kompliziert … .“

"Inwiefern? Ist sie noch mit nem Anderen zusammen oder so?“

"Nein, nichts in der Richtung.“

"In welcher Richtung dann?“

"Das ist ne lange Geschichte … .“

"Komm, lass uns ein bisschen frische Luft schnappen.“

Wir gingen vors Haus, wo sie mir eine Zigarette anbot. Die nahm ich an.

"Also, schieß los!“

"Okay, aber das ist echt ein riesen Vertrauensbeweis. Vor allem dafür, dass ich dich eigentlich kaum kenne.“

"Danke, das weiß ich zu schätzen.“

"Die Wahrheit ist, ich hab keine Freundin.“

"Du hast dir das ausgedacht? Wieso?“

"Nein, hab ich nicht. Ich hab keine Freundin, ich hab einen Freund.“

"Oh, ach so. Man, das hättest du doch gleich sagen können. Und der zeigt sich nicht so gern mit dir in der Öffentlichkeit oder wie? Das solltest du ihn aber nicht mit dir machen lassen.“

"Nein, so einfach ist das nicht. Das ist eben alles noch recht neu, seine Familie weiß noch nicht Bescheid und so weiter.“

"Für so offen hätte ich meinen kleinen Bruder gar nicht gehalten.“

"Was meinst du?“

"Na dass er einen schwulen besten Freund hat.“

"Ach so, naja, als wir uns kennengelernt haben, wusste ich das selber noch nicht, von dem her … .“

Weiter die Straße hoch grölte jemand. Als ich mich umwandte, erkannte ich Willie und einige seiner Football-Team-Kameraden.

"Natürlich, der hat mir noch gefehlt. Beth, wir sollten wieder runter gehen.“

"Warum, was ist denn? Ist das der kleine Willie?“

Mittlerweile waren sie dicht genug hier, dass sie auch uns erkennen konnten.

"Betty Wittmore! Ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist! Was machst du denn hier?“

"Wir sind unten bei Minnie. Erzähl schon, wie ist es dir ergangen?“

Jetzt war er vielleicht noch 10 Meter weg. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Ich konnte dem Drang, einfach wegzulaufen kaum noch widerstehen.

"Oh, Betty, du kannst es nicht wissen, aber du befindest dich in schlechter Gesellschaft.“

"Was meinst du?“

"Darf ich vorstellen? Jordan Bonanno. Schwuchtel und Ex-Junky. So ziemlich die kaputteste Gestalt, die hier rumläuft.“

Ich hatte angefangen rückwärts zu gehen. Willie war vielleicht noch zwei Meter entfernt.

"Danke für die Warnung, aber weißt du, ich mache mir gern mein eigenes Bild von den Menschen.“

"Natürlich, die Vorliebe für solche Vögel muss wohl bei euch in der Familie liegen.“

Mittlerweile war ich hinter mir am Gartenzaun angelangt. Willie stand jetzt dicht bei Beth.

"Hör mal Willie, ich weiß nicht was dein Problem ist, aber du rückst mir entschieden zu nah auf die Pelle.“

"Was mein Problem ist? Dieser Abschaum hat die ganze Clique kaputt gemacht. Er hat Hannah das Herz gebrochen, Sara und Sean auseinander gebracht und durch Lügen dafür gesorgt, dass ich verstoßen wurde. Und wenn ich ihn irgendwann mal allein in die Finger bekomme, dann ist er so gut wie tot.“

Er stieß mich mit ausgestrecktem Arm gegen die Brust. Seine Kumpels stachelten ihn weiter an.

"Sag mal, bist du irre oder was?“

Beth zog mich am Arm in Richtung Haus. Bevor wir zur Treppe gelangten, stellten sich uns schon zwei Schränke in den Weg.

"Verdammt, lasst uns vorbei oder ich brülle so laut, dass die ganze Nachbarschaft wach wird.“

"Schon gut, lasst sie gehen. Der Kerl ist es doch gar nicht wert, dass wir uns die Finger an ihm schmutzig machen.“

Beth zerrte mich die Treppe runter.

"Warum hast du dich denn gar nicht gewehrt?“

"Das hat keinen Sinn. Ich hab nicht mal gegen ihn allein eine Chance und die waren zu Acht.“

Unten saßen immer noch alle im Kreis, sogar Sean hatte sich dazugesellt.

"Sagt mal, was hat Willie denn für ein Problem?“

Sean war sofort alarmiert. Zu Recht, ich fühlte mich als würden meine Knie gleich nachgeben.

"Willie war da? Was ist passiert? Jordan, geht's dir gut? Du bist leichenblass. Komm her.“

Er nahm mich in den Arm.

"Er hat dir doch nichts getan, oder?“

Ich schüttelte den Kopf.

"Wir sollten nach Hause gehen, Beth, komm.“

"Aber was ist eigentlich los?“

"Wir sollten erst mal von hier weg, okay?“

Nachdem Sean sichergestellt hatte, dass die Horde mittlerweile im Haus verschwunden war, gingen wir los.

"Also, kann mir das jetzt mal jemand erklären?“

Sean druckste rum, deshalb übernahm ich das.

"Kurz gesagt hat Willie ein Problem damit, dass ich auf Jungs stehe. Letzte Woche im Zen hat er mich verprügelt und hätte, wenn er nicht abgehalten worden wäre, noch Schlimmeres mit mir angestellt … .“

"Das tut mir leid. So ein riesen Idiot.“

"Ja, aber ich bin auch ein Idiot. Was hab ich mir denn dabei gedacht, hier wieder herzukommen, in sein Haus, zu seiner Schwester. Das war ja wie eine Einladung für ihn.“

Meine Hände zitterten. Sean hielt mich an der Schulter zurück und stellte sich vor mich.

"Das war nicht deine Schuld. Das weißt du doch, oder?“

"Ich hätte nicht ins Zen gehen sollen und schon gar nicht so betrunken. Wenn ich nicht einen halben Liter Wodka intus gehabt hätte … .“

"Dann hättest du dich auch nicht gegen ihn wehren können. Und er hätte dich auch nie in die Lage bringen dürfen, dass du dich wehren musst. Wenn irgendwer außer ihm daran Schuld hat, dann ich. Wegen mir ist er so wütend auf dich. Ich habe nicht von Anfang an Position bezogen. Und ich habe nicht kommen sehen, wie weit das gehen würde. Und dadurch hab ich dich verletzt und ich habe zugelassen, dass er dich verletzt. Das werde ich mir nie verzeihen.“

Er hielt mich an den Schultern, sein Gesicht vielleicht 10 Zentimeter vor meinem. Dann ließ er los und drehte sich zu seiner Schwester um. Sie schauten sich für ein paar Sekunden an, bis Beth endlich die Stille brach.

"Mum und Dad dürfen nichts davon erfahren.“

"Aber du hast mir doch vorhin den Vortrag darüber gehalten, wie langweilig mein Leben wäre, wenn … .“

"Aber hier geht es nicht um heimliches Kiffen oder sich nachts aus dem Haus stehlen! Wenn sie von euch erführen, dann würde ihr Lebenssinn verschwinden. Sie haben das alles nur aufgebaut, um es an ihre Söhne und Söhnessöhne weiterzugeben. In ihrer verdrehten Welt ist das eben das Wichtigste. Ihr Erbe an die Nachwelt. Als Jacob … .“

"Wag es nicht, ihn zu erwähnen! Natürlich, er wäre ein viel besserer Sohn als ich. Aber ihr habt nun mal nur noch mich. Und ich werde Medizin studieren, egal ob mit eurer Unterstützung, oder ohne. Und ich werde meine Partner auch nicht mehr nach euren Kriterien aussuchen, das hab ich versucht und raus kam eine Katastrophe.“

"Mach was du willst, sogar das mit dem Medizinstudium, aber erzähl Mum und Dad nichts von euch Beiden!“

"Irgendwann werd ich das wohl müssen, meinst du nicht?“

"Du bist 18, Sean. Da kann sich noch viel ändern. Warte ab … .“

"Bis sich die Sache von allein erledigt? Du verstehst das nicht! Jordan und ich werden nicht in ein paar Monaten Schluss machen und dann such ich mir wieder ne Freundin. Wir wollen zusammen nach L.A. Uns ist es ernst … .“

"Ich glaub ja, dass ihr das alles wirklich vorhabt, aber es kann noch so viel passieren, worüber ihr nicht die Kontrolle habt! Wartet doch bis ihr ne Weile zusammengelebt habt in L.A. Dann könnt ihr es ihnen immer noch sagen. Lasst euch doch die Zeit, was hetzt euch so?“

"Na zum Beispiel, dass wir uns die ganze Zeit verstecken müssen und in der Öffentlichkeit nicht wir selbst sein können?!“

"Aber würdet ihr wirklich offen damit umgehen? Würdet ihr euch in der Öffentlichkeit küssen und so weiter?“

Sean sagte gar nichts darauf. Das durfte ja wohl nicht wahr sein!

"Sean? Sag was!“

"Was denn?“

"Na zum Beispiel, dass wir uns dann natürlich ganz offen verhalten und dass es uns egal ist, was Andere von uns denken!“

"Aber eigentlich ist das schon ziemlich privat. Ich mein, es geht ja niemanden was an, mit wem ich zusammen bin.“

"Ach, deshalb hast du Sara zu jeder noch so öffentlichen Gelegenheit die Zunge in den Hals gesteckt, oder?“

"Das war was anderes … .“

"Natürlich, für sie musstest du dich nicht schämen! Schon verstanden.“

"Das meinte ich nicht, Jordan, warte!“

"Was denn, erkläre es mir!“

"Was erwartest du denn? Willst du wirklich überall, wo du mit mir hingehst, auffallen? Willst du von jedem auf das reduziert werden?“

"Ich will keine Geheimnisse haben, ich will mir nicht vorkommen, als würde ich etwas Falsches machen und ich will zeigen, wie stolz ich drauf bin, mit dir zusammen zu sein.“

"Seht ihr, das mein ich. Ihr kennt euch überhaupt noch nicht richtig. Ihr solltet euch auf jeden Fall noch Zeit lassen. Ich geh schon mal vor. Gute Nacht, Jordan.“

Auch ich ging recht zielstrebig auf mein Haus zu.

"Jordan, warte, bitte. Lass mich das doch erklären!“

"Okay, bitte. Erkläre es mir! Komm mit rein und erkläre es mir.“


Sean

Beth brachte Jordan und mich dazu, mal über einige Dinge zu reden, über die wir uns nicht einig waren. Für mich hing die Frage, ob wir uns in der Öffentlichkeit als Paar zeigten, nicht nur von meinen Eltern ab. Ich wollte nicht immer als anders gesehen werden und ich wollte nicht bei jedem Schritt die Blicke aller Anwesenden auf mich ziehen. Jordan hingegen war es egal, was Andere von uns dachten. Er wollte am liebsten ganz offen sein, aber allein die Vorstellung, ihn in der Schule oder im Einkaufszentrum zu küssen, löste in mir Panik aus.


Jordan

Wir redeten die halbe Nacht. Am Ende verstand ich ihn und er verstand mich, aber einig waren wir uns trotzdem nicht.

"Ich muss langsam rüber.“

"Ja, ich weiß.“

"Ich rede nach dem Mittagessen mit meinen Eltern über L.A. Das hab ich jetzt ewig vor mir hergeschoben. Und es ist gut wenn Beth dabei ist, denk ich.“

"Okay, viel Glück dabei.“

"Jordan, bitte sei mir nicht böse, ich kann nicht raus aus meiner Haut. Wir sind uns eben uneinig. Aber bis wir tatsächlich die Wahl haben, wird noch viel Zeit vergehen. Beth hat Recht, ich sollte es meinen Eltern erst sagen, wenn wir in L.A. sind. Das heißt nicht, dass ich nicht dran glaube, dass unsere Beziehung bis dahin hält. Ich will einfach schon auf eigenen Beinen stehen, wenn ich es ihnen sage.“

"Ich verstehe.“

"Jordan, ich liebe dich, das weißt du doch, oder?“

"Ja … .“

"Vielleicht hab ich dir noch nicht wirklich klarmachen können, was ich für dich empfinde. Du bist der beste Freund den ich je hatte und gleichzeitig hab ich all diese anderen Gefühle für dich, angefangen damit, dass ich dir den ganzen Tag nah sein möchte, dich ansehen und küssen will, aber auch viel tiefere Gefühle. Ich sehe mich selbst durch deine Augen, ich will für dich ein besserer Mensch, ein besserer Freund sein. Ich sehe dich und weiß genau wer du bist, so als würde ich dich schon ewig kennen. Und du kennst mich auf eine Art wie kein anderer Mensch sonst. Du gibst mir Kraft, weil ich weiß, dass du immer für mich da sein wirst, so wie ich immer für dich da sein werde und meine größte Angst ist es, dich zu verlieren, Jordan. Du bist der mit dem ich mein Leben verbringen will. Du bist und ich hätte nie gedacht, dass ich so was Schnulziges jemals sagen würde, die andere Hälfte meiner Seele. Und um all das, was ich für dich empfinde, auszudrücken, reichen drei Worte nicht aus, aber sie fassen es einigermaßen zusammen. Ich liebe dich, Jordan.“

Es gab darauf nichts was ich hätte sagen können, das im Vergleich dazu nicht billig geklungen hätte. Also küsste ich ihn. Ich küsste ihn, wie ich noch nie jemanden geküsst hatte. Ich hatte das Gefühl, schwerelos zu sein. Jede Bewegung passierte ganz von allein. Es war als würden unsere Körper von einem Gehirn gesteuert. Wir zogen uns aus. Alles passierte so schnell und trotzdem kam es mir vor wie in Zeitlupe. Ich sah meiner Hand dabei zu, wie sie in der Nachttischschublade kramte, einige Kondome herausholte und sie Sean gab. Wir tauschten einen Blick aus, mehr war nicht nötig. Ich drehte mich auf den Bauch und spürte, wie Sean sich auf mich legte. Am Anfang dachte ich, ich würde es nicht aushalten. Aber ich versuchte mich zu entspannen und konzentrierte mich auf Seans Bewegungen. Ich spürte bald, wie seine Muskeln sich anspannten und dann alle gleichzeitig entspannten. Er küsste meinen Nacken und legte sich neben mich.

"Alles okay?“

Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen. Er zog mich in seinen Arm, merkte aber gleich, dass mir das nicht sehr gefiel und ließ mich wieder los.

"Willst du drüber reden?“

"Ich weiß nicht. Nein, eigentlich nicht.“

"Willst du dann jetzt … .“

"Was? Nein, natürlich nicht! Ich weiß doch, dass du noch nicht so weit bist, das ist schon okay.“

"Aber was kann ich dann für dich tun?“

"Leg du dich in meinen Arm … .“

Vor Sieben schlich Sean sich nach Hause.

Am Nachmittag klingelte das Telefon. Einige Minuten später kam Mum in mein Zimmer.

"Willst du nicht langsam aufstehen? Es ist fast Zwei.“

"Ich schlaf ja nicht, ich hab nur einfach keine Lust, aufzustehen.“

"Alles in Ordnung, Schatz?“

"Ja … klar.“

"Was ist denn los? Willst du drüber reden?“

"Es geht nicht um die Sorte von Problemen, die ich mit meiner Mutter besprechen will.“

"Verstehe … Naja, dann red doch mit jemand Anderen drüber.“

"Ich wüsste nicht mit wem … .“

"Das tut mir leid, gut, dann lass ich dich mal wieder in Ruhe.“

"Warum warst du eigentlich hier?“

"Ach, das hat Zeit … .“

"Nein, ist schon gut. Weißt du was, ich steh jetzt auf, dusche und dann komm ich runter und du erzählst mir, was los ist, okay Mum? Mit mir ist alles in Ordnung, ich muss nur mit ein paar Dingen zurechtkommen, aber das kriege ich hin.“

"Gut. Dann sehen wir uns unten.“

Als ich runter kam, verzog Klaus sich aus dem Wohnzimmer. Das kam mir sehr seltsam vor.

"Mum? Was ist denn?“

"Setzt dich. … Dein Vater hat angerufen.“

"Okay, was hat er gesagt?“

"Er hat vorgeschlagen, dass sie alle schon am 25. kommen könnten, um etwas Zeit mit dir zu verbringen.“

"Und dann wollen sie bis zur Hochzeit bleiben? Eine ganze Woche?! Mum! Du hast ihnen hoffentlich gesagt, dass das nicht funktioniert, oder?“

"Eigentlich, Jordan … finde ich die Idee gar nicht so schlecht. Deine Großmutter könnte mir bei den Vorbereitungen helfen und du hättest Zeit, deinen Vater wieder besser kennenzulernen. Und er dich.“

"Das ist nicht dein Ernst, oder? Wo sollen die denn schlafen?“

"Naja, deine Großeltern würden sich dann mit den Jungs ein Hotelzimmer nehmen, deinen Vater, Carmen und Milo könnten wir hier unterbringen.“

"Hier?! Das wird ja immer besser! Dann hab ich ja gar keine Ruhe vor denen!“

"Jetzt Jordan reiß dich mal zusammen. Du bist doch kein Kind mehr und das ist deine Familie, ob es dir passt oder nicht. Komm damit klar und jetzt Ende der Debatte!“

Das waren wohl die Hormone. So aufbrausend war Mum sonst nicht.

"Na schön, aber ich spiel nicht rund um die Uhr den Babysitter.“

Abends schaute Sean noch mal vorbei, offiziell zum Mathe lernen.

"Hey.“

"Hey … .“

Er stand etwas unbeholfen da und wusste offensichtlich nicht, wie er mit mir umgehen sollte. Ich küsste ihn zur Begrüßung.

"Dann geht's dir also wieder besser?“

"Ja, ich weiß auch nicht was los war … .“

Wir gingen in mein Zimmer und machten die Tür hinter uns zu.

"Ich kann mir vorstellen, wies dir geht … .“

"Ja?“

"Ja, ich meine … es muss sehr verwirrend sein, plötzlich eben … .“

"Den weiblichen Part zu übernehmen?“

"Das wollte ich nicht sagen … .“

"Aber genau so hat es sich angefühlt. Total unmännlich … hör mal, ich glaub das ist etwas, womit ich allein klarkommen muss. Mach dir keine Gedanken. Ich brauch nur etwas Zeit, die Rolle, die ich dabei spiele, einzuordnen, verstehst du?“

"Ich denke schon … .“

"Und ich will auch nicht, dass du meinst, dass ich das Gleiche jetzt von dir erwarte. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, ja?“

"Okay … .“

"Und jetzt erzähl mir lieber, was deine Schwester noch gesagt hat.“

"Ich musste ihr ganz genau erzählen, wie wir zusammengekommen sind. Und sie hat gesagt, dass sie durchaus nachvollziehen kann, warum ich mich in dich verliebt habe. Sie findet dich wohl ziemlich heiß.“

"Ja, das ist mir aufgefallen.“

"Angeber!“

"Was denn?“

"Du tust so, als wäre das gar nichts Besonderes.“

"Ist es ja auch nicht. Die meisten Frauen finden mich heiß, aus unerfindlichen Gründen … .“

"Soll das ein Scherz sein?!“

"Was denn? Dir kann man's wohl nie Recht machen.“

"Aber du musst doch wissen, wie gut du aussiehst!“

"Jetzt hör aber auf. Klar, dass du das sagen musst … .“

"Nein, ernsthaft! Das fand ich schon, als ich dich das erste Mal gesehen hab. Und die Mädels haben auch über dich geredet.“

"Wie auch immer … .“

"Deine Augen, zum Beispiel! Die sind blau. Aber nicht so wässrig blau, sondern sie haben diese grauen Punkte die die Farbe ändern können, sie strahlen und wirken gleichzeitig oft so traurig. Und wie du dich bewegst, mit soviel Lässigkeit und trotzdem hat man das Gefühl, dass du genau weißt, was du tust. Du hast so was … Rebellisches an dir, so in Richtung James Dean, aber trotzdem hast du dieses Engelsgesicht. Und dein Körper … .“

"Oh, jetzt reicht's aber!“

"Nein, dein Körper ist perfekt.“

"Oh, bitte … .“

"Doch, wirklich.“

"So, ich küsse dich jetzt, bloß damit du aufhörst zu reden!“

Danach erzählte ich ihm noch von dem ausgedehnten Familienbesuch, der uns zu Weihnachten heimsuchen würde.

"Naja, vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Und ich bin wirklich schon gespannt auf deinen Vater und deine Brüder.“

"Halbbrüder. So, wollten wir nicht Mathe lernen?“

"Ja, wenn du nicht wissen willst, wie es mit meinen Eltern gelaufen ist … .“

"Was? Du hast tatsächlich mit ihnen gesprochen?

"Ja, ich hab es endlich über mich gebracht. Und sie haben mich überrascht. Sie haben mir vorgeschlagen, die vier Jahre pre-med-Studium zu finanzieren, unter der Bedingung, dass ich auch Kurse in Betriebswirtschaft und Ökonomie besuche.“

"Das ist ja großartig! Einfach so?“

"Ja, sie haben wohl schon geahnt, dass ich deshalb auf sie zukommen würde. Und sie haben eingesehen, wie Ernst es mir mit diesem Berufswunsch ist.“

"Grandios, dann kann uns jetzt nichts mehr aufhalten. L.A., wir kommen!“


Sean

Nach ein paar Stunden Schlaf wurde ich zum Frühstück geweckt. Danach wollte ich mich eigentlich nochmal hinlegen, aber Beth wollte Details. Sie löcherte mich mit Fragen, wie wir denn zusammengekommen seien und ob ich schon länger wüsste, dass ich auf Jungs stehe und dass ihr jetzt auch klar ist, warum ich mit Sara Schluss gemacht hatte und dass sie Jordan auch toll fand und und und. Ich war froh als es endlich Mittagessen gab. Danach erzählte ich meinen Eltern von meinen Studienplänen. Ich sagte auch, dass ich es zur Not auch ohne ihre finanzielle Unterstützung durchziehen würde. Es war ein ewiges Hin und Her, Beth sprach für mich, meine Mutter sah es auch ein, alle hatten ja eigentlich schon damit gerechnet. Irgendwann machte mein Vater mir ein Angebot, das ich gerne annahm. Vier Jahre Vorstudium, was eh Voraussetzung war um an der Med-School zugelassen zu werden, mit einem Hauptfach meiner Wahl (also entweder Bio oder Chemie) wollte er mir finanzieren, unter der Bedingung, dass ich auch Kurse in Ökonomie und Betriebswirtschaft besuchte. Er hoffte wohl, ich käme dadurch doch noch auf den Geschmack.

Abends konnte ich endlich wieder zu Jordan. Ich machte mir wirklich Sorgen. Aber ihm schien es besser zu gehen. Seine größte Sorge war der anstehende Familienbesuch. Und ich musste ihm erzählen, was Beth noch so gesagt hatte und natürlich berichtete ich ihm vom Angebot meines Vaters.


Jordan

Die letzte Schulwoche verging ziemlich schnell und dann waren endlich Ferien. Beth hatte beschlossen bis Silvester zu bleiben, was bedeutete, dass sie sich das ganze Wochenende an unsere Fersen heftete. Wir beschlossen, besser nicht mehr in Minnies Keller rumzusitzen. Das Zen war eine Möglichkeit und in der Schule hatten Hannah und Susi angekündigt, dass sie mit den Mädels hingehen würden, allerdings würde auch Sara dort sein. In der Schule redete sie mit Sean und saß auch am gleichen Tisch. Beth wollte hin, also gingen wir hin. Ich konnte endlich mal wieder mit Hannah reden, was Summer nicht gefiel. Als ich Hannah dann auch noch zur Hochzeit einlud, zog Summer ab und ward für den restlichen Abend nicht mehr gesehen. Sara ignorierte mich einfach, was ich auch ganz gut fand.

Heiligabend verbrachte ich bei Klaus' Eltern, die nach europäischer Tradition schon da Geschenke verteilten. Das kannte ich schon von den Bonannos. Natürlich wurde über nichts anderes geredet als das Baby und die Hochzeit. Mum schenkte mir eine Wandhalterung für die Gitarre die ich immer im Schrank verstaute. Klaus schenkte mir tatsächlich einen Riesen-Verstärker mit Effektgerät. Er hatte es zwar schon längst nicht mehr nötig, sich durch so was bei mir beliebt zu machen, aber schaden tat es auch nicht. Ich war natürlich begeistert und vergaß sogar für einen Moment, dass am nächsten Tag die ganze Sippschaft anrücken würde.

Aber irgendwann war es soweit. Gegen Elf klingelte es und alle standen vor der Tür. Mum wurde herzlich begrüßt, jeder fasste ihr an den Bauch. Klaus wurde neugierig beäugt. Ich hatte mich absichtlich strategisch geschickt mit dem Rücken zur Treppe gestellt. Nur recht zögerlich kam meine Großmutter auf mich zu. Kein Wunder. Als sie mich das letzte Mal gesehen hatte, war mein Gesicht mit Piercings gespickt, meine Haare zu einem grünen Irokesen geschoren und ich selbst dauerhigh gewesen.

"Gut siehst du aus, Junge.“

Ich wusste nichts zu ihr zu sagen, aber scheinbar erwartete sie das gar nicht. Sie tätschelte meinen Arm und trat wieder zu den Anderen, die sich gerade im Wohnzimmer umsahen. Die Anderen begrüßten mich nur zögerlich aus der Ferne. Während des Mittagessens hatte niemand mit mir gesprochen. Ich hatte Zeit alle ausgiebig zu mustern. Mein Großvater war ein stiller Mann mit Hornbrille. Er redete sehr bedächtig und bedeutungsschwanger. Mit seinem leichten italienischen Dialekt konnte er durchaus als Mafioso durchgehen. Großmutter Maria war meistens laut und mütterlich. Sie hatte ein großes Herz, aber meinen Platz darin hatte ich wohl verspielt. Damals hatte ich unter anderem versucht, ihren Familienschmuck zu versetzen, der Pfandleiher war, wie sich herausstellte, ein Freund der Familie und sagte ihr sofort Bescheid. Sie redete zwar noch mit mir, aber seither konnte sie mir nicht mehr in die Augen schauen.

Am Tisch neben ihr saßen die drei Jungs, der ganze Stolz der Familie. Wie ähnlich die drei sich sahen, war fast schon skurril. Zehn, Zwölf und Vierzehn dürften sie damals gewesen sein. Sie waren alle recht still, redeten nur, wenn sie was gefragt wurden und fielen ansonsten nicht weiter auf. Carmen, die Frau meines Vaters, war definitiv eine italienische Schönheit. Ihr Temperament war, im Gegensatz zu dem meiner Mutter, recht feurig, sie war immer freundlich zu mir, aber ich konnte sie nie leiden. Milo, der Bruder meines Vaters, war gerade mal vier Jahre älter als ich. Er hatte uns früher oft besucht und ganze Sommer bei uns verbracht. Damals waren wir so was wie Freunde. Er war sogar dabei, als ich meinen ersten Joint rauchte. Wie wir jetzt zueinander standen, wusste ich nicht. Damals, als ich mit 16 für kurze Zeit bei Anthony lebte und mit meinen Eskapaden das Vertrauen der ganzen Familie verlor, war er schon am College und bekam das Ganze nur aus Erzählungen mit. Mittlerweile war er ins Familienunternehmen eingestiegen.

Und dann war da noch Anthony, mein Erzeuger. Markantes Kinn, breite Schultern, ernster Blick. Er trug eigentlich immer teuer aussehende Anzüge. Er hatte noch kein Wort mit mir gewechselt. Ich half Mum beim Tisch abräumen, während es sich die Anderen im Wohnzimmer gemütlich machten, wo Klaus die letzten Ultraschall-Bilder her zeigte. Mum wusste natürlich genau, warum ich ihr plötzlich so gerne half.

"Du kannst dich nicht ewig davor drücken, mit ihnen zu reden.“

"Wieso nicht? Sie scheinen auch nicht gerade scharf drauf zu sein, mit mir zu reden … .“

"Immerhin sind sie hergekommen. Und jetzt geh schon, ich schaff das hier alleine.“

Ich hatte wohl keine Wahl, also ging ich rüber und setzte mich auf den Sessel in der Ecke. Das Gespräch kam kurz zum erliegen, wurde aber krampfhaft wieder aufgenommen. Als nach einer Weile immer noch niemand Notiz von mir genommen hatte, überlegte ich schon, ob ich es mir erlauben könnte, einfach hoch in mein Zimmer zu schleichen. Doch dann klingelte es an der Tür. Anthony stand wie selbstverständlich auf und öffnete.

"Ja bitte?“

"Oh … Ich ähm … Sean Wittmore. Ich wohne nebenan.“

"Hallo. Ich bin Anthony Bonanno, Jordans Dad. Bitte, komm rein.“

Sean sah sich etwas irritiert im Raum um, bis er mich sah. Er setzte sich auf die Lehne meines Sessels und hörte dem weiteren Gespräch zu. Ab und an beteiligte er sich sogar und hatte bald mehr Worte mit meiner Familie gewechselt, als ich selbst. Nach einer Weile machten sich alle zum Schlittschuhlaufen auf, sogar Mum wollte zusehen. Da machte ich nun wirklich nicht mit! Auch mein Vater entschied sich, hier zu bleiben. Sean wollte sich schon verdrücken, aber ich bat ihn heimlich hier zu bleiben.

"Sean, du wohnst also nebenan?“

"Ja und Jordan und ich gehen zusammen zur Schule, seit diesem Jahr.“

"Dann machst du ja bald Abschluss! Was willst du studieren?“

"Medizin, an der UCLA.“

"Wirklich? Das ist ja spannend! Und die Noten dazu hast du?“

"Ich denke schon, ja.“

"Und finanziell? Was macht dein Vater?“

"Ihm gehört die hiesige Textilfabrik.“

"Also sollte Geld nicht das Problem sein. Und warum steigst du nicht bei deinem Vater ein?“

"Das ist einfach nicht meine Welt. Ich hab in den Ferien immer dort gearbeitet. Ich will Arzt werden und meine Eltern sind zwar davon nicht begeistert, aber sie unterstützen mich.“

"Das ist ja auch ein ehrenwerter Beruf. Wenn meine Jungs sich mal dafür entscheiden, nicht ins Familienunternehmen mit einzusteigen, dann werde ich ihnen keine Steine in den Weg legen. Die Lebensmittelbranche ist ein hartes Geschäft.“

Sie unterhielten sich noch eine Weile über Betriebsdinge, von denen ich nur die Hälfte verstand. Die Zeit verflog geradezu. Ich war mal wieder erstaunt darüber, wie gut sich Sean mit jedem unterhalten konnte. Irgendwann ging Sean, um von zu Hause irgendein Buch zu holen, das er Anthony unbedingt zeigen wollte. Ich war allein mit meinem Vater. Die ganze Zeit über hatte ich kaum was gesagt, nur zugehört. Sean hatte immer wieder versucht, mich gut dastehen zu lassen, aber Anthony war eher an Seans Erfolgen interessiert, als an meinen.

"Ein feiner Kerl!“

"Ja … .“

"Du solltest dich mit ihm anfreunden, er wäre ein guter Einfluss für dich.“

"Ach, klar.“

"Jetzt werd doch nicht schon wieder patzig.“

"Werd ich gar nicht, aber du nörgelst schon wieder an mir rum, kaum dass wir fünf Sekunden allein sind!“

"Das stimmt doch nicht! Ich wollte dir nur einen Rat geben!“

"Ja, danke. Aber du kennst Sean doch grad mal ein paar Stunden!“

"Ich denke das reicht. Oder willst du mir sagen, dass er doch kein so toller Kerl ist? Was passt dir denn nicht an ihm?“

"Mir passt alles an ihm! Ich will nur sagen, dass du vieles über ihn nichts weißt und dass du nicht so vorschnell über Menschen urteilen solltest! Weder im Guten, noch im Schlechten.“

"Natürlich, jetzt weiß ich wie der Hase läuft! Du bist eifersüchtig, hm? Aber weißt du was? Du hattest deine Chance und hast sie versaut, genau wie deine zweite und dritte Chance und alle weiteren, die ich dir gegeben habe. Du warst auf der ganzen Linie eine Enttäuschung und jetzt soll ich glauben, dass du dich um 180 Grad geändert hast? Du wirst mir verzeihen, dass ich da noch skeptisch bin.“

"Da irrst du dich. Darum geht es nicht. Mir ist ehrlich gesagt egal, was du von mir hältst!“

"Schön, wie du meinst … .“

Es klingelte an der Tür.

"Willst du nicht wieder aufmachen, du fühlst dich hier ja scheinbar wie zu Hause.“

"Nicht bevor wir das geklärt haben. Was ist denn dein Problem?“

"Mein Problem bist du! Du kennst mich nicht, hast aber kein Problem damit, mich abzuschreiben. Du kennst Sean genauso wenig, aber ihn lobst du in den höchsten Tönen. Du weißt nichts von uns Beiden.“

"Na dann hilf mir doch! Was muss ich denn wissen?“

"Zuerst mal bin ich clean, seit fast einem Jahr. Und dann ist da noch was … .“

Ich stürmte zur Tür, riss sie auf und zog den verwundert dreinblickenden Sean am Arm herein. Dann küsste ich ihn auf den Mund. Mein Dad machte ein seltsames Geräusch und ließ sich auf den Sessel hinter ihm fallen.

"Du hast mir doch geraten, mich mit Sean anzufreunden … .“

Sean sah mich recht verdutzt an. Anthony rappelte sich wieder hoch und kam auf mich zu. Für einen Moment dachte ich schon, er würde mir eine verpassen, aber er zerrte mich nur ein Stück von Sean weg.

"Was fällt dir ein! So was kannst du doch nicht einfach so machen! Wenn du mich provozieren willst ist das eine Sache, aber dass du den ahnungslosen Sean auf diese Weise mit reinziehst … .“

Als ich ihm gerade sagen wollte, dass er mich mal kreuzweise kann und es nicht bei allem was ich tue um ihn geht, schaltete Sean sich ein.

"Also eigentlich, Mr. Bonanno, bin ich nicht so ahnungslos.“

"Was willst du denn damit sagen?“

"Damit will ich sagen, dass Jordan und ich seit ein paar Monaten zusammen sind.“

Er legte ganz deutlich die Hand auf meine Schulter.

"Aber … das … ich meine … du bis doch … ein netter Kerl!“

"Genau wie ihr Sohn.“

Wir hörten Stimmen vor der Tür und bald war das Wohnzimmer wieder voller Menschen. Sean verabschiedete sich bald, er kochte mal wieder für seine ganze Familie und hatte noch einiges zu tun.


Sean

Am 25. Dezember rückten die Bonannos an. Am frühen Nachmittag schaute ich mal rüber. Ein Fremder machte mir die Tür auf, wie sich herausstellte Jordans Dad. Er sah ihm überhaupt nicht ähnlich, sondern wirkte eher wie ein Mitarbeiter meines Vaters. Solche Kerle kannte ich und wusste mit ihnen umzugehen. Als alle aufbrachen, um Schlittschuh zu laufen, zwang Jordan mich zu bleiben, damit er mit seinem Vater nicht allein war. Ich war zwar nicht scharf auf dieses aufgeblasene Geschwätz, aber ich war gut darin. Bescheiden sein, aber trotzdem durchblicken lassen, wer man war. Und immer so tun als hätte man Ahnung wovon man spricht. Der Kerl war zu leicht zu beeindrucken. Er war ziemlich stolz auf seine Söhne, als ich das Gespräch auf Jordan lenkte, wurde er gleich nervös und schnitt ein anderes Thema an. Jordan war schon fast am Einschlafen. Ich musste einen Vorwand finden, um die Zwei ins Gespräch zu bringen, aber sie machten es mir nicht wirklich leicht, also erzählte ich von einem Buch über die mittelständischen Betriebe und Tricks, wie sie gegen Großkonzerne überleben konnten. Mr. Bonanno zeigte sich natürlich gleich sehr interessiert, er zählte noch eine Reihe Titel auf, die er kannte. Ja natürlich, man muss sich ja weiterbilden. Ich verschwand also, um das Buch zu holen.

Als ich ein paar Minuten später wieder klingelte, hörte ich die Beiden drinnen streiten. Keine fünf Minuten hielten sie es also in einem Raum aus, ohne dass die Fetzen flogen. Plötzlich flog die Tür auf, Jordan zog mich rein und küsste mich. Das kam überraschend, aber noch überraschender fand ich es, dass Mr. Bonanno scheinbar davon ausging, dass Jordan das nur getan hatte, um ihn zu provozieren. Das war doch ein sehr narzisstischer Gedanke. Ich stellte das richtig und genoss es zugegebenermaßen, mal nicht alle Erwartungen zu erfüllen. Kurz darauf kamen eh die Anderen zurück und ich musste wieder rüber.


Jordan

Nach dem Abendessen fuhren die Großeltern mit den Jungs ins Hotel und Carmen zog sich zurück ins Babyzimmer, wo eine ausklappbare Couch stand. Auch Mum, die ja mittlerweile hochschwanger war, ging ins Bett. Klaus, Milo, Anthony und ich blieben übrig und irgendwie gefiel mir das nicht. Ich stand auf.

"Wo willst du hin?“

Klaus sah mich erstaunt an.

"Nach oben …?“

"Jetzt bleib doch noch ein wenig.“

"Ja, ich weck dich sonst eh nur auf, wenn ich nachher ins Bett gehe.“

Das hatte ich ja ganz vergessen. Milo war ja bei mir einquartiert worden. Anthony war hellhörig geworden.

"Milo, wo schläfst du eigentlich?“

"Na bei Jordan, das weißt du doch.“

"In seinem Bett?“

"Öhm … ja?“

"Und wo schläft Jordan?“

"Auch in seinem Bett natürlich. Das ist ungefähr zwei Meter breit.“

"Aber … willst du nicht lieber hier im Wohnzimmer auf der Couch schlafen?“

"Warum denn? Dann weckt mich der Erste der morgen früh aufsteht auch auf. Was ist denn?“

"Ich denke einfach, dass die Couch für dich allein zu haben, bestimmt bequemer ist … .“

Ich hatte mir das Ganze jetzt lang genug angehört und wusste echt nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

"Anthony, was ist dein Problem?“

"Zuerst mal sollst du mich nicht so nennen. Ich bin dein Vater, also nenn mich Dad.“

"Gut, Dad, was hast du für ein Problem?“

"Ich … gar keins. Ich dachte nur, es wäre auch für dich besser, dann musst du dein Zimmer mit niemandem teilen.“

"Klar, du bist nur um mein Wohl besorgt. Das glaubst du ja selber nicht! Ich glaub eher, du hast ganz andere Sorgen! Na sag schon!“

Anthony schielte zu Klaus und meinte dann:

"Das ist eine Familien-Angelegenheit. Wir besprechen das morgen unter uns. Und heute Nacht schläft Milo auf der Couch.“

"Du bist wohl komplett irre, oder? Also erstmal gehört Klaus mehr zu meiner Familie als du jemals. Und zweitens, was denkst du eigentlich von mir? Meinst du, dass ich mich nachts heimlich an meinen nächsten Verwandten vergehe oder wie?“

Klaus schien langsam auch zu verstehen, was eigentlich los war.

"Moment, geht es hierbei um Sean?“

"Er weiß davon?!“

"Natürlich weiß er davon, ich wohne hier, Hallo?“

"Und das lassen sie einfach so zu?“

"Ich hab ihn nicht um Erlaubnis gebeten!“

"Jordan, er redet mit mir. Mr. Bonanno, bei allem Respekt. Ich kann nicht verstehen, warum sie sich so aufregen. Sie haben Sean kennengelernt. Er ist ein guter Junge und ein guter Einfluss für Jordan. Was Besseres als diese Freundschaft konnte Jordan gar nicht passieren.“

"Könnte mir jetzt vielleicht mal jemand erklären, was hier los ist?!“

"Milo, ich bin mit Sean zusammen. Und mit zusammen meine ich eben zusammen. Mit allem was dazugehört. Wenn du dich also nicht wohl dabei fühlst, mit mir in einem Bett zu schlafen, dann kann ich auch auf der Couch schlafen, auch wenn ich das Ganze lächerlich finde.“

"Okay … kann ich das erst mal verdauen?“

"Klar. Und Anth … Dad. Es tut mir leid, dass du wieder mal enttäuscht von mir bist. Aber diesmal hab ich eine gute Entscheidung getroffen, das weiß ich ganz genau. Und ich hoffe, dass du das auch noch einsehen wirst.“

"Ich hab kein Problem damit, bei dir zu schlafen. So ein Schwachsinn.“

"Gut, schön dass du das genauso siehst. Ich geh dann mal nach oben. Gute Nacht zusammen.“

Milo kam nach ein paar Minuten auch.

"Du hast deinen Dad mal wieder ziemlich geschockt.“

"Ja, darin bin ich gut, nicht wahr … .“

"Und du bist dir dabei sicher?“

"Mit Sean? Ja, absolut.“

"Und du bist glücklich?“

"Ja, sehr glücklich.“

"Gut. Ich freue mich, dass es dir endlich wieder gut geht. Es war schlimm für mich, mit anzusehen, wie du in dieses Loch gefallen bist, weißt du? Du warst immer wie ein kleiner Bruder für mich, aber ich konnte dir nicht helfen. Du wolltest dir auch gar nicht helfen lassen … .“

Er räusperte sich und schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Danach redeten wir über alte Zeiten, über all die guten Dinge, die wir zusammen erlebt hatten.


Sean

Als endlich alle schliefen, ging ich nochmal zu Jordan. Es lag kein Schlüssel unter der Fußmatte also kletterte ich übers Vordach. Milo war bei Jordan einquartiert worden, wäre nett gewesen, das vorher zu wissen. Zum Glück nahm er es mit Humor, dass ich zum Fenster einstieg. Ich verschaffte mir erst mal einen Überblick über die Verwandtschaftsverhältnisse. Milo war erst 24, aber Jordans Onkel. Sein Vater war also dieser seltsame Mafioso. Milo bestätigte meinen Verdacht, dass der nicht der beste Pädagoge war und auch gern mal auf alt bewährte Mittel zurückgriff. Ich konnte überhaupt nicht nachvollziehen, wie Milo dann auch noch in seiner Firma arbeiten konnte. Das wusste er scheinbar selbst nicht so genau. Er hatte wohl zu spät seine Alternativen erkannt. Als ich mich wieder auf den Weg machte, verzichtete ich intuitiv auf einen Abschiedskuss.


Jordan

Gegen Mitternacht hörte ich vor dem Fenster vertraute Kletter-Geräusche. Ich hatte Sean nicht gesagt, dass Milo in meinem Zimmer schlafen würde … Schon klopfte es leise an der Scheibe. Milo sah mich erstaunt und belustigt an.

"Er schleicht sich heimlich in dein Zimmer?“

"Ach, sei still. Das ist kompliziert … .“

Ich lies Sean rein. Er gefror in der Bewegung, als er Milo sah.

"Oh … tut mir leid, ich wusste nicht … .“

"Ja, ich hab vergessen dir zu sagen, dass Milo bei mir schläft. Ist schon okay, jetzt komm erst mal rein.“

Auch wenn die Konstellation erst irgendwie seltsam war, zeigte Sean bald wieder erstaunliche soziale Kompetenz. Milo erzählte ihm Dinge, die er mir noch nie erzählt hatte. Ich hatte bisher nie drüber nachgedacht, wie es sein musste, meinen Großvater, diesen stillen aber beängstigenden alten Mann zum Vater zu haben. Und schlimmer noch: zum Boss zu haben. Die Zeit verflog und irgendwann war es Drei. Sean ging nach Hause, diesmal durch die Haustür und Milo und ich legten uns schlafen.

"Sean ist toll. Versaus dir mit ihm nicht.“

"Ich tu mein Bestes. Gute Nacht.“

"Gute Nacht.“

Die restlichen Tage bis zur Hochzeit machte die Verwandtschaft zum Glück viele Ausflüge. Die Frauen waren eifrig am Planen. Mein Dad ignorierte mich weitestgehend, obwohl Klaus scheinbar noch die halbe Nacht mit ihm geredet hatte. Milo, Sean, Beth und ich verbrachten die Abende zusammen. Auch Summer schloss sich uns manchmal an. Sie hatte ein Auge auf Milo geworfen, der seinerseits war aber mehr an Beth interessiert. An einem Nachmittag, als wir ins Einkaufszentrum wollten, um noch ein paar Dinge für die Hochzeit zu besorgen, fragte Peter, der Älteste der Bonanno-Brüder, ob er uns begleiten könnte. Anthony sagte ohne weitere Begründung nein und warf Sean einen bösen Blick zu, woraufhin der wortlos hinaus zum Auto ging. Milo deutete seinem Bruder an, dass er ihn für nicht ganz dicht hielt und wir gingen ebenfalls nach draußen. Sean saß schon auf der Rücksitzbank.

"Siehst du was passiert, wenn die Leute es herausfinden?“

"Du kannst diesen einen Idioten nicht als Maß aller Dinge nehmen.“

"Er war ja nicht der Einzige. Was ist mit Sara und Willie?“

"Und was ist mit all den Menschen, die es wissen und kein Problem damit haben?“

"Die gibt es natürlich auch, aber es werden die sein, die am lautesten sind, die uns das Leben zur Hölle machen. Und am lautesten sind nun mal die, die was dagegen haben. Und aus diesem Grund will ich niemandem mehr davon erzählen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.“

"Aber Sean … .“

"Ich will jetzt nicht mehr drüber reden.“

Im Einkaufszentrum redete Sean nicht mit mir und hielt immer mindestens zwei Meter Abstand. Ich merkte an, wie lächerlich ich das Ganze fand, woraufhin Sean mich nicht mal mehr ansah. Mit Beth und Milo hingegen unterhielt er sich, als sei nichts passiert. Bald wurde mir das zu blöd.

"Also ich denke, ich zieh mal alleine los. Treffen wir uns um Fünf am Auto?“

Bevor irgendwer auch nur was dazu sagen konnte, war ich schon auf der Rolltreppe in ein anderes Stockwerk. Einmal liefen wir uns zufällig über den Weg, aber ansonsten ging ich in meine Lieblingsgeschäfte und redete mit niemandem ein Wort. Außer mit einem Verkäufer in einem Szeneladen, der tatsächlich mit mir flirtete. Danach setzte ich mich noch eine Weile auf eine Bank und starrte das riesige Meerjungfrauen-Wandgemälde an, das es hier seit ein paar Monaten gab. Als ich um fünf vor Fünf zum Auto kam, warteten die Anderen schon. Beth und Milo fragten mich, was ich alles gekauft hatte und so weiter, Sean sagte gar nichts und setzte sich auf den Beifahrersitz. Zu Hause ging jeder seiner Wege. Als Milo und ich rein kamen, saßen schon alle im Wohnzimmer und warteten auf das Essen.

"Da seid ihr ja wieder. Wollen Sean und Beth nicht mit essen? In zehn Minuten ist es fertig.“

"Nein. Und ich hab auch keinen Hunger. Ich fühl mich nicht gut, ich glaub ich leg mich hin.“

"Was ist denn los?“ fragte Mum.

Anthony beobachtete mal wieder alles aus dem Augenwinkel.

"Nicht jetzt, okay?“

Ich ging nach oben und schmiss mich auf mein Bett. Man, wie mich diese verzwickte Scheiße nervte. Ich wollte nur schlafen. Nicht mehr drüber nachdenken müssen. Früher hatte ich für solche Fälle immer etwas Diazepam im Haus …

Es klopfte.

"Nicht jetzt!“

"Jordan, kann ich reinkommen?“

Meine Großmutter?

"Okay … .“

"Was ist denn los, Kind? Warum willst du nichts essen?“

"Ich will nur allein sein.“

"Was ist denn heute Nachmittag passiert? Willst du es mir erzählen?“

"Das ist ne lange Geschichte … .“

"Ich mache dir einen Vorschlag: Ich hol uns Beiden was zu essen und du erzählst mir in aller Ruhe was passiert ist.“

"Na gut … .“

Bald kam sie mit zwei voll beladenen Tellern zurück, wobei mir auffiel, dass bei einem, dem sie mir gab, das Fleisch fehlte. Wir machten es uns auf dem Bett gemütlich. Als wir aufgegessen hatten, nahm sie mir den Teller ab und schaute mich fragend an.

"Mit wem hattest du denn Streit?“

"Mit Dad, unter anderem.“

"Und worum ging es dabei?“

"Er hat etwas über mich erfahren, dass ihm nicht passt. Und jetzt versucht er mich von allen Leuten fernzuhalten. Er denkt er beschützt sie damit, aber das stimmt nicht.“

"Geht es wieder um Drogen?“

"Ich bin clean und ich bin es leid, dass jeder sofort immer an Drogen denkt.“

"Ja, tut mir leid. Um was geht es dann?“

"Das will ich dir nicht sagen. Aber es ist eigentlich nichts Schlimmes. Ich finde sogar, es ist was Gutes.“

"Warum willst du es mir dann nicht sagen?“

"Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass dadurch alles nur komplizierter wird, statt einfacher.“

"Gut. Also geht es dir wegen deinem Vater so schlecht?“

"Das war der Auslöser, aber mit seiner Einstellung hat er noch jemand Anderen verletzt. Jemanden der mir sehr wichtig ist. Und diese Person legt sehr viel Wert darauf, von Anderen akzeptiert zu werden. Und das kann niemals passieren, solange es mich gibt. Um diese Person wirklich glücklich zu machen, wäre es das Beste, wir hätten uns nie kennengelernt.“

"Das glaub ich nicht. Denn wenn du dieser Person genau so viel bedeutest, wie sie dir, dann ist sie bestimmt trotz allem froh, dich zu kennen.“

"Aber ich kann ihn niemals glücklich machen.“

"Du musst es einfach versuchen. Und du musst mit deinem Vater sprechen. Er wird es irgendwann verstehen. Und ich bin sehr stolz auf dich. Ich bewundere, dass du deinem Herzen folgst und dich nicht davon abhalten lässt, mit dem Menschen den du liebst, zusammen zu sein.“

"Danke.“

Es klopfte leise an der Scheibe. Meine Großmutter lächelte mich verständnisvoll an. Ich ließ Sean herein. Er sah ziemlich traurig aus.

"Es tut mir so leid … .“

Bevor ich ihm antwortete, zeigte ich auf meine Großmutter, die immer noch am Fußende des Bettes saß. Sie stand auf, kam rüber, streichelte meine Wange und ging dann lächelnd aus dem Zimmer.

"Was war das denn?“

"Meine Großmutter.“

"Ja, aber warum … .“

"Sean, warum bist du hier?“

"Um mich zu entschuldigen. Ich hab es mir zu leicht gemacht. Es war für dich bestimmt auch ein schrecklicher Tag und statt mich mit dir zu verbünden, hab ich dich weg geschoben. Das war falsch und es tut mir leid.“

"Okay. Und wie geht's jetzt weiter?“

"Was meinst du?“

"Ich weiß, dass du es niemandem mehr sagen willst, aber ich möchte gern, dass meine Familie Bescheid weiß. Ich sehe nicht ein, dass ich mich für das Beste, was ich in meinem Leben geschafft habe, schämen soll. Sie kennen nur meine schlechteste Seite, jetzt sollen sie auch meine beste kennenlernen.“

"Ich glaube aber nicht, dass sie das so sehen werden.“

"Ich hoffe es aber. Und selbst wenn nicht, dann weiß ich, dass ich Recht habe und nicht sie.“

"Und was hast du jetzt vor?“

"Ich finde, wir sollten einfach zu ihnen runter gehen und wir selbst sein.“

"Es ist deine Familie, also ist es auch deine Entscheidung. Hast du gut darüber nachgedacht?“

"Über manche Dinge sollte man nicht ewig nachdenken, sondern sie einfach tun. Wenn ich lange nachgedacht hätte, hätte ich dich damals bestimmt nicht geküsst.“

"Ich bin froh, dass du mich damals geküsst hast. Ich bereue nichts, das weißt du doch?“

"Meistens.“

Unten war der Brettspiel-Wahn ausgebrochen. Sean setzte sich zu Peter, Dad und Klaus um Scrabble zu spielen. Ich zog Dame mit Milo vor. Der Rest begann gerade eine Partie Monopoly. Nur meine Großmutter saß im Sessel in der Ecke und schaute den Anderen zu. Unsere Blicke trafen sich kurz. Sie lächelte. Irgendwann schlug jemand Charade vor. Wir bildeten zwei Teams. Alt gegen Jung. Es ging lange sehr knapp her. Am Ende brauchten wir 4 Punkte zum Sieg. Die Stimmung war bis zum Zerreißen gespannt. Drei Sekunden vor Schluss erkannte Sean Milos mäßige Darstellung eines Breitmaulfrosches und brachte uns den Sieg. Die Stimmung war ausgelassen. Die Jugend hatte triumphiert. Alle fielen sich in die Arme. Ich stand da und hatte Sean im Arm. Eigentlich wollte ich ihn küssen. Und das war ja genau das, was wir abgemacht hatten. Wir wollten wir selbst sein. Also gab ich ihm einen Schmatz auf den Mund. Anscheinend hatte es niemand bemerkt. Zumindest reagierte keiner.

Der nächste Tag war der 30. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen und alle sammelten noch mal Kraft für die bevorstehende Hochzeit. Am Abend holte ich mit Klaus meine Großeltern mütterlicherseits vom Flughafen ab. Sie waren wie immer recht distanziert. Klaus unterhielt sie mit Smalltalk, ich war nur zum Gepäckschleppen dabei.

Am nächsten Tag fuhren wir um Zwei zur Kirche. Die Trauung dauerte bis Vier. Danach ging es in den gemieteten Saal, wo die standesamtliche Trauung stattfand und es anschließend Essen gab. Mum sah sehr glücklich aus. Die Band spielte den ganzen Abend. Es wurde getanzt und getrunken. Ich lernte Klaus' Verwandtschaft kennen und auch noch Dutzende andere Menschen, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte. Auch Seans Eltern waren irgendwo. Hannah kam im Laufe des Abends vorbei und forderte mich zum Tanzen auf. Wir unterhielten uns über belangloses Zeug, aber ich freute mich trotzdem riesig, dass sie gekommen war. Um Zwölf zählte der ganze Saal den Countdown mit und alle gratulierten sich zum neuen Jahr. Bald darauf verabschiedeten sich die Meisten. Der Saal leerte sich und auch das Brautpaar zog sich zurück. Das Personal begann schon mit dem Aufräumen. Eine Gruppe blieb noch zurück und zechte auf eigene Rechnung weiter. Ich zog mich mit Sean in einen verlassenen Korridor zurück, für einen Neujahrskuss. Als wir zurück kamen, wartete Beth schon. Mum und Klaus blieben für ein paar Tage in einem Wellness-Hotel in der Stadt, da der Geburtstermin ja immer näher rückte.

Schon am nächsten Tag packte die Bonanno-Sippschaft ihre Koffer. Das erste Abschieds-Gespräch führte ich mit Milo in meinem Zimmer.

"Du solltest uns mal besuchen kommen. Vor allem wenn du bald in L.A. lebst, dann ist es wirklich nicht mehr weit nach San Diego.“

"Ja, ich weiß. Mal sehen ob Anthony sich wieder einkriegt.“

"Da bin ich mir sicher. Und ansonsten komm ich dich auf jeden Fall mal besuchen.“

"Da besteh ich drauf.“

"Okay und wie gesagt. Versaus dir mit Sean nicht. Ich find ihn wirklich klasse und er macht dich glücklich. Es ist schön dich seit unserer Kindheit endlich mal wieder glücklich zu sehen.“

"Ach, jetzt werd mal nicht gefühlsduslig.“

Unten herrschte schon Aufbruchsstimmung. Meine Großmutter kniff mich in die Wange, drückte mich an sich und sagte mir noch mal, dass sie stolz auf mich sei. Mein Großvater reichte mir die Hand und zog die Mundwinkel nach oben. Sie packten die Jungs ins Auto und fuhren schon mal los. Milo zerrte Carmen am Ärmel nach draußen und ließ Anthony und mich somit allein im Haus zurück.

"Hör mal, Dad, ich verlange nicht, dass du mich verstehst. Ich verlange auch nicht mal, dass du es gut findest. Ich will nur, dass du Sean nicht auf die lange Liste meiner Fehltritte setzt. Da gehört er nämlich nicht hin.“

"Ich weiß. Das ist nur nicht das Leben, das ich mir für dich gewünscht habe. Ich wollte nicht, dass du es so schwer hast. Du hast wegen den Drogen schon genug durchgemacht … .“

"Dad, ich weiß deine Sorgen wirklich zu schätzen. Aber das Schwerste daran, dass ich mit Sean zusammen bin, sind die Menschen, die uns deshalb verurteilen. Aber zum Glück geb ich nichts auf die Meinung der meisten Menschen. Auf deine schon. Also wenn du es für mich leichter machen willst, dann sag mir, dass du mich deshalb nicht wieder abschreibst, sondern mich trotzdem besser kennenlernen willst.“

"Dich wieder abschreiben? Ich hatte dich nie abgeschrieben. Ich wusste nur nicht mehr, wie ich mit dir umgehen soll. Aber das ist ja vorbei. Du bist ein guter Junge.“

Er schüttelte mir die Hand und wir gingen zum Auto.

Den Rest der Ferien hatte ich ja sturmfrei und Sean war da. Beth war mittlerweile auch aufgebrochen. Sean hatte sich in den Kopf gesetzt eine so genannte Frühbewerbung zu starten, um die Schule schon im März abschließen und vor dem Studium ein Praktikum machen zu können. Deshalb lernte er die meiste Zeit oder arbeitete an seiner Bewerbung an der UCLA. An dem Tag als die Schule wieder losging, kamen auch Mum und Klaus nach Hause. Mum sah aus als könnte sie jeden Moment platzen.


Sean

Ich war froh, als die Hochzeit vorbei war und sich die Verwandtschaft wieder auf den Heimweg machte. Ich hatte genug mit der College-Bewerbung zu tun und damit, mir eine Praktikumsstelle ab Anfang März zu suchen. Manchmal fragte ich mich, ob ich mich mit dieser Früh-Bewerbung nicht etwas übernommen hatte, vor allem als ich später in der Chemie-Zwischenprüfung, die für mich die Abschlussnote war, nur eine Eins Minus bekam.


Jordan

Am Wochenende war es dann so weit. Alles verlief ganz ruhig, überhaupt nicht wie im Film. Am Sonntag, den 11. Januar 1998 wurde meine kleine Schwester geboren. Morgens um Zwei, nachdem sie uns fast zwölf Stunden warten hatte lassen. Als Sean und ich rein durften, war sie schon gebadet und hatte ein rosa Mützchen auf.

"Sieh mal, Jordan. Das ist deine kleine Schwester, Laura.“

Mum legte sie mir vorsichtig in den Arm, während Klaus fleißig Fotos schoss. Sie war beängstigend klein. Sean beugte sich über sie und sah sie sich ganz genau an.

"Das habt ihr gut hin bekommen. Sie ist wunderschön.“

Sie griff nach seiner Nase.

"Sie sieht aus wie Jordan damals.“

"Wirklich?“

"Ich war bestimmt niemals so klein.“


Sean

Am elften Januar wurde Laura geboren. Als ich Jordan so mit ihr sah, schoss mir für einen Moment durch den Kopf, dass ich nie Kinder haben würde, wenn ich mit Jordan zusammen blieb. Ich verwarf den Gedanken natürlich gleich wieder. Mit 18 sollte man sich echt über andere Dinge Sorgen machen.


Jordan

Nach ein paar Tagen kamen Mum und Laura nach Hause. Von da an war es mit der Ruhe vorbei. Klaus und Mum hatten bald beide dicke Augenringe. Der arme Klaus musste auch noch ins Büro, meine Mutter blieb zu Hause. Wenn Laura und ich mit Sean von unseren Nachmittagsspaziergängen zurück kamen, schlief Mum meist tief und fest auf der Couch. Dann sah Laura uns beim Lernen zu. Wenn Sean eine Seite umblätterte, faszinierte sie das immer sehr. Er machte oft bei uns das Essen. Seine Eltern kamen ohnehin meistens erst gegen Acht aus dem Büro. Zu meinem Geburtstag luden wir Hannah und Summer ein. Sean kochte Indisch. Im Februar gab es Zwischenzeugnis und er schickte seine Bewerbung ab. Nachdem er, außer in Musik, nur Einsen hatte und zudem etliche Empfehlungsschreiben vorweisen konnte, standen seine Chancen mehr als gut. Nach drei Wochen kam auch schon die Zusage. Und einen Praktikumsplatz hatte er auch schon in Aussicht. Ich ging weiterhin brav zur Schule und verbrachte die Pausen mit Summer oder Hannah.

Sean bekam die Zusage seiner Praktikumsstelle. Als er mir erzählte, wo er da angenommen wurde, versuchte ich zwar, mir nichts anmerken zu lassen, war aber ziemlich geschockt. Er wusste es nicht, aber es war dieselbe psychiatrische Klinik, in der ich meinen fast zehn Monate langen Entzug durchgestanden hatte. Aus irgendeinem Grund sagte ich ihm das aber nicht. Die Leute dort hatten mich von meiner schlimmsten Seite kennengelernt und das war noch kein halbes Jahr her. Aber das war wohl nicht mehr zu ändern.

Zwischen Sean und mir lief es gut. Wir wuchsen mehr und mehr zusammen. Nach der Arbeit kam er immer gleich zu mir, duschte und erzählte aufgeregt von seinem tollen Tag. Er erzählte auch oft von Patienten in unserem Alter, die auf Grund von drogenbedingten Psychosen in Behandlung waren und wie fertig die waren. Er kannte sogar die Geschichte, die er von einem Kollegen gehört hatte, wo ein Patient sich als Praktikant ausgegeben und eine Woche lang jeden Tag mit dem Personal die Klinik verlassen hatte, um zu Mittag zu essen. Tja, das war ich. Ich hatte es den Leuten dort nicht leicht gemacht.


Sean

Wir lernten und passten auf Laura auf. Zu Jordans Geburtstag wollte er, dass ich wieder Indisch koche. Die Zwischenprüfungen waren um und damit auch meine Schulzeit. In der letzten Februarwoche begann ich mein Praktikum in einer Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Mir gefiel es, abends gleich zu Jordan zu gehen, mit ihm zu duschen oder zu baden und mir mit ihm einen ruhigen Abend zu machen.

Die Arbeit in der Klinik war toll. Ich war auf Visiten dabei und bei Untersuchungen, wie CT und EEG. Man hörte zwar viele Geschichten über Zwischenfälle mit Patienten, aber wirklich passieren tat nie etwas. Die Klinik war ja auch nicht so groß und es gab keine forensische Station. Ein Assistenzarzt, Dr. Nelson, nahm mich unter seine Fittiche. Er war bei den Patienten nicht sehr beliebt, aber in der Diagnostik war er brillant. Er erzählte mir immer Geschichten von einem Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, der zum Drogenentzug da war und das Personal nach Strich und Faden verarschte. Vor allem auf ihn hatte er es scheinbar abgesehen gehabt. Diese Geschichten waren unterhaltsam, lehrreich und erschreckend zugleich. Außer mir gab es noch eine Menge anderer Praktikanten, die meisten weiblich. Wir wurden auf die verschiedenen Stationen verteilt. Emily und ich kamen auf die A. Wir verstanden uns auf Anhieb gut. Sie war so alt wie ich und hatte ebenfalls früher die Schule abgeschlossen. Sie überlegte, Medizin zu studieren oder eben doch Psychologie. Deshalb war sie dort.

Jordan kam mir abends immer irgendwie niedergeschlagen vor. Ich dachte, Laura würde ihm vielleicht langsam zu viel werden. Mir fiel auch auf, dass er öfter blutige Nägel hatte, er zupfte ständig an der Nagelhaut rum. Ich sah ihn nie essen, er behauptete immer er habe schon zu Abend gegessen. Und er schlief sehr unruhig, einmal musste ich ihn sogar wecken, weil er sich die Fingernägel tief in den Arm bohrte und schon blutete.

Beth kam zu Besuch. Ich war froh darüber, weil sie viel Zeit mit Jordan verbrachte. Sie fand auch, er sei seltsam geworden.


Jordan

Beth kam wieder mal für ein paar Wochen zu Besuch und da Sean beschäftigt war, verbrachte sie die meisten Nachmittage mit mir und Laura. Ab und an fuhren wir auch in die Stadt oder so. Als wir mal wieder in der Innenstadt unterwegs waren, wurde es halb Fünf. Beth hatte scheinbar einen Geistesblitz.

"Hey, sag mal, Seans Klinik muss doch hier ganz in der Nähe sein oder?“

"Keine Ahnung. Warum?“

"Er dürfte doch bald Schluss haben und die Busverbindung ist doch so schlecht. Wir sollten ihn abholen!“

"Was? Nein, ich glaub das ist keine gute Idee … .“

"Warum nicht? Ich war noch nie in einer Psychiatrie. Das will ich mir mal anschauen. Komm schon oder du kannst mit dem Bus heimfahren!“

Zehn Minuten später parkten wir auf dem mir nur zu gut vertrauten Klinikgelände.

"Lass uns einfach im Auto warten. Wir sehen ihn ja, wenn er zum Bus geht … .“

"Schwachsinn. Komm, vielleicht lässt uns der Pförtner rein.“

Natürlich ließ die Pförtnerin uns rein. Sie warf nur einen Blick auf mich und drückte den Passierknopf. Es hatte sich nichts verändert. Die Empfangshalle war immer noch gelb gestrichen, hell und freundlich eingerichtet. Da alles sehr offen gestaltet war, sah man im ersten Stock das Personal von einem Flügel zum nächsten gehen. Patienten wanderten durch die Gänge. Die Klinik war ja nicht groß, deshalb fand ich bald vertraute Gesichter. Zum Glück waren die Meisten so in ihre Gedanken versunken, dass sie mich nicht beachteten. Beth hielt sich dicht neben mir.

"So hab ich mir das gar nicht vorgestellt. Das sieht ja richtig nett aus.“

"Ja, also was hast du jetzt vor? Wie sollen wir Sean jetzt finden?“

"Wir sollten an der Pforte fragen.“

"Gut, mach das. Ich warte hier solange.“

Kaum war sie weg, kam schon einer meiner ehemaligen Zimmerkollegen des Weges.

"Jordan! Haben sie dich auch wieder erwischt? Hey, vielleicht kannst du zu mir ins Zimmer! Der Typ, der jetzt drin ist, stinkt.“

"Eigentlich hol ich nur jemanden ab. Ich bin clean geblieben … .“

"Wirklich? Schade … Also für mich. Für dich ist es natürlich schön. Naja, ich geh lieber aufs Zimmer, sonst verpasse ich noch das Essen. Also, man sieht sich. Oder auch nicht.“

"Ja, bis dann … .“

Beth kam zurück.

"Was wollte der denn?“

"Nur reden, glaub ich … .“

"Wie auch immer. Die Pförtnerin meint, die Praktikanten gehen immer so um Fünf und es gibt nur den einen Ausgang. Also können wir ihn nicht verpassen, wenn wir hier rumhängen.“

"Du willst hier jetzt einfach so rumstehen? Na ich weiß nicht … .“

Recht viel weiter kamen wir nicht, denn dann sprach uns Dr. Berg an, ein Oberarzt.

"Ist hier alles in Ordnung?“

"Ja natürlich. Wir warten nur auf jemanden.“

"Ich habe gesehen, sie haben mit Herrn Swinder gesprochen. Ich muss sie nicht erinnern, was die Hausordnung über illegale Substanzen sagt. Also wenn Herr Swinder sie gebeten haben sollte, ihm etwas zu bringen, dann ist es in seinem Interesse, dass sie mir das sagen.“

Beth sah schockiert aus und wollte den Arzt wahrscheinlich gerade zurechtstutzen, wie er es wagen konnte, sie für so jemanden zu halten. Ich kam ihr zuvor.

"Nein, wir haben ihn nur zufällig getroffen. Eigentlich warten wir auf jemand Anderen.“

"Gut, sie sind natürlich trotzdem damit einverstanden, dass ich in meinem Büro einen Blick in ihre Taschen werfe?“

Beth war hoch rot im Gesicht.

"Dazu haben sie kein Recht und seien sie sich darüber bewusst, dass ich Anwältin bin!“

"Ich meinte auch eher die Taschen von Herrn Bonanno.“

"Schon gut, Beth. Natürlich können sie das tun. Ich hab nichts zu verbergen.“

Beth hatte ihr Anwaltsgesicht aufgesetzt und wollte hinterher.

"Warte du ruhig hier. Ich bin das schon gewohnt.“

Dr. Berg schloss die Bürotür.

"Na schön, sie wissen ja wie das abläuft.“

Ich leerte meine Taschen auf seinen Schreibtisch und stülpte sie nach außen.

"Gut und die Schuhe noch, bitte.“

Auch die zog ich aus und drehte sie um, um zu zeigen, dass nichts raus fiel.

"Okay. Dann wüsste ich bloß noch gerne, warum sie hier sind.“

"Wir holen jemanden ab. Beths Bruder.“

"Name?“

"Kein Patient. Er ist hier Praktikant. Sean Wittmore.“

"Ja, der ist mir aufgefallen. Und was hat der mit ihnen zu tun? Ich will nicht unhöflich sein, aber er scheint mir nicht der Typ … .“

"Der mit Junkies verkehrt?“

"Sie wissen, was ich meine … .“

"Meine Mutter hat wieder geheiratet und wir sind zu ihrem Mann gezogen. Sean ist unser Nachbar.“

"Na gut. Damit will ich mich zufrieden geben.“

"Sie wollen gar nicht wissen, wie es mir geht?“

"Egal wie es den Patienten nach der Klinik geht, man bekommt immer die gleiche Antwort. Ich hab es geschafft, ich bin clean geblieben, mir geht es fantastisch. Ich hab mir also abgewöhnt, danach zu fragen.“

"Verstehe.“

Beth stand immer noch sichtlich verärgert in der Halle.

"Tut mir leid, Frau Wittmore, aber sie werden verstehen, dass wir auf Nummer Sicher gehen müssen, was illegale Substanzen betrifft.“

"So sicher, dass sie sogar die Verfassung außer acht lassen?“

"Ich habe keine Durchsuchung durchgeführt. Die Patienten leeren selbst ihre Taschen. Wir fassen sie nicht an.“

"Sie wissen, dass sie sich da das Gesetz zurecht biegen.“

"Sie sind Anwältin. Das ist doch ihr Beruf.“

Beth sagte tatsächlich gar nichts mehr. Ich guckte nach oben und sah Sean mit einem mir wohl bekannten Assistenzarzt am Geländer des Durchgangs stehen. Sie schauten zu uns herunter. Das gefiel mir gar nicht. Dieser Typ, Dr. Nelson, war ein richtiger Idiot. Patienten waren für ihn nur Leute, die ihn bei wichtigeren Dingen, wie über Golf reden, störten. Seinen Generalschlüssel hatte ich mir mal, natürlich ohne sein Wissen, geliehen, um mich mit Conny in der Stadt zu treffen. Er muss daraufhin wohl Schelte vom Chef bekommen haben. Auch ansonsten hab ich ihm sein Leben so unangenehm wie möglich gemacht. Und jetzt stand er da oben neben Sean und redete ohne Unterlass. Ich deutete Beth an, nach oben zu schauen. Auch Dr. Berg folgte unserem Blick.

"Oh, ihr Lieblingsarzt.“

Er winkte die Beiden herunter.

"Was macht ihr Zwei denn hier?“

"Wir waren in der Stadt und dachten uns, wir könnten dir eine Busfahrt ersparen.“

"Das ist nett von euch. Ich glaube ich bin dann auch so weit.“

Dr. Berg nickte.

"Na dann, Herr Bonanno, war … interessant sie wieder zu sehen. Frau Wittmore. Ich hoffe sie sind nicht mehr böse auf mich. Ich würde mich freuen, sie mal wiederzusehen.“

Nelson stand leicht abseits und fletschte die Zähne.

Kaum waren wir aus der Tür raus, auf dem Parkplatz, ging Sean mich an.

"Warum hast du es mir nicht gesagt?“

"Ich weiß nicht … .“

"Du warst der vermeintliche Praktikant. Und die Hälfte der anderen Horror-Stories, die ich gehört habe, gingen auch über dich!“

"Ja, ich weiß, ich war nicht gerade ein Vorzeige-Patient. Aber ich war da immerhin fast zehn Monate. Und ich hatte auch immer gute Gründe, die Regeln zu brechen … .“

"Ach was für gute Gründe gab es denn, Dr. Nelsons bei der Visite vorzugaukeln, dass du Stimmen hörst?“

"Ach, komm schon, das war der Brüller. Wenn er davor auch nur einen Blick in mein Krankenblatt geworfen hätte, hätte er gewusst, dass ich zum Entzug da bin … .“

"Weißt du eigentlich, wie viele Patienten jeder Arzt am Tag betreut?“

"Komisch, die anderen Ärzte schaffen es aber auch wenigstens die Diagnose ihrer Patienten zu kennen. Sogar die Ärzte bei der Visite damals fanden es lustig. Warum regst du dich so drüber auf?“

"Warum ich mich drüber aufrege?! Weißt du, wie ich jetzt vor ihm da stehe? Er ist mein direkter Vorgesetzter!“

"Ja, tut mir leid, aber das konnte ich damals doch noch nicht ahnen! Im Übrigen musst du ja dann wissen, was für ein Idiot dieser Kerl ist!“

"Er ist kein Idiot. Er ist ein brillanter Arzt. Gut, er sollte am Umgang mit Patienten arbeiten … .“

"Ja! Wenn das nächste Mal ein stark depressiver Patient zu ihm kommt und um ein Gespräch bittet, sollte er ihn nicht zur Schnecke machen, was ihm einfällt, damit um viertel vor Fünf anzukommen und ihn auf die nächste Visite verweisen. Vielleicht geht der dann nicht ins nächste Klo und schneidet sich die Pulsadern auf.“

"Das ist passiert? Und was ist aus dem geworden?“

"Er wurde gefunden und auf die Geschlossene gesteckt. Und solche Aktionen bringt dein Dr. Nelson ständig. Die meisten Patienten wehren sich nicht, weil sie auch so schon mit genug klarkommen müssen. Aber ich hab mir so was eben nicht bieten lassen. Ich streite nicht ab, dass ich auch Dinge gemacht habe, auf die ich nicht Stolz zu sein brauche, aber dass ich diesem Nelson das Leben schwer gemacht hab, bereu ich kein Stück.“

"Jordan, du hast dich aufgeführt wie ein Idiot. Du hast dich als Praktikant ausgegeben!“

"Ja konnte ich denn wissen, dass das so gut funktioniert? Man sollte meinen, irgendjemandem würde auffallen, dass ein Patient, der keinen Ausgang hat, am selben Tisch sitzt … Ich hab ja nichts Schlimmes gemacht. Ich wollte nur mal wieder richtig Essen! Und das was sie euch auftischen, ist um Längen besser, als das was wir bekommen.“

"Und was ist mit dem Angriff auf einen Pfleger?“

Sean schrie fast.

"Oh, bitte, ich hab mich geweigert, die Pillen zu schlucken. Er wollte mich fixieren und hat es nicht hin bekommen. Natürlich wehre ich mich, wenn mich jemand ans Bett fesseln will, um ein Dutzend Pillen in mich hineinzuschütten, von denen mir niemand erklärt hat, wozu sie gut sind. Im Übrigen war ich damals erst eine Woche da und hatte noch die ganze Palette von Entzugserscheinungen, inklusive paranoider Idee, wie man so schön sagt.“

"Trotzdem, ich hätte dich für vernünftiger gehalten … .“

"Vernünftiger?! Sean, mach die Augen auf! Natürlich war ich nicht vernünftig. Ich hing jahrelang an der Nadel. Wie vernünftig ist das? Wenn du meinst, wie ich mich in der Klinik aufgeführt habe sei schlimm, dann bin ich froh, dass du mich die zwei Jahre davor nicht gekannt hast. Ich war ein richtiger Arsch. Alles was mich interessiert hat, war das Geld für den nächsten Schuss. So sind Junkies nun mal. Ich war dreckig, krank und gemein. Ich hab Heroin mit Zucker gesteckt und verkauft. Ich habe meine Mutter geschlagen, weil sie mir kein Geld mehr geben wollte. Ich hatte dreimal am Tag Nasenbluten vom Koksen, Infektionen an den Armen vom Drücken und hab wegen dem ganzen Gift in meinem Körper keinen mehr hoch gekriegt. Wenn mich jemand nur schief angeschaut hat, gab's ein paar aufs Maul. Wenn jemand zurück schlug, hab ich es nicht mal gespürt. Ich hab nichts mehr gegessen und schlafen war auch nicht, weil mir immer, wenn ich die Augen zugemacht habe, 1000 grünäugige Spinnen über den Körper gekrabbelt sind. Irgendwann wurde mein Gesicht ganz gelb und meine Leber war kurz davor zu versagen. Meine Haare sind mir manchmal büschelweise ausgefallen und die Haut war so trocken, dass ich sie wundgekratzt habe. Manchmal schlug mein Herz immer schneller, ich begann zu schwitzen und fiel einfach um. Und es war mir egal. Mir war egal, was mit mir passiert, ob ich lebte oder starb. Das war ich. Total am Ende. Das ist meine Vergangenheit. Schlimmer als du es dir vorstellen kannst. Und da regst du dich drüber auf, dass ich mal einem Pfleger ein Veilchen verpasst hab?“

Sean sah mich an, aber ich konnte seinen Blick nicht deuten. Traurig, auf jeden Fall. Und maßlos enttäuscht. Auch Beth stand dabei, an ihr Auto gelehnt und stierte mich an. Keiner sagte etwas. Hatte ich Sean jetzt verloren? Jetzt wo er sich ein Bild von mir vor einem Jahr machen konnte. Panik stieg in mir auf. Ich wünschte, jemand würde endlich etwas sagen. Niemand bewegte sich. Sean sah mir nicht in die Augen. Leute kamen aus der Klinik und gingen zu den Autos um uns herum. Seans Gesichtszüge wurden ganz kalt.

"Ich fahre doch lieber mit dem Bus.“

"Sean, … .“


Sean

In meiner dritten Woche in der Klinik hatte ich gerade meine Sachen zusammengesucht und war bereit zu gehen, als Nelson mich auf den Durchgang zwischen zwei Trakten lotste, von wo aus man die Eingangshalle überblicken konnte.

"Das musste ich ihnen noch kurz zeigen! Stellen sie sich vor, wer wieder da ist! Der berüchtigte Mr. B.“

Ich war natürlich mehr als gespannt, diesen Patienten tatsächlich zu sehen, wo ich schon so viel über sein Krankheitsbild (Borderline-Persönlichkeitsstörung und in Folge dessen schwerer Drogenmissbrauch) und seine Eskapaden gehört hatte.

"Da unten, bei Dr. Berg. Das ist er, Mr. Bonanno. Jetzt, da er wieder da ist, darf ich den Namen ja sagen.“

Ich finde wohl keine Worte, um zu beschreiben, wie ich mich in diesem Moment gefühlt habe. Ich blieb einfach stehen, während Dr. Nelson nochmal die Highlights erzählte. Irgendwann schaute Dr. Berg zu uns hoch und winkte uns zu sich.

"Wahrscheinlich soll ich die Aufnahme machen. Man und schon geht mir der Typ wieder auf die Nerven. Um fünf vor Fünf muss er hier auftauchen.“

Ich war komplett überfordert mit der Situation. Ich tat einfach mal so, als sei alles in Ordnung.

Erst auf dem Parkplatz platzte es aus mir heraus. Was mich so schockiert hatte, war nicht nur das, was Jordan gesagt hatte, über sich und wie es ihm damals egal war, was mit ihm passierte. Ich hatte von Dr. Nelson auch erfahren, dass die Drogen nur Teil seines Problems waren. Bei ihm wurde Borderline diagnostiziert. Plötzlich ergab alles Sinn. Seine Impulsivität, bis hin zu seinem gebrochenen Arm, sein seltsames Essverhalten, seine Stimmungsschwankungen, das Alles-oder Nichts-Denken, Nikkis Sorge um ihn, selbst die Drogen passten ins Krankheitsbild. Damit konnte ich einfach nicht umgehen. Ich konnte nicht mit ihm in ein Auto steigen, aber ich konnte ihm auch nicht sagen, dass ich es wusste, denn eigentlich durfte ich nichts davon wissen. Wenn das raus käme, würde Dr. Nelson mit Sicherheit seinen Job verlieren. Jordan stieg zu Dr. Berg ins Auto, Beth und ich fuhren los. Ich ließ sie in dem Glauben, es ginge darum, was Jordan gesagt hatte. Das war ja auch schlimm genug gewesen.


Jordan

Dr. Berg kam auf uns zu. Neben ihm ging Dr. Bishop, der Psychotherapeut, bei dem ich noch immer zwei Mal die Woche in Behandlung war.

"Jordan, was machst du denn hier?“

"Sie wohnen doch in Glendale?“

"Ja, das weißt du doch … .“

"Können sie mich mitnehmen?“

"Sicher, kein Problem. Dr. Berg fährt. Wir haben eine … Fahrgemeinschaft.“

Ohne weitere Verabschiedung gingen wir zu Dr. Bergs Mercedes. Ich setzte mich nach hinten. Dr. Bishop setzte sich zu mir.

"Du siehst nicht gut aus. Was ist passiert? Wer war das?“

Ich schielte zu Dr. Berg. Der bemerkte das natürlich.

"Herr Bonanno … darf ich Jordan sagen?“

Ich nickte.

"Jordan, alles was du erzählst, unterliegt der ärztlicher Schweigepflicht. Falls du Angst hast, dass ich Herrn Wittmore etwas erzähle, dann sei unbesorgt.“

"Also Jordan, was ist passiert?“

"Sean Wittmore.“

"Sean … Du meinst unseren Praktikanten? Ist er der Sean?“

Ich nickte. Ich zog die Beine nach oben und versuchte, nicht loszuheulen wie ein kleines Kind. Ich schämte mich so. Ich hatte das Gefühl, wenn ich den Mund aufmachen würde, um zu sprechen, dann würde ich die Kontrolle verlieren.

"Kannst du sprechen?“

Ich schüttelte den Kopf. Dr. Berg hatte das Auto immer noch nicht gestartet. Ich schaute an die Stelle, wo gerade noch Beths Auto gestanden hatte.

"Die Beiden sind gerade weggefahren. Soll ich auch losfahren?“

Ich nickte.

"Jordan, darf ich Dr. Bishop erzählen, was ich weiß?“

Ich nickte wieder.

"Also, Jordan stand in der Empfangshalle und ich sah gerade noch, wie er mit Herrn Swinder gesprochen hat. Als der gegangen war, kam Frau Wittmore dazu. Ich ging rüber, um sicherzustellen, dass Jordan Herrn Swinder keine illegalen Substanzen zugesteckt hatte. Wir gingen in mein Büro und Jordan leerte seine Taschen und so weiter. Alles war in Ordnung. Frau Wittmore war leicht überspannt, aber sonst war nichts auffällig. Dann entdeckte Jordan Dr. Nelson und Sean Wittmore oben am Geländer. Die Beiden unterhielten sich und kamen dann zu uns herunter. Wir haben uns verabschiedet und die Drei gingen raus. Alles war okay. Zehn Minuten später fanden wir sie am Auto stehend. Den Rest kennst du ja.“

"Okay, ich sehe schon. Jordan, geht es mittlerweile wieder?“

Ich kratzte nervös an meiner Hand rum während ich nach Beths Auto Ausschau hielt.

"Jordan, hör auf, das blutet schon. Lass mal sehen.“

Tatsächlich war Blut unter meinen Fingernägeln. Ich hatte es gar nicht gespürt. Das machte mir Angst. Dr. Bishop gab mir ein Taschentuch, das ich um die Hand wickelte.

"Jordan, du musst dich beruhigen. Hör mal, wusste Sean von deinem Klinikaufenthalt?“

"Ja, aber nicht, dass ich in dieser war.“

"Okay und das hat er heute rausgefunden?“

Ich nickte.

"Aber ich verstehe nicht, warum das wichtig ist …?“

"Er hat die Geschichten über mich gehört. Dr. Nelson muss ihm das alles erzählt haben. Wer weiß, wie lange die da schon oben standen. Und dann haben wir uns deshalb gestritten. Und ich hab ihm gesagt, dass das ja noch gar nichts ist, er hätte mich mal vor der Klinik erleben sollen. Und dann hab ich ihm alles hingeknallt. Alles was ich getan habe, wie ich aussah, wie kaputt ich war. Ich weiß nicht warum, ich konnte einfach nicht aufhören zu reden. Er hat mich angesehen, als wäre ich das Widerlichste, das er je gesehen hat. Er wollte gerade weggehen als sie kamen. Ich glaube das war's. Dr. Berg hat es treffend formuliert. Sean ist nicht der Typ der mit Junkies verkehrt.“

"Aber er wusste doch schon, dass du abhängig bist und hat sich trotzdem in dich verliebt.“

Dr. Berg schnaubte merklich.

"Tut mir leid, das war sehr unprofessionell. Ich war nur überrascht.“

"Überrascht, dass Sean auf Jungs steht oder überrascht, dass er sich auf mich einlässt?“

"Ich … es tut mir leid.“

"Schon gut, ich weiß selber nicht, was er an mir findet.“

"Nein, wirklich, so war das nicht gemeint.“

Dr. Bishop schaltete sich wieder ein.

"Ich denke, du hast Sean da einen ganz schönen Brocken hingeworfen, den er erst mal verdauen muss. Ich glaube nicht, dass er ernsthaft darüber nachdenkt, deshalb mit dir Schluss zu machen. Nach Allem was du mir erzählt hast, ist eure Beziehung ja relativ stark. Ich verstehe, dass dich die Sache, so wie sie gelaufen ist, sehr mitnimmt, aber bitte versuch nicht immer gleich so schwarz zu sehen. Hab Vertrauen.“

"Das ist nicht so leicht. Ich hab einfach oft das Gefühl, Sean sei zu gut für mich und ich hab Angst vor dem Tag, an dem ihm das auch klar wird.“

"Ich verstehe. Aber Jordan, der Mensch, den du vorher beschrieben hast, existiert nicht mehr. Du hast durchgehalten und bist clean geblieben. Das schaffen die Allerwenigsten. Du hast dein Leben wieder in den Griff bekommen und bist ein ganz neuer Mensch. Der alte Jordan sollte nicht mehr von Bedeutung sein und Dr. Berg und ich werden mit Nelson definitiv noch ein Gespräch über die Schweigepflicht führen.“

"Okay … .“

Ich schaute wieder aus dem Fenster. Das war doch nicht möglich!

"Da, vor dem Steakhouse, das ist Beths Auto! Ganz sicher!“

"Naja, ich könnte Steak zum Abendessen vertragen, oder was meint ihr?“

Dr. Berg parkte direkt neben dem Auto. Es war leer.

"Dann wollen wir mal reingehen.“

Drinnen brauchten wir nicht lange zu suchen, um Beth an einem Tisch zu sehen.

"Was macht ihr denn hier?“

"Wir haben ihr Auto draußen gesehen. Wo ist ihr Bruder?“

"Schon ewig in der Toilette. Ich glaub, er hat nicht vor, da so bald wieder rauszukommen … .“

Dr. Berg ging ohne zu zögern nachsehen, während Dr. Bishop und ich uns setzten.

Später fand ich heraus, was im Waschraum passierte. Sean stand da und starrte in den Spiegel, als der Arzt den Raum betrat.

"Dr. Berg, was machen sie hier?“

"Wir haben euer Auto gesehen und haben angehalten. Kann ich ihnen helfen?“

"Nein danke, mir geht es gut.“

"Ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich verstehe, dass sie heute vieles erfahren haben, das nicht so leicht einzuordnen ist.“

"Jordan hat es ihnen also erzählt? Grandios. Ich hatte gehofft, ich würde wenigstens in der Arbeit nicht danach beurteilt, mit wem ich zusammen bin.“

"Natürlich unterliegt das der ärztlichen Schweigepflicht. Und auch ich beurteile sie natürlich nicht danach, mit wem sie zusammen sind, sondern nach ihren hervorragenden Leistungen. Sie wissen mehr als so mancher Medizinstudent, der bei uns Praktikum macht. Hören sie, ihr Freund sitzt da draußen und ihm geht es wirklich nicht gut. Er denkt, er hat sie verloren.“

"Ich weiß nicht, ob er damit vielleicht sogar Recht hat … .“

"Wollen sie drüber reden?“

"Mit ihnen? Ist das nicht seltsam? Sie sind mein Vorgesetzter.“

"Und ich war lange Zeit der Arzt ihres Freundes. Ich denke, sie sollten mit mir reden. Vielleicht hilft es ihnen, wenn ich erzähle, was ich schon weiß. Also, sie sind seit längerem mit Jordan zusammen.“

"Vier Monate.“

"Und sie wussten auch schon, dass er in der Vergangenheit Probleme mit Drogen hatte.“

"Ja, schon. Aber er hat das bisher irgendwie anders geschildert. Er hatte zum Beispiel noch nie erwähnt, dass es ihm egal war, ob er lebt oder stirbt und dass er schon kurz vorm Leberversagen stand. Ich hatte einfach ein ganz anderes Bild von ihm im Kopf. Als armes Opfer, das in etwas hinein gerutscht ist und sich einem Entzug gestellt hat und es geschafft hat. Aber heute hab ich erkannt, wer er wirklich ist. Er war einer von der miesesten Sorte. Selbstsüchtig, aggressiv, kriminell, die ganze Palette. Und wie er sich in der Klinik aufgeführt hat … .“

"Davon dürften sie eigentlich nichts wissen.“

"Ja, aber ich weiß es nun mal. Dr. Nelson konnte ja nicht wissen, dass ich Jordan kenne.“

"Das war trotzdem nicht in Ordnung.“

"Nicht zu ändern.“

"Ich war damals ja Jordans Stationsoberarzt und er war meistens eher unterhaltsam als nervig. Er wusste nur manchmal nicht wohin mit seiner Energie und er hat jede Lücke im System ausgenutzt. Das war für uns sehr lehrreich. Seine persönliche Feindschaft mit Dr. Nelson konnte ihm keiner so recht übel nehmen. Ich will das ganze nicht beschönigen, ich will es nur ins rechte Licht rücken. Jordan musste eine schwere Zeit durchstehen und hat eben getan, was dazu nötig war. Er war grad mal achtzehn und komplett auf sich allein gestellt.“

"Er hatte immerhin seine Mutter.“

"Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber ich kann ihnen sagen, dass sie erst in den letzten beiden Monaten angefangen hat, ihn zu besuchen. Aber darüber sollten sie mit ihm reden. Ich will sie nicht unter Druck setzen, aber ich weiß, dass sie Ahnung haben und wissen, dass Jordan immer noch gefährdet ist. Sie sind trotzdem eine Beziehung mit ihm eingegangen und damit haben sie Verantwortung übernommen. Deshalb bitte ich sie wenigstens mit ihm zu reden.“

"Ja, ich weiß. Es ist nur so schwer. Ich sehe ihn jetzt einfach mit anderen Augen.“

"Das verstehe ich. Lassen sie sich Zeit. Aber wir sollten trotzdem langsam zu den Anderen gehen.“

"Ich hasse solche Situationen. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich jetzt nicht da raus gehen, ihm sagen, dass ich es zwar schrecklich finde, wer er war, ihn aber trotzdem noch liebe und ihn in den Arm nehmen.“

"Ja, dass weißt ich nur zu gut … .“

"Was meinen sie?“

"Ich denke, ich will ihnen sagen, dass ich dieses Problem aus eigener Erfahrung kenne.“

"Wirklich, sie meinen … .“

"Ich meine, dass Dr. Bishop und ich deshalb eine Fahrgemeinschaft haben, weil wir das gleiche Ziel haben. Wir leben zusammen. In der Klinik wissen das die wenigsten, ich wäre ihnen also dankbar, wenn … .“

"Natürlich, keine Frage.“

Endlich kamen die Beiden wieder aus dem Waschraum. Beth und Dr. Bishop hatten sich in der Zwischenzeit tatsächlich jede Menge Essen bestellt und machten sich gerade darüber her. Mir war schlecht. Sean schaute mich nicht an, er setzte sich aber neben mich. Ich sah ihn flehend an. Die Anderen schienen nur mit ihrem Essen beschäftigt zu sein. Dann endlich sah er mir in die Augen.

"Lass uns raus gehen.“

Ich sprang natürlich sofort auf.

Draußen dämmerte es mittlerweile. Wir gingen um eine Ecke und setzten uns auf eine Steinmauer, die von der Straße aus nicht einsehbar war.

"Jordan, du musst wissen, dass ich dein Freund bleiben werde, egal was passiert. Aber ich weiß ganz ehrlich nicht, ob ich noch mit dir zusammen sein kann. Ich brauche einfach Zeit, um das alles einzuordnen. Ich hab das Gefühl, dich nie wirklich gekannt zu haben.“

"Doch! Doch, das hast du. Wirklich. Das hier bin ich. Der Jordan, den du im letzten halben Jahr kennengelernt hast, das bin ich. Und ich bin durch die Hölle gegangen, um dieser Mensch zu werden, der jetzt vor dir sitzt. Sean, ich liebe dich. Ich brauche dich. Du bist der Mensch, für den ich das alles durchgestanden habe, weil ich wusste, dass es dich da draußen irgendwo gibt. Ich kann meine Vergangenheit nicht ändern, aber ich kann bestimmen, wer ich heute sein will. Und heute will ich der sein, der dich glücklich macht. Ich will der sein, zu dem du nach Hause kommst, ich will der sein, zu dem du dich ins Bett legst, der, der es wert ist, von dir geliebt zu werden. Bitte schreib mich nicht ab, wegen den Fehlern, die ich in der Vergangenheit gemacht habe. Beurteile nur das, was du mit eigenen Augen siehst. Um mehr bitte ich dich nicht.“

Irgendwann hatte ich scheinbar nach Seans Hand gegriffen und er hatte sie noch nicht weggezogen.

"Ich muss drüber nachdenken. Aber ich bin trotzdem für dich da. Bitte werd deshalb nicht rückfällig oder so was. Ich weiß, ich muss Rücksicht darauf nehmen, aber momentan kann ich dir einfach nicht sagen, dass alles in Ordnung ist. Das wäre gelogen.“

Er nahm mich in den Arm. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Nacken, saugte seinen Geruch ein und hielt ihn, solange er es zuließ, fest umklammert.

"Wir sollten wieder reingehen.“

Er wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und stand auf.

Drinnen waren die Teller mittlerweile leer und Beth liebäugelte mit der Dessert-Karte. Sean setzte sich erst gar nicht, sondern meinte nur:

"Wir sollten langsam los … .“

Beth legte das Geld auf den Tisch und verabschiedete sich. Dr. Bishop sah mich besorgt an.

"Wir sehen uns dann morgen um Vier, ja?“

"Natürlich, so wie jeden Mittwoch.“

Im Auto redete niemand. Zu Hause sagte Sean nur 'Gute Nacht' und ging ins Haus. Beth blieb noch kurz bei mir stehen.

"Tut mir leid wie das gelaufen ist.“

"Ja, mir auch. Ich hätte euch das nicht so hinknallen dürfen. Es musste einfach raus.“

"Ich verstehe das. Aber ich bin auch ziemlich geschockt. Das Ganze ist plötzlich so real geworden, davor war es nur ein Wort. Junkie. Was da alles dranhängt, darüber hab ich einfach gar nicht so sehr nachgedacht. Ganz schön naiv, ich weiß. Ich geh mal lieber nach Sean schauen. Wir sehen uns morgen.“

Den restlichen Abend spielte ich Laura auf der Gitarre vor und ging früh ins Bett.


Sean

Ich wollte mit jemandem zusammen sein. Ich weiß, dass es ein Fehler war, aber ich fuhr noch mal los, zu Emily. Sie stellte keine Fragen. Eines führte zum anderen und wir schliefen miteinander.

Danach konnte ich mich natürlich erst recht nicht mehr bei Jordan melden. Emily machte sich natürlich Hoffnungen und das schlimme war, dass ich sie wirklich mochte. Ich konnte gut mit ihr reden, natürlich nicht über Jordan, aber über alles andere. Beth bekam mit, dass ich nach der Arbeit nicht gleich nach Hause kam und nach ein paar Tagen fragte sie mich grad heraus, ob ich jemand Anderen hätte. Sie war deshalb echt sauer auf mich und ließ es mich auch spüren.

In der Klinik fragte mich Dr. Nelson noch über Jordan aus. Ich wollte nichts erklären müssen, deshalb gab ich ihn als Bekannten meiner Schwester aus, den ich kaum kannte. Auch das Wochenende verbrachte ich bei Emily. Ich hatte natürlich ein schlechtes Gewissen dabei, aber ich brauchte einfach jemanden, bei dem ich auch mal Ballast abladen konnte und für den ich einfach nur der kluge, sympathische, angehende Mediziner war.


Jordan

Am nächsten Tag ging ich nach der Schule zu Dr. Bishop.

"Du musst Sean Zeit geben. Was anderes kannst du im Moment nicht tun. Ich denke Jeff … Dr. Berg wird noch mal mit ihm reden. Die Beiden haben scheinbar einen ganz guten Draht zueinander. Jeff hat Sean gestern sogar etwas sehr persönliches erzählt und ich denke du solltest es auch wissen.“

"Ja? Was denn?“

"Als du damals auf meiner Couch übernachtet hast, hast du mich gefragt, ob ich denn nicht verheiratet sei. Ich hab dir erzählt, meine Lebensgefährtin sei auf einem Kongress. Das war nur die halbe Wahrheit. Jeff war auf diesem Kongress.“

"Dr. Berg und sie? Das hätte ich ja nie gedacht! Darüber gab es nicht mal Gerüchte.“

"Wir bemühen uns … .“

"Weshalb? Warum bemühen sie sich so, das geheim zu halten?“

"Wir sind seit dem Studium zusammen, also seit 15 Jahren. Damals konnte man damit noch nicht offen umgehen.“

"Und warum bleiben sie immer noch dabei?“

"Wenn so etwas erst mal raus kommt, dann kann man es nicht mehr zurücknehmen. Es ist endgültig. Man wird nur noch auf seine Sexualität reduziert und die anderen Menschen verhalten sich einem gegenüber anders. Wir sind beide der Meinung, dass es so besser ist.“

"Ich versteh das nicht. Sean denkt genauso. Aber für mich ist das einfach nur lügen. Und warum sollte ich deswegen lügen? Mit wem ich zusammen bin, ist doch ein wichtiger Teil von mir und das möchte ich nicht verheimlichen. Wenn jemand damit ein Problem hat, muss er damit klarkommen, nicht ich.“

"Diese Einstellung ist bewundernswert, aber das ist nicht für jeden was. Manche von uns wählen eben den leichten Weg. Den des geringsten Widerstandes. Und das ist auch in Ordnung so.“

Ich wollte keine Grundsatzdebatte vom Zaun brechen, dafür hatte ich gerade zu viel im Kopf, also zuckte ich mit den Schultern und wechselte das Thema.

Bis Freitag hatte ich immer noch nichts von Sean gehört. Beth wollte sich plötzlich nicht einmischen und war mir keine große Hilfe. Am Wochenende redete ich mit Summer über das was passiert war. Sie hatte scheinbar eine recht genaue Vorstellung davon, was es hieß, von Heroin abhängig zu sein. Sie tröstete mich so gut es ging. Am Montag kam ich von der Schule nach Hause und war eigentlich schon wieder auf dem Sprung zu Dr. Bishop und danach in die Gruppe. Mum und Klaus warteten schon.

"Jordan, gut dass du kommst. Du musst auf Laura aufpassen. Klaus' Mutter ist gestürzt und wurde ins Krankenhaus gebracht. Da müssen wir auf jeden Fall hin. Kann sein, dass wir auch übernachten. Tut mir leid dass wir dich so überfallen, aber wir haben es erst vor zwanzig Minuten erfahren.“

"Okay, kein Problem, allerdings würd ich sie zu Dr. Bishop und in die Gruppe mitnehmen.“

"Wie du willst. Sie ist gefüttert und schläft vermutlich eh bald ein. Wegen der Schule morgen, vielleicht kannst du ja später hingehen, oder du überlegst dir was … Wir müssen los. Danke Schatz. Ich ruf dich an.“

Die Busfahrt über war Laura etwas quengelig, danach schlief sie aber ein. Dr. Bishop war hin und weg von der Kleinen. Neben Laura war unser Hauptthema natürlich, dass Sean sich immer noch nicht gemeldet hatte.

In der Gruppe war mal wieder Angehörigen-Info-Tag, wie alle acht Wochen. Mum war am Anfang einmal mitgegangen, aber das reichte dann auch. Es gab aber viele neue Teilnehmer, deshalb war der Raum ziemlich voll, teilweise hatten die Leute ihre ganze Familie mitgebracht. Wir versuchten, den üblichen Stuhlkreis zu bilden, was aber aussichtslos war. Also setzen sich die Verwandten hinter ihr Familienmitglied aus der Gruppe. Wir warteten noch bis es halb Sechs war und auch die letzten eingetrudelt kamen. Einige Frauen scharten sich um Laura, die ich mit ihrer Trage vor mir auf dem Boden abstellte. Natürlich wachte sie davon auf und ich nahm sie auf den Schoß. Da ich mit dem Rücken zur Tür saß, sah ich nicht, wer den Raum betrat, sondern hörte nur immer wieder wie hinter mir Stühle verschoben wurden. Laura wurde langsam wieder quengelig. Ich versuchte, sie mit dem Schnuller oder ihrer Flasche zu beruhigen, aber das war scheinbar nicht das Richtige.

"Soll ich sie nehmen?“

Ich drehte mich um und da saßen Dr. Berg und Sean.

"Was macht ihr denn hier?“

Ich legte Laura Sean in den Schoß. Er fasste ihr in den Nacken und stellte fest, dass ihr zu warm war. Also machte er ihre Strickjacke auf und zog ihr die zusätzlichen Socken aus.

"Eure Mum packt sie immer zu sehr ein. Und hier heizen die vielen Leute den Raum ziemlich auf.“

Sie hatte aufgehört zu quengeln und schaute sich Seans Gesicht mit großem Interesse an.

"Ich bin froh dich zu sehen.“

"Naja, Dr. Berg hat mich nach der Arbeit mitgenommen. Und er wollte sowieso hier her, also bin ich gleich mitgefahren.“

Dr. Bishop schloss die Tür und fing an. Am Anfang stellte sich jeder reih um vor und sagte kurz, wen er mitgebracht hat. Ein Blick zu Sean verriet mir, wie ich ihn vorzustellen hatte.

"Ich bin Jordan, seit über einem Jahr clean und ich habe meine kleine Schwester und meinen besten Freund dabei.“

Sean dankte mir mit einem Blick. Laura war mittlerweile auf seinem Schoß eingeschlafen.

Um Sieben war Schluss. Ich nahm Laura wieder und legte sie in ihre Trage. Sean streckte sich erst mal, er hatte sich ja kaum rühren können. Die meisten Leute drängten gleich aus dem Raum. Wir ließen uns noch etwas Zeit. Dr. Berg half Dr. Bishop noch beim aufräumen. Zum ersten Mal fiel mir die Vertrautheit zwischen ihnen auf. Sean räumte unsere Stühle weg. Wir verabschiedeten uns und machten uns auf den Weg zum Bus. An der Haltestelle trafen wir noch einen Anderen aus der Gruppe, Eddie. Er war fünf Jahre älter als ich und schon ewig in der Gruppe. Zwischenzeitlich war er auch einige Male rückfällig geworden und immer wieder stationär behandelt worden.

"Hallo zusammen.“

"Hey, Eddie! Wo ist dein Auto?“

"Der Führerschein ist weg. Ich war ja bis vor zwei Wochen wieder in der Klinik. Hey, hab ich dich da nicht auch mal laufen sehen?“

Er redete mit Sean.

"Gut möglich, ich mach da grad ein Praktikum.“

"Oh, was für eins denn?“

"Medizin. Ich geh im Herbst an die UCLA.“

"Nicht übel.“

Ich fragte ihn, ob er denn niemanden mitgebracht hatte.

"Nein, diesmal nicht. Meine Schwester muss arbeiten und meine Freundin ist mittlerweile eine Ex-Freundin.“

"Was, schon wieder?“

"Tja, ich hab es mir nicht so ausgesucht. Und warum bringst du deine Freundin nie mit?“

"Wie kommst du drauf, dass ich eine hab?“

"Na wegen dem, was du vor ein paar Monaten erzählt hast. Wo alle dich nach deinem Geheimrezept gefragt haben, weil du doch der Einzige aus der Gruppe bist, der es geschafft hat, ein Jahr lang wirklich 100% clean zu bleiben … Und du hast gesagt, dass du schon während dem Entzug gespürt hast, dass da draußen jemand auf dich wartet und dass du diesen Jemand dann auch gefunden hast. Und das gibt dir die Kraft und die Motivation, durchzuhalten.“

"Ja, das hab ich wohl gesagt.“

Sean wusste, dass es nur an ihm lag. Er gab mir Laura und hielt Eddie die Hand entgegen.

"Jordan, ich glaube, du solltest mich noch mal richtig vorstellen.“

"Gerne. Eddie, das ist Sean. Besagter Jemand.“

Eddie guckte noch etwas verwirrt und wusste wohl nicht, ob er das richtig verstanden hatte.

"Guck nicht so, du hast das schon richtig verstanden.“

"Ja? Okay, krass … .“

"Ich hoffe, wir haben dich damit nicht zu sehr überfahren … .“

"Nein, das meine ich gar nicht. Ich meine, krass Jordan! Ein Medizinstudent! Das Gebildetste, was ich jemals heimgebracht habe, war eine Chefsekretärin. Irgendwann wirst du dann vermutlich mit einem Arzt zusammen sein. Krass.“

Ich musste grinsen.

"Ja, Sean ist der Beste im Jahrgang. Er hat die Schule frühzeitig beendet und hat jetzt schon die Uni-Zusage in der Tasche. Ich finds auch krass. Und mit der anderen Sache hast du kein Problem?“

"Also bitte, das kann mir ja wohl echt egal sein.“

Der Bus kam. Eddie stieg bei der nächsten Haltestelle schon wieder aus. Sean sah mich verwundert an.

"Wäre er da zu Fuß nicht genauso schnell gewesen?“

"Vermutlich. Aber Eddie hatte an der Ecke da hinten mal ein schlimmes Erlebnis. Und seitdem fährt er daran nur noch mit Bus oder Auto vorbei.“

"Okay … Ansonsten scheint er aber ganz nett zu sein.“

"Ja, sicher. Er ist halt ziemlich depressiv. Letzte Woche hat er die ganze Zeit nicht geredet und ist zwischendurch einfach raus zum Heulen. Wenn er auf Drogen ist geht's ihm gut. Ich nehme an er war grad ziemlich zu.“

"Was? Meinst du? Aber man hat das gar nicht gemerkt … .“

"Wenn man ihn kennt merkt man es schon … .“

"Aber was sagt Dr. Bishop denn dazu?“

"Was soll er groß sagen? Eddie war im letzten Jahr viermal in der Klinik, wurde aber bisher jedes Mal wieder rückfällig. Du hast es ja selber gehört, er ist erst seit ein paar Wochen wieder draußen und schon wieder gut dabei. Er muss selber die Kurve kriegen, das kann ihm keiner abnehmen.“

Sean sah mich nachdenklich an.

"Du hast ganz schön was geschafft. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie hart der Entzug gewesen sein muss. Und auch die Umgewöhnung. Und selbst jetzt noch. Du kannst wirklich stolz auf dich sein.“

"Danke. Aber ich tu nur was nötig ist, um … .“

Ich brach ab.

"Um was?“

" …um mit dir zusammen sein zu können. Es tut mir leid, ich wollte dich damit nicht unter Druck setzen. Ich weiß, du brauchst Zeit.“

"Jordan, … .“

"Jetzt willst du mir bestimmt einen Vortrag drüber halten, dass ich das Ganze ja eigentlich für mich selbst mache und so weiter. Und das weiß ich auch. Ich glaube nur nicht, dass ich es ohne dich so weit geschafft hätte. Du hilfst mir sozusagen dabei, mir selbst zu helfen.“

"Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Du weißt, was du mir bedeutest. Es ist nur alles so schwer. Warum muss alles gerade für uns so schwer sein? Und ich frage mich auch, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn wir uns erst in ein paar Jahren gefunden hätten. Ich bin schließlich erst 18. Ich hatte eigentlich nicht vor, so früh schon den richtigen Menschen zu finden. Das macht mir Angst.“

"Ja, ich weiß, du hattest nie die Gelegenheit, mal das Single-Leben zu genießen. Ich hingegen hab genug Erfahrungen für Zehn gesammelt. Aber das bekommen wir hin. Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst...“

"Bietest du mir gerade eine offene Beziehung an?“

"Treue hat für mich nicht unbedingt was mit Sex zu tun. So lang du immer ehrlich zu mir bist, kann ich mit vielem leben. Mir ist bewusst, dass viele Beziehungen die Studienzeit nicht überstehen. Es ist halt wichtig, dass wir auf die Bedürfnisse des Anderen eingehen.“

"Danke, dass du das verstehst. Ich will dich nicht verlieren. Ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen.“

"Also machst du nicht mit mir Schluss?“

"Nein, das könnte ich gar nicht.“

"Gott Sei Dank. Sean, ich würd dich jetzt so gerne küssen … .“

Der Bus war relativ leer und wir saßen ganz hinten, also lehnte Sean sich zu mir rüber.


Sean

Am Montag bat mich Dr. Berg in sein Büro. Er hatte von Dr. Bishop erfahren, dass ich seit einer Woche nicht mehr mit Jordan gesprochen hatte. Er überredete mich schließlich dazu, mit ihm in Jordans Gruppe an diesem Abend zu fahren.

Ich wusste überhaupt nicht, wie ich ihm gegenübertreten sollte. Ich war froh, dass Laura dabei war, so hatten wir gleich ein Gesprächsthema. Auf dem Weg zum Bus redeten wir nicht viel. Ich wusste ja nicht mal, was ich eigentlich wollte. Dann trafen wir diesen Eddie. Neben ihm wirkte Jordan so normal. Und dann war da wieder diese Geschichte, die Jordan erzählte, darüber, wie er schon während dem Entzug wusste, dass er es für mich schaffen muss, obwohl wir uns noch gar nicht kannten. Das nochmal zu hören, war sehr bewegend. Ich wollte ihm schon fast von Emily erzählen und ihn darum bitten, dass wir alles, was in der letzten Woche passiert war, einfach streichen. Aber ich hatte Angst, wie er reagieren würde. Er sagte ja selber, dass er es ohne mich nicht so weit geschafft hätte und da konnte ich ihm nicht einfach hinknallen, dass ich mit einer Kollegin geschlafen hatte. Es dauerte aber nicht lange und er hatte Lunte gerochen.


Jordan

Am nächsten Tag nahm ich Laura mit in die Schule. Ich hatte vorher angerufen und die Damen im Sekretariat hatten sich bereit erklärt, während der Stunden auf die Kleine aufzupassen.

Mum und Klaus kamen am Abend zurück, kündigten aber an, am nächsten Morgen wieder weg zu fahren. Diesmal wollten sie Laura mitnehmen, da sie die OP zwei Tage später abwarten wollten und Mum so lange nicht von ihr getrennt sein wollte. Sean schlief bei mir. Wir redeten lange. Er hatte mittlerweile noch mit Anderen aus der Klinik über mich gesprochen und nicht jeder hatte eine so schlechte Meinung von mir, wie Nelson. Er hatte auch mit Dr. Berg darüber gesprochen, wie es ist, mit einem Mann zusammen zu sein und es geheim zu halten. Ich hatte aber das Gefühl, dass ihn noch etwas anderes beschäftigt.

"Sean, ich hab über unser Gespräch im Bus nachgedacht. Und ich hab eine Frage an dich. Bitte sei ehrlich, ja?“

"Okay, was denn?“

"Geht dir diese ganze zu-früh-gefunden-Sache durch den Kopf, weil du in der Klinik jemanden kennengelernt hast?“

Sean starrte mich für einen Moment nur an. Dann haderte er mit sich und fing schließlich an zu reden.

"Irgendwie könnte es da schon einen Anlass geben … .“

Innerlich durchfuhr mich ein Blitz, aber nach außen lies ich mir das nicht anmerken.

"Okay, ich hatte so ein Gefühl … .“

"Aber kriege das nicht in den falschen Hals. Da ist nichts gelaufen oder so. Es ist nur so … die Leute fragen natürlich auch mal was Privates. Ob ich eine Freundin hab, zum Beispiel. Und das verneine ich dann eben. Und dadurch gehen die Anderen natürlich davon aus, dass ich Single bin. Naja und da ist jemand … .“

"Jemand? Mann oder Frau?“

"Frau natürlich! Was denkst du denn?“

"Ich weiß nicht, ich dachte, irgendjemand hätte erzählt, dass du mit nem Typen zusammen bist … .“

"Ja, sehr witzig. Weißt du, wir können das Thema auch lassen … .“

"Nein, schon gut, tut mir leid. Ich will das ja hören. Erzähl weiter.“

"Na gut. Jedenfalls ist da diese Praktikantin. Und sie hat mich gefragt, ob wir nicht mal auch so was zusammen unternehmen wollen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also hab ich irgendwas Unverbindliches wie 'mal schauen' gesagt.“

"Und du würdest dich gern mit ihr treffen?“

"Ich weiß nicht … Sie ist nett und interessant. Ich würde sie gern besser kennenlernen. Ich weiß nur nicht, was sie sich dann vielleicht erwartet. Ich meine, sie ist weiblich und Single, ich bin männlich und ihrer Meinung nach auch Single … .“

"Willst du vielleicht auch was in der Richtung?“

"Ich weiß nicht … wenn ich tatsächlich Single wäre, dann würde ich keine Sekunde zögern … aber so … .“

"Hör mal, wir sind schließlich nicht verheiratet oder so. Ich will dir nicht im Weg stehen.“

"Meinst du das Ernst? Weißt du, wenn du mir so was schon anbietest, dann würde ich schon gern mal sehen, was sich so ergibt … .“

"Ja, klar. Mach das. Ich will nur, dass du nichts vor mir verheimlichen musst.“

"Danke Jordan. Dafür lieb ich dich umso mehr.“

Er zog mich in seinen Arm und schlief bald ein. Ich hingegen blieb noch lange wach …

Mum und Klaus blieben übers Wochenende weg.

Als Sean am Freitag nach Hause kam, ging ich davon aus, dass wir uns ein gemütliches Wochenende zu Zweit machen würden …

"Hallo Liebling, ich bin zu Hause, was gibt's zu essen?“

"Welcher 50er-Jahre TV-Show bist du denn entsprungen?“

Er grinste mich spitzbübisch an und gab mir einen Kuss auf die Wange.

"Soll das heißen, du hast dich nicht hinter den Herd gestellt? Na dann gibt's heute vermutlich Tiefkühlkost, ich hab keine Zeit noch was zu kochen.“

"Was, warum denn nicht?“

"Na ich geh doch mit ein paar Anderen aus der Klinik ins Kino und danach noch was trinken oder so. Hab ich doch erzählt … .“

"Nein, eigentlich nicht. Ich dachte, wir nützen das leere Haus … ?“

"Oh, tut mir leid. Aber ich schau, dass es nicht zu spät wird und morgen ist ja auch noch ein Tag.“

"Klar. Lass dir ruhig Zeit … Und, wer geht da so hin?“

"Du willst wissen, ob sie auch da ist, stimmt's?“

Ich fühlte mich ziemlich ertappt, hatte ich doch versucht, möglichst beiläufig zu klingen.

"Ich … .“

"Schon gut, das versteh ich. Ja, der Vorschlag kam von ihr. Wir sind aber nicht zu Zweit. Einige Andere kommen auch mit.“

"Schön. Na dann, hüpfe doch schon mal unter die Dusche und ich sehe nach, was die Gefriertruhe hergibt.“

Ich rief Summer an und fragte sie, was sie noch so vorhatte. Sie war gleich begeistert davon, dass ich ein leeres Haus hatte und trommelte den Rest zusammen. Sean und ich aßen noch und dann war er auch schon weg. Um Acht trudelten die Anderen langsam ein. Sie hatten scheinbar frisches Gras bekommen und waren ganz heiß drauf, die Qualität zu testen. Ich dachte natürlich die ganze Zeit drüber nach, was Sean gerade so machte und ich fragte mich, wie ich ihm so was nur anbieten konnte. Ich erinnerte mich selbst immer wieder, dass es langfristig der einzige Weg ist, ihn bei mir zu halten und zündete mir eine Zigarette an. Das machte es allerdings nicht wirklich besser. Wir saßen in meinem Zimmer und die Joints machten die Runde. Alle waren heute seltsamerweise in Gespräche vertieft. Ich grübelte gerade wieder nach und ganz beiläufig nahm ich einen tiefen Zug. Erst beim Ausatmen wurde mir bewusst, dass ich meine Zigarette schon ausgemacht hatte. In meiner Hand hielt ich einen Joint. Schnell gab ich ihn weiter. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Die Wirkung war so krass wie bei meinem ersten Zug damals. Vielleicht sogar noch krasser. Ich spürte sofort dieses wohlige, angenehme Gefühl und wie meine Gedanken zur Ruhe kamen. Einerseits genoss ich das, andererseits hatte ich Angst davor, was durch diesen Zug ausgelöst werden könnte. Aber dazu war es ohnehin zu spät, also lehnte ich mich zurück und sog die Stimmung auf. Die Leute saßen entspannt und zufrieden im Kreis und unterhielten sich über nette Themen. Mir fiel auf, wie grell Summers lila Strähnen leuchteten. Es klingelte an der Tür. Ein Joint kreuzte meinen Weg und ich nahm noch einen Zug. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Ich ging nach unten und machte auf.

"Überraschung.“

Ich zwinkerte erst ein paar Mal, bevor ich etwas sagen konnte.

"Nikki?! Was machst du denn hier? Komm rein!“

"Erst musst du mir sagen, ob ich heute hier schlafen kann. Dann schick ich nämlich das Taxi weg.“

"Klar, sicher!“

Wir gingen in den ersten Stock.

"Hast du Leute zu Besuch?“

"Ja, aber jetzt gehen wir erst mal ein Stockwerk höher, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.“

"Und deine Leute?“

"Die merken das gar nicht. Komm mit!“

"Wo ist denn Sean?“

"Ach der … der hat heute ein Date.“

"Verstehe … .“

Oben, im großen Schlafzimmer erzählte sie mir, dass sie in der Stadt war, um bei ihrem alten Arbeitgeber um ein Empfehlungsschreiben zu bitten. Der Limo-Service warf nicht mehr so viel ab und sie hatte Stress mit irgendeinem Typen. Josh war vorübergehend bei ihren Eltern in San Francisco. Ihr schien es nicht besonders gut zu gehen. Sie schluckt irgendwelche Pillen. Sie fing an zu weinen und wickelte sich meinen Arm um die Schulter. Ich fühlte einfach so sehr mit ihr. Alle Empfindungen waren so stark. Ich küsste erst fast väterlich ihre Stirn, dann schauten wir uns nur an und es war wie früher. Immer wenn es Einem von uns schlecht gegangen war, war der Andere da, um ihn zu trösten, meistens mit Sex. Bevor ich überhaupt darüber nachdachte, lagen wir eng umschlungen da. Genau wie früher. Es war irgendwie fast surreal. Als wäre sie aus dem Nichts aufgetaucht, um mich aufzufangen. Als wir uns voneinander gelöst hatten wickelte Nikki sich in die Decke ein.

"Geht es dir jetzt besser?“

"Ja, woher …?“

"Jordan, ich sehe doch, wie es dir geht. Tut mir leid, ich mochte Sean. Warum habt ihr denn Schluss gemacht?“

"Wir haben nicht Schluss gemacht. Wir hatten Streit, aber das konnten wir klären. Er ist mit Kollegen unterwegs.“

Nikkis Gesicht versteinerte sich.

"Ich sollte gehen. Das war ein großer Fehler.“

"Nikki, was hast du denn plötzlich?“

"Du hast gesagt, er hat ein Date, daraus habe ich geschlossen … Das letzte was ich will ist dir das zu versauen. Ich geh einfach wieder … .“

"Jetzt warte doch … .“

Sie zog sich in Rekordzeit wieder an und war schon zur Tür draußen, als ich noch mein T-Shirt suchte. Als ich runter kam, war sie schon verschwunden. Ich ging wieder zu den Anderen. Die hatten nicht mal bemerkt, dass sie da war. Vielleicht hatte ich mir das alles ja nur eingebildet …

Sean kam gegen Zwölf und war natürlich nicht gerade begeistert davon, dass in dem Zimmer, in dem er schlafen wollte, gekifft wurde. Die Anderen hatte eh genug und zogen ab. Sean sah mich prüfend an.

"Irgendwie siehst du anders aus … .“

Ich spürte, wie meine Ohren heiß wurden.

"Was? Warum denn?“

"Ach, keine Ahnung … Na, wie war dein Abend?“

"Das übliche halt … Und bei dir?“

"Sehr schön. Außer mir lauter Frauen. Ich kann dir sagen, über was die so alles geredet haben … Jedenfalls war der Film eher mau, was uns natürlich viel Gesprächsstoff gab. Danach waren wir noch was trinken und haben uns total festgequatscht. Ich hab mich wirklich gut amüsiert.“

"Das freut mich. Ich hab irgendwie Hunger. Ich mach mir noch ein Sandwich und geh dann ins Bett, glaub ich … .“

"Na gut. Dann lüfte ich hier erst mal und räum ein bisschen auf … .“

In der Nacht schlief ich wie ein Stein. Und am nächsten Morgen war ich fast davon überzeugt, dass Nikki nie wirklich hier war.

"Guten Morgen. Ich hab schon was zu Essen hergerichtet. Es ist fast Zwölf. In einer Stunde will ich los.“

"Was? Wohin denn?“

"Ach, wir haben gestern darüber geredet, dass wir alle viel mehr Sport machen wollen. Und um Worten Taten folgen zu lassen, gehen Einige nachher ne Runde schwimmen. Nur ne Stunde oder so.“

"Ach so … okay. Naja, ich muss eh noch was für die Schule machen … .“

Abends um Sieben tauchte Sean dann endlich wieder auf. Ich hatte den ganzen Tag damit verbracht, zu überlegen, ob ich den Joint, den jemand vergessen hatte, rauchen wollte. Ich brachte es nicht fertig, ihn ins Klo zu werfen. Am Ende hatte ich ihn geraucht.

"Hey. Bin wieder da.“

"Ja, das seh ich.“

"Tut mir leid, ist n bisschen später geworden.“

"Ja, auch das seh ich … .“

"Ich machs wieder gut … .“

Er küsste mich und schob mein T-Shirt hoch.

"Nicht. Jetzt nicht.“

"Stimmt was nicht?“

"Sean, ich hab hier den ganzen Tag rumgesessen. Du hast gesagt, du bist bald wieder da. Ich hätte dich heute gebraucht.“

"Wieso denn? Was ist denn los?“

"Vergiss es. Hör mal, ich zieh heute Abend mit Summer und so um die Häuser und davor hab ich noch einiges zu tun. Ich ruf dich morgen an, ja?“

Ich schob ihn zur Haustür.

"Aber was ist denn mit uns? Wir haben das leere Haus noch gar nicht ausgenutzt.“

"Naja, ich war den ganzen Tag hier … Ist ja jetzt auch egal … wir sehen uns morgen.“

Als er gegangen war, schaute ich aus dem Fenster, bis er in seiner Haustür verschwand. Dann nahm ich meine Jacke und zog los. Ich wusste selber nicht wohin, bis ich vor dem Haus stand, in dem Mex wohnte. Da stand ich dann mindestens eine halbe Stunde. Ich wusste, was passieren würde, wenn ich da rein gehen würde. Ich war an dem Punkt, den wir in der Gruppe schon so oft besprochen hatten. Ich wusste auch, wie es so weit gekommen war. Und ich wusste, was ich jetzt tun musste. Ich ging zur nächsten Bushaltestelle und stieg in den nächstbesten Bus. Dann schaute ich, wie ich am besten zu meinem Therapeuten gelangen konnte. Um halb Neun stand ich vor dem Haus. Niemand war zu Hause, also setzte ich mich einfach vor die Haustüre und wartete.

Nach zwei Stunden kamen Dr. Bishop und Dr. Berg nach Hause.

"Jordan, was machst du denn hier? Komm rein.“

Dr. Berg ging in die Küche und machte Kaffee. Dr. Bishop setzte sich mit mir ins Wohnzimmer.

"Also, was ist denn passiert?“

"Ich hab gestern Abend Gras geraucht. Und ich habe nicht das Gefühl, dass das nur ein Ausrutscher war. Ich hab ein starkes Verlangen nach härteren Sachen. Ich stand sogar schon vor dem Haus eines alten Freundes … .“

"Okay, du bist nicht rein gegangen, sondern bist zu mir gekommen. Das war richtig. Und hast du in den letzten Tagen gemerkt, dass du auf einen Rückfall zugehst?“

"Ich wollte es mir einfach nicht eingestehen.“

"Okay und kannst du mir auch sagen, was du denkst, dass der Auslöser war?“

"Wir hatten ja diesen Streit. Und ich hab mich in eine Ecke gedrängt gefühlt, deshalb hab ich Sean gesagt, er könne auch mit Anderen ausgehen.“

"Und das hat er dann getan?“

"Ja, aber ich glaube, wenn ich ihm diese Freiheit nicht lasse, dann verliere ich ihn.“

"Okay, aber wenn du ihm diese Freiheit lässt, was passiert dann mit dir?“

"Ich stürze wahrscheinlich wieder ab.“

"Und glaubst du, dass würde er wollen? Du musst das mit ihm klären, ihm deine Grenzen auch zeigen. Du überspielst das ziemlich gut, er kann gar nicht wirklich wissen, wie schlecht es dir dabei geht.“

"Ja, ich weiß. Aber das ist nicht so leicht. Aber ich werde versuchen, mit ihm darüber zu reden … .“

"Jordan, ich weiß, du wirst das jetzt nicht gern hören, aber ich habe das Gefühl, dass du zu nah am Abgrund stehst, um das mit Reden wieder hin zu bekommen. Ich denke, du solltest für ein paar Wochen in die Klinik, um dich zu stabilisieren. Bevor du was dazu sagst: Jetzt sind zwei Wochen schulfrei, dort würdest du nichts verpassen. Wenn du so weiter machst, landest du eh wieder dort, aber für länger. Und dann steht dein Abschluss auf dem Spiel. Es ist also wirklich das Vernünftigste, es nicht länger aufzuschieben. Wenn du willst, red ich auch mit deiner Mutter und erkläre ihr, dass es nur um Prävention geht.“

"Sie ist nicht zu Hause. Morgen Abend kommt sie wieder.“

"Also bist du heute Nacht alleine? Dann wäre es mir lieber, wenn du hier schläfst.“

Dr. Berg brachte uns Kaffee. Er versicherte mir, dass ich dann natürlich nicht auf eine Station käme, wo Nelson arbeitete. Da Sean sein Praktikant war, würde auch er nichts mit meiner Behandlung zu tun haben. Allein der Gedanke daran, was Mum und Sean sagen würden, hielt mich die ganze Nacht wach.

Am frühen Nachmittag rief ich zu Hause an und stellte fest, dass Mum und Klaus schon wieder zurück waren. Dr. Bishop fuhr mich heim und redete mit den Beiden. Er erklärte ihnen, dass es darum geht, einem Rückfall vorzubeugen und die Ferien zur Stabilisation zu nutzen, um zu verhindern, dass mein Schulabschluss in Gefahr geriet. Sie nahmen es eigentlich recht gut auf, vor allem Mum überraschte mich. Sie meinte auch, Sean sei schon mehrere Male da gewesen und habe nach mir gefragt. Als wir uns gerade überlegten, wie wir es ihm am besten sagen könnten, klingelte es und er war da.

"Oh, hallo. Was ist denn hier los?“

"Setz dich doch erst mal. Also. Jordan und ich haben beschlossen, dass Jordan die Ferien zur Stabilisation in der Klinik verbringen wird.“

"Was? Ist was passiert? Geht's dir gut?“

"Ja … das ist einfach Prävention. Stell dir vor, ich klapp kurz vor den Prüfungen zusammen?“

"Okay. Ich hab die Woche frei bekommen. Aber ich besuche dich dann natürlich und so.“

"Ja, das können wir ja alles noch besprechen. Also Dr. Bishop, Dankeschön. Wir sehen uns dann morgen früh in der Klinik.“

Ich fing an zu packen. Sean saß auf meinem Bett.

"Also, was ist denn genau passiert? Dr. Bishop kommt doch nicht ohne Grund am Sonntag hier her.“

"Sean, ich will und kann darüber jetzt nicht reden. Ich muss noch so viel erledigen.“

"Okay, das verstehe ich. Aber weißt du, ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du warst gestern Abend so seltsam und dann warst du mal wieder einfach verschwunden … .“

"Ja, ich weiß. Das ist eine schlechte Angewohnheit. Ich war bei Dr. Bishop, wie immer. Aber jetzt will ich wirklich nicht mehr drüber reden.“

Ich stand am Schrank und kramte in den Schubladen rum. Sean kam zu mir rüber und umarmte mich von hinten. Er flüsterte mir ins Ohr

"Ich bin immer für dich da, Jordan. Du bist die Liebe meines Lebens.“

Dann trat er zurück, streckte sich und redete wieder in normaler Lautstärke.

"Also, kann ich mich irgendwie nützlich machen?“

Ich drückte ihm eine Ladung Wäsche in die Hand, die bis morgen noch gewaschen und getrocknet werden musste.


Sean

Ein paar Tage später fragte er mich, ob es in der Klinik jemanden gäbe. Ich räumte ein, dass da jemand war, aber als ich in seinen Augen den Schock darüber sah, konnte ich nicht sagen, dass da schon was gelaufen war. Ich konnte sein Angebot, mal zu sehen was mit Emily passierte, einfach nicht ablehnen. Gleich am folgenden Freitag ging ich mit ihr und ein paar Anderen ins Kino. Also ich heimkam war die Bude vollgequalmt und Jordan irgendwie merkwürdig. Er aß noch ein Sandwich auf dem Wurst war, was mir arg seltsam vorkam und dann fiel er ins Bett und schlief. Ich blieb die halbe Nacht wach und dachte über den Abend nach. Ich merkte, dass ich begann, mich in Emily zu verlieben. Aber irgendwie kam es mir eher wie eine Flucht vor, so als würde ich eine Ausrede suchen, um mit Jordan Schluss zu machen. Er verhielt sich immer seltsamer. Und er schlief und schlief.

Am nächsten Tag beschloss ich, mich nochmal mit den Anderen zu treffen. Seltsamerweise tauchte aber nur Emily zum Schwimmen auf. Wir hatten einen total schönen Nachmittag und die Zeit verflog nur so. Ich grübelte kaum darüber nach, was wohl mit Jordan los war. Ein großer Fehler, wie sich herausstellte. Denn als ich abends wieder zu ihm kam, wirkte er irgendwie unruhig. Er wollte nicht reden und schob mich gleich wieder zur Tür hinaus. Er sagte noch so was wie "Ich hätte dich heute gebraucht.“ Das machte mir Sorgen. Gegen Mitternacht klopfte ich an seinem Fenster, aber er schien noch nicht da zu sein.

Am Tag darauf klingelte ich und wartete dann ab, bis Carol und Klaus zurück kamen. Jordan war über Nacht nicht heimgekommen. Carol schickte mich nach Hause und wollte sich um alles kümmern. Am Spätnachmittag sah ich Dr. Bishops Auto in der Einfahrt stehen und ging sofort rüber. Da konnte irgendetwas nicht stimmen und so war es dann auch. Offiziell hieß es, Jordan solle zur Prävention in die Klinik, aber ich wusste, dass das den Angehörigen von Rückfall-Patienten oft gesagt wurde. Ich hatte solche Angst. Keiner sagte mir, was eigentlich los war. Jordan wollte nicht reden, er war so abweisend. Es war schrecklich. Ich konnte nichts tun, als ihm beim Packen zu helfen. Er deutete schon an, dass er erst mal keinen Besuch haben wollte. Seine Mutter nahm es erstaunlich locker. Um Zehn ging Jordan ins Bett und schickte mich nach Hause. Ich heulte mich in den Schlaf und schwor mir, Emily nicht mehr zu treffen und alles zu tun, damit es Jordan wieder besser ging. Ich war Schuld daran, dass er wieder in die Klinik musste, da war ich mir sicher.


Jordan

Am nächsten Morgen fuhr Klaus mich in die Klinik. Das hatte ich mir so ausgesucht, da die Gefahr von peinlichen Abschiedsmomenten bei ihm am geringsten war. Ich sagte auch, dass ich erst mal ohne Besuch klarkommen würde, mich aber über Anrufe freuen würde. Nachdem alle Formalien erledigt waren, kam ich in ein Zimmer mit zwei Anderen, auf die Station, auf der ich bisher nie gewesen war. Natürlich kam mir das meiste Personal trotzdem bekannt vor und bei der Visite war Dr. Berg dabei und drei weibliche Praktikantinnen. Ich fragte mich, ob sie dabei war.

Mein einer Zimmerkollege war schon Ende vierzig und Psychotiker. Mit ihm war nicht wirklich viel anzufangen. Der Andere war Mitte Zwanzig und wegen Depressionen in Folge des Alkoholentzugs in Behandlung. Er schien ganz nett zu sein und war froh, endlich jemanden zu haben, mit dem etwas anzufangen war. Mir fiel auf, dass seine Haare pechschwarz waren, seine Augen aber dafür recht hell, blau-grau oder so. Er fragte mich, ob er mich herumführen sollte.

"Danke für das Angebot, aber ich war schon mal hier zum Entzug.“

"Auch Alkohol?“

"Nein, illegale Drogen.“

"Oh, okay. Na gut, hast du deinen Therapieplan schon bekommen?“

"Ja, heute Nachmittag ist die Suchtgruppe. Ich nehmen an, da gehst du auch hin?“

"Zweimal die Woche, ja. Okay und was willst du dann heute sonst noch so machen? Ich will mich nicht aufdrängen und bin dir auch nicht böse, wenn du nein sagst, aber ich hab neuerdings Ausgang, aber nur mit einem Mitpatienten oder Angehörigen.“

"Ja klar, gerne.“

Nach der Gruppe machten wir uns auf den Weg, die Gegend zu erkunden. Ich konnte Vince, so hieß er, natürlich noch viel zeigen. Den nächsten Supermarkt, Freizeitbeschäftigung und so weiter. Wir waren bestimmt schon über eine Stunde unterwegs und hatten uns durchgehend unterhalten. Langsam wurden die Themen persönlicher. Ich erzählte ihm von meiner Sucht und er mir von seiner. Und irgendwann ging es eben auch darum, wer einem nahe steht und so weiter. Er wurde plötzlich eher zurückhaltend.

"Hey, wenn es dir zu persönlich wird, dann ist das echt kein Problem, Vince. Ich meine, wir haben uns heute erst kennengelernt. Das ist schon okay.“

"Nein, das ist es nicht. Ich kann mit dir gut reden. Und wir haben ähnliche Probleme, ich will dich nicht vergraulen.“

"Was, wovon redest du denn?“

"Ich hab schlechte Erfahrungen mit zu viel Offenheit hier in der Klinik … .“

"Ich bin nicht so schnell zu schocken, also sag mir, was du sagen willst.“

Ich war wirklich gespannt, was jetzt kommen würde.

"Okay, irgendwann findest du es ja eh raus. Ich musste deshalb schon einmal das Zimmer wechseln und wurde zu diesem Typen gesteckt, der eh nichts checkt. Also weiß ich lieber gleich, woran ich bin … .“

"Jetzt machst du es aber spannend!“

"Okay, ich möchte erst mal vorausschicken, dass ich in einer 100% monogamen Beziehung lebe.“

"Okay, Vince, das ist schön. Und weiter?“

"Okay und bitte sag jetzt erst mal nichts, hör einfach bis zum Ende zu. Also ich bin schwul, es kann gut sein, dass mein Freund, David, mich besucht, ich will nicht, dass du dann total vor den Kopf gestoßen bist, deshalb sag ich es dir gleich. Die im anderen Zimmer wollten plötzlich nicht mehr mit mir in einem Raum schlafen, sich umziehen und so weiter. Das ist aber absoluter Schwachsinn, ich liebe meinen Freund und nur ihn und ich hab keinerlei Interesse an Anderen, also … .“

Er wurde richtig hibbelig, ich hatte das Gefühl, jetzt doch mal was sagen zu müssen. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

"Vince, jetzt warte doch mal.“

"Lach nicht darüber, mir ist es Ernst.“

"Tut mir leid. Wirklich. Okay, mir wird gerade einiges klar.“

"Wenn du jetzt sagst, dass ich tuntig rüber komm oder so was … .“

"Nein, jetzt geh doch nicht gleich so in die Defensive. Was mir klar wird ist, warum sie uns ins gleiche Zimmer gesteckt haben.“

"Was soll denn das jetzt heißen?“

Er sah ziemlich gereizt aus.

"Ganz ruhig, Vince. Alles was ich sagen will ist, dass es gut möglich ist, dass auch mein Freund zu Besuch kommt.“

"Du willst dich über mich lustig machen, stimmt's?“

"Nein, ganz ehrlich.“

"Wirklich? Krass, das hätte ich nie gedacht. Man, mir fällt ein Stein vom Herzen.“

Als wir zurück kamen war es auch schon soweit. David wartete im Zimmer bei unserem Psychotiker, der ihm gerade erzählte, wie er damals zusammen mit Elvis einen Hit nach dem anderen geschrieben hatte. Zum Glück wurde er just in diesem Moment zu einer Untersuchung abgeholt. Ich gab David die Hand. Er war Mitte 30, gut gekleidet, trug eine Hornbrille.

"Hey, ich bin Jordan. Seit heute morgen bin ich auch hier drin.“

"Hallo. David. Ich bin ein Arbeitskollege von Vince.“

"So nennt man das heutzutage also. Ich glaub ich lass euch Zwei mal alleine. Wenn ich die Schwestern ganz lieb frage, lassen sie mich bestimmt von ihrem Telefon aus meinen Freund anrufen.“

Ich nahm noch Davids verdutztes Gesicht wahr, dann ging ich zum Schwesternzimmer. Ich hatte Glück und kannte jemanden.

"Hallo Mr. Bonanno, sie sind also wieder da. Wie geht es ihnen?“

"Eigentlich ganz gut, ich bin ja nur zur Stabilisierung hier, wie man so sagt, aber das wissen sie ja bestimmt.“

"Ja, natürlich. Und wie kann ich ihnen helfen?“

"Wer sagt, dass ich was will?“

"Meine Erfahrung mit ihnen.“

"Touché. Tatsächlich könnten sie mir weiterhelfen. Wie ihnen bestimmt aufgefallen ist, hat mein Zimmerkollege gerade Besuch bekommen … .“

"Lassen sie mich raten! Und jetzt wollen sie ein neues Zimmer.“

"Nein nein, ganz und gar nicht. Ich will den Beiden nur etwas Privatsphäre geben. Ich hätte aber einen dringenden Anruf zu machen. Deshalb wollte ich fragen … .“

"Nur wenn es wirklich dringend ist.“

"Natürlich.“

"Aber beeilen sie sich.“

Sie ließ mich nach hinten durch und ich wählte Seans Nummer. Da wir die Zeit vereinbart hatten, war er gleich selbst dran.

"Hallo, ich bin's.

"Hey Jordan. Wie geht es dir? Hast du dich schon eingelebt?“

"Ja, ist wie heimkommen. Deshalb wollte ich dir auch sagen, dass du mich diese Woche nicht besuchen brauchst.“

"Bist du sicher? Ich vermisse dich … .“

"Ja, ich weiß, ich dich auch. Aber glaub mir, es ist besser so.“

"Aber nächste Woche, wenn ich wieder arbeite. Da sehen wir uns dann, ja?“

"Ja natürlich. So, ich muss auflegen. Ich liebe dich.“

"Ich liebe dich. Pass gut auf dich auf, ja? Und sei nett zu den Anderen.“

"Natürlich. Also bis dann.“

"Bis dann.“

Schwester Nadine schaute mich vorwurfsvoll an.

"Das war also ihr dringendes Gespräch?“

"Dafür hab ich mich extra kurz gefasst.“

"Wenigstens. Also Herr Bonanno verstecken sie ihre Freundin etwa vor uns oder warum darf sie sie nicht besuchen kommen?“

"Ich denke, ich schau mal in meinem Zimmer nach dem Rechten. Genug der Privatsphäre.“

Am nächsten Morgen gingen Vince und ich zusammen zur Entspannungstherapie. Danach setzten wir uns noch ein bisschen in die Sonne, bis zur Visite. Dr. Berg kam des Weges.

"Ah, Mr. Bonanno, Mr. Yadis! Wusste ich doch, dass sie sich verstehen würden.“

"Ich hatte sie schon im Verdacht. Sie haben veranlasst, dass wir in ein Zimmer gesteckt wurden.“

"In der Tat. Und, haben sie schon herausgefunden warum? Außer dem offensichtlichen, meine ich.“

"Ja, ich hab David schon kennengelernt.“

"Gut gut. Also, es ist fast Zehn. Sie sollten langsam in ihr Zimmer zurückkehren.“

Das taten wir dann auch, mussten aber noch ewig warten, bis die Visite endlich zu uns kam.

"Also kennt Dr. Berg dich schon länger, hm?“

"Ja, letztes Mal war ich hauptsächlich auf seiner Station.“

"Er hat echt mitgedacht. Erzähl mal, wie lang bist du mit deinem Freund schon zusammen?“

"Seit November.“

"Das ist ja noch relativ frisch. Und läuft alles?“

"So frisch kommt es mir gar nicht vor. Ob alles läuft … schwer zu sagen. Zurzeit ist alles ein wenig … schwierig.“

"Meinst du, ihr bekommt das hin?“

"Ja, natürlich. Ist nur ein Tief.“

"Ja, so was kommt vor, das regelt sich von selbst. Und wenn nicht, andere Mütter haben auch hübsche Söhne. Bei der Visite gleich zum Beispiel. Die Praktikanten wechseln ja immer durch. Und Dienstag und Donnerstag ist einer dabei … ich sag dir, da wünsch ich mir fast, meine Beziehung zu David sei nicht so monogam. Ich finde es eh ne Frechheit, dass es ein halbes Dutzend weibliche, aber nur zwei männliche Praktikanten gibt. Und der eine ist klein, pummlig und picklig. Naja … .“

Die Tür ging auf und ein Schwall Kittelträger schneite herein. Wir wurden erst mal gebeten, raus zugehen, der Psychotiker war zuerst dran. Beim Rausgehen fragte Vince in die Runde:

"Wo sind denn die restlichen Praktikanten?“

"Einige haben diese Woche frei.“

Das Pickelgesicht meinte zu einem Mädchen gewandt:

"Ich kenne jemand, der ganz traurig darüber ist.“

Das Mädchen wurde rot. Vince spielte den enttäuschten.

"Das heißt dann wohl, Herr Wittmore ist bereits vergeben.“

Das Mädchen war zwar immer noch rot, stieg aber drauf ein.

"Tja, tut mir leid, nichts zu machen.“

Dr. Berg sah mich erstaunt an. Ich machte, dass ich aus dem Raum kam. Vince war gleich hinter mir.

"Jordan, alles okay? Das ist die große Visite, aber wenn es dir zu viele Menschen sind, dann kannst du bestimmt drum bitten, dass die Praktikanten raus gehen.“

Vince schaute mich besorgt an.

"Ist schon gut, das war nur im ersten Moment … Es geht schon wieder.“

Als ich dran war, sorgte Dr. Berg dafür, dass ich nur möglichst knapp befragt werde und wies mich darauf hin, dass Dr. Bishop heute im Hause sei. Ich verstand den Wink zwar, hatte aber nicht das Bedürfnis nach einem Einzelgespräch. Ich musterte die ganze Zeit so unauffällig wie möglich dieses Mädchen.

Am Nachmittag begegnete ich ihr vor einem Therapieraum. In dem Flur war nicht viel los und ich war der Erste, der wartete. Sie saß auf dem mittleren von drei Plastikstühlen und grüßte mich mit einem Lächeln. Sie war ziemlich hübsch.

"Haben sie eine Uhr?“

"Ja, es ist viertel vor.“

"Oh, dann bin ich ziemlich früh dran. Zur Suchtgruppe.“

"Ja, ich weiß, ich war bei ihrer Visite dabei.“

"Ah ja richtig, sie waren die mit dem roten Kopf.“

"Ja, das war ich.“

Ihre Ohren wurden schon wieder rot.

"Ihr Kollege war wirklich sehr taktlos.“

"Ja, das war typisch für ihn.“

Ich merkte, dass sie das Gespräch am liebsten abwürgen würde. Bestimmt war sie sich nicht sicher, wie viel sie mit Patienten überhaupt reden durfte.

"Ich merke, sie fühlen sich nicht wohl, ich kann auch wo anders warten … .“

"Nein, das ist nett, aber ich glaube nur das Thema ist mir etwas unangenehm.“

"Verstehe, das Ganze ist wohl noch sehr frisch.“

"Ja, das kann man sagen.“

"Naja, die Woche ist bestimmt schnell um. Und man kann sich ja auch außerhalb der Arbeit treffen.“

"Klar, das dachte ich auch. Aber … ach, das ist kompliziert … Wir kennen uns eben noch nicht so gut und deshalb reden wir auch nicht über alles. Ich weiß nicht warum, aber er hat behauptet, er sei diese Woche nicht zu Hause. Ich hab aber zufällig herausgefunden, dass er doch da ist … .“

Plötzlich fiel ihr scheinbar wieder ein, mit wem sie redete.

"Ich will nicht unhöflich sein, aber ich denke diese Unterhaltung ist nicht angebracht. Sie sind Patient hier … .“

"Ja natürlich, tut mir leid.“

Ich hatte genug gehört, stand auf und stellte mich ein paar Meter weiter weg. Vince kam um die Ecke und ich unterhielt mich mit ihm. Als die Tür aufgesperrt wurde, ging sie zu meinem Erstaunen mit rein. Sie bemerkte wohl meinen irritierten Blick.

"Ich mache dieses Praktikum, um mich zu entscheiden, was ich studieren will. Medizin oder Psychologie.“

"Ach so, ich dachte sie wären bereits Studentin.“

"Nein, ich hab bloß die Schule früher abgeschlossen.“

Sie war also nicht nur hübsch, sondern auch noch klug. Das gefiel mir überhaupt nicht.

Natürlich kam Dr. Bishop auf mich zu. Damit hatte ich schon gerechnet. Aber was er sagte, traf mich unvorbereitet.

"Ich habe mit Jeff gesprochen. Du wusstest davon, richtig?“

Ich nickte und wunderte mich über den scharfen Ton.

"Jordan, du hast einen Rückfall vorgetäuscht, damit ich dich einweise und du dir ein Bild von der Sache machen kannst, stimmt's?“

"Für so berechnend halten sie mich?“

"Antworte einfach.“

"Nein, so war das nicht. Ich wusste dass Sean Interesse an einer Praktikantin hat und dass sie ein paar Mal in der Gruppe was zusammen unternommen haben. Das war auch der Auslöser für den Rückfall. Vorgetäuscht habe ich wirklich nichts.“

"Warum hast du mir dann nichts von ihr erzählt, als ich den Vorschlag mit der Klinik gemacht habe?“

"Ich weiß nicht. Was hätte das denn geändert?“

"Das hätte vermieden, dass ich mir so manipuliert vorkommen.“

"Tut mir leid. Ganz ehrlich.“

"Na schön.“

Das Wochenende kam und Mum besuchte mich doch. Sie hatte Laura dabei. Vince war gerade mit David spazieren, als sie kamen. Ich war froh, dass sie da waren. Ich hatte Laura tatsächlich vermisst. Mum unterhielt sich mit den Schwestern bei deren Zimmer und ich sah Laura dabei zu, wie sie auf meinem Bett einschlief. Vince und David kamen zurück und waren natürlich verwundert darüber, ein Baby zu sehen.

"Jordan, willst du uns irgendwas sagen?“

"Darf ich vorstellen? Das ist meine Schwester Laura.“

"Und wo komm sie her?“

"David, du solltest deinem Freund das mit den Bienen und Blumen mal in Ruhe erklären.“

"Haha. Ich meine, wo sie jetzt so plötzlich herkommt … .“

"Meine Mum hat sie mitgebracht. Sie steht da draußen und unterhält sich mit den Schwestern.“

"Du meinst diese heiße Endzwanzigerin da draußen, deren Hintern ich gerade gemustert habe? Das kann unmöglich deine Mutter sein.“

Wir schauten David erstaunt an.

"Was denn, man wird doch wohl noch Perfektion wertschätzen dürfen, egal welchen Geschlechts.“

"Also das ist echt eklig. Das ist meine Mum, also beherrsche dich. Und sie ist eher eine Mittdreißigerin.“

Ich musste ihnen erst mal vorrechnen, wie das möglich war, das kannte ich schon. Dann stellte ich sie vor, wobei ich David noch mal einen ermahnenden Blick zuwarf.

Es wurde Montag. Sean musste wieder da sein, aber bei der Visite war er nicht dabei. Auch ansonsten begegnete ich ihm nicht. Ich hätte auch nicht wirklich gewusst, wie ich damit umgehen hätte sollen. Vor allem, wenn sie dabei gewesen wäre.

Am Dienstag nach der Gymnastik erinnerte mich Vince unnötigerweise, dass Dienstag war.

"Heute ist es soweit, heute sind die Praktikanten der anderen Station auch mit auf Großvisite. Ich bin gespannt wie du ihn findest. Er sieht einfach perfekt aus. Groß, schlank, blond, hübsches Gesicht, immer ein Lächeln auf den Lippen. Und klug ist er auch noch. So was findet man nicht allzu oft.“

Ich war natürlich mächtig stolz, sagte aber nur, dass ich schon sehr gespannt sei, ob er nicht zu viel versprach.

Gegen Elf klopfte es und der ganze Schwall Weißkittel strömte herein. Vince und ich machten uns gleich mal auf nach draußen, da der Psychotiker wie immer zu erst dran war. Es wurde stellenweise recht eng und wir drückten uns auf dem Weg zur Tür an den Praktikanten vorbei. Es waren bestimmt acht oder neun. Einer davon war natürlich Sean. Ich hatte ihn eine ganze Woche lang nicht gesehen und merkte plötzlich, wie sehr ich ihn vermisste. Er stand in der Tür und hielt sie für uns auf. Vince drückte sich näher als nötig an ihm vorbei und begrüßte ihn mit einem Hallo, das von Sean höflich erwidert wurde. Unsere Blicke trafen sich kurz und in dem Moment, als ich am nächsten bei ihm war, war es fast unaushaltbar schwer, ihn nicht wenigstens flüchtig zu berühren.

Als die Tür hinter uns zuging, klopfte Vince mir auf die Schulte.

"Wusste ich es doch, dass er dein Typ ist.“

"Ich hab doch noch gar nichts dazu gesagt!“

"Das war auch nicht nötig, du hast ihn ja mit deinen Blicken förmlich ausgezogen.“

"Ach Schwachsinn.“

"Schon gut, ich verrate nichts deinem Freund, wenn du meinem nichts verrätst.“


Sean

Meine freie Woche verbrachte ich zu Hause und wälzte Literatur über die Diagnose Borderline. Einiges konnte ich bei Jordan erkennen, anderes (zum Glück) überhaupt nicht. Wahrscheinlich waren die Symptome früher stärker.

In der Woche vermisste ich ihn wirklich sehr. Ich wollte ihn einige Male schon fast besuchen fahren, aber wie hätte ich das dort erklären sollen? Ich musste abwarten.

Am Montag war wie immer viel los, einige neue Patienten und so weiter. Ich kam nicht dazu, zu Jordan zu gehen. Und Emily versuchte auch ständig, mich zur Rede zu stellen, warum ich mich die ganze Woche nicht gemeldet hatte.

Am Dienstag war ich, wie immer, mit auf Visite auf Jordans Station. Ich hatte schon festgestellt, in welchem Zimmer er war. Er hatte es mit seinen Mitbewohnern recht gut getroffen. Einer der eh ständig durch die Gänge wandert und von Elvis erzählte und Mr. Yadis. Künstler, nicht mehr allzu schwere Depressionen, Alkoholentzug, offenkundig schwul. In meiner ersten Woche hatte ich an allen Psychotherapien teilgenommen, um auch zu wissen, wo die Patienten da hin geschickt wurden. Im Körpergefühlstraining war er mein Partner gewesen. Er schien wirklich sehr nett zu sein, das Einzige was mich störte war, dass er mich ständig angrub, wenn wohl auch nur zum Spaß, denn sein Partner besuchte ihn regelmäßig. Er war ein gutes Stück älter und wirkte wie eine Mischung aus Geschäftsmann und Kunsthändler. Jedenfalls war ich mir sicher, dass Jordan sich mit Mr. Yadis gut verstehen würde. Als die Visite immer näher an sein Zimmer kam, wurde ich langsam nervös. Wie würde es wohl sein, Jordan als Patienten zu sehen? Ich hatte nie so wirklich darüber nachgedacht, was es hieß, einen Angehörigen im "Irrenhaus“ zu haben. Und ich vermisste ihn so, konnte mir aber nichts anmerken lassen. Mr. Yadis und er verließen das Zimmer zusammen. Sie schienen sich schon angefreundet zu haben. Ich hielt ihnen die Tür auf und grüßte kurz. Ich hätte am liebsten einfach nur meine Hand nach ihm ausgestreckt. Ich musste unbedingt zu ihm.


Jordan

Meine Visite wurde wieder mal kurz gehalten, ich bekam ja keine Medikamente und war auch sonst gut versorgt. Sean sah ich dabei gar nicht, er stand wohl in irgendeiner Ecke. Gleich nach der Visite wurde der Psychotiker zu einer Untersuchung geholt und Vince hatte ein Einzelgespräch. Ich las gerade etwas für die Schule, als es an der Tür klopfte. Sean kam herein. Ich sprang sofort auf.

"Sean, da bist du. Ich hab dich so unglaublich vermisst.“

"Ja, ich weiß, ich dich auch. Komm her.“

Er zog mich an sich und küsste mich. Ich war so froh. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihn sofort zur Rede zu stellen, wie diese Tussi darauf kam, zu behaupten, er sei an sie vergeben. Aber ich genoss lieber was da gerade geschah. Ich war entspannter als bei jeder Entspannungstherapie. Wir wurden immer leidenschaftlicher. Sean schob mich um die Ecke und gegen den Schrank. Ich streifte seinen Kittel ab und zog ihm das Hemd aus der Hose. Er machte den Reißverschluss meiner Jacke auf und zog sie mir aus. Als ich seinen Hosenknopf aufmachte und meine Hand in seine Unterhose steckte, zog er die Notbremse. Irgendwer musste das ja tun. Mit der Hand hielt er mich auf Abstand, küsste mich aber zärtlich weiter. Er streichelte meine Wange und küsste meinen Hals. Um die Ecke fiel die Tür ins Schloss. Sean machte schnell seine Hose wieder zu und stopfte eilig das Hemd zurück. Ich ging um die Ecke, wo Vince gerade hereingekommen war.

"Hey, bin wieder da. Was ist denn mit dir passiert?“

Meine Jacke lag hinter mir am Boden, meine Haare standen in alle Richtungen und meinen Lippen sah man bestimmt auch an, was sie bis eben noch getan hatten.

"Oh, Jordan, hast du etwa Besuch? Ich hatte heute nur ein halbes Einzelgespräch, ihr habt bestimmt noch nicht mit mir gerechnet. Na dann stell mir deinen Freund mal vor!“

"Vince … eigentlich … hör mal, es tut mir leid … .“

Wir traten ins Zimmer, wo Sean gerade noch seinen Kittel aufsammelte. Er setzte sein professionelles Lächeln auf.

"Mr. Yadis, hallo.“

Vince blieb erst mal der Mund offen stehen.

"Jordan, ist das dein Ernst? Ich meine das geht mich ja eigentlich nichts an und ich weiß, dass ich die ganze Zeit davon gesprochen habe und so, aber es ist eben ein Unterschied, ob man davon spricht oder es wirklich tut … Ich meine, ich weiß dass dir dein Freund sehr viel bedeutet. Was wird er dazu sagen?“

Sean grinste breit.

"Mr. Yadis, es imponiert mir, wie sie sich für jemanden einsetzen, den sie noch gar nicht kennengelernt haben, aber ich denke, ich kann mit absoluter Sicherheit behaupten, dass Jordans Freund nichts dagegen hat.“

"So, meinen sie? Wissen sie, es gibt auch monogame schwule Beziehungen! Also glaube ich nicht, dass sie irgendwas davon wissen, was Jordans Freund etwas ausmacht, oder nicht.“

Das war mal wieder typisch Vince. Immer sofort in die Offensive. Sean nahm es mit Humor.

"Zumindest kenne ich den Namen von Jordans Freund. Kennen sie ihn?“

Vince wurde eher kleinlaut. Sean legte den Arm um meine Taille und zog mich näher an sich.

"Jordan, vielleicht könntest du uns sagen, wie dein ominöser Freund denn nun heißt.“

Er grinste mich an.

"Das wäre wohl Sean Wittmore. Tut mir leid Vince, ich hätte es dir früher sagen sollen, aber ich wusste nicht so Recht wie.“

"Was? Ihr Beide? Du hast ihn dir geangelt? Er ist tatsächlich schwul?“

"Auf jeden Fall bin ich anwesend, hallo?“

"Sean und ich sind seit ein paar Monaten zusammen, ja. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

"Und was ist mit dem Mädchen das sich als seine Freundin ausgibt?“

"Was? Als meine Freundin?!“

Ich hätte mir ja denken können, dass Vince dieses Thema aufbringen würde …

"Ja klar, bei der Visite letzte Woche. Ich hab sie gefragt, ob du also vergeben bist und sie hat geantwortet, tut mir leid, nichts zu machen.“

"Bitte?! Ich hab sie grad einmal geküsst!“

"Interessant … .“

Sean sah mich schuldbewusst an.

"Ja, ich weiß. Nach dem Schwimmen, so aus dem Affekt heraus. Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir davon zu erzählen. Aber seitdem lief nichts mehr. Ich hab ihr auch nichts versprochen oder so. Und wir hatten doch darüber gesprochen … Als ich gemerkt habe, dass es dir damit nicht gut geht, hab ich es sofort bleiben lassen. Aber wenn sie das denkt, erklärt es auch, warum sie gestern und heute so komisch zu mir war.“

"Ich glaub ich lass euch mal allein … Eins noch: Ich schließe daraus, dass ihr vereinbart habt, eure Beziehung offen zu führen. Und ich sag euch aus eigener Erfahrung, dass das nur zu Herzschmerz führt. Falls man sich doch dazu entschließt, ist Ehrlichkeit das oberste Gebot und damit mein ich nicht, dass ihr einander erzählt, mit wem ihr was macht, sondern auch, dass ihr euch sofort sagt, wenn es einem von euch zu viel wird. Also, wir sehen uns.“

Vince verschwand. Bevor Sean irgendetwas sagen konnte, schoss ich hervor:

"Mir wird es zu viel. Ich komm damit nicht klar. Es tut mit leid.“

"Ich weiß. Mir tut es leid. Ich hab kalte Füße bekommen. Und dabei hab ich zu wenig auf dich geachtet und jetzt bist du wieder hier. Aber ich regle das mit ihr, versprochen.“

"Das ist nicht deine Schuld. Ich hätte es besser wissen müssen. In der Therapie bekommen wir es immer wieder vorgekaut. Man soll die Warnzeichen erkennen. Und ich hab sie einfach ignoriert. Sean, ich hab Gras geraucht und in dem Zustand mit Nikki geschlafen. Es tut mir leid.“

"Was? Wann? Wovon redest du?“

"An dem Wochenende bevor ich hier her kam.“

"Aber Nikki ist in L.A.“

"Sie war in der Stadt, nur kurz.“

Sean war natürlich ziemlich getroffen. Die Tür ging auf und der Psychotiker wurde gebracht. Im Gang sahen wir den Wagen mit dem Essen.

"Ich muss jetzt auch wieder los.“

Schon war Sean weg. Ich hoffte er würde es verstehen. Er selbst hatte diese offene Beziehung schließlich vorgeschlagen.


Sean

Kaum dass die Visite vorbei war, seilte ich mich auch schon ab und ging zu seinem Zimmer zurück. Zuvor hatte ich natürlich herausgefunden, dass keiner seiner Zimmerkollegen dort sein würde. Wir waren sehr froh, einander zu sehen, bis Mr. Yadis zu früh von seinem Einzelgespräch zurückkam. Das Gespräch mit ihm entwickelte sich sehr … interessant. Er war sehr besorgt um Jordan, das konnte ich nicht so recht einordnen. Und er brachte das Thema Emily auf. Sie hatte ja auf einer Visite wohl behauptet, meine Freundin zu sein. Ich war selber erstaunt, wie schnell mir dazu die passende Lüge einfiel. Ich musste ein Teilgeständnis ablegen, um nicht komplett aufzufliegen. Also sagte ich, ich habe sie einmal geküsst. Ich versprach, das zu regeln. Dann erzählte Jordan mir von Nikki. Ich weiß, ich hatte kein Recht, davon getroffen zu sein, aber so war es nun mal. Bevor wir noch darüber reden konnten, musste ich gehen.


Jordan

Ich ging raus, holte mein Essen und setzte mich zu Vince.

"Na, habt ihr das klären können?“

"Ich weiß nicht. Mal sehen. Keine Ahnung.“

"Verstehe … Also, du und der Praktikant, hm? Ich denke, ich muss dir nicht mehr sagen, was für einen guten Fang du meiner Meinung nach gemacht hast.“

"Ja, aber hör mal, häng das nicht an die große Glocke, ja?“

"Verstehe. Wie ihr meint … .“

"Du weißt selbst wie das ist, du hast genügend schlechte Erfahrungen gemacht. Und Seans Eltern wissen nicht Bescheid, also … .“

"Ernsthaft? Also die eigene Familie sollte doch wissen, wer man ist … .“

"Ich bin da deiner Meinung, aber ich muss Seans Wünsche respektieren.“

Ich ging wieder eine viertel Stunde früher zur Suchtgruppe. Sie war wieder vor der Tür, aber diesmal war Sean bei ihr. Gerade sah ich noch, wie ihre Hände sich voneinander lösten. Ich wollte gerade rückwärts wieder um die letzte Ecke, aber beide schauten in meine Richtung. Ich beschloss, so unauffällig wie möglich einfach vorbei zu gehen. Als ich gerade an ihnen vorüber war, hörte ich ihre Stimme.


Sean

Ich versuchte am Nachmittag mit Emily zu reden. Eigentlich wollte ich ihr sagen, dass es vorbei war, aber ich konnte nicht. Sie war einfach zu perfekt. Hätten wir uns nur früher kennengelernt. Wir standen im Gang, sie wartete auf irgendeine Gruppe. Irgendwann nahm sie meine Hand. Ich mochte sie, aber Jordan … Aber wie sollt ich ihr das sagen? Als wir so dastanden bog jemand um die Ecke, woraufhin wir reflexartig losließen. Ich traute meinen Augen kaum. Es war Jordan. Er musste es gesehen haben. Er ging einfach so an uns vorbei. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Plötzlich sprach Emily ihn an.


Jordan

"Mr. Bonanno, die Suchtgruppe ist hier, im Therapieraum 2.“

"Oh, ja, natürlich. Jetzt wäre ich fast dran vorbeigelaufen.“

"Geht es ihnen heute nicht so gut?“

Gott, sie hatte dieses Psychologen-Geschwafel schon richtig gut drauf.

"Doch doch, ich war nur in Gedanken.“

"Kennen sie schon Mr. Wittmore?“

"Ja natürlich. Von der Visite heute. War der Urlaub schön?“

"Ja, danke, sehr erholsam.“

"Schön. Na dann will ich das junge Glück nicht weiter stören. Ich gehe mir mal eben in der Toilette die Pulsadern aufschneiden.“

Erst sagte niemand etwas. Dann hörte ich sie hinter mir tuscheln.


Sean

Er sagte das in einem Ton, als hätte er uns gerade mitgeteilt, dass er mal eben den Müll raus bringt und ging einfach weiter. Emily war total geschockt und sah mich Hilfe suchend an. Ich deutete ihr an, hier zu warten und ging hinterher. Sie dachte nicht daran, zu warten und ging los, um jemanden zu holen. Ich nahm dass was Jordan gesagt hatte für keinen Moment ernst. Ich war echt sauer auf ihn.


Jordan

Ich ging in die Toilette. Sean folgte mir, das Mädchen natürlich nicht. Er redete leise aber eindringlich.

"Jordan, was soll denn das? Sie holt jetzt bestimmt einen Arzt und wie willst du ihm das erklären?“

"Dr. Bergs Büro ist gleich da vorne, also holt sie höchst wahrscheinlich ihn.“

"Und was bezweckst du damit?“

"Na das hier. Du und ich, allein.“

Ich nahm seine Hand. Er zog sie weg.

"Das ist wirklich nicht komisch. Weißt du was für einen Schreck du ihr eingejagt hast?“

"Weißt du wie wenig mich das gerade kratzt? Du hast gesagt du klärst das mit ihr!“

"Ich hatte noch keine Möglichkeit!“

"Oh, bitte! Ich hab Augen im Kopf!“

Dr. Berg kam herein.

"Jordan, du willst dir doch nichts antun, oder?“

"Mir nicht, aber ihm vielleicht.“

"Dr. Berg, tut mir leid. Er hat das nur gesagt, weil … .“

" … sie ein Verhältnis mit der Praktikantin da draußen haben?“

Sean sah ziemlich geschockt aus.

"Woher … .“

"Sie geht damit recht offen um. Vielleicht hätte sie es besser geheim gehalten, wenn sie ihr gesagt hätten, dass sie mit jemand Anderen zusammen sind. Ich denke ihr solltet mit in mein Büro kommen.“

Die Praktikantin lief nervös auf dem Flur herum.

"Alle in mein Büro. Sie auch.“

Wir watschelten alle drei hinter ihm her. Sean schaute mich vorwurfsvoll an. Jeder bekam einen Stuhl.

"So, jetzt sagt mir jeder mal, was er sich von diesem Gespräch erwartet.“

"Ich weiß überhaupt nicht, worauf das hinaus läuft. Ein Patient hat angekündigt, sich das Leben zu nehmen. Ich hab sie geholt und jetzt sitze ich hier, als hätte ich etwas falsch gemacht. Ich erwarte mir, dass ich aufgeklärt werde, was eigentlich los ist.“

"Okay, danke. Mr. Bonanno?“

"Ich erwarte Ehrlichkeit, mehr nicht.“

"Gut und Mr. Wittmore?“

"Ich erwarte, dass dieses Gespräch in einem Fiasko endet und ich hoffe, dass sich der Erdboden öffnet und mich verschluckt.“

"Durchaus nachvollziehbar. Gut, ich denke als erstes sollten wir mal klären, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Mrs. …?“

"Collins.“

"Mrs. Collins, möchten sie anfangen?“

"Okay, also Mr. Bonanno ist ein Patient, den ich auf Visite sehe und in der Suchtgruppe. Letzte Woche hat er mich mal nach der Uhrzeit gefragt. Das ist alles. Und Sean … Mr. Wittmore … ist mein Freund, würde ich sagen, aber noch recht frisch.“

"Okay, ich würde gerne genauer darauf eingehen. Wie kommen sie darauf, dass er ihr Freund ist?“

"Ist das nicht sehr persönlich?“

"Ich will natürlich keine Details, nur generell, woran machen sie das fest?“

"Naja, wir gehen aus, küssen uns und so weiter … .“

Ich hielt es nicht mehr aus … ich musste was sagen!

"Und habt Sex?“

"Ehm, ja so was halt alles.“

"Alles klar, ich denke, ich geh jetzt tatsächlich meine Pulsadern aufschneiden … .“

"Mr. Bonanno, wir sind hier noch nicht fertig. Bevor wir klären, wie die Anderen ihre Beziehungen definieren würden, möchte ich ihnen, Herr Wittmore, die Gelegenheit bieten, vielleicht doch noch etwas zu retten. Wenn ich dieses Gespräch weiterführe, wird die Frage nach ihrer Beziehung zu den anderen Beiden nämlich sehr einfach mit 'Keine' zu beantworten sein. Also, haben sie etwas zu sagen?“

"Ich möchte, denk ich, zumindest eine Beziehung klären.“

Er wandte sich zu ihr, nicht zu mir.

"Emily, es stimmt, wir sind zusammen ausgegangen, wir haben uns geküsst, wir haben miteinander geschlafen. Tut mir leid, ich hätte dir das eher sagen müssen. Ich bin noch in einer festen Beziehung. Ich wünschte ich hätte dich vor einem Jahr kennengelernt. Das ist alles, was ich dazu in diesem Rahmen sagen werde und jetzt entschuldigen sie mich.“

Mit einer Handbewegung machte er klar, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Ich blieb sitzen, Emily nicht.


Sean

Es war einfach zu viel, ich wollte einfach nur weg. Und ich ging dann auch, nachdem ich Emily gesagt hatte, dass ich noch mit jemand Anderem zusammen bin. Ich habe tatsächlich "noch“ gesagt, das ist mir später, als ich dieses Gespräch 1000-mal im Kopf durchgegangen bin, klar geworden. Sie lief hinter mir her, als ich den Raum verließ und sagte Folgendes:

"Sean, warte doch. Das kannst du mir nach dem allen doch nicht einfach so hinknallen. Das hättest du mir schon vor einem Monat sagen müssen, als wir miteinander geschlafen haben. Ich liebe dich doch. Und du hast gesagt, dass du das gleiche empfindest.“

Jordan muss das alles noch gehört haben. Aber ich hatte wirklich keine Ahnung, was passieren würde, dass er so weit gehen würde. Sonst wäre ich niemals weggegangen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah, für sehr lange Zeit.


Jordan

Sie waren im Gang, ihre Stimmen wurden immer leiser.

"Jordan, wollen sie nicht hinterher?“

"Ich kann nicht. Ich hab einfach keine Kraft mehr, keine Gefühle mehr. Ein Monat. So lange. Und er ist in sie verliebt. Ich habe das Gefühl, dass ich einfach nicht mehr trauriger werden kann, egal was noch passiert. Bitte lassen sie mich einfach gehen.“

"Was tun sie dann?“

Ich wusste genau, was ich dann tun würde. Aber ich sagte nichts.

"Jordan, kommen sie, ich bringe sie auf die Station.“

"Ich weiß, welche Station sie meinen und ich gehe da nicht hin.“

Ich holte langsam aber deutlich mein Taschenmesser aus der Hosentasche.

Er stand auf und ging zu dem Notfall-Knopf an der Wand.

"Bitte, lassen sie mich einfach gehen.“

"Das kann ich nicht. Gleich kommt jemand.“

Ich stand auf.

"Jordan, tu das nicht. Leg es nicht drauf an.“

"Ich will einfach nur weg von hier. Hier riecht es nach ihm.“

Ich drehte das Messer um, so dass ich die Klinge fest in der Faust hielt.

"Wir können zusammen auf den Gang gehen, ja? Aber du musst bei mir bleiben.“

"Wenn jemand kommt um mich auf die Geschlossene zu bringen, dann drücke ich zu.“

Wir gingen auf den Gang. Vince bog gerade um die Ecke.

"Hey Jordan, bist du auch zu spät dran zur Suchtgruppe?“

"Ich glaube, ich geh heute nicht hin.“

Vince schaute auf das Messer in meiner Hand.

"Was ist los?“

Er fragte nicht mich, sondern den Doktor.

"Gehen sie, gleich kommt jemand.“

"Nein, ich geh nicht. Ich will wissen was los ist!“

Ich hörte die Sorge in seiner Stimme.

"Mr. Bonanno ist akut suizidgefährdet. Gehen sie. Sie können im Moment nichts tun.“

"Jordan? Bitte, du kannst mich doch nicht mit dem Psychotiker allein lassen.“

Er kam auf mich zu und griff nach meiner freien Hand. Ich spürte wieder etwas. Traurigkeit. Unglaubliche Hoffnungslosigkeit. Verzweiflung. Ich konnte diese Lawine nicht mehr aufhalten, alles brach über mir zusammen. Meine Beine gaben nach. Danach erinnere ich mich nur noch an den Schmerz in meiner Hand.


Sean

Emily folgte mir nach draußen. Sie verlangte natürlich eine Erklärung. Wir setzten uns auf eine Bank und ich fing an zu erzählen. Ich war so wütend auf Jordan, dass er mich in diese Situation gebracht hatte und ich wusste, dass es zwischen uns nie wieder dasselbe sein konnte. Emily hörte mir zu. Sie stellte Fragen, aber ohne Wertung. Es tat gut, ehrlich zu sein. Sie schien mich zu verstehen. Erst kurz vor Fünf gingen wir wieder hinein. Einer der Ärzte kam sofort auf mich zu und sagte mir, Dr. Bishop wollte mich dringend sprechen. Ich dachte, er wolle mir eine Standpauke halten.

Er begrüßte mich kurz und bat mich, mich hinzusetzten. Dann fing er an zu erzählen, was passiert war. Fassungslos hörte ich zu. Am Ende fragte er mich, was ich wollte, ob ich nach oben zu ihm wollte, um mit ihm zusammen zubleiben oder ob ich nicht mehr mit ihm zusammen sein und von ihm fern bleiben wollte. Er machte mir klar, dass es keine Grauzonen gab. Er war selbst sehr mitgenommen von der ganzen Sache, immerhin war Dr. Berg betroffen. Als ich ihm gesagt hatte, dass ich nicht mehr mit Jordan zusammen sein konnte, teilte er mir mit, dass auch er vorhatte, Jordan an einen anderen Therapeuten zu verweisen. An diesem Tag fuhr ich nicht nach Hause, sondern blieb bei Emily. Mir wurde klar, dass ich nicht zurück in diese Klinik konnte. Ich war nicht mehr wütend auf Jordan, ich wusste, dass ich Schuld war. Ich war ihm kein guter Freund gewesen. Ich war zu schwach. Noch nie im Leben hatte ich irgendwo versagt und gerade die wichtigste Beziehung in meinem Leben versaue ich komplett.


Jordan

Als ich wieder zu mir kam, tat mein Kopf unbeschreiblich weh. Ich fühlte mich, als hätte ich Tage lang nicht geschlafen. Jeder einzelne Muskel meines Körpers schmerzte. Jemand hielt meine Hand. Ich konnte meinen Kopf nicht heben um nachzusehen, wer es war. Dann schlief ich wieder ein.

Es wurde hell, ich machte die Augen auf. Eine Gestalt stand am Fenster. Ich erkannte Summer. Als sie sah, dass meine Augen offen waren, kam sie rüber, legte sich zu mir und vergrub ihr Gesicht an meinem Hals. Sie weinte. Ich konnte mich nicht wach halten.

Als ich das nächste Mal aufwachte war ein Arzt im Raum.

"Mr. Bonanno, wir haben die Sedativ-Dosis gesenkt. Sie sollten also jetzt in der Lage sein, wach zu bleiben.“

Ich fühlte mich auch nicht als könnte ich noch mehr schlafen.

"Wo ist Dr. Berg?“

"Er hat heute keinen Dienst. Wissen sie noch, was passiert ist?“

Ich nickte.

"Wissen sie, wo sie hier sind?“

"Auf der Geschlossenen vermutlich.“

"Ja. Gut, ich lasse sie dann jetzt wieder alleine. Wenn sie etwas brauchen, klingeln sie. Und versuchen sie besser noch nicht aufzustehen. Lassen sie es langsam angehen.“

"Wie lange war ich weg?“

"Heute ist Freitag. Neun Uhr früh.“

"So lange? Okay, danke.“

Ich streckte mich erst mal. Ich fühlte mich völlig schlaff, wie bei einer Grippe. Langsam setzte ich mich auf. Alles fing an sich zu drehen. Nach circa einer halben Stunde fühlte ich mich bereit aufzustehen. Eine Schwester kam ins Zimmer. Natürlich, hier war alles mit Kameras überwacht.

"Kann ich ihnen helfen?“

"Ich würde gerne duschen.“

"Sie sollten erst mal ihr Gleichgewicht wieder finden. Gehen sie noch eine Runde auf den Gang. Ich suche solange einen Schutz für ihren Verband.“

Ich guckte wohl ziemlich erstaunt auf meine Hand.

"Können sie sich noch erinnern, was passiert ist?“

"Ja, ich wusste nur nicht, dass es so schlimm war.“

"Die Schnitte mussten größtenteils genäht werden. Eine Sehne hat es aber nicht erwischt. Es wird also gut heilen.“

Ich drehte eine Runde und die Schwester war wohl zufrieden mit dem, was sie sah.

"Gut, dann können sie duschen gehen. Wäsche ist in ihrem Schrank. Natürlich haben wir ihre Sachen durchgesehen.“

"Schon klar.“

Danach fühlte ich mich etwas besser und ich fing an, drüber nachzudenken, was passiert war. Ich musste rausfinden, ob er mich besucht hatte, also ging ich wieder zur Schwester.

"Fühlen sie sich jetzt besser?“

"Ja, schon. Hören sie, ich wollte fragen, wer mich besucht hat.“

"Also da war Mr. Yadis und ein Mädchen mit lila Strähnen.“

"Sonst niemand? Ein Praktikant von einer anderen Station vielleicht?“

"Praktikanten dürfen hier nicht her. Sonst war niemand da.“

"Und was ist mit meiner Mutter?“

"Sie wurde natürlich verständigt.“

"Sie war nicht hier?“

"Tut mir leid … .“

Ich wusste nicht, was mich mehr traf.

"Kann ich telefonieren?“

"Natürlich. Hier bitte.“

Ich rief zu Hause an. Klaus nahm ab.

"Hey, ich bin's. Ich wollte nur sagen, dass ich wach bin.“

"Ja, die Klinik hat uns Bescheid gegeben als deine Dosis reduziert wurde.“

"Ach so. Und wann kommt ihr mich besuchen?“

"Jordan, hör mal, es tut mir leid, aber deine Mutter fühlt sich momentan nicht bereit dazu, dich zu sehen. Die ganze Sache hat wohl zu viele alte Erinnerungen heraufbeschworen.“

"Ja meinst du denn bei mir nicht? Sean war auch noch nicht da.“

"Tut mir leid das zu hören. Aber davon weiß ich nichts. Du, ich muss auflegen … .“

"Dad, warte … Ich meine Klaus. Bitte. Will sie es so machen wie das letzte Mal und mich erst nach acht Monaten besuchen? Ich brauch euch jetzt.“

"Jordan, ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich lege jetzt auf.“

"Warte! … Hallo? Hallo?!“

Ich konnte es nicht fassen. Die Schwester musterte mich besorgt.

"Sie müssen ihnen einfach etwas Zeit geben.“

"Ich glaube nicht. Ich hab das Gefühl, ich hab meine letzte Chance vergeigt. Wie lange muss ich hier bleiben?“

"Das entscheiden die Ärzte. Aber jetzt ist eh erst mal Wochenende.“

Die Schule hatte ich ja ganz vergessen. Die würde am Montag wieder anfangen. Definitiv ohne mich. Ich konnte froh sein, wenn ich bis dahin nicht mehr auf der Geschlossenen war. Es klingelte an der Stationstür. Durch die Scheibe sah ich Vince. Die Schwester ließ ich rein.

"Jordan, du bist wach! Man, du hast mich so erschreckt!“

Er zog mich in seinen Arm und hielt mich eine Weile einfach nur fest. Ich konnte die ganze Zeit nur denken, dass ich froh war, geduscht zu haben. Die Schwester war damit einverstanden, dass wir in mein Zimmer gingen.

"Jordan, man, mein neuer Zimmerkollege ist ein absoluter Wichser. Sieh zu, dass du schnell wieder auf die Offene kommst.“

"Ich weiß nicht ob ich das will. Die Vorstellung, Sean über den Weg zu laufen … .“

"Hat es dir noch Keiner gesagt? Er hat aufgehört. Nachdem er gehört hat, was passiert ist, hat er aufgehört.“

"Oh … .“

"Ich hab auch mitbekommen was passiert ist. Dr. Berg hat es mir erzählt. Ich hoffe das ist okay.“

"Ja, klar. Und du warst ja auch da, daran erinnere ich mich noch.“

"Ja … .“

"Und du hast mich hier besucht, stimmt's? Du hast meine Hand gehalten … .“

"Ja, das stimmt.“

"Danke. Ich kenne dich kaum zwei Wochen und trotzdem bist du da. Meine eigene Mutter hat mich noch nicht besucht.“

"Das tut mir leid.“

Die Schwester kam mit Essen.

"Ich glaube nicht, dass ich das essen kann.“

"Versuchen sie, wie viel geht. Den Rest können sie ja mit Mr. Yadis teilen. Ich befürchte, er verpasst gerade das Essen auf seiner eigenen Station.“

Vince blieb ewig. Irgendwann kam das Thema wieder auf Sean.

"Ich hab ihn verloren, das weiß ich.“

"Vielleicht für jetzt, aber bestimmt nicht für immer. Ihr werdet wieder zusammenfinden, davon bin ich überzeugt. Du hast Hoffnung. Viele würden dich darum beneiden.“

Er sah übermäßig betroffen aus.

"Alles okay?“

"Nein, ich muss dir was sagen.“

Ich legte meine Hand auf seine.

"Was ist los?“

"David ist krank. Wir wissen es schon seit Jahren. Aber jetzt ist seine T-Zellen-Zahl hoch geschossen und er hat eine Infektion. Er ist seit gestern in einer Klinik. Es sieht alles danach aus, dass es ausgebrochen ist.“

"AIDS?“

Er nickte.

"Und du?“

"Ich bin negativ. Wir sind sehr vorsichtig.“

"Vince, das tut mir so leid.“

"Ich verliere ihn, Jordan. Und dann bleibt keine Hoffnung mehr. Er wird irgendwo verscharrt um zu verrotten. Und dann bin ich ganz allein. Ich habe solche Angst davor.“

"Kannst du jetzt nicht zu ihm?“

"Wir haben darüber gesprochen. Wenn ich jetzt in dieser Situation raus gehe, dann werde ich auf jeden Fall rückfällig. Nein, ich muss hier bleiben.“

"Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. Ich bin für dich da.“

Ich gab ihm ein Taschentuch und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ich musste irgendetwas sagen.

"Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“

"Oh, das ist lange her. Ich kam grad frisch aus der High School. Er war damals schon Ende zwanzig und ein aufstrebender Gallerist. Durch Zufall fielen ihm Bilder von mir in die Hände. Damals waren meine Bilder noch ziemlich unausgereift. Aber er sah das Potential und wollte mich kennenlernen. Eins führte zum anderen. Und nach zwei Jahren wollten wir zusammen L.A. erobern. Dann bekam er die Diagnose. Hier ist eine der führenden Kliniken auf dem Gebiet, also entschlossen wir uns, hier zu bleiben und fortan monogam zu sein. Es war nicht immer leicht für mich, mit der Angst zu leben, dass es jederzeit ausbrechen könnte. Ich flüchtete mich in den Alkohol. Darum bin ich hier.“

"Kenn ich eigentlich was von dir?“

"Naja, ich glaube du kennst das Wandgemälde im Einkaufzentrum … .“

"Das Riesige über dem Springbrunnen? Mit den Meerjungfrauen? Das ist von dir?“

"Ja, daran hab ich vier Wochen gearbeitet.“

"Ich liebe dieses Bild! Zum Essen setzte ich mich immer extra in Sichtweite dazu.“

Ich erzählte ihm, was mir, wenn ich das Bild anschaue, alles in den Sinn kommt, er erzählte davon, wie es entstanden war.

"Wir wollen auch nach L.A., Sean und ich … .“

Plötzlich fiel es mir wieder ein.

"Jordan, alles okay? Ich weiß, es ist schwer.“

"Was mach ich denn jetzt? Alleine nach L.A. gehen? Nach dem Schulabschluss? Oder kann ich den überhaupt nicht machen? Ich bin ja hier drin eingesperrt. Und nach Hause kann ich auch nicht. Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll … .“

Es klopfte.

"Summer!“

"Hey Vince!“

"Ihr kennt euch?“

"Wir haben uns in den letzten Tagen kennengelernt.“

"Dein Einkaufszentrums-Bild ist von ihm.“

"Das hab ich auch gerade rausgefunden.“

Die Beiden kamen jeden Tag. Summer hatte auch nichts von Sean gehört. Ich musste wohl abwarten, bis ich verlegt wurde. Summer, Vince und ich unterhielten uns viel über unsere weiteren Pläne. Ich wollte notfalls allein nach L.A. um Musik zu machen. Summer wollte sich als Schauspielerin versuchen. Den nötigen Hang zur Selbstdarstellung hatte sie auf jeden Fall. Auch Vince sah seine Zukunft in L.A. Wir beschlossen logischerweise zusammen hinzugehen, sobald uns hier nichts mehr hielt.

Es vergingen zwei Wochen. Hannah gab Summer die Hausaufgaben für mich mit und ich hatte hier eh zwischen den Einzeltherapien nicht wirklich was anderes zu tun.

Endlich wurde ich wieder zu Vince in die Offene verlegt. Ich dachte einfach nicht an Sean und Mum, dann ging es mir gar nicht so schlecht. Hannah kam mich mal besuchen, ging aber nach einer halben Stunde wieder. Wir hatten uns einfach nichts zu sagen. Ab und zu rief ich zu Hause an, bekam aber immer nur Klaus ans Telefon. Die Gespräche verliefen immer ähnlich.

"Wir freuen uns, dass es dir besser geht, aber besuchen wollen wir dich trotzdem nicht.“

Endlich fühlte Vince sich stark genug, um mit dem Taxi zu David in die Klinik zu fahren. Als er zurückkam, ging es ihm miserabel. Er wollte nicht drüber reden, sondern einfach nur alleine sein, also lief ich ein wenig durch die Gänge.

Dabei traf ich auch Dr. Berg.

"Dr. Berg.“

"Jordan, ich muss weiter … .“

Ich sah ihm an, dass er mir einfach nur aus dem Weg gehen wollte.

"Warten sie. Ich wollte mich entschuldigen. Ich hab sie bestimmt sehr erschreckt.“

"Ja das hast du. Du hast ein Messer gezogen. Ich wusste nicht gegen wen du es richten würdest. Das war beruflich gesehen der schlimmste Tag in meinem Leben, also bitte versteh, wenn ich jetzt einfach weitergehe.“

Ich kam überhaupt nicht dazu, etwas zu sagen. Dr. Bishop hatte mich an einen anderen Therapeuten verwiesen, ihn sah ich also auch nicht mehr. Ich hatte so ziemlich alle Menschen, die mir nur ansatzweise etwas bedeutet hatten, vergrault.


Sean

Die nächsten zwei Wochen waren die Hölle für mich. Ich wusste absolut nicht wie es ihm ging. Das Personal durfte mir nichts sagen. Seine Mutter besuchte ihn nicht. Die Anderen aus der Clique wussten größtenteils noch nicht mal davon. Summer redete nicht mit mir. Es gab niemanden den ich fragen konnte. Nach zwei Wochen erfuhr ich wenigstens, dass er wieder auf eine offene Station verlegt worden war. Ich versuchte einmal ganz behutsam, Emily danach zu fragen, was sie so wusste. Aber sie blockte sofort ab.


Jordan

Als ich gerade meinen düsteren Gedanken nach hing, kam ein weißer Kittel um die Ecke. Emily blieb sofort stehen, circa drei Meter vor mir. Sie machte kehrt.

"Warte!“

"Lass mich bloß in Ruhe!“

"Bitte! Siehst du Sean noch? Natürlich tust du das. Bitte, sag ihm, er soll mich wenigstens anrufen. Sag ihm, er hat mir versprochen, für mich da zu sein, wenn auch nur als guter Freund. Egal was passiert. Das hat er gesagt. Bitte! Sag ihm er soll mich anrufen!“

"Den Teufel werd ich tun. Ihm geht es viel besser ohne dich. Halt dich von ihm fern.“

Weg war sie. Sie wusste also auf jeden Fall Bescheid. Und sie hatte Kontakt zu ihm. Vermutlich hatte er sie schon seinen Eltern vorgestellt. Ich musste mich abreagieren. Mir fiel der Boxsack ein, der in einem Aufenthaltsraum hing. Ich prügelte eine halbe Stunde auf ihn ein, bis meine Knöchel bluteten. Das machte ich ab da jeden Tag und auch sonst versuchte ich viel Sport zu treiben. Das tat mir gut. Ich legte Gewicht zu und mein ganzer Körper veränderte sich. Vince fand es ziemlich albern, er selbst war eher schlaksig. Summer aber fand es toll. Ich hatte mit der Schule abgemacht, dass ich die verpassten Tests in der Klinik nachholen konnte. Das klappte erstaunlich gut. Ein Lehrer beaufsichtigte mich und korrigierte danach gleich. Ich schrieb nur Einsen und Zweien.


Sean

Nach vier Wochen musste ich einfach wissen, wie es ihm ging. Ich beschloss, in die Klinik zu fahren und Mr. Yadis nach einem Einzelgespräch abzupassen. Das klappte erstaunlich gut. Er schien nicht überrascht, mich zu sehen.

"Ich hab mich schon gefragt, wann du auftauchen würdest.“

"Ich will nur wissen wie es ihm geht.“

"Was glaubst du wohl? Ihm geht's beschissen. Du hast ihm das Herz gebrochen. Ich kenne Typen wie dich. So was endet nie gut. Du bist so voller Selbsthass und darauf bedacht, es allen Recht zu machen und das auf Kosten derer, die dich lieben. Das alte Lied. Bitte halt dich von ihm fern. Er hat sich gerade einigermaßen gefangen. Bitte bleib einfach weg, okay?“

Ich meinte, etwas in seinen Augen zu sehen. Er wandte sich zum gehen.

"Mr. Yadis … Vincent bitte, warte. Seine Mutter, hat sie ihn schon besucht?“

"Nein, niemand ist bisher aufgetaucht. Nur Summer und ich. Bitte geh jetzt.“

Da war tatsächlich etwas seltsam.

"Vince? Du magst ihn, oder?“

"Natürlich … .“

"Nein, ich meine, du magst ihn, so wie ich ihn mag.“

"Schwachsinn. Ich liebe David, geh endlich. Lass mich in Ruhe.“

"Pass auf ihn auf, ja? Mach's gut.“

Ich war mir sicher, dass ich Recht hatte. Und aus irgendeinem Grund beruhigte mich der Gedanke.

Ich verbrachte die Abende mit Emily, meine Eltern hatten sie sogar schon zum Abendessen eingeladen. Klaus und Carol waren auch dabei, meine Mutter wollte so das Treffen auflockern. Es hatte natürlich den gegenteiligen Effekt. Tagsüber jobbte ich mal wieder als Sohn vom Chef. So verging die Zeit, aber kein Tag, an dem ich nicht darüber nachdachte, wie es für Jordan besser hätte laufen können, was ich anders hätte machen müssen. Ich war in dieser Geschichte der Böse und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.


Jordan

Anfang Mai kam ein Anruf aus der Klinik in der David lag. Er hatte eine Lungenentzündung bekommen. Es sah nicht gut aus. Vince ging um sich zu verabschieden. Er blieb über Nacht weg. Am Morgen starb David. Alles war dann doch sehr schnell gegangen. Am späten Abend kam Vince zurück. Ich lag schon im Bett. Er machte das Licht nicht an sondern kroch einfach unter meine Decke. Er weinte die halbe Nacht, dann schlief er für ein paar Stunden ein und weinte dann weiter. Er war nicht zu trösten. Am Morgen kam die Schwester rein und gab ihm Pillen. Eine halbe Stunde später konnte er endlich aufhören zu weinen. Wir blieben bis Mittag im Bett. Dann kam das Essen. Natürlich wollte er nichts. Er ging duschen. Am Abend bekam er wieder Pillen, diesmal welche, die ihm beim Einschlafen halfen. Ab dem nächsten Tag ging ich wieder in meine Therapien. Vince schlief viel. Am vierten Tag war Davids Beerdigung. Vince und ich gingen hin, in Begleitung eines Pflegers. Sehr viele Leute waren gekommen. Ich lernte die Familien von David und Vince flüchtig kennen. Alles war sehr geschmackvoll. Auf der anschließenden Trauerfeier blieben wir nicht lange. Bald wurde es Vince zu viel. Überall waren Fotos von David und ständig bekundete jemand sein Beileid. Zurück in der Klink spielten wir Karten und redeten übers Wetter und anderes belangloses Zeug.

Der Mai verging, ohne dass mich jemand anderes als Summer besuchte. Ich lernte für die letzte Prüfung in Bio und die Abschlussprüfungen und Vince schaffte es zum ersten Mal, sich nicht in den Schlaf zu weinen. Mittlerweile durfte ich das Haus mit einem Mitpatienten oder Angehörigen verlassen. Die letzte Bio-Prüfung konnte ich also wieder in der Schule schreiben, ich nahm eben Vince mit, mit ihm verbrachte ich eh jede freie Minute. Es war seltsam wieder zurück zu sein. Es waren nicht mal drei Monate vergangen, aber es kam mir wie Jahre vor. Ich lief so vielen Menschen über den Weg. Hannah, Alex, Susi. Ich war äußerlich wie innerlich nicht mehr derselbe. Ich dachte schon, ich würde es nicht hin bekommen. Ich wollte am liebsten einfach wieder gehen.

"Wenn du erst mal im Prüfungsraum sitzt, nimmst du die Anderen gar nicht mehr wahr. Und danach können wir einfach gleich zum nächsten Ausgang gehen und weg sind wir.“

"Danke Vince, ohne dich würde ich das hier nicht schaffen.“

Ich ging so nah wie möglich neben ihm. Am liebsten hätte ich mich hinter ihm versteckt. Er zog Aufmerksamkeit auf sich. In der Klinik war mir nie aufgefallen, wie er wirkte. Er sah aus wie ein Künstler, ich konnte aber gar nicht genau sagen, warum. Es war nicht nur seine leicht exzentrische Kleidung, es war sein komplettes Auftreten. Natürlich wurde auch über mich getuschelt. Ich bin mir sicher, es gab viele Gerüchte drüber, wo ich gewesen war. Wir hätten nicht auffälliger sein können. Unbewusst ging ich immer näher an Vince. Unsere Hände berührten sich zufällig. Ich entschuldigte mich. Sean wäre schon längst auf Abstand gegangen, mit all den Augen die auf uns gerichtet waren.

"Du musst dich nicht entschuldigen. Ich würde gern deine Hand halten.“

Ich schaute ihn erstaunt an, während er nach meiner Hand griff. Es fühlte sich gut an. Ich hatte das noch nie getan, vor so vielen Menschen. Ich hatte das Gefühl, eine große Last wurde mir von den Schultern genommen.

Wir trafen auf Summer.

"Hey, da seid ihr ja. Also Vince, ich lasse Kunst sausen und bin ganz für dich da.“

"Kunst sausen lassen? Das kann ich nicht verantworten. Vielleicht kann ich mich ja einfach mit rein setzen.“

"Hier schreib ich … .“

"Okay, dann wünsch ich dir viel Erfolg. Du machst das schon. Ich hab dich abgefragt, ich weiß wovon ich rede.“

"Naja, mal schaun … .“

"Also ich bin dann in eineinhalb Stunden wieder hier. Schau nicht so ernst, ist nur ne Prüfung.“

Er gab mir einen Kuss auf die Wange. Vor meinen versammelten Mitprüflingen und dem Lehrer. Ich fand ihn toll und konnte nicht mehr aufhören zu lächeln.

Die Prüfung lief recht gut, als ich alles noch mal durchgesehen hatte, war die Zeit auch schon um und ich gab ab. Ich ging nach draußen, wo sich eine Menschentraube gebildet hatte. Neben mir stellte sich jemand auf die Zehenspitzen, um zu sehen, was vor sich ging.

"Der Kunstlehrer Mr. Owens, er scheint mit jemandem zu diskutieren … Ich kenne den Typ nicht.“

Die Traube löste sich und ich sah Vince. Hätte ich mir ja denken können. Er und Mr. Owens reichten sich versöhnlich die Hand.

"Das, liebe Schüler, war ein Musterbeispiel eines fruchtbaren Konflikts.“

Summer entdeckte mich.

"Jordan, du hast die beste Kunststunde aller Zeiten verpasst! Du hättest Vince erleben sollen! Owens hat uns einen trockenen Vortrag über den Expressionismus gehalten und kam auf die Brücke zu sprechen und irgendwann hat er seine Folien nicht gefunden, wollte uns aber doch dieses eine Bild zeigen. Vince ist aufgestanden und hat es mit Kreide an die Tafel skizziert. Er hat keine fünf Minuten gebraucht und danach waren die Beiden unterschiedlicher Meinung, was die Zuordnung Munchs betrifft, ich hab so viel gelernt!“

Vince kam rüber.

"Jordan, wie war deine Prüfung?“

"Auf jeden Fall nicht annähernd so spannend wie das hier.“

Mr. Owens kam auch.

"Mr. Bonanno, Danke dass sie diesen jungen Mann mitgebracht haben. Er war eine große Bereicherung, ich habe schon viel von ihm gehört. Er wird mit seinen Werken noch große Wellen schlagen.“

Ich schaute Vince einfach nur fassungslos an.

"Du bist der nächste Picasso und ich hatte keine Ahnung davon. Du hättest mich wenigstens warnen können.“

"Ich wollte eben, dass du dich in mich verliebst, nicht in meinen Ruf.“

Ich war für einen Moment von dieser Direktheit geplättet, aber ich wusste, dass genau das passiert war.

"Das ist dir gelungen. Aber das alles hier schadet auch nicht.“

"Moment, hast du gerade gesagt, dass du dich in mich verliebt hast?“

"Ja, das hab ich gesagt.“

Er zögerte keine Sekunde sondern küsste mich einfach. Als ich die Augen wieder aufmachte, sah ich nur sein Gesicht. All die Anderen waren mir egal. Das war es, was ich immer wollte. Jemanden, der sich nicht schämt, jemanden, der nicht erst nachdenkt.

Eine viertel Stunde später saßen wir knutschend im Bus.

"Warte mal, Jordan. Wo fährt dieser Bus eigentlich hin?“

"Na zurück zur Klinik.“

"Aber du wolltest doch zu deiner Mum und zu Sean.“

"Ich glaub nicht, dass ich das jetzt will.“

"Jordan, ich weiß es zu schätzen, aber du solltest das machen. Sean und du, ihr seid füreinander bestimmt.“

"Wie kannst du so was gerade jetzt sagen?“

"Ich will damit nicht sagen, dass mir das gefällt, aber es ist nun mal so. Ich war die letzten Monate bei dir und hab gesehen, wie du gelitten hast. Du musst rausfinden, ob du noch eine Chance hast. Sonst wirst du dich das auf ewig fragen.“

Ich wusste, dass er Recht hatte. Wir stiegen um und bald standen wir vor Klaus' Haus.

"Nicht schlecht. Echt nicht schlecht. Jetzt klingel schon.“

"Ich hätte vorher anrufen sollen … .“

"Jetzt ist es zu spät, wir stehen schon vor der Tür. Mach schon!“

Bald nachdem ich die Klingel gedrückt hatte, hörten wir Schritte. Klaus machte auf.

"Hallo. Ich weiß ich hätte anrufen sollen … .“

"Ja, das hättest du. Deine Mum ist nicht da.“

"Und Laura?“

Man hörte sie deutlich weinen, also konnte er schlecht lügen.

"Jordan, am besten gehst du einfach wieder“

"Aber mir geht es wieder besser. Wenn ich in einem Monat oder so entlassen werde, wo soll ich denn dann hin gehen?“

"Du bekommst natürlich das Geld, das dir zusteht. Mehr kann ich dir nicht anbieten.“

"Kannst du wenigstens Sean für mich anrufen? Ich will drüben nicht klingeln müssen.“

"Ich glaub nicht, dass das eine gute Idee ist.“

"Hast du mit ihm gesprochen?“

"Ich will mich da echt nicht einmischen.“

"Ich rede auf jeden Fall mit Sean. Zu Not muss ich eben doch klingeln. Also, bitte ruf ihn an. Wir warten hier.“

Er nickte und machte die Tür zu. Kurz darauf kam er zurück.

"Er kommt. Ich glaube nicht, dass er das da draußen klären will. Also kommt rein.“

Mum saß in der Küche.

"Jordan, ich kann einfach nicht.“

"Ich weiß. Ist schon gut.“

Sie ging nach oben. Laura lag auf der Couch. Ich fragte Klaus, ob ich sie hoch nehmen darf. Er nickte, stellte sich aber neben mich, als wolle er sichergehen, sie im Notfall auffangen zu können, deshalb legte ich sie gleich wieder hin. Einer von diesen peinlichen stillen Momenten begann, bis es endlich an der Tür klingelte. Klaus machte auf. Sean stand da. Er hatte sich verändert. Seine Haare waren dunkler und seine Kleidung wirkte erwachsener.

"Ihr könnt hoch in dein Zimmer gehen.“

Ich warf noch einen Blick zu Vince, der andeutete, er käme schon klar.

Mein Zimmer war unverändert. Sean setzte sich auf den Schreibtischstuhl, ich mich aufs Bett. Ich wusste nicht so recht, wie ich das Gespräch beginnen sollte. Ich spürte ganz genau, dass da nicht mehr mein Sean saß und das machte mich sehr traurig.


Sean

Er sah so anders aus, in knapp drei Monaten, die ich ihn nicht gesehen hatte, hatte er sich so verändert. Und die Nähe, die wir früher hatten, war einfach weg. Es saßen sich zwei Fremde gegenüber. Ich hätte fast zu heulen angefangen. Ich sagte irgendwas.

"Du siehst anders aus.“

"Ja, du auch.“

"Ich hatte einfach das Gefühl, dass es Zeit für eine Veränderung war.“

"Ja, das Gefühl kenne ich. Und der Sport tut mir gut … .“

"Das ist gut.“

Jordan wurde sehr direkt:

"Hör mal, ich will nicht lange drum rum reden. Ich weiß, ich habe viele Fehler gemacht und ich weiß mittlerweile auch, dass die Drogen nur ein Teil des Problems waren. Ich nehme auch Medikamente und es geht mir wirklich besser. Deshalb bin ich hier. Es ist viel Zeit vergangen. Ich muss wissen, ob wir noch eine Chance haben.“

Er wirkte sehr selbstbewusst, aber ich hatte das Gefühl, es ginge ihm nicht wirklich um eine Chance, sondern um einen Abschluss.

"Jordan, ich weiß, was ich dir versprochen habe. Ich habe dir versprochen, dass ich immer für dich da bin und das war ich in den letzten beiden Monaten nicht und das tut mir leid. Ich will für dich da sein. Aber ich kann nicht mit dir zusammen sein. Es geht einfach nicht. Aus so vielen Gründen.“

Er schien nicht überrascht zu sein. Er reagierte sehr ruhig, nicht so impulsiv, wie ich ihn gewohnt war.

"Ja und ich kenne sie alle. Ich verstehe.“

"Einen möchte ich dir aber nennen. Ich tu dir nicht gut. Ich kann nicht anders, ich kann nicht offen zu dir stehen und das wird dich immer verletzten. Und dadurch kam es überhaupt erst zu der ganzen Sache. Ich kann dich nicht glücklich machen, ich kann dir nicht das geben, was du brauchst. Ich muss diese Entscheidung zu unser beider Wohl treffen. Es tut mir leid.“

Ich setzte mich neben ihn und redete weiter, sagte ihm die Wahrheit.

"Bitte versteh das. Ich muss weiter machen, auch wenn es mir das Herz bricht. Ich liebe dich viel zu sehr, als dass ich noch weiter mit dir zusammen sein könnte, weil ich weiß, dass es dich zerstören würde.“

"Also war das alles? Es ist vorbei?“

"Ich will trotzdem für dich da sein … .“

"Du bist jetzt mit ihr zusammen, oder?“

"Ja. Tut mir leid.“

"Das muss es nicht. Ich will nur, dass du glücklich bist. Aber unter diesen Umständen will ich nicht, dass wir Kontakt haben. Vorerst. Ich muss jetzt erst mal sehen wo ich bleibe. Und euch Beide dabei immer vor Augen zu haben, das könnte ich nicht. Ich geh jetzt. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege irgendwann mal wieder. Das wünsch ich mir. Aber momentan will ich dich ganz oder gar nicht.“

Ich verstand ihn, aber ich wollte ihn nicht verlieren. Ich wollte ihn anbetteln, mich zurückzunehmen, aber mein Kopf sagte mir, dass das nicht richtig wäre. Er stand auf und ging nach unten, ohne sich umzuschauen. Ich legte mich aufs Bett und weinte in das Kissen, das so sehr nach ihm roch. Die ganze Zeit über hatte ich mir vorgemacht, dass es meine Entscheidung war und dass ich ihn auch jederzeit zurückhaben konnte, wenn ich das wirklich wollte. Erst gerade jetzt hatte ich diese Möglichkeit verloren und mir wurde klar, dass ich ihn damit endgültig verloren hatte. Ich wusste, dass er der Eine für mich war und dass ich niemanden jemals wieder so sehr lieben konnte. Aber wir konnten nicht zusammen sein. Ich konnte es einfach nicht fassen.


Jordan

Meine Augen waren trocken, ich war erstaunlich gefasst, als ich den Raum verließ. Ich ging nach unten zu Klaus und Vince. Der schaute mich nur einmal an und wusste anscheinend Bescheid. Er reagierte genau richtig, stand auf, verabschiedete sich und ging mit mir zur Tür. Wir gingen ohne zu reden zur Bushaltestelle. Erst da griff ich nach seiner Hand.

"Es ist vorbei. Ich will nicht mehr zurückschauen. Ich will ab jetzt einfach deine Hand halten und sehen, was die Zukunft bringt. Ist das für dich okay?“

"Das ist mehr als okay.“


Sean

Nach einer Weile kam Carol zu mir ins Zimmer ihres Sohnes. Sie streichelte mir mütterlich den Rücken. Auch sie hatte geweint, das konnte ich sehen. Sie gab mir Taschentücher und nahm mich in den Arm.

"Es tut mir leid, Sean. Ich hätte wissen müssen, dass es so ausgeht. Ich hätte nicht zulassen sollen, dass du dein Herz so an ihn hängst. Ich wusste, dass er früher oder später wieder der Alte werden würde.“

"Aber es war doch nicht seine Schuld. Ich war einfach zu feige.“

"Nein, glaub mir, um mit jemandem wie Jordan zusammen zu sein, der so wenig darauf gibt, angepasst zu sein und der einfach immer seinen Gefühlen folgt, egal ob sie ihm sagen, zu seinem Freund zu stehen oder ein Messer zu nehmen und sich die Hand zu zerschneiden … .“

Sie brach ab und fing wieder an zu schluchzen.

Ich redete viel mit Emily darüber. Sie hörte mir gerne zu und fühlte sich dadurch scheinbar auch nicht bedroht. Für sie schien klar, dass ich nie wieder mit Jordan zusammenkommen würde. In meinem Kopf malte ich mir allerdings aus, wie er sich mit der Zeit verändern würde und irgendwann, wenn ich auf eigenen Beinen stand und nicht mehr von meinen Eltern abhängig war, dann würden wir uns zufällig wieder treffen. Diese Vorstellung gab mir die Hoffnung, die ich brauchte, um einfach weiterzumachen. Ich arbeitete, ich traf Emily und ich bereitete mich auf die Chemie-Abschlussprüfung im Juli vor, um meine Eins minus zu verbessern. Und auch weil ich hoffte, Jordan dort zu sehen.


Jordan

In der Klinik war es nicht einfach, wir hatten viel zu wenig Privatsphäre, machten aber kein Geheimnis draus, dass wir jetzt zusammen waren, auch wenn unsere Therapeuten uns davon abrieten. Aber natürlich waren alle körperlichen Annäherungen sehr begrenzt. Ich versuchte, mich mit Lernen und Sport abzulenken, Vince gab einen Malkurs für Patienten.

Dann kamen im Juli die Abschlussprüfungen. Vier Stück, über zwei Wochen verteilt. Vince kam wieder mit. Die ersten beiden verliefen ohne größere Vorkommnisse. Die dritte war Chemie. Vince und ich standen in einer ruhigen Ecke und warteten darauf, dass der Raum aufgesperrt wurde. Vince erzählte mir gerade, dass er nachher wieder zu Owens gehen und den lieben Schülern etwas über die Kunst der Steinzeitmenschen erzählen würde. Ich schaute über seine Schulter und da stand Sean. Reflexartig ließ ich Vinces Hand los.

"Was macht der denn hier?“

"Warum lässt du meine Hand los?“

"Da ist Sean!“

"Und?“

"Tut mir leid, er weiß eben noch nichts von uns.“

"Willst du rüber gehen und es ihm sagen?“

"Was?! Nein! Natürlich nicht!“

"Dann nimm meine Hand, das ist die einfachste Möglichkeit, es ihn wissen zu lassen.“

"Du hast Recht. Es tut mir leid. Es ist nicht so, dass ich es vor ihm verheimlichen wollte...“

"Jordan, ich verstehe das. Ich hab es auch nicht so aufgefasst. Willst du mit ihm reden oder so?“

"Nein, vielleicht nach der Prüfung, aber jetzt nicht.“

Bald kam der Lehrer, ich bekam noch einen Glückskuss und ging als einer der Letzten rein.

Während der Prüfung konnte ich zum Glück verdrängen, dass Sean im Raum war.


Sean

Die Chemie-Abschlussprüfung und natürlich war er da. Ich sah ihn in einer Nische stehen. Mit Vince. Sie hielten sich an den Händen und tuschelten miteinander. Ich war total vor den Kopf gestoßen. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich schaute schnell in eine andere Richtung. Um mich herum redeten die Leute leise über sie.

Nach der Prüfung ging ich neben Jordan raus. Natürlich war es seltsam. Aber irgendwas musste ich doch sagen.

"Ich dachte ich sollte wenigstens mal hallo sagen. Also: Hallo.“

"Hey, ich wusste gar nicht, dass du die Prüfung mit schreibst.“

Er war so lässig und ausgeglichen.

"Ich hatte die Chance, meine Note zu verbessern, deshalb.“

"Ja, das sieht dir ähnlich. Jeder Andere wäre froh, es hinter sich zu haben.“

Er wirkte total … gesund. Fröhlich und selbstsicher, im Reinen mit Allem. Er schien sich auch wohl dabei zu fühlen, sich mit mir zu unterhalten. Es war ein Monat vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten.

"Ja, ich weiß. Jedenfalls, … ich geh gleich in die Kantine, die Clique treffen. Kommst du mit?“

"Oh, ich weiß nicht … Ich würde schon gern mal alle wieder treffen, aber Vince holt mich ab … .“

Ja, DAS hatte ich auch schon mitbekommen.

"Ach so, naja, überlege es dir. Ich hab vorher übrigens gesehen, ihr Beide … .“

"Ja, wir Beide. Es kam recht überraschend. Aber ich fühl mich richtig gut dabei.“

Ja, das sah man. Ich war eifersüchtig.

"Das freut mich, wirklich. Und was ist mit diesem älteren Freund, den er hatte?“

"Du hast das nicht mehr mitbekommen? Er ist gestorben. Vor drei Monaten.“

"Was?! Warum?“

"AIDS. Sie wussten es schon eine ganze Weile. Vince war ziemlich am Ende.“

Ich merkte, wie ich Angst um Jordan bekam.

"Ist er auch krank?“

"Nein. Schau nicht so besorgt, ich pass schon auf mich auf.“

Ich hatte ihn noch nie so sicher erlebt. Ich wusste, dass er auf sich achten würde.

Vince kam mit einer Horde Schüler an. Er küsste Jordan einfach so, als sei es das Normalste auf der Welt und dadurch wurde es zum Normalsten auf der Welt. Die Beiden redeten kurz darüber, was sie jetzt vorhatten und Vince zog mit seinem Anhang wieder ab. Jordan guckte ihm lächelnd hinterher. Das machte mich einerseits froh, andererseits auch traurig. Ich hatte das Gefühl, wir entfernten uns immer weiter voneinander.


Jordan

Vince war umschwärmt von einem Dutzend Schülern. Ganz selbstverständlich kam er auf mich zu und küsste mich zur Begrüßung.

"Hallo Sean. Na wie war eure Prüfung?“

"Ich denke es war ganz gut.“

"Ja, bei mir auch. Also, was haben all diese Menschen zu bedeuten?“

"Darf ich vorstellen? Das ist der AK Pausenhofverschönerung. Ich wurde gebeten, ein Stück Mauer zu verschönern. Ich denke mal, das würde so ein oder zwei Stunden dauern. Hast du Lust drauf?“

"Ich würde erstmal ein paar alte Freunde treffen und dann nachkommen.“

"Perfekt, also, wo geht's lang?“

Er wurde von der Traube Richtung Pausenhof geschoben.

"Dieser Vince. Wahnsinn. Ich denke er ist genau das, was du brauchst. Wirklich, ich bin froh dich mal wieder lächeln zu sehen.“

Wir gingen zur Kantine, wo die Anderen schon waren. Ein Typ aus der Schwimmmannschaft saß neben Hannah und hatte den Arm um sie gelegt. Auch Tanja hatte einen neuen Freund, den ich vom Sehen kannte. Susi und Alex waren da und auch die anderen Mädels. Ich redete zwar nicht viel, aber die Anderen umso mehr. Susi trat irgendwann ins Fettnäpfchen und fragte nach Emily. Sie kannten sich anscheinend mittlerweile gut. Alle schauten mich recht betroffen an, aber ich winkte ab.

"Schon gut, das ist okay. Ich hab … .“

Wie auf sein Stichwort kam Vince in die Kantine. Er hatte überall Farbkleckse auf seinen Klamotten, in den Haaren, im Gesicht …

"Das ist Yadis! Was macht der denn hier?“

Die Anderen schauten Tanja erstaunt an.

"Wer ist das?“

"Man, er ist ständig im Kulturteil der Zeitung. In echt sieht er ja noch besser aus. Er hat zum Beispiel das Meerjungfrauen-Bild im Einkaufszentrum gemacht.“

Das kannten die Anderen auch.

"Und was macht der nun hier?“

Alex meinte leicht angenervt, über so viel Enthusiasmus bei den Frauen:

"Seht ihr doch! Er kauft sich was zu trinken.

Susi wusste es natürlich genauer:

"Dann ist er vermutlich der Maler, der mit dem AK Pausenhofverschönerung die Wand anmalt.“

Tanja war ganz aus dem Häuschen.

"Ernsthaft? Das muss ich mir anschauen. Moment, kommt der etwa hier rüber?“

Sean grinste.

"Ja, ich glaube er kommt hier her. Meine Damen, ihr werdet gleich sehr enttäuscht sein.“

Ich verdrehte die Augen.

"Das wollte ich euch grad sagen. Es ist okay, wenn ihr vor mir über Emily redet, ich bin mittlerweile auch mit jemand Neuem zusammen.“

Vince stand schon hinter mir.

"Da kam ich ja gerade richtig. Hallo zusammen. Vince Yadis.“

Die meisten brachten ein Hallo über die Lippen.

"So, ich mach mich mal wieder an die Arbeit.“

"Warte, du hast blaue Farbe am Auge, ich mach dir das weg.“

Ich stand auf und wischte vorsichtig den Klecks weg.

"Bei all der Farbe auf dir frag ich mich, ob überhaupt was auf der Wand gelandet ist. Was dagegen, wenn ich dir zuschaue?“

"Ganz im Gegenteil, je mehr Publikum, desto besser male ich.“

Tanja sprang gleich auf und auch Sean schloss sich an.

Vince hatte schon viel Kontur in verschiedenen Farben vorgemalt und die Schüler aus dem AK malten aus. Etwa acht Meter Wand waren weiß grundiert. Man erkannte viele Pflanzen mit den verschiedensten Blättern, Blüten und Insekten. Aber es war kein wahlloses Durcheinander, sondern alles befand sich, wie ich fand, irgendwie in Harmonie.

Sean war ebenfalls begeistert.

"Und das hast du jetzt alles in der halben Stunde gezeichnet?“

"Ach, nur die Konturen. Das ist Übungssache.“

Tanja starrte immer noch auf das Bild.

"Ich hoffe ich bin irgendwann auch so gut … .“

"Du malst? Na dann, ab an den Pinsel. Hier. Ich denke hier am Rand sollte noch ein Baum mit starken braunen Stamm hin.“

"Um Tiefe rein zu bekommen, stimmt's?“

"Ganz genau. Also, leg los!“

"Aber was wenn ich etwas falsch mache?“

"In der Kunst gibt es kein Richtig und kein Falsch. Mal einfach. Was ist mit euch Beiden? Wollt ihr euch nicht nützlich machen?“

Ich ließ mich nicht zweimal bitten und fing an, Blätter auszumalen. Sean zögerte, wie immer. Vince schaute ihn fragend an.

"Ich bin nicht gut in so kreativen Dingen … .“

"Weil du zu viel nachdenkst. Du denkst die Dinge kaputt. Wovor hast du eigentlich Angst? Was denkst du passiert, wenn du einen Fehler machst?“

Vince redete sehr laut, Sean fing es schon an, peinlich zu werden, das konnte ich sehen.

"Ich weiß nicht … .“

"Denkst du, wenn du ein Blatt lila anmalst geht die Welt unter?“

"Nein … .“

"Denkst du, wenn du in der Öffentlichkeit einen Mann küsst, geht die Welt davon unter?“

Sean sah sich um. Die meisten hatten aufgehört zu malen und hörten zu.

"Ehrlich gesagt, ja … .“

"Mal sehen.“

Er hielt Seans Gesicht fest und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Für ein paar Sekunden blieb er so. Dann ließ er ihn los und schaute sich nach allen Richtungen um.

"Siehst du? Alles noch da. Die Welt ist nicht untergegangen. Und jetzt schnapp dir einen Pinsel.“

Sean gehorchte und machte sich, blass wie er war, an die Arbeit. Die Andern grinsten vielleicht kurz, aber sonst gab es keine Reaktion.


Sean

Ich machte, dass ich weg kam und schaute forschend in die Gesichter der Umstehenden. Ich konnte wirklich nicht glauben, dass tatsächlich niemand reagierte. Ich malte stur Blätter aus und dachte dabei darüber nach, wie es wohl wäre, Jordan in der Öffentlichkeit, vor vielen Menschen, zu küssen. Ich würde es wohl nie erfahren, selbst wenn ich wollte.


Jordan

Vince kam zu mir.

"Alles okay?“

"Ja, das hätte ich schon längst tun sollen.“

"Vielleicht. Wahrscheinlich warst du nicht in der richtigen Position. Aber du bist in der richtigen Position, mich zu küssen, wann immer und wo immer du willst.“

"Ich weiß. Und das gleiche gilt für dich. Ich hab genug vom Verstecken und Heimlichtuerei.“

"Gut.“

Nach eineinhalb Stunden war das Bild tatsächlich fertig. Und es war gut geworden. Man sah, dass verschiedene Menschen daran gearbeitet hatten, aber genau wie das Motiv an sich, waren auch die unterschiedlichen Stile in Harmonie miteinander. Als ich das Vince sagte, meinte er nur, ich hätte das Prinzip verstanden.

Auch meine letzte Prüfung verlief ganz gut. Jetzt hieß es zwei Wochen warten, bis die Ergebnisse da waren. In der Klinik war langsam die Rede davon, dass ich entlassen werden könnte. Die Medikamente waren runter dosiert und ich fühlte mich gut. Ich wusste, dass die Ärzte auch mit Vince über seine Entlassung sprachen. Eines Montag Morgen kam mein Therapieplan, aber Vince bekam keinen.

"Jordan, wir sollten reden.“

"Oh oh.“

"Ich werde bald entlassen. Und ich muss noch einiges regeln. Davids Eltern haben für mich die Wohnung aufgelöst. Ich schau mir heute ein paar neue Wohnungen an.“

"Oh, okay. War ja klar, dass der Tag kommen würde. Und du willst nicht in der alten Wohnung bleiben?“

"Nein, ich such auch keine Wohnung für lange. Ich will eigentlich möglichst bald nach L.A.“

"Ja, das weiß ich … .“

"Ich will dass du mitkommst.“

"Wirklich? Wie stellst du dir das vor? Ich hab kein Geld, ich hab gar nichts.“

"Geld ist kein Problem. Meine Bilder werfen mittlerweile genug ab. Und ich hab natürlich auch das Geld von David geerbt. Und dich hält hier doch nichts mehr, oder?“

"Nein, ich will nach L.A. Sobald ich den Abschluss in der Tasche habe.“

"Und das ist ja bald. Also kommst du mit?“

"Auf jeden Fall.“

Vince zog also übergangsweise in eine kleine Wohnung nahe der Klinik. Dort lebte er fast völlig aus dem Koffer, denn seine Sachen hatte er radikal entrümpelt und den Rest in Kisten verpackt.

Am Tag der Abschlussfeier wurde ich entlassen. Gemeinsam gingen Vince und ich am Morgen zu Klaus und Mum und holten meine Sachen. Endlich hatte ich meine Gitarre wieder bei mir und der Boxsack, der seit Jahren nur noch als Kleiderständer gedient hatte, würde auch endlich wieder benutzt werden. Mum erkundigte sich, was ich denn jetzt vorhabe.

"Wir ziehen nach L.A, die Sachen sind schon gepackt. Da werd ich mich erst mal nach einer Band umschauen und im Herbst aufs College gehen.“

Die Beiden sicherten mit zu, dass sie natürlich etwas zu meinen College-Gebühren beisteuern würden. Dann verabschiedete ich mich von Laura und ging. Es war seltsam. Alles wovor ich Angst gehabt hatte, war eingetreten. Ich war wieder in der Psychiatrie gelandet, hatte Sean verloren und Mum enttäuscht. Und trotzdem fühlte ich mich seltsam befreit, fast glücklich.


Sean

In den nächsten Wochen träumte ich jede Nacht von Jordan, das erzählte ich Emily aber nicht. Ich konnte die Tage bis zur Abschlussfeier kaum erwarten, denn da würde ich ihn bestimmt wiedersehen. Aber was dann? Vince würde bestimmt auch da sein. Ich hatte ja noch den ganzen Sommer Zeit, wir waren schließlich Nachbarn. Ich wollte ihn zurück, aber ich durfte ihm die Sache mit Vince nicht kaputt machen. Schon gar nicht, solange ich nicht sicher war, dass ich wirklich bereit dazu war, offen zu ihm zu stehen. Und ich war mir alles andere als sicher. Und dann war da noch Emily. Ich mochte sie wirklich, vielleicht liebte ich sie sogar, aber nicht so sehr wie ich Jordan liebte. Ich beschloss, den Abschlussball abzuwarten und herauszufinden, wann Jordan entlassen werden würde.


Jordan

Es kam also der Nachmittag und ich hielt mein gar nicht so schlechtes Zeugnis in den Händen. Mum und Klaus waren da. Dad hatte Glückwünsche gesendet. Am Abend fand der Abschlussball statt. Die ganze Clique teilte sich einen großen runden Tisch. Lauter Pärchen. Emily war auch dabei, aber es machte mir nichts aus. Sean lachte mit ihr und tanzte und war unbeschwert, darum freute ich mich. Nostalgie lag in der Luft, so wie es sich für einen Abschlussball gehörte. Alle tauschten Geschichten über die Schulzeit aus. Abschiedsschmerz machte sich breit. Die Musik wurde immer schnulziger. Natürlich musste ich tanzen, auch wenn ich mich noch so sträubte, aber Vince drohte damit sonst Mrs. Mando, unsere schrullige Mathelehrerin, aufzufordern. Zwischendurch trafen sich alle wieder am Tisch, um vom Tanzen zu verschnaufen und Fruchtpunsch zu trinken. Dieser Punsch schmeckte wie der auf Seans Party damals. Auch ich merkte, wie ich diesen alten Zeiten in Gedanken hinterher hing. Sean ging es wohl ähnlich, denn er suchte des Öfteren meinen Blick. Alle erzählten gerade von ihren Plänen für den Sommer und wo sie studieren würden. Jemand fragte mich nach meinen Plänen. Es war der richtige Augenblick.

"Wir ziehen nach L.A. Ich will dort Musik machen und im Herbst aufs College gehen.“

"Cool. Wann geht es los? "

"Unsere Sachen sind schon gepackt. Wir fahren morgen.“

Ich schaute zu Sean. Er war getroffen davon, dass ich nicht mehr da sein würde, das konnte ich sehen.

"Dann ziehst du gar nicht mehr zu deiner Mutter und Klaus?“

"Nein, so ist es besser. Gleich morgen früh sind wir weg.“


Sean

Vor dem Ball holte ich Emily zu Hause ab. Den ganzen Tag über war ich schon in nostalgischer Stimmung und im Auto erzählte ich von all den Hochs und Tiefs, die die Clique zusammen erlebt hatte. Eine Ära ging zu Ende. Wir würden uns im Herbst in alle Winde verstreut haben. Kurz nach uns kamen auch Jordan und Vince. Emily rutschte nervös auf ihrem Stuhl rum, also zog ich sie auf die Tanzfläche. Die Anderen folgten. Zu meinem Erstaunen auch Jordan und Vince. Eigentlich hätte mich das nicht mehr überraschen dürfen. Ich beobachtete die Beiden über Emilys Schulter und stellte mir vor, wie es wohl wäre, an Vince Stelle zu sein. Die Leute beachteten sie gar nicht weiter. Später saßen wir wieder am Tisch und nachdem wir ewig über Vergangenes gesprochen hatten, fragte jemand nach unseren Zukunftsplänen. Als Jordan plötzlich erzählte, er würde schon am nächsten Tag mit Vince nach L.A. gehen, hatte ich das Gefühl, einen Huftritt gegen die Brust zu bekommen. Ich hatte gedacht, ich hätte ihn den Sommer über bei mir, ich war davon ausgegangen, dass ich die Gelegenheit haben würde, mich ihm zu beweisen. Stattdessen würde er einfach so aus meinem Leben verschwinden. Ich musste etwas tun. Pflichtbewusst tanzte ich mit Emily. Sie merkte natürlich, wie sehr mich das getroffen hatte. Ich konnte nicht aufhören, Jordan anzustarren, wie er sich, seine Arme um Vince geschlungen, langsam zur Musik bewegte. Ich konnte ihn nicht einfach so gehen lassen. Ich musste … ja was eigentlich? Ich musste ihm sagen, was ich fühlte, dass ich ihn immer noch liebe und dass ich nicht will, dass es zwischen uns aus ist.


Jordan

Es war schon fast zwölf. Lang würde der Abend nicht mehr dauern. Vince zerrte mich nochmal auf die Tanzfläche. Sean, der mit Emily tanzte, suchte immer wieder meinen Blick. Bei einer ruhigen Nummer löste er sich von Emily und bewegte sich in meine Richtung. Vince bemerkte es auch.

"Ich warte am Eingang. Verabschiede dich richtig von ihm.“

Er gab mir einen Kuss auf die Wange und verschwand. Zu meiner Überraschung legte Sean seine Arme dahin, wo gerade noch Vinces waren und wir tanzten.

"Dann ist das wohl der Abschied. Ich dachte, du wohnst den Sommer über noch neben mir. Ich bin noch nicht darauf vorbereitet.“

"Im Herbst kommst du doch auch nach L.A.“

"Das wird nicht das Gleiche sein. Die Stadt ist so groß. Wir werden uns aus den Augen verlieren.“

"Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich. Wir sollten uns verabschieden. Egal ob wir uns in L.A. sehen oder nicht, es wird anders sein. … Aber wir hatten eine interessante Zeit, was?“

"Das kann man sagen. Es tut mir leid … .“

"Das muss es nicht. Du hast getan, was du konntest. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt.“

"Irgendwann, Jordan, irgendwann habe ich vielleicht den Mut dazu, mit dir zusammen zu sein.“

"Vielleicht, aber darauf kann ich nicht warten.“

"Ich weiß. Aber bitte vergiss nie, wer du für mich bist. Ich werde niemals jemanden so lieben wie dich, da bin ich mir sicher.“

"Sean, ich weiß. Das weiß ich doch. Es hat nur einfach nicht gereicht. Da kann niemand was dafür.“

"Ich weiß, dass du bei Vince gut aufgehoben bist. Er ist großartig und ich bewundere ihn. Er ist so unerschrocken. Ich wünschte ich hätte für dich so unerschrocken sein können.“

"Schon gut … .“

"Nein, es ist nicht gut. Ich lasse dich nicht gehen, ohne das zu tun … .“

Er zog mich ganz dicht an sich und küsste mich. Mitten auf der Tanzfläche, vor seinen Mitschülern und Lehrern. Und es war kein kurzer, verstohlener Kuss, sondern einer, der sich sehen lassen konnte und auch gesehen wurde. Ich machte die Augen wieder auf und wich ein Stück zurück. Er schaute mich traurig an.

"Jordan, ich will nicht, dass es vorbei ist.“

"Ich gehe jetzt. Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Mach's gut.“

Ich ließ ihn allein auf der Tanzfläche zurück und ging zum Ausgang, wo Vince wartete. Er nahm meine Hand und zusammen gingen wir hinaus. Was für ein symbolträchtiger Augenblick.

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