zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Erdkinder

Teil 2 - Das Dorf

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Endlich hatte es aufgehört zu regnen und die Luft wurde wieder wärmer. Langsam ritt eine einsame Gestalt aus dem Wald und blinzelte in die Sonne. Der Reiter hatte seit Tagen weder den Himmel gesehen, noch die Wärme der Sonne auf seiner Haut gespürt. Und nun überkam ihn die Hitze mit einer solchen Wucht, dass dem jungen Mann schon nach wenigen Minuten kleine Rinnsale von Schweiß den Rücken hinunter flossen.

Lymias ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen, die vor ihm lag. Saftig grüne Wiesen, welche die sanften Hügel bedeckten, vereinzelte Bäume und Holunderbüsche, die einen Fluss säumten. Kurz schloss er seine Augen und sog gierig jede Kleinigkeit auf, die von Leben zeugte. Kleine Insekten schwirrten um ihn herum, Vögel zwitscherten vergnügt, der warme Wind streichelte liebevoll über flache Hügel und ließ die Grashalme unter seiner Berührung vor Ekstase erzittern. Die Welt um ihn herum fing endlich wieder an zu erwachen.

Erleichtert, den dunklen Wald halbwegs unversehrt hinter sich gelassen zu haben, ritt Lymias einer Gruppe von Bäumen und Büschen entgegen, die an den Fluss grenzte. Es war weit und breit keine einzige Wolke zu sehen, nur strahlend blauer Himmel. Dort angekommen stieg Lymias von seinem Pferd ab und befreite es von Sattel und Zaumzeug. Das Tier wieherte zufrieden, als der junge Mann es sanft streichelte und dann frei auf der Wiese grasen ließ. Lymias lächelte, als sein Ross ihn sanft in die Seite stupste. Der gefahrvolle Ritt durch den Wald hatte die beiden zusammen geschweißt, sodass er sich keine Sorgen machen brauchte, dass sein Weggefährte ihm davon laufen könnte.

Er lief um die Holunderbüsche herum, welche links von ihm standen, befreite sich von seinen eigenen Gewändern und ging zum Fluss, um sich zu waschen. Bis zu den Knöcheln lief Lymias ins Wasser und jauchzte überrascht auf. Es war glasklar und trotz der Wärme, die herrschte, eiskalt. Im Nu war sein ganzer Körper mit einer prickelnden Gänsehaut überzogen. Er kniete sich nieder, tauchte seine Hände in das Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Dabei beobachtete der junge Mann die Strömung des Flusses und beschloss, sich ein wenig im kühlen Nass auszutoben, da diese nicht besonders stark war.

Lymias ging tiefer ins Wasser und begann vorsichtig zu schwimmen. Ein leichter Schmerz durchzuckte seinen Körper und ließ ihn kurz in seiner Bewegung innehalten. Die Wunden seines letzten Kampfes waren noch immer nicht vollkommen verheilt und machten sich jetzt wieder bemerkbar. Der junge Mann biss die Zähne zusammen und fing wieder an zu schwimmen. Das Wasser war nicht nur erfrischend, es kühlte seine Verletzungen, reinigte seinen Körper und auch seine Seele.

Eine ganze Weile paddelte er im Fluss herum, ließ sich treiben und genoss die sanfte Berührung des Wassers. Als es Lymias zu kühl wurde, schwamm er ans Ufer zurück und suchte die Stelle, wo er seine Gewänder abgelegt hatte. Die Strömung des Flusses hatte ihn weiter weggetrieben als er dachte, so musste er ein ganzes Stück laufen, ehe er den Platz mit seinen Sachen wieder fand. Etwas zitternd trocknete Lymias sich ab und setzte sich kurz in die Sonne, um sich aufzuwärmen.

Dann nahm er seine Gewänder, ging zum Fluss und unterzog sie einer gründlichen Reinigung. Dies nahm einige Zeit in Anspruch, da der lange Ritt durch den Wald und der ständige Regen seine Sachen sehr mitgenommen hatten. Als der junge Mann fertig war, legte er seine Gewänder zum Trocknen in die Sonne und sich gleich daneben in den Schatten.

Auf dem Rücken liegend, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und ein Bein aufgestellt, schaute Lymias in den strahlend blauen Himmel und kaute auf einem Grashalm herum. Er genoss die strahlende Sonne, den lieblichen Duft der Honigbäume und das Summen der roten Bienen, die sich um den süßen Nektar, der sich an den Spitzen der Honigblätter bildete, stritten. Der warme Wind wehte sanft über seinen Körper und ließ kurz ein Gefühl der Erektion in ihm aufkommen. Zu einer anderen Zeit wäre er seinen Gelüsten immer nachgegangen, aber dieses Mal verging der Reiz daran genauso schnell, wie er gekommen war. Zu viele Gedanken schwirrten in Lymias' Kopf herum, zu viele Erinnerungen, die er jeden Tag erneut zu verdrängen versuchte. Sein Herz wurde schwer. Er wollte sich diesen schönen Tag durch keinen seiner düsteren Gedanken vermiesen, aber kaum hatte der junge Mann seine Augen geschlossen, sah er Bilder, die er nicht sehen wollte, nahmen Dinge in der Vergangenheit ihren Lauf, die er nur zu gern verhindert oder geändert hätte.

So fiel Lymias in einen unruhigen Schlaf, der alles andere als erholsam war. Kurz vor Anbruch der Nacht erwachte er durch einen seltsamen Traum. Ein Junge mit kurzem silbernem Haar kam langsam auf ihn zu. Beide waren von einem mystischen Nebel umgeben, durch den nur gedämpft etwas Licht schimmerte. Der Junge war so weit an Lymias herangetreten, dass er dessen Atem auf der eigenen Haut zu spüren glaubte. Erst jetzt bemerkte er, dass die Augen des Jungen genauso silbern glänzten wie sein Haar. Beide waren unbekleidet. Der Nebel war jedoch so dicht, dass nur das Antlitz des Gegenübers zu erahnen war. Der Silberschopf hob seine Hand und berührte, fast schüchtern, Lymias Brust. Ein warmer Schauer durchfloss ihn. Er wollte dem Jungen ebenso über die Haut streicheln, doch er war zu keiner Bewegung fähig. Starr blickte Lymias in die strahlenden Augen des Jungen, die ihn verschmitzt anlächelten. Der Silberschopf kam darauf hin noch näher an ihn heran, sodass sich ihre Körper berührten. Die linke Hand des Jungen wanderte hinunter und blieb auf dem Po des Mannes liegen. Die Rechte drückte sanft auf Lymias' Rücken und zog ihn dichter an den Silberschopf. Sein Herz fing wild an zu pochen. Das einzige, was er jetzt noch wollte, war sich vollends mit diesem Geschöpf zu verbinden. Als hätte der Junge seine Gedanken gelesen, kamen die Lippen des Silberschopfes den seinen entgegen, glitten aber daran vorbei und blieben an seinem rechten Ohrläppchen kleben. Zärtlich streichelte der Junge über Lymias‹ Po und liebkoste mit den Fingerspitzen seinen Rücken. Spielerisch knabberte der Silberschopf dabei an seinem Ohr... und auf einmal biss der Junge mit voller Kraft hinein.

Erschrocken öffnete Lymias die Augen und richtete sich halb auf. Als er ein Wiehern hörte, schaute er verstört zur Seite. Knapp neben ihm stand sein Pferd und schien ihn belustigt anzugaffen. Sein Ohr war immer noch vom Speichel verklebt und nun wusste auch Lymias, wer daran schuld war. Ein wenig verärgert stand er auf, gab seinem Freund einen Klaps und ging hinunter zum Wasser um sich kurz zu waschen. Nicht nur sein Ohr war verklebt. Der Traum war dann doch zu gut gewesen, trotz der frühzeitigen Unterbrechung.

Als er mit sich und der Welt halbwegs zufrieden war, ging er zu seinen Sachen, um sich anzukleiden. Langsam wurde es dunkel und damit auch ein wenig kühler. Zum Glück hatte die Sonne all seine Kleider getrocknet, so konnte er seinen Mantel guten Gewissens zusammenrollen und hinter seinen Sattel schnallen. Lymias hatte sein Pferd wieder gesattelt und das Zaumzeug umgelegt. Sein Weggefährte wieherte kurz und schaute ihn erwartungsvoll an.

Der junge Mann hatte sein wenig Hab und Gut zusammen geräumt und auf seinem Pferd fest gezurrt. Aber irgendetwas fehlte, er spürte es. Irgendetwas war nicht da, wo es hingehörte und als eine leichte Brise sich in Lymias‹ Haar verfing, wusste er auch, was es war. Das dunkelgrüne Band, welches sonst sein schulterlanges Haar bändigte, fehlte. Er hatte es doch ausgewaschen und dann zum Trocknen an einen Zweig des Holunderbusches gebunden.

Suchend schaute er sich um, aber nirgends konnte er sein Band finden. Lymias ging von Gebüsch zu Gebüsch, von Baum zu Baum, jedoch blieb das Band verschwunden. Noch ein letztes Mal blickte er zu dem Platz, wo er gelegen hatte, zuckte dann mit den Schultern und schwang sich auf sein Pferd. Dieses schnaubte vergnügt und trabte mit seinem Herren auf dem Rücken der untergehenden Sonne entgegen.

Lymias genoss die abendliche Stille. Grillen fingen an zu zirpen, kleine nachtaktive Tiere erwachten und schlichen sich über die Wiesen, auf der Suche nach etwas zu fressen. Der junge Mann lauschte den gedämpften Hufschlägen seines Pferdes und begann nachzudenken. Die Sache mit seinem Band ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Gestohlen konnte es bestimmt keiner haben. Wer stiehlt schon ein wertloses Haarband und lässt einen Beutel voller Gold liegen? Spuren von Fußabdrücken oder ähnliches hatte er auch nicht gefunden. Außerdem spürte Lymias schon immer die Anwesenheit eines anderen Lebewesens auf mehrere Meter Entfernung, selbst im Schlaf. Der Wind war nicht so stark gewesen, dass das Band hätte weggeweht werden können. Außerdem hatte er einen festen Knoten gemacht, ein abgeknickter Zweig war auch nicht zu finden gewesen.

Ein durchdringender Geruch ließ den jungen Mann seine Gedanken wieder ordnen und aufschauen. Er spürte, dass ein Dorf, mit gut 30 Menschen, in der Nähe sein musste. Es widerstrebte Lymias sich wieder unter Leute zu begeben, aber seine Vorräte hatte er im Wald vollkommen aufgebraucht und bis auf ein paar Fische im Wasser und Kleintiere auf den Wiesen war nicht viel Wild zum Jagen in dieser Gegend.

Er beschloss nur kurz in dem Dorf zu verweilen, seine Vorräte aufzustocken und sich gleich wieder auf den Weg zu machen. Der junge Mann wusste, dass in manchen Dörfern Fremde nicht gerade willkommen geheißen wurden, dieses Mal legte er darauf auch keinen besonderen Wert. Er lenkte seinen Freund auf einen schmalen Pfad, der auf einmal die Wiese schnitt und ritt dem kleinen Nest entgegen.

Die Leute beäugten Lymias misstrauisch, als er in ihr Dorf einritt. ›Tja, auf Manches ist halt immer Verlass.‹, dachte der junge Mann und verkniff sich sein Grinsen. Schon am Anfang hatte er diesen durchdringenden Duft wahrgenommen und je näher er dem kleinen Nest gekommen war, desto intensiver wurde dieser. Es war der beißende Geruch von Fäkalien und Krankheit.

Lymias spielte schon mit dem Gedanken, einfach weiter zu reiten, aber ein Mann versperrte ihm nun den Weg und wollte einfach nicht zur Seite weichen. Er hatte keine Lust auf irgendwelche Streitigkeiten, deswegen stieg der junge Mann ab und ging auf den Anderen zu. Dieser schien nicht von einer Krankheit befallen zu sein. Im Gegenteil, er sah sehr kräftig und gesund aus und war mit sauberen Sachen bekleidet.

Der Mann sah den abschätzenden Blick von Lymias, ließ ihn aber stumm gewähren. »Nicht alle sind krank müsst ihr wissen. Willkommen Fremder! Ich bin Thog, der Dorfälteste.« Er streckte daraufhin seine Hand fordernd zu dem jungen Mann aus und blickte ihn mit einem gutmütigen, freundlichen Lächeln an.

Er musste gut 40 Jahre alt sein, war etwas größer als Lymias selbst und hatte ein breites Kreuz. Abgenutzte Sandalen schützten spärlich seine großen Füße und die Beine seiner dunkelbraunen Hose hatte der Dorfälteste bis zu den Knien hochgekrempelt. Ein ungebleichtes, ärmelloses Wollhemd spannte sich über seinen muskulösen Oberkörper und eine dunkelgrüne Schärpe war um seine Hüfte gebunden. Seine Arme und Beine waren dicht behaart und seine Hände glichen eher den Pranken eines Bären.

Prüfend schaute Lymias in das bärtige Gesicht von Thog und suchte nach irgendeiner List, einem Hinterhalt, nach einer Fassade, aber sein Gesicht strahlte nur weiterhin diese Großherzigkeit aus. Er packte die Hand des Dorfältesten und erwiderte seinen Griff mit einem genauso kraftvollen Druck. Thog schaute daraufhin zwar ein wenig überrascht, lächelte jedoch weiter, vielleicht sogar ein wenig mehr als vorher.

»Es tut gut, mal ein neues Gesicht zu sehen. Ich hoffe, ihr habt viele Geschichten mitgebracht. Wir wissen leider nur wenig über das, was sich draußen in der weiten Welt abspielt und belohnen jeden mit einem guten Essen oder einen großem Krug Bier, der etwas zu erzählen hat. Und wie ihr ausseht, geht ihr heute Abend bestimmt nicht mit leerem Magen zu Bett.«

Etwas stimmte nicht, Lymias bemerkte es sofort, als Thog wieder angefangen hatte, begeistert zu sprechen. Er war ihm gegenüber überhaupt nicht misstrauisch gewesen und hatte ihn auch nicht nach seinem Namen gefragt. Stattdessen wollte er zahlreiche Geschichten aus der Welt wissen. Diese Aufforderung kam meist erst nach dem dritten Krug Bier in einem Gasthaus, wenn man sich an den Fremdling einigermaßen gewöhnt und der Alkohol das Misstrauen regelrecht ertränkt hatte.

Der Dorfälteste merkte, wie sich der junge Mann versteifte, einige Schritte wieder zurück ging und ihn seltsam anschaute. Traurig senkte er seinen Blick und fing ein wenig verschämt an zu reden.

»Ihr habt mich also schon durchschaut. Wahrlich, ich bin kein guter Lügner und will es auch nie werden. Ich habe mich nur gefragt, wenn ihr ein weit bereister Mann seid, seid ihr bestimmt schon auf so Manches gestoßen. Auf wilde Bestien, prachtvolle Städte, wundersame Krankheiten. Vielleicht wisst ihr auch, wie man das ein oder andere Leiden lindern kann.«

Erwartungsvoll sah Thog Lymias an und wartete auf eine Reaktion. Dieser schüttelte nur mit dem Kopf und dachte kurz nach. ›Wie verzweifelt müssen die Leute hier sein, wenn sie schon einen Fremden um Hilfe bitten?‹ Der junge Mann drehte sich um, griff nach den Zügeln seines Pferdes und wandte sich wieder an Thog. Dieser schaute betreten zu Boden und wollte gerade zur Seite gehen, um den jungen Mann seines Weges ziehen zu lassen.

»Wieso habt ihr mich nicht einfach offen danach gefragt?«, meinte Lymias und grinste herausfordernd zu Thog.

»Ihr wollt uns also wirklich helfen?«, hakte der Dorfälteste vorsichtig nach.

»Ich kann zwar nichts versprechen, aber ich bin tatsächlich ein wenig in der Kunst der Kräuter bewandert. Zeigt mir einen eurer Kranken und ich werde sehen, was ich tun kann.«, meinte Lymias und kam wieder näher zu Thog heran.

»Mein Haus liegt gleich hier in der Nähe. Da es das größte im Dorf ist, abgesehen von unserem Gasthaus, dient es oft als Versammlungsstätte. Dort haben wir auch die meisten unserer Kranken untergebracht.«, sagte Thog in einem etwas aufgeregten Ton und lächelte nun erleichtert dem Fremden entgegen.

Der junge Mann ließ sich zum Dorfzentrum geleiten und beobachtete die Menschen, welche nun neugierig in den Türen ihrer Häuser standen und aufgeregt miteinander schwatzten. So ganz wohl fühlte sich Lymias bei dieser Sache nicht. Er kannte die Wirkung der Kräuter auf den Menschen nur zu gut, besser als jeder andere. Nur wollte er nicht zu sehr die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Gerüchte machten schnell die Runde und es würde nicht lange dauern, bis die Kunde, dass ein Fremder eine unbekannte Krankheit im Nu heilte, ins Schloss des Königs vordrang. Er war noch viel zu nah bei Wydahlija um sich in vollkommener Sicherheit wiegen zu können. Gewiss, nur die mutigsten - oder dümmsten - Männer trauten sich durch den Wald, durch welchen er selber vor kurzem geritten war, aber selbst wenn sie darum herum ritten, würde es nur zwei Wochen dauern, bis die Männer des Königs im Dorf einfielen.

Lymias nahm sich vor, einen kurzen Blick auf die Erkrankten zu werfen, einige mit den passenden Kräutern zu verarzten und wenn diese anschlugen, das Rezept an den Dorfältesten weiter zu geben, damit er seine Leute selbst heilen konnte. Bis dahin hätte er sich auch einen Vorrat an Lebensmittel zusammen gesucht und könnte sich schnellst möglich wieder auf den Weg machen.

Sie kamen vor einem Haus zum Stehen, welches verhältnismäßig groß war und aus Stein bestand. Der junge Mann band sein Pferd an einem kleinen Pfosten fest, der neben dem Haus aus dem Boden ragte, und betrachtete das Gebäude. ›Thog scheint recht wohlhabend zu sein.‹, dachte Lymias. Der Dorfälteste bemerkte den erstaunten Blick des Fremden und meinte stolz: »Ich habe es zusammen mit meinem Großvater und meinem Vater vor vielen Jahren selbst gebaut. Es schützt die Menschen aus dem Dorf, falls ein Sturm über uns hereinbrechen sollte. Darum ist es auch so groß. Das rührt nicht daher, dass ich der Sprecher des Dorfes bin und deswegen meine Macht präsentieren muss. Nein, darin müssen letzten Endes über 30 Leute Platz finden.«

Grinsend schaute er zu dem jungen Mann, der immer noch jeden Zentimeter des Hauses musterte. Schließlich führte Thog ihn ins Innere. Die Luft dort war sehr stickig. Der Geruch von Fäkalien und Schweiß raubte Lymias fast den Atem. Nur mit Mühe konnte er einen Anfall von Übelkeit verdrängen. Es lagen gut 10 Menschen auf Strohmatten im ganzen Raum verteilt. Einige stöhnten leise, andere wimmerten still in ihr Kissen, so manch einer warf sich wild im Fieberwahn hin und her. Sein Magen rebellierte gegen jeden Schritt, den er weiter in das Innere des Hauses wagte.

»Gibt es hier einen sauberen Raum, in dem ich in Ruhe einen der Kranken untersuchen kann?«, fragte er Thog und kämpfte gegen einen neuen Schwall von Übelkeit an.

Der Dorfälteste nickte nur kurz und führte ihn eine Treppe hinauf, in ein kleineres Zimmer am anderen Ende eines kurzen Ganges. Dort war es nicht mehr ganz so stickig, aber der Geruch von Krankheit lag noch immer in der Luft. Der junge Mann ließ kurz seinen Blick durch das Zimmer schweifen und blieb an einem kleinen zierlichen Mädchen hängen, welche in einem Bett am Fenster lag. Fragend schaute er zu Thog.

»Es ist meine Tochter, meine Jüngste. Bitte versucht ihr zu helfen, sie ist doch noch so jung!«, seine Stimme brach und blickte nun verzweifelt sein Kind an, welches nicht älter als 5 Jahre sein konnte.

Lymias näherte sich dem Mädchen und setzte sich auf die Kante des Bettes. Das Gesicht und die Arme der Kleinen waren übersät mit einem rötlichen Ausschlag und kleinen Blasen. Winzige Schweißtropfen bedeckten die Stirn und ihre Augen waren glasig. Die Atmung des Mädchens war nur flach, sodass man schon genau hinschauen musste um sich zu vergewissern, dass sie überhaupt noch lebte. Starr schaute das Kind nach oben und fixierte einen Punkt hinter Lymias, den er nicht ausmachen konnte.

»Hat sie am ganzen Körper diesen Ausschlag?«, fragte er Thog. Dieser nickte nur geistesabwesend und sah weiter betrübt seine Tochter an.

Der junge Mann beugte sich tiefer über das Gesicht des Mädchens, um den Ausschlag näher betrachten zu können. Mit einem Mal aber fing das Kind an, wie wild um sich zu schlagen und sich am ganzen Körper zu kratzen. Erschrocken fiel Lymias von der Bettkante und landete unsanft auf dem Rücken.

Schnell rappelte er sich wieder auf, packte die Arme des Mädchens und hielt sie fest. Thog war besorgt näher geeilt und stand nun neben dem jungen Mann. »Bindet ihre Arme fest und auch die Arme der anderen Kranken - sofort!«

Verwirrt schaute der Dorfälteste ihn an. Darum versuchte er es in kurzen Worten schnell zu erklären:

»Durch diesen Ausschlag bilden sich kleine Blasen, die gefüllt sind mit einer geringen Dosis körpereigenen Gifts. Wenn diese Substanz regelmäßig in das Blut der Menschen gelangt, ist es mit der Zeit tödlich. Die Kranken dürfen nicht weiter ihre Haut aufkratzen und damit diesen Prozess beschleunigen. Das fällt ihnen aber sehr schwer, da dieser Ausschlag die Haut reizt und damit unerträglich zu jucken anfängt. Zerschneidet ein altes Laken und benutzt es als Fesseln. Normale Seile führen nur dazu, dass eure Tochter sich selbst die Handgelenke im Fieberwahn aufreißen würde.«

Lymias stand auf und ging zur Tür, als sich das Mädchen wieder beruhigt hatte.

»Wisst ihr ein Gegenmittel?«, fragte der Sprecher des Dorfes ihn fast flüsternd, wagte es aber nicht, dem jungen Mann in die Augen zu schauen.

»Ihr habt Glück Thog. Für die Heilung muss ich nur zwei verschiedene Pflanzen zu einer Salbe verarbeiten, die dann regelmäßig auf die Haut der Kranken aufgetragen wird. Beide Kräuter habe ich am Rande des Waldes zur Genüge wachsen gesehen. Ich werde los reiten und einen Korb voll davon wieder mitbringen. In ein paar Tagen dürfte es euren Leuten an nichts mehr fehlen. Sorgt ihr nur dafür, dass sie sich nicht gegenseitig die Haut vom Leibe reißen!«

Ohne auf ein weiteres Wort von Thog zu warten, ging Lymias aus dem Zimmer. Schnell stieg er die Treppen wieder hinab und rannte fast aus dem Haus zu seinem Pferd, band es vom Pfosten und stieg mit einem kurzen Sprung auf. Geschwind führte er seinen Gefährten aus dem Dorf und ritt ein Stück dem Wald entgegen. Erst als er das Dorf hinter sich nicht mehr ausmachen konnte, saß der junge Mann an einem Baum ab, lehnte sich gegen diesen und musste sich übergeben. Er ließ seiner Übelkeit freien Lauf.

Noch nie war er mit so vielen Kranken auf einmal konfrontiert worden. Diese Krankheit ist zwar relativ harmlos, aber nur, wenn man das Gegenmittel kannte. Ansonsten waren die Befallenen zu einem langsamen, schmerzhaften Tod verdammt. Das Mädchen, welches er untersucht hatte, war schon in einem weit fortgeschrittenen Stadium. Lymias bezweifelte nicht, dass er auch sie heilen konnte, aber es war ein schauriger Anblick, der ihm dargeboten wurde. Ihre Haut war an verschiedenen Stellen aufgerissen und eine klebrige Flüssigkeit sickerte aus einigen aufgeplatzten Blasen. Selbst wenn das Kind wieder ganz gesund werden würde, werden viele kleine Narben auf ihrer Haut sie immer an diese Krankheit erinnern.

Als Lymias sich einigermaßen erholt hatte, stieg er wieder auf sein Pferd und ritt gen Wald. Dort fing er an, nach den Kräutern zu suchen, aber da es schon vollkommen dunkel geworden war, fiel ihm das sichtlich schwer. An eine Fackel oder ähnliches hatte er nicht gedacht. Lymias ging einige Schritte in den Wald. Darin war es so dunkel, dass er kaum noch seine eigene Hand vor Augen sehen konnte. Der Mond drang nur spärlich durch die dicht bewachsenen Bäume und selbst, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er nicht viel mehr.

Vorsichtig versuchte er sich durch das unwegsame Unterholz zu bewegen, aber nach ein paar Stolperattacken blieb der junge Mann fluchend auf dem nassen Erdboden hocken. »Wenn ich so weiter mache, habe ich die Kräuter vor Tagesanbruch immer noch nicht zusammen.«, brummelte er laut vor sich hin. Dann fasste er einen Entschluss.

Lymias setzte sich im Schneidersitz so bequem wie nur möglich hin. Seine Hände legte er in den Schoß, schloss die Augen und fing an, sich zu konzentrieren. Wärme breitete sich in seinem Innersten aus und die Magie begann zu fließen. Lilafarbener Nebel zog auf und bedeckte den Waldboden um den jungen Mann. Er schickte den mystischen Dunst auf Reisen und ließ ihn nach den gewünschten Kräutern suchen. Wenn dieser einen der Gewächse berührte, wurde die Pflanze am Stiel abgeschnitten - um die Wurzel zu schonen - und dann vor Lymias hingelegt.

In nur wenigen Minuten war der Boden vor ihm übersäht mit kleinen Pflanzen, deren Blüten zum einen in einem tiefen, dunklen Blau und zum anderen in einem hellen Weiß wie Schnee schimmerten. Langsam löste der Nebel sich im Nichts auf und Lymias öffnete die Augen. Zufrieden betrachtete er sein Werk, welches vor ihm lag, sammelte die Kräuter ein und machte sich wieder auf den Weg zum Dorf.


Die lilafarbene Sonne stand fast am höchsten Punkt und strahlte unerbittlich auf sein Haupt nieder. Kay lief wütend über die Wiese, zielstrebig dem Fluss entgegen. Er war es ja eigentlich gewöhnt, ständig Prügel von seinem Pflegevater zu beziehen, aber diesmal hatte dieser Tyrann es eindeutig übertrieben.

Der Junge war seit kurz vor Anbruch der Morgendämmerung auf den Beinen gewesen, hatte weder etwas gegessen noch getrunken. Er hatte die Tiere gefüttert und seine Arbeit auf dem Feld erledigt. Als er dann gen frühen Mittag zum Haus des Hofes zurückkehrte, um um etwas zu Essen zu bitten, meinte sein Pflegevater nur, dass er, bevor er nicht seine Arbeit beendet hätte, auch nichts bekommen würde.

Verwirrt hatte Kay daraufhin erwidert, dass doch alles getan sei. Durch die harte Arbeit auf dem Feld, ohne etwas zu trinken und dann noch diese Hitze, wurde dem Jungen schwindlig. Sein Pflegevater brüllte ihn nur an, was er für eine Memme sei und er zu nichts zu gebrauchen wäre. Er schrie Kay an, dass er den Mist noch nicht auf dem Feld verteilt hätte und wenn er sich nicht sofort an die Arbeit machen würde, er eine Tracht Prügel abbekäme, die sich gewaschen hätte.

Als der Junge bat, schnell zum Brunnen laufen zu dürfen, um etwas zu trinken, schlug sein Pflegevater zu. Sein Handrücken landete genau auf dem rechten Wangenknochen von Kay. Dieser wurde dadurch zur Seite gestoßen und fiel mit seinem Kopf gegen den Türrahmen. Seine Unterlippe platzte leicht auf und eine dicke Beule zeichnete sich auf seiner Stirn ab. Der Junge kroch nach hinten, wollte sich herum drehen und weglaufen, wie er es immer in solchen Situationen gemacht hatte, aber sein Tyrann war schneller.

Grob packte der Mann Kay am rechten Arm und zog ihn hinter sich her. Er blieb vor dem Misthaufen stehen, den der Junge am Abend zuvor hatte zusammen kehren müssen. Sein Pflegevater zog ihn zu sich hoch und verdrehte ihm seinen Arm auf den Rücken, bis es schmerzte. Dann spürte er die Lippen seines Tyrannen neben sich und faul riechender Atem stieg ihm in die Nase.

»Du kannst froh sein, dass ich dich noch in meinem Haus dulde. Und danken tust du es mir damit, die Arbeit zu verweigern? Deine Frechheiten werd ich dir schon austreiben!«, säuselte er mit einem vergnügten, irren Lächeln in Kays Ohr.

Kaum waren die Worte ausgesprochen, landete der Junge im Mist. Der Tyrann grub seine fetten, dreckigen Finger tief in Kays Haare und drückte ihn damit noch mehr in den Dung. Der Bursche versuchte sich zu wehren, aber die harte Arbeit und die brennende Hitze hatten ihn vollkommen ausgelaugt. Tränen stiegen ihm in die Augen und sein Magen begann zu rebellieren.

»Wie jämmerlich! Du bist und bleibst eine nichtsnutzige, kleine Memme! Und nun spute dich. Dass mir der Dung noch vor Mittag auf dem Feld ist!«, schnaubte sein Pflegevater verächtlich, als dieser die Tränen in den Augen von Kay bemerkte. Dann ließ er von dem Jungen ab und ging, noch weitere abfällige Bemerkungen vor sich her brummelnd, ins Haus.

Zitternd stand der Bursche auf und schaute dem Mann wütend hinterher. Dann sammelte er seine karg verbliebene Kraft und fing an zu rennen. Er wollte nur noch weg. Weg von den Tyrannen. Weg von diesem kleinen verhassten Dorf. Der Junge rannte, bis seine letzte Energie verbraucht war. Unter einem Baum blieb er stehen, sank auf die Knie und fing laut an, hemmungslos zu schluchzen.

›Wie kann ein Mensch nur so grausam sein?‹, dachte er. Wenn seine Pflegemutter noch leben würde, wäre sein Pflegevater nie so mit ihm umgesprungen. Der Mann hatte es nie verkraftet, dass ihm seine eigene Frau keine Nachkommen geschenkt hatte. Und als diese dann noch mit einem Findelkind ankam, welches sie aus dem Fluss gerettet hatte, war es mit der trauten Zweisamkeit ganz vorbei. Widerwillig ließ er seine Frau gewähren und nahm den Jungen zu sich auf. Aber je älter Kay wurde, desto mehr fing das Ehepaar an, sich zu streiten. Immer wenn etwas schief gegangen war, machte der Mann das Kind dafür verantwortlich. Seine Pflegemutter versuchte ihn zu schützen, aber nach dem sie durch eine Verletzung starkes Fieber bekam und letzten Endes starb, gab es keinen einzigen hellen Tag mehr für den Jungen.

Natürlich wurde er für den Tod seiner Pflegemutter verantwortlich gemacht, aber diesmal gab es keinen liebenden Menschen, der ihn beschützte. Sein Pflegevater schmiss ihn kurz nach der Beerdigung seiner Mutter aus dem Haus. Von diesem Tag an musste er bei jeden Wetter im Heu bei den Tieren schlafen und die Feldarbeit übernehmen.

Nie beschwerte sich Kay über seine Arbeit und schon gar nicht verweigerte er diese. Stumm ließ er sich beschimpfen und wehrte sich nicht gegen die körperlichen Attacken, denen er ständig ausgeliefert war. Er dankte sogar für das wenige kalte Essen, welches er von seinem Pflegevater bekam. Etwas Warmes im Magen hatte er seit Monaten nicht mehr gehabt.

Schniefend richtete der Junge sich wieder auf und ging dem Fluss entgegen. Die Trauer in seinem Herzen war verschwunden, stattdessen loderte brennender Hass in ihm auf. Das war eine Erniedrigung zu viel gewesen. Er konnte einfach nicht mehr. Aber wo sollte er sonst hin? Von den anderen Dorfbewohnern wollte ihn keiner haben, da er ja angeblich Unglück brächte und außerhalb dieses Dorfes kannte er niemanden. Er beschloss, dem erstbesten Fremden, den er treffen würde, seine Dienste als Knecht anzubieten. Egal wie diese Dienste aussehen würden, es wäre auf jeden Fall besser, als hier auszuharren.

Am Fluss angelangt, lief er in das Wasser und fing an, gierig zu trinken. Dann zog er sich aus und wusch seine Sachen. Zum Glück war der Dung, durch die Wärme, die herrschte, trocken gewesen. So konnte Kay es problemlos aus seinen Kleidern herauslösen, schließlich waren diese seine einzigen. Andere hatte er nicht und würde er auch nie von seinem Pflegevater bekommen.

Als er damit fertig war, legte der Junge seine Sachen in die Sonne zum Trocknen und begann sich im Fluss zu waschen. Er war kein besonders guter Schwimmer und sein Kopf tat ihm immer noch weh. Darum ging er nur bis zur Brust in das Wasser und genoss so die erfrischende Kühle.

Erschöpft kroch Kay aus dem Fluss, als er sich wieder sauber fühlte und legte sich in die Sonne. Da das feuchte Nass seine Stirn gekühlt hatte, klang das Dröhnen in seinem Kopf langsam ab und ließ ihn ein wenig entspannen. Seine Kleider waren schnell trocken und so zog er sie wieder an.

Der Junge war gern an diesem Platz bei den Honigbäumen am Fluss. Hier hatte ihn seine Pflegemutter gefunden und liebevoll aufgenommen. ›Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie mich nicht aus dem Fluss gerettet hätte‹, dachte Kay düster und ließ seinen Blick über das Wasser und die sanften Hügelketten schweifen. Von hier aus konnte er ein Stück von dem dunklen Wald sehen, in den einige Bewohner des Dorfes hinein gegangen, doch nie wieder heraus gekommen waren.

Er hatte bis jetzt mehr als nur eine Schauergeschichte von diesem Wald gehört. Angeblich sollen dort Ungeheuer und wilde Bestien ihr Unwesen treiben. Der Waldboden sei ein einziges Moor und es würde dort nur regnen. Böse Geister lockten ahnungslose Wanderer durch Trugbilder tief in das Innere des tödlichen Waldes und gaben diese nie wieder frei. Noch heute sollen, bei einer mondlosen Nacht, die qualvollen Schreie der Menschen zu hören sein, die sich vor Jahren dort verirrt hatten.

Kay schaute schmunzelnd zu dem Rand des Waldes und erinnerte sich an die Geschichten, die ihm seine Pflegemutter abends vor dem Einschlafen erzählt hatte, um ihm Angst zu machen. Er hörte wieder ganz deutlich ihre mahnende Stimme, die ihm verbot, jemals dort zu spielen.

Doch er wurde bleich und das Schmunzeln schlief in seinem Gesicht ein, als er eine Gestalt aus diesem Wald reiten sah. Er schloss kurz die Augen, um sie dann wieder vorsichtig zu öffnen. Nun kam die Gestalt langsam auf ihn zu geritten. Kays Herz fing an heftig zu pochen und sah sich hysterisch nach einem Versteck um. Um wegzurennen war es zu spät, denn dann hätte die Gestalt ihn entdeckt. Die Wiese bot keinen besonders guten Sichtschutz.

Mit Bedacht zwängte sich der Junge zwischen die Holunderbüsche neben ihm. Er wusste, wenn er auch nur einen kleinen Zweig abbrechen würde, wäre sein Versteck zunichte gemacht. Kay schürfte sich die Knie an kleinen Steinen auf, die in der Erde verborgen waren, kroch aber dennoch verbissen weiter. Wäre der Bursche auch nur etwas größer gewesen, hätte er sich nicht zwischen den Büschen verkriechen können, da diese sehr nah beieinander gewachsen waren und nur wenig Platz für Eindringlinge ließen. Der Junge hatte schon die Befürchtung, dass er mitten in den Holunderbüschen stecken bleiben könnte, da das Blätterwerk immer dichter wurde. Aber mit einem Mal lichtete sich das Meer aus Grün und Kay lag schnaufend auf einer kleinen, freien, schattigen Lichtung, umrahmt von Honigbäumen und Holunderbüschen.

Der Bursche richtete sich verwundert auf und ging zögerlich in die Mitte der Lichtung. Dort stand doch tatsächlich ein prächtiger Frefelnussstrauch, welcher brusthoch gewachsen war und viele gelbe, pyramidenförmige Früchte trug. Erstaunt lief der Junge zu dem Strauch. Er konnte es nicht fassen, dass gerade hier eine dieser seltenen Pflanzen wuchs, deren Früchte so wertvoll waren, dass sie mit reinem Gold aufgewogen wurden.

Ein Wiehern ließ ihn erschrocken inne halten. Kay duckte sich ab und kroch ein Stück zurück zu den Büschen, durch welche er sich vorher durchgezwängt hatte. Seine ewige Neugier ließ ihn alles vergessen, die Angst vor dieser Gestalt aus dem Wald überwinden und brachte ihn dazu, bis zum Rand des Holundergestrüpps zu robben. Von dort aus konnte er gut den Platz überblicken, ohne gesehen zu werden. Schnell schaute er noch einmal zu dem Ort, wo er vor kurzem gelegen hatte. Zum Glück war der Boden trocken und so keine Spuren mehr von ihm zu sehen.

Was war das für eine Gestalt, die unversehrt aus dem dunklen Wald reiten konnte? War es ein Mensch oder einer dieser Geister, die die nichts ahnenden Reisenden in den Wald lockten, um sie nie wieder frei zu geben?

Still lag Kay mit dem Bauch auf der Erde im Schatten. Wenn er nach rechts schaute, konnte er die Füße der Gestalt sehen und beobachten, wie sie von seinem Pferd stieg, dieses absattelte und sich dann davon entfernte. Der Reiter lief um die Büsche herum, kam seinem Versteck immer näher und blieb genau vor dem Strauch stehen, unter welchen der Junge sich verborgen hielt. Mit offenem Mund sah er mit an, wie der Fremde aus dem Wald sich seiner Kleider entledigte und hinab zum Wasser lief. Der Fluss lag ein Stück vor Kays Schlupfloch und so hatte er einen freien Blick auf diesen und auf die Wiese davor.

Er konnte nun den Mann von hinten genau betrachten. Grinsend wanderten seine Augen über den nackten Körper des Fremden. Er war vielleicht knapp 1,80 Meter groß, hatte feste Waden und einen knackigen Po. Über seinen nicht allzu breiten Rücken fielen lange schwarze Haare. Der Junge musste ein Glucksen unterdrücken, als der Schönling durch die Kälte des Wassers überrascht aufjauchzte und sich eine Gänsehaut über seinen Körper legte.

Wenn Geister so schön aussehen konnten, wusste Kay nun, warum so viele Wanderer ihnen in den dunklen Wald folgten. Er versuchte kaum zu atmen und schaute weiterhin dem Fremden zu, wie dieser in die Hocke ging, sich etwas Wasser in sein Gesicht spritzte und dann tiefer in das Nass ging, um ein wenig zu schwimmen.

Der Mann entglitt Kays Blick, da dieser immer weiter im Fluss abtrieb. Jetzt konnte der Junge es wagen, aus seinem Versteck zu kriechen und zu verschwinden. Ehe der Fremde aus dem Wasser kam und zu seinem Pferd gelangte, könnte Kay schon über alle Berge sein, aber er blieb liegen. Er wollte noch mehr von dem Schönling sehen, wollte wissen wer er war, wo er herkam, was er im dunklen Wald zu suchen hatte. Starr blieb der Junge mit klopfendem Herzen liegen und wartete auf die Rückkehr des Mannes.

Nach geraumer Zeit erblickte Kay wieder die Gestalt, wie sie auf ihn zukam. Er sah halb durch die Büsche, wie diese sich abtrocknete und in die Sonne setzte. Dann, einige Minuten später, stand der Schönling wieder auf, ging zu seinen Sachen, wusch sie in dem Fluss und legte sie in die Sonne zum Trocknen. Kays Herzschlag setzte für einen kurzen Augenblick aus, als der Fremde sich über sein Versteck beugte und etwas daran befestigte. Der Junge wagte weder zu atmen, noch sich zu bewegen und schaute unentwegt auf den Erdboden.

Doch nichts geschah. Die Gestalt entfernte sich wieder von dem Gebüsch und legte sich neben seinen Sachen in den Schatten. Verängstigt blickte Kay auf und lauschte. Er konnte die ruhigen Atemzüge des Schönlings hören, die mit der Zeit immer gleichmäßiger wurden. Eine Stunde wartete der Junge bis er es wagte, aus seinem Versteck zu kriechen. Kay schaute sich um und entdeckte den Fremden ein paar Meter weiter, wie er auf dem Rücken im Gras lag und unruhig schlief.

Seine Neugier überwand die Angst, dass die Gestalt aufwachen und ihn entdecken könnte und ging weiter auf den Schlafenden zu. Je näher der Junge dem Fremden kam, desto ruhiger wurde dieser. Kay hatte schon die Befürchtung, dass er aufgewacht war, aber die Atemzüge des Mannes blieben regelmäßig, nur jetzt ruhiger.

›Er sieht wunderschön aus‹, dachte der Junge und hockte sich neben ihm ins Gras. Zum ersten Mal erblickte Kay das komplette Gesicht des Fremden. Lange schwarze Haare umrahmten ein blasses, schmales Gesicht. Seine Züge waren selbst im Schlaf ebenmäßig und elegant, die schmalen, aber nicht dünnen Lippen genauso perfekt wie die kleine Stupsnase. Etwas muskulöse Arme und leichte Bauchmuskeln ließen auf einen durchtrainierten Körper schließen.

›War es tatsächlich nur ein Geist oder ein richtiger Mensch? Kann so etwas Schönes Realität sein, oder war es nur ein Traum?‹ Wie um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich vor ihm lag, beugte sich Kay tiefer über den Fremden, hob seine Hand und berührte ihn schüchtern auf der Brust. Ein warmer Schauer durchfloss ihn, als der Mann leicht seine Lippen öffnete und anfing zu schnurren. Sein Herz machte Purzelbäume und sein ganzer Körper begann zu kribbeln. Der Junge betrachtete die Lippen des Schönlings und wollte diese nur noch mit den seinen berühren. Er beugte sich vor, strich sich mit seiner Zunge über den Mund und näherte sich dem Gesicht des Fremden, sodass er seinen Atem auf seinen Wangen spürte.

Aber noch ehe Kay sein Vorhaben vollenden konnte, wurde er von hinten gestoßen, sodass er fast auf den Mann gefallen wäre. Mit rudernden Armen hielt er gerade noch sein Gleichgewicht und schaute wütend nach hinten. Das Pferd, auf dem der Fremde geritten war, schaute den Jungen vorwurfsvoll an. Es begann zu schnauben und Kay schaute erschrocken zurück, ob der Schönling dadurch aufgewacht sein könnte. Dieser schlief aber nur seelenruhig weiter und fing an, genüsslich zu grinsen.

Der Junge betrachtete ihn verträumt und wollte sich gerade wieder zu ihm hinunter beugen, als das Pferd erneut zu schnauben begann. Wütend richtete Kay sich auf und ging zu dem Unruhestifter. Dieser sah ihn nun aber mit einer Unschuldsmiene an und schüttelte seine Mähne.

»Ich versteh ja, wenn du deinen Herren beschützen willst, aber kannst du das nicht ein wenig leiser machen?«, flüstere der Junge zu dem Pferd und als hätte es ihn verstanden, schüttelte es wieder mit seiner Mähne. Kays Wut war so schnell verflogen, wie sie gekommen war.

Lächelnd schüttelte nun auch er seinen Kopf. So einem treuen Pferd konnte er einfach nicht böse sein. Sehnsüchtig blickte er den Schönling an. Solange das Pferd über seinen Herren wachte, konnte er es nicht noch einmal wagen, dem Fremden näher zu kommen. So beseitigte er all seine Spuren im Gras, die er hinterlassen hatte und entfernte sich mit traurigem Blick von dem Mann. Dabei kam er an dem Gebüsch vorbei, wo er sich noch vor kurzem versteckt hatte. An einem Zweig hing ein dunkelgrünes Band, welches die Gestalt dort wohl angebunden hatte. Vorsichtig entknotete er es und steckte das Band als Erinnerung ein.

Dann schaute er sich noch einmal gründlich um, ob er auch nichts vergessen hatte zu bereinigen. Der Junge wusste, wenn er auch nur einen kleinen Hinweis auf seine Anwesenheit hinterlassen würde, wäre er verraten. Früher, kurz nachdem seine Pflegemutter gestorben war, hatte er sich immer so vor seinem Pflegevater versteckt, da der Tyrann seine ganze Wut über den Verlust seiner Frau an ihm ausgelassen hatte. Mit der Zeit wurde Kay immer raffinierter und konnte sich geräuschlos und ohne Spuren zu hinterlassen, bewegen.

Ein letztes Mal blickte er zu dem Schönling zurück, welcher immer noch friedlich im Gras schlummerte. Sicher, eigentlich wollte Kay sich dem erst besten Fremden anschließen, der ihm über dem Weg kam um endlich diesem verhassten Dorf zu entkommen. Aber vor diesem Wesen hatte er mehr Ehrfurcht als vor allem anderen. Er konnte doch mit Niemandem reisen, vor dem er auf der einen Seite Angst hatte und andererseits begehrte.

Widerwillig wandte Kay sich von dem Mann aus dem Wald ab und ging leise davon. Auf dem Hof seines Pflegevaters angekommen, schaufelte er den Dung in einen Korb, brachte diesen zum Feld und verteilte es sorgsam darauf. Danach verkroch er sich auf dem Heuboden und wollte ein wenig schlafen. Zu seiner Überraschung lag dort ein kleines Stück Brot und etwas Dörrfleisch. Nicht, dass sein Pflegevater jemals ein schlechtes Gewissen gehabt hätte - nein. Er wusste ganz genau, dass Kay einfach ein billiger Arbeiter war. Allein könnte der ältere Mann nie die Felder bestellen. Irgendwie musste er ja den Jungen an sich binden, wenn auch nur mit dem Nötigsten.

Der Bursche verschlang gierig die karge Mahlzeit und legte sich dann schlafen. Er wachte erst wieder in den Abendstunden auf und rieb sich verschlafen die Augen. Augenblicklich musste er wieder an die Gestalt aus dem Wald denken und griff in seine Tasche. Nur um sich zu vergewissern, dass es kein Traum gewesen war, hielt Kay das Band, welches er von dem Mann gestohlen hatte, vor sein Gesicht und betrachtete es. Er schloss wieder seine Augen und versuchte sich an das Bild des Schönlings zu erinnern. Schmales Gesicht, kleine Stupsnase, schwarzes langes Haar und dieser Mund...

Ein wildes Stimmengewirr holte den Jungen aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Still lauschte er nach draußen. ›Von was reden die denn da?‹ Neugierig kletterte er vom Heuboden und schlich um den kleinen Stall herum. Der Müller und der Weber aus dem Dorf standen mit seinem Pflegevater zusammen und faselten irgendwas von einem Fremden, der wie aus dem Nichts aufgetaucht sei und ein Gegenmittel für die Krankheit, die momentan schwer über dem Dorf lastete, gefunden hätte. Angeblich wohnte er zurzeit im Gasthaus und braute irgendeine Salbe für die Betroffenen zusammen. Erste Zeichen der Heilung seien auch schon zu vermerken, da die heftigen Juckanfälle immer weniger wurden.

Kay dachte angestrengt nach. Konnte es sein, dass es sein Fremder war, der nun im Dorf war? Konnte es sein, dass er all den Kranken half? ›Vielleicht ist er ja wirklich ein Geist - ein guter Geist, der von den Göttern gesandt wurde um uns zu helfen.‹ In seinem Bauch machte sich ein wohlig warmes Gefühl breit. Der Junge hob seine Hand und schaute auf das Haarband des Schönlings. Dann drückte er es fester und ließ es wieder in seiner Hosentasche verschwinden.

Er musste sich einfach vergewissern, ob es wirklich der Mann war, den er aus dem Wald reiten gesehen hatte. Darum beschloss Kay, sich zum Gasthaus zu schleichen und dort auf ihn zu warten. Irgendwann würde er ihn schon zu Gesicht bekommen, schließlich lag das Haus direkt am Marktplatz, wo auch die Wohnstätte von Thog, dem Dorfältesten, stand.

Aber noch bevor er sich in Bewegung setzten konnte, wurde der Junge von Hinten am Kragen gepackt und herum geschleudert.

»Na, hat sich der Herr wieder bequemt, sich in seinen Heim einzufinden?«, säuselte sein Pflegevater ihn an.

»Mach gefälligst, dass du zu den Tieren kommst! Sie brauchen frisches Wasser. Bei dieser Hitze gehen mir die Viecher noch ein. Und dass du dich nicht wieder davon stiehlst. Ich habe noch einige Aufgaben für dich, die erledigt werden müssen. Na los! Auf was wartest du denn noch? Mach dich an die Arbeit du nichtsnutziger Bengel!«

Der Junge blickte sehnsüchtig auf den Weg zum Gasthaus, doch im Moment konnte er nichts anderes tun als zu gehorchen. So machte er kehrt, lief in die Scheune und holte sich die Eimer. Das Wasser zu holen ging sehr rasch. Kay war es gewohnt, Wassereimer zu schleppen, darum machte es ihm nicht besonders viel aus. Vielleicht war es auch der Gedanke an den Fremden, der ihm bei seiner Arbeit Flügel wachsen ließ.

Eigentlich sollte er danach zu seinem Pflegevater, um noch weitere Aufgabe zu bekommen, aber die Neugier hatte den Jungen dann doch übermannt. Prüfend schaute er aus der Scheune zum Haus. Nichts regte sich. So schlich er sich leise heraus, dem Gasthaus entgegen. Lange konnte er dort nicht bleiben, das wusste Kay, aber er wollte ja auch nur einen kurzen Blick auf den Fremden erhaschen, wollte sich nur vergewissern, ob es nun der Schönling aus dem Wald war oder nicht.

Rasch lief der Junge seinem Ziel entgegen, jeden Schatten und jede Deckung nutzend. Die Leute aus dem Dorf waren ihm genauso wohlgesonnen wie sein Pflegevater, darum wollte er diesen so weit wie möglich aus dem Weg gehen. Ständig war er verbalen und körperlichen Attacken der Dorfbewohner ausgeliefert. Thog war der Einzige, der diesem Treiben ein wenig Einhalt gebot, ganz unterbinden konnte er es allerdings nicht.

Am Gasthof angekommen, blickte sich Kay prüfend um. Wenn er draußen auf den Fremden warten würde, würde man ihn früher oder später entdecken. Also musste er irgendwie in das Innere des Hauses gelangen. Dort bräuchte er sich nur eine Nische in der Nähe des Schankraumes zu suchen. Irgendwann musste der Heiler etwas essen und dann würde er ihn sehen.

Es gab genau drei Möglichkeiten um hinein zu kommen: den Vorder- und den Hintereingang und die Tür, die zum Stall führte. Durch die Vordertür konnte er natürlich nicht einfach so rein spazieren und der Eingang beim Stall führte direkt in die Küche, da würde man ihn auch sofort entdecken. Also blieb nur der Hintereingang übrig. Zwar war dieser verschlossen, aber der Junge kannte sich ein wenig aus, wie man so etwas aufbrechen konnte. Er hatte es lernen müssen, da sein Pflegevater die Speisekammer immer verschlossen hielt, damit er nichts stehlen konnte. Kay bekam immer weniger von seinem Tyrannen zu Essen, er musste ja irgendwie einen anderen Weg finden, seinen Hunger zu stillen.

Leise schlich er zur hinteren Tür, presste sein Ohr daran und horchte. Es schien keiner in der Nähe zu sein, also holte der Junge seine zwei Drähte heraus, die er immer bei sich trug und begann damit im Schloss leicht herum zu rütteln. Immer wieder kontrollierte er die Gegend, dass ihn auch keiner beobachtete und lauschte, ob jemand in seine Nähe kam. Seine Nerven waren bis zum Äußersten angespannt.

Ein lautes Lachen ließ ihn inne halten. Von der Lautstärke und der Tiefe des Lachens zu urteilen, konnte es nur Thog sein. ›Aber seitdem seine jüngste Tochter erkrankt ist, hat der Dorfälteste doch nicht mehr so laut gelacht.‹, dachte Kay bei sich. Von neuer Neugier gepackt schlich er sich um das Gasthaus herum, von wo er das Lachen gehört hatte. Es mussten einige Leute sein, denn der Junge hörte nun, wie mehrere miteinander diskutierten und lachten. Vorsichtig lugte er um die Ecke und sah eine kleine Ansammlung in der Mitte des Marktplatzes stehen. Er konnte nicht genau erkennen, wer oder wie viele es waren, da es inzwischen sehr dunkel geworden war.

»Ihr seid mir wahrlich ein Kräuterkundiger. Lasst uns endlich hinein gehen. Es ist sehr spät geworden. Ein kräftiges Mahl und ein großer Humpen Bier wird uns allen jetzt gut tun.«, hörte er Thog sprechen und sah, wie alle nacheinander in dem Gasthaus verschwanden. Kay war sich nun ganz sicher, dass sich der Fremde in diesem Haus befand. Er brauchte nur noch herausfinden, ob es der Schönling aus dem Wald war oder nicht.

Er drehte sich um und wollte gerade seine Arbeit an der hinteren Tür fortsetzten, als er direkt in die Augen seines Pflegevaters blickte.

»Hatte ich dir nicht verboten, dich von meinem Grundstück zu entfernen? Hatte ich nicht gesagt, du sollst sofort zu mir kommen, wenn du mit dem Wasser holen fertig bist?«, drohend kam der Tyrann näher.

Der Mann packte den Jungen am Arm und schleuderte ihn nach vorne. Kay strauchelte, verlor sein Gleichgewicht und stürzte der Länge nach auf den Boden. Als er versuchte sich aufzusetzen, traf der Fuß seines Pflegevaters ihn direkt in den Magen. Keuchend fiel er auf die Seite, aber noch immer wurde nicht von ihm abgelassen. An den Haaren zog sein Tyrann ihn nach oben und stieß ihn ein weiteres Mal nach vorne.

»Mach, dass du auf die Beine kommst und jammer nicht rum wie ein Mädchen!«, höhnte sein Pflegevater. Mit etlichen Tränen auf den Wangen und einer Hand auf dem schmerzenden Bauch gepresst, trottete der Junge vor dem Mann her.

»Ich habe vorhin mit dem Weber gesprochen. Er will sich einen Garten anlegen. Dafür muss der Boden hinter seinem Haus umgegraben werden. Und da seine zwei Söhne noch krank sind, wirst du diese Arbeit übernehmen! Du scheinst viel zu viel Freizeit zu haben, so oft wie du dich in der letzten Zeit rumtreibst. Deine anderen Arbeiten auf dem Hof wirst du trotzdem verrichten. Es wäre ja noch schöner, wenn ich das machen müsste!«

Unter mehrfachen Stößen und Verspottungen wurde Kay zum Hof des Webers geführt. Dieser wartete dort schon auf die Neuankömmlinge und unterwies den jungen Arbeiter in seine neue Aufgabe.

»Heute ist es viel zu spät, damit zu beginnen. Bei dem Krach, den der Bengel veranstaltet, könnt ich doch nie schlafen. Wenn er morgen bei dir fertig ist, Gerald, schick ihn her. Er weiß ja nun, was er zu tun hat.«, meinte der Weber.

So redeten die beiden Männer noch über weitere Nichtigkeiten und taten so, als ob der Bursche nicht anwesend wäre. Später verabschiedeten sie sich und der Junge verkroch sich, unter den bösen Blicken seines Tyrannen, auf den Heuboden.

Am nächsten Morgen wachte Kay schon vor Morgengrauen auf und fing an, seine täglichen Arbeiten zu verrichten. Gegen Mittag ging er zu seinem Pflegevater und versuchte, um etwas zu Essen zu bitten, wurde aber nur mit den Worten weggejagt, dass er gefälligst lernen soll, erst seine Aufgaben zu erledigen, bevor er sich ausruhen und in der Weltgeschichte herumtreiben kann. Der Junge hatte eh damit gerechnet und machte sich schnell davon, um nicht schon wieder Prügel von seinem Tyrannen beziehen zu müssen. Mit knurrendem Magen stand er nun hinter dem Haus des Webers und versuchte, die zu Stein erstarrte Erde aufzubrechen und den gekennzeichneten Boden umzugraben.


Die Nacht brach über das Dorf hinein und das bunte Farbenspiel der Dämmerung wurde von tiefer Dunkelheit verdrängt. Kay stützte sich schwitzend auf seine Schaufel und betrachtete sein Werk. Die Erde war vollständig in dem markierten Bereich aufgelockert. Er schaute auf, als sich die Hintertür des Hauses vor ihm öffnete und ein junges Mädchen erschien. Vor sich balancierte sie einen Teller mit Hähnchenkeulen und ging langsam auf den Jungen zu.

Sie war etwa 10 Jahre alt, hatte dunkelblonde Locken, die ihr wild über die kleinen Schultern fielen und große, graue Augen. Verwirrt blickte Kay das Mädchen an, als sie schüchtern ihre Hände mit dem Teller zu ihm hin hob.

»Du arbeitest hier schon seit den Mittagsstunden. Irgendwann musst du doch mal was essen!«, meinte sie kleinlaut und streckte ihm den Teller direkt unter die Nase.

Verblüfft nahm er sich zögernd ein Keulchen und fing an, daran herum zu knabbern. Erst jetzt merkte Kay wieder, wie hungrig er war und verschlang fast gierig die restlichen Stücke. Zufrieden grinsend schaute das Mädchen ihm beim Essen zu. Als er den letzten Knochen wieder zurück auf den Teller gelegt hatte, schaute er sie fragend an.

»Bekommst du denn jetzt keinen Ärger?«

»Nein. Ich habe extra gewartet bis mein Vater zu meinen Brüdern gegangen ist. Dank dem Heiler geht es beiden besser und sie können wieder nach hause kommen. Der Fremde meinte, dass sie noch etwas ruhen und die Salbe mehrmals täglich auf die Haut auftragen sollen, dann sind sie bald wieder richtig gesund. Mein Vater geht meine Brüder gerade holen. Zum Glück ist der Heiler hier vorbei gekommen und hat uns geholfen, findest du nicht? Ich habe vorhin ein paar Mädchen belauscht die von dem Fest kamen, welches ihm zu Ehren veranstaltet wird. Sie meinten, dass er sehr gut aussehen soll. Leider reist der Heiler morgen früh wieder weiter.«

Unbeschwert plapperte das Mädchen weiter vor sich her. Bei Erwähnung des Fremden, wanderte automatisch die rechte Hand des Jungen in seine Hosentasche, wo das Band des Schönlings verborgen war. Träumerisch spielten seine Finger damit.

Kay blickte verwundert den kleinen Lockenkopf an, da mit einem mal die Flut von Wörtern versiegt war. Sie hatte sich zur Tür herum gedreht und schien zu lauschen. Als vom Inneren des Hauses lauter werdendes Gepolter zu hören war, rannte das Mädchen schnurstracks hinein. Ein Brüllen und ein lautes Klatschen bestätigte Kays Vermutung, dass der Weber zurückgekehrt war und den Ungehorsam seiner Tochter mit einer Ohrfeige quittiert hatte.

Wieder öffnete sich die Tür. Diesmal stand der Hausherr selbst vor dem Jungen und starrte ihn wütend an.

»Mit dir bin ich noch lange nicht fertig. Dein Pflegevater sagte, er habe noch Dung übrig. Schaff ihn gefälligst her und mische ihn unter die Erde. Wie soll der Boden denn sonst fruchtbar werden? Nun mach dich schon an die Arbeit.«

»Ach und solltest du meiner Tochter noch einmal zu nahe kommen, dann werd ich dir eine Lektion erteilen, die sich gewaschen hat. Auf was wartest du noch? Verschwinde!«, tobte der Weber.

Kay ließ seine Schaufel fallen und lief den Mist holen. Dem Gerede des aufgebrachten Mannes hatte er kaum zugehört. Aber die Worte des kleinen Mädchens hallten immer wieder in seinem Kopf nach »... Leider reist der Heiler morgen früh wieder weiter...« Er musste ihn wenigstens einmal sehen. Er musste sich einfach vergewissern, ob es nun der Schönling aus dem Wald war oder nicht.

Noch nie hatte sich der Junge bei einer verhassten Arbeit, wie diese es war, so sehr beeilt wie jetzt. Die Sonne war schon gänzlich untergegangen und wenn er sich nicht sputete, müsste er ja in die Ruhestätte des Fremden einbrechen. Aber da Kay nicht wusste, welches Zimmer der Heiler in dem Gasthaus bewohnte, wäre dies ein so gut wie unmögliches Unterfangen gewesen. Rasch hob er den ganzen Dung unter die aufgelockerte Erde. Der Junge warf noch einen letzten prüfenden Blick in Richtung Tür, dann entschwand er in der Dunkelheit.

Geschwind lief er leise dem Gasthof entgegen. Als Kay dort ankam, sah er, wie ein großes Lagerfeuer vor dem Haus in der Mitte des Marktplatzes brannte. Das halbe Dorf saß auf Baumstämmen drum herum. Man aß, trank und lachte zusammen. Von weitem konnte er die Leute nicht genau erkennen, darum suchte er nach einer Möglichkeit, sich unbemerkt näher heran zu schleichen. Auf der einen Seite des Lagerfeuers waren, hinter den Feiernden, Holzscheite mannshoch aufgestapelt. Er betrachtete es kurz und überlegte, wie er dort hingelangen könnte, dann lief er los. Kurz vor den Holzstücken wurde er langsamer und pirschte sich geräuschlos heran.

Das Lachen der Leute wurde immer lauter, einige hatten sogar angefangen zu singen. Doch das alles wurde noch übertroffen von dem schallenden Gelächter des Dorfsprechers. Der Lautstärke nach zu urteilen, musste Thog genau vor ihm, hinter dem Holz, sitzen. Lauschend stand der Junge hinter den Scheiten und versuchte zu verstehen, was der Dorfälteste erzählte.

»Meine Leute sind alle wieder endlich froh, dank dir Heiler.«

Mehr verstand Kay nicht, da der Sprecher des Dorfes seine Stimme gesenkt hatte. Aber bei dem Wort »Heiler« durchflutete ein warmes Kribbeln seinen Bauch. Er musste ihn sehen - er musste!

Aufgeregt betrachtete der Junge die vor ihm aufgestapelten Holzscheite. Mit Bedacht wählte er einige in Brusthöhe und zog sie vorsichtig heraus. Nun konnte er direkt in das Lagerfeuer schauen. Er kniff die Augen zusammen, da die plötzliche Helligkeit darin brannte. Das Feuer loderte sehr hoch und warf tanzende Schatten auf die Gesichter der Menschen. Direkt vor ihm konnte er den Rücken von Thog erkennen, der sich, wie sein Nachbar, nach vorne gebeugt hatte.

Zitternd stand Kay da, als er die langen, schwarzen Haare des Sitznachbarn von Thog sah. Mehr als den Rücken des Heilers konnte er nicht erkennen, da der Dorfsprecher ihm mit seinem breiten Kreuz die Sicht nahm. Mit klopfenden Herzen versuchte er einen Schritt nach vorn zu machen und legte seine linke Hand auf die Scheite. Er wollte einfach mehr von dem Fremden sehen, wollte sich endlich Gewissheit verschaffen.

Der Junge lehnte sich immer weiter nach vorne, in der Hoffnung, wenigstens einen kurzen Blick auf den Heiler erhaschen zu können. Er merkte zu spät, wie die Holzscheite zu kippen begannen. Vergeblich versuchte er noch diese festzuhalten, aber das führte nur dazu, dass Kay mit ihnen nach vorne, genau vor die Füße des Dorfsprechers und des Heilers, fiel.

Mit schmerzenden Gliedern richtete er sich auf die Knie auf und blickte nach oben. Thog schaute nur kurz verdutzt und fing an, ein wenig zu grinsen. Dann drehte der Junge seinen Kopf mit einem Ruck nach links und starrte in die erschrockenen Augen des Schönlings aus dem Wald.


Erschöpft sank Lymias auf einen Stuhl und atmete tief durch. Er wollte jetzt nur noch etwas Warmes essen, sich dann in sein Zimmer zurückziehen und die Ruhe und Einsamkeit des Schlafes genießen.

Der junge Mann hob leicht seinen Kopf und musterte die Menschen, die mit ihm am Tisch saßen. Alle sahen genauso müde aus und schienen am Ende ihrer Kräfte, wie er. Die fünf Männer hatten ihn bei der Versorgung der Kranken tatkräftig unterstützt, was sich nicht gerade als leichtes Unterfangen entpuppte.

Sobald Lymias aus dem Wald zurückgekehrt war, hatte ihn Thog in die Küche seines Hauses geführt, die vorsorglich geräumt worden war. Der junge Mann hatte die Kräuter in eine Decke gewickelt, da er bei seinem überstürzten Aufbruch nicht an einen Korb oder ähnliches gedacht hatte. Er legte sie auf den großen Tisch in der Mitte des Raumes, entrollte sie und sortierte die Pflanzen heraus. Danach räumte er die Decke beiseite und fing an, unter dem großen Kessel, der drei Schritte entfernt von dem Tisch im Kamin hing, ein Feuer zu entfachen.

Lymias wandte sich zu Thog und bat ihn, reines Schmalz, etwas Bienenwachs und, wenn es ginge, frische Himbeeren herbei zu schaffen, damit er die Kräuter darin einkochen könnte. Der Dorfsprecher nickte kurz und verschwand aus der Hintertür, durch welche er vorher den Heiler in die Küche geführt hatte. Der junge Mann begann indes die Blüten der Pflanzen vom Grünen zu trennen und legte diese in eine Schüssel, die er sich vorher aus einem der an den Wänden stehenden Schränke gesucht hatte. Dann zerstampfte er diese solange mit einem großen hölzernen Stößel, bis ein körniger Brei aus weißen und blauen Blütenblättern entstand.

Thog war mittlerweile wieder in die Küche zurückgekehrt und half dem Heiler bei der Zubereitung. Lymias erklärte ihm alles haargenau, schließlich sollte der Dorfsprecher demnächst die Herstellung der Salbe selbst übernehmen. Sie schmolzen Schmalz und Wachs in einem Wasserbad auf und gaben die zerstampften Blüten und die Himbeeren unter ständigem Rühren hinzu. Als alles gut untergemischt war und langsam zu kochen anfing, füllten sie den zähflüssigen Brei in verschiedene Tonkrüge, stellten sie beiseite und ließen es abkühlen.

»Das Rezept und die Zubereitung sind zwar recht einfach, aber wenn ihr in den Wald geht um die Kräuter zu suchen, tut dies bitte nie alleine sondern nehmt mindestens zwei weitere Leute aus dem Dorf mit. Das ist kein Ort für einen kleinen Nachmittagsspaziergang.«, ermahnte der junge Mann Thog.

Dieser schaute ihn ein wenig irritiert an, nickte dann aber und fing an, in einem der Schränke zu wühlen. Er holte eine verstaubte Flasche und zwei Tonbecher heraus und stellte sie auf den Tisch. Dann zog er zwei große Hocker heran, welche sie, um mehr Platz für ihre Arbeit zu haben, vorerst beiseite gestellt hatten und deutete Lymias neben sich Platz zu nehmen. Thog entkorkte die Flasche und goss den Inhalt in die Becher. Der junge Mann setzte sich und langte nach dem Wein, der ihm dargeboten wurde.

»Auf dass die Salbe wirken und die Menschen hier wieder aufatmen können!«, sagte der Dorfsprecher in einem feierlichen Ton, »Und natürlich auf euch, Heiler!«

Er prostete ihm zu und nahm einen kräftigen Schluck. Lymias nippte nur kurz an seinem Becher. Der Wein war schwer und sehr süß. Er nahm noch einen weiteren Schluck, merkte aber nach kurzer Zeit, wie ihm der Wein langsam zu Kopf stieg. ›Auf nüchternem Magen sollte man doch nicht zu viel trinken‹, dachte er sich.

»Das ist wirklich ein sehr guter Wein.«, meinte Lymias, um die nun vorherrschende Stille zu durchbrechen.

Der Dorfsprecher nickte nur versonnen und fing an, den Heiler neugierig zu mustern.

»Ich weiß, es steht mir eigentlich nicht zu, das zu fragen, vor allem nachdem ihr uns so selbstlos geholfen habt, aber wer seid ihr und wo kommt ihr her?«

»Eigentlich, Thog, steht euch diese Frage schon zu, schließlich wollt ihr wissen, wer eure Leute verarztet. Ob die Salbe wirklich so hilft, wie ich denke, wissen wir auch noch nicht. Und so selbstlos wie ihr es beschreibt, ist meine Tat nicht. Meine Vorräte sind bis auf den letzten Brotkrumen aufgebraucht und ich habe noch eine lange Reise vor mir. Mein Pferd muss gestriegelt werden und ich würde gern den harten Erdboden gegen ein weiches Bett für eine Nacht eintauschen wollen.«

Der junge Mann sprach ruhig, fast leise, nippte wieder an seinem Becher und schaute forschend in das Gesicht von Thog.

»Ist das wirklich alles was ihr euch wünscht? Versteht mich nicht falsch, aber so ziemlich jeder hier würde seine letzten Ersparnisse geben, um seine Lieben wieder gesund zu wissen. Wenn ihr noch eine lange Reise vor euch habt, braucht ihr dann kein Geld?«

»Ich bin nicht hier, euch um eurer letzten Ersparnisse zu berauben, sondern um meine Vorräte aufzufrischen. Dass ich euch vielleicht helfen kann und somit meine Schulden begleiche, ist ein erfreulicher Zufall für mich. Und wie ich schon sagte, es ist noch nicht gewiss, ob die Salbe die gewünschte Wirkung zeigt.«

»Ihr seid zu bescheiden Heiler! Aber wie ihr wollt. In unserem Gasthaus könnt ihr gern übernachten. Macht euch wegen der Verpflegung keine Sorgen. Der Junge des Wirtes ist mit unter den Kranken. Seine Genesung ist Lohn für ihn genug. Gebt mir eine Liste mit den Vorräten, die ihr benötigt. Ich werde mich persönlich darum kümmern.«

Grinsend blickte Thog den jungen Mann an.

»Aber falls es doch noch irgendetwas geben sollte, irgendein Wunsch, den ich normaler Bürger euch erfüllen kann, gebt einfach Bescheid!«

Das Grinsen wurde breiter, so dass seine nicht mehr ganz weißen Zähne sichtbar wurden.

»Ich danke Euch.«, meinte Lymias erleichtert und konnte sich nun ein Schmunzeln seinerseits nicht verkneifen.

»Was meint ihr Heiler, nennt ihr mir euren Namen?«

Der junge Mann überlegte kurz und schaute den Dorfsprecher durchdringend in die Augen. Er wusste nicht wie weit die Gerüchte aus Wydahlija vorgedrungen waren und ob dann Thog etwas mit seinem Namen in Verbindung bringen könnte. Auf dem Hof des Königs war er ein angesehener Magier gewesen, bis Dilarus sich eingemischt hatte.

Bitterkeit und Trauer erfüllten Lymias, als er zurück dachte. Betrübt wandte er seinen Blick von Thog ab und starrte leer in seinen Becher.


Die Zeit war damals sehr schön gewesen, unbeschwert. Wie oft waren er und der Prinz allein zum See ausgeritten, um darin zu baden, sich auszutoben und dann, wenn sie erschöpft am Ufer lagen, zu lieben. Wie oft waren sie meilenweit gereist, um diplomatische Verhandlungen mit den verschiedensten Ländern im Auftrag des Königs zu führen und wie oft hatten sie Seite an Seite gekämpft, wenn sie auf diesen Reisen angegriffen wurden. Wie oft hatten sie der Prinzessin dumme Kinderstreiche gespielt, nur um dann hinterher von dem Mädchen selbst veralbert zu werden. Wie oft mussten sie zu dritt irgendwelche Strafarbeiten verrichten, weil sie es mit ihren Streichen zu weit getrieben hatten.


Der Dorfälteste musste wohl gemerkt haben, dass der Heiler in wirren Gedanken versunken war und überlegte. Lymias spürte seinen Blick auf sich ruhen. Thog blieb aber weiterhin ruhig und wartete geduldig, wofür der junge Mann sehr dankbar war. Er atmete tief ein, schaute wieder zu dem Sprecher des Dorfes auf und blies die Luft hörbar aus.

Thog war ein guter Mensch, das spürte er. Der Mann wirkte gutmütig und warmherzig auf den Heiler und war ihm immer sympathischer geworden, je länger sie zusammen gearbeitet hatten. Er strahlte eine gewisse Autorität und Sicherheit aus, so dass man sich überlegte, ob man ihm nun widersprach oder nicht, trotzdem war er aber für alles offen - wie ein Vater. Zumindest stellte sich Lymias so einen Vater vor. Er nickte kurz, um seine Gedanken wieder zu ordnen und fing an zu reden.

»Mein Name ist...«

Ein lautes Gepolter unterbrach den jungen Mann. In der Küche stand nun einer der Dorfbewohner und starrte erschrocken auf die beiden am Tisch Sitzenden. Er hatte die Küchentür so laut gegen einen der dahinter stehenden Schränke gestoßen, dass man fast annehmen könnte, sie wäre zerbrochen.

»Du musst sofort kommen Thog. Die Kranken sind im Wahn. Sie greifen jeden an, der sie versucht festzubinden oder ihnen auch nur einen Schritt zu nahe kommt. Wir haben kaum noch Kraft sie im Haus zu halten.«

Lymias und der Dorfsprecher blickten sich nur kurz an, sprangen dann von ihren Hockern und folgten dem Mann, der seltsamerweise Thog sehr ähnlich sah, in den Raum, der wohl früher als Wohnzimmer gedient haben musste. Wie angewurzelt blieb der Heiler im Zimmer stehen und beobachtete die Szene, die sich nun vor ihm abspielte.

Menschen rangen miteinander, Frauen kreischten, in irgendeiner Ecke schrie ein Kind. Überall war Blut und mischte sich mit dem Geruch von Fäkalien und Schweiß. Es war ein heilloses Durcheinander. Leute liefen von der einen Seite des Raumes in die andere und zertrampelten die, die noch am Boden lagen. Von überall her hörte man ein hässliches Schaben und Kratzen auf Haut.

Dem jungen Mann wurde es auf der Stelle wieder übel. Mit aller Kraft kämpfte er dieses Gefühl nieder und wandte sich an Thog, dem es keinesfalls besser zu ergehen schien.

»Wir müssen sie erstmal festbinden, egal wie. Wenn es sein muss, schlagt sie kurz nieder. Eine Beule ist besser als klaffende Wunden, die nur langsam heilen.«

»Ich dachte, ihr habt die Salbe fertig?«, fragte der Dorfbewohner, dem nun endgültig die Farbe aus seinem Gesicht gewichen war.

»Sie muss noch abkühlen. Wenn wir sie so heiß auf die Haut der Kranken auftragen, würden wir sie verbrennen. Es wird noch ungefähr eine Stunde dauern, bis wir sie benutzen können. Bis dahin müssen wir die Leute vor sich selbst schützen. Holt soviel Seile wie ihr habt, Thog. Jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an, wie viel Schrammen die Menschen hier davon tragen. Wir müssen schnell handeln, bevor sie sich gegenseitig komplett verstümmeln.«

»Wie ist dein Name?«, wandte sich Lymias an den Dorfbewohner, als der Sprecher des Dorfes aus dem Zimmer verschwunden war.

»Ich heiße Hegal. Ich bin der älteste Sohn von Thog.«, antwortete dieser und fing an etwas zu zittern.

»Gut Hegal, hilf mir die Leute zu beruhigen. Hol die noch verbliebenen Leinenstücke und bring sie zu mir. In der Zeit, wo ich die Menschen festhalte, bindest du ihre Hände auf den Rücken fest. Am besten machen wir das gleiche auch mit ihren Beinen. Los jetzt, rasch!«

Lymias machte eine befehlende Geste und lief zu einem jungen Burschen, der vergeblich versuchte einen kranken älteren Mann davon abzuhalten, sich zu kratzen. Ohne größere Anstrengungen warf der Heiler den Älteren zu Boden, drehte ihn auf den Bauch, legte ein Knie zwischen seine Schulterblätter und verdrehte seine Arme auf den Rücken.

Der junge Bursche nickte ihm erleichtert zu. Irgendwie schien auch er eine gewisse Ähnlichkeit mit Thog zu haben. Lymias blickte um sich und sah noch ein paar weitere junger Männer, die die Züge des Dorfsprechers innehatten. Seine ganze Familie schien hier zu sein, um die Kranken zu bändigen.

Hegal tauchte wieder neben ihm auf und reichte ihm eine der zerrissenen Leinen. Der Heiler schüttelte aber nur mit dem Kopf und deutete ihm, dass er selbst die Hände festbinden solle. Schließlich konnte er nicht gleichzeitig die Arme des kranken Mannes halten und die Fesseln anlegen.

So verfuhren sie bei jedem anderen Kranken, der ihnen den Weg kreuzte. Lymias stürzte sich auf sie und warf sie nieder, Hegal band ihnen Hände und Füße fest. Thog war nach kurzer Zeit wieder da, verteilte die Stricke und sagte zu den Anderen, dass sie es dem Heiler und Hegal gleich machen sollen.

Mit einem Mal war der Spuk vorbei. Kein Schreien und Kreischen war mehr zu hören, nur noch ein leichtes Wimmern, welches von den menschlichen, verschnürten Paketen herrührte, die am Boden verstreut lagen.

Matt führte Lymias die erschöpften Männer in die Küche, wo er hier und da ihre Wunden versorgte, die sie sich während des Gerangels zugezogen hatten.

»Was war das? Was ist da gerade geschehen?«, fragte der junge Mann, den der Heiler gerade verarztete.

Es stellte sich heraus, dass er der Neffe von Thog war und Uhlag hieß. Er war sofort mit seinem Bruder Taris zum Haus geeilt, als er von dem jüngsten Sohn von Thog, Feris, hörte, was hier geschah.

»Das war das Gift, welches aus den Blasen in ihr Blut gelangt ist. Es macht sie verrückt. Dazu kommt noch dieser Ausschlag, der so juckt, als wenn eine ganze Armee von Mücken dich gestochen hätte. Die Salbe ist fast erkaltet, wir können also bald damit anfangen, die Leute damit einzureiben. Dann werden wir ja sehen, ob sie so wirkt, wie ich es mir gedacht habe. So, ich bin fertig, du kannst aufstehen.«

Lymias trat zurück und schaute kurz zu, wie Uhlag sich aufrichtete. Einer der Kranken hatte ihn mit einem Messer am Arm verletzt. Er bewegte kurz seinen Arm und nickte dann anerkennend dem Heiler zu. Dieser ging indes zu der Schüssel mit Wasser, welche die Frau von Thog sofort herbei geholt hatte, damit sie ihre Wunden reinigen konnten. Das Wasser hatte sich leicht rot gefärbt von dem Blut, welches sich die Männer aus ihren Gesichtern und von den Armen gewaschen hatten.

Der Heiler wandte sich an die Frau von Thog und beauftragte sie und Feris, frisches Wasser zu holen und die Wunden der Kranken mit einem sauberen Tuch zu reinigen. So könne die Salbe gleich in die Haut einziehen und müsse sich nicht erst durch eine Dreckschicht arbeiten. Derweil versuchten er mit den anderen Männern die Lagerstätten der Kranken wieder einigermaßen herzurichten.

Als sie soweit fertig waren, ging Lymias in die Küche und überprüfte die Salbe. Sie war zwar noch etwas warm aber bei dieser Hitze, die draußen herrschte konnte er nicht erwarten, dass sie komplett abkühlte. Er nahm sich ein Tongefäß und ging damit die Treppe hinauf in ein kleineres Zimmer am anderen Ende eines kurzen Ganges.

Leise öffnete er die Tür und schlich sich hinein. Ein junges Mädchen, vielleicht um die 12 Jahre, saß am Bettrand des kleinen, schlafenden Kindes. Erschrocken schaute sie auf, als sie sein Eindringen bemerkte. Sie sah sehr zerwühlt und abgekämpft aus, trotzdem konnte man die Ähnlichkeit mit Thog nicht übersehen. ›Wie viele Kinder hat dieser Mann denn noch?‹, dachte der Heiler und ging milde schmunzelnd auf sie zu.

Der junge Mann stellte sich vor das Mädchen hin, zeigte ihr den Inhalt des Gefäßes und überließ es ihr, ob sie nicht lieber selber ihre kleine Schwester versorgen wolle. Ohne ein Wort stand sie auf und machte ihm Platz. Lymias kniete sich vor dem Bett nieder und tauchte zwei Finger in die Salbe. Das Kind fing an zu wimmern, wälzte seinen Kopf hin und her und versuchte die Arme zu bewegen, die ihr am Bettrand zur Seite festgebunden waren.

Er griff mit der freien Hand nach ihrem Arm und hielt ihn sanft fest, während er die Salbe darauf verteilte. Augenblicklich wurde das Kind ruhiger und hörte auf zu zappeln. Nur ab und zu zuckte sie leicht zusammen, als Lymias über eine kleinere offene Wunde, die sie sich wohl beim Kratzen selbst zugefügt hatte, die Salbe strich. Als er ihr mit dem Balsam das Gesicht eincremte, atmete das Kind tief ein, öffnete die Augen und sah ihn verstört an. Dann, ganz langsam, fing sie an zu lächeln.

Der Sitte halber stand der Heiler auf und übergab den Tonkrug dem Mädchen, damit sie ihre kleine Schwester weiter einreiben konnte. Glücklich und erleichtert nahm sie ihm den Krug ab und setzte sich wieder zu dem Kind. Der junge Mann schaute nur noch einmal kurz zu dem Bett und sah, wie dem Mädchen einzelne Tränen über die Wangen liefen und sie sanft auf ihre kleine Schwester einredete, dann verließ er das Zimmer.

Lymias ging in die Küche und holte sich ein Gefäß mit der Salbe. Danach kehrte er wieder in das Wohnzimmer zu den Anderen zurück und gab ihnen Anweisung, dass sie sich jeweils zu zweit einen Krug nehmen und damit die Kranken einreiben sollten.

Wieder wurden kleinere Kämpfe ausgetragen zwischen den Befallenen und den Helfern. Manche wehrten sich so heftig, dass sie zu dritt festgehalten werden mussten, in der Zeit wo ein Vierter sie einrieb. Meist verlief es aber so, dass, sobald die Salbe in Kontakt mit der Haut der Kranken kam, diese schlagartig ruhig wurden. Nur erst einmal zu diesem Punkt zu gelangen, stellte sich als schwieriger und kraftaufwändiger heraus, als gedacht.

Nach etwa einer Stunde saßen die Neffen und beide Söhne von Thog erschöpft vor dem Kamin des Zimmers, als Lymias und er sich dazu setzten.

»Das war der Letzte. Jetzt müssten alle mit der Salbe versorgt sein. Danke Liebes.«, sagte der Dorfsprecher matt, während seine Frau Wein und Becher verteilte.

»Jetzt können wir nichts weiter machen als abwarten. Spätestens morgen nach Sonnenaufgang wird sich zeigen, ob die Salbe auch bei allen gewirkt hat. Bis dahin müssen sie ruhen.«, meinte der Heiler und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher.

Dieser Wein mundete nicht annähernd so gut wie dieser, den ihm Thog in der Küche angeboten hatte. Das Getränk, welches er nun zu sich nahm, schmeckte eher so, als ob Wasser mit Wein gepanscht wurde und nicht umgedreht. Unter dem Wein machten sich nicht nur seine Kopfschmerzen bemerkbar, sondern auch sein Magen, der nun laut anfing zu knurren.

»Ihr sprecht mir aus dem Herzen Heiler. Nein, bleib sitzen Vana. Horst, der Wirt, hat uns alle eingeladen. Wir werden hinüber ins Gasthaus gehen und dort unsere wohlverdiente Mahlzeit zu uns nehmen. Ich werde die Dienstmagd des Wirtes bitten, dir und Trischa etwas vom Mahl zu bringen. Ihr beide habt heute genug getan, da müsst ihr euch nicht auch noch in die Küche stellen. Aber pass bitte auf, dass unsere Tochter auch wirklich etwas zu sich nimmt. Seit Sahra krank ist, ist sie immer dürrer geworden.«, meinte Thog zu seiner Frau und stand auf.

Die Anderen taten es ihm gleich und alle gingen sie zusammen aus dem Haus in die finstere Nacht. Lymias blieb kurz vor dem Haus stehen und atmete tief ein. Die frische Luft tat gut. Es war ein wenig abgekühlt und ein leichter Wind kam auf. Trotzdem war es eine angenehme Nacht. Der Himmel war sternenklar und eine silberne, dünne Mondsichel strahlte auf die kleine Gruppe hinab.

Er ging über den Marktplatz auf das Wirtshaus zu, wo die Familie des Dorfältesten schon auf ihn wartete. Sie wollten gerade die Tür öffnen und hineingehen, als ein laut geschrienes »Paaapaaa« sie herum fahren ließen. Vor dem Haus von Thog war die jüngste Tochter des Dorfsprechers aufgetaucht und begann, auf ihren Vater zu zu stolpern.

Alle starrten wie gebannt auf die Kleine, keiner wagte es, etwas zu sagen, noch sich zu bewegen. Erst ein leise geflüstertes »Sahra« von Thog durchbrach diesen Bann und der Dorfälteste stürzte zu seinem Kind. Kurz vor dem Mädchen fiel er auf die Knie und nahm sie in die Arme. Eine kleine Weile standen die Beiden so da, bis der Sprecher des Dorfes sich von ihr löste, um ihr ins Gesicht zu schauen.

»Du bist wieder aufgewacht. Du bist wirklich wieder aufgewacht. Den Göttern sei Dank.«, hauchte Thog und strich ihr liebevoll einige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht.

»Es tut mir Leid Vater. Ich habe nicht aufgepasst. Ich wollte ihr doch nur etwas zu essen holen und als ich wieder oben im Zimmer war, war sie weg.«, meinte Trischa mit zitternder Stimme, die nun auch aus dem Haus gelaufen kam.

»Das ist nicht so schlimm, meine Kleine. Wichtig ist nur, dass wir alle wieder vereint sind, die ganze Familie.«, entgegnete Thog seiner älteren Tochter, streckte die Hand nach ihr aus und nahm sie auch mit in seine Arme.

Feris und Hegal gingen an Lymias vorbei und schlossen sich der Umarmung an. Selbst Uhlag und Taris gesellten sich mit dazu. Es war ein herzzerreißender Anblick, bei jedem von ihnen glitzerten Tränen in den Augen. Trischa hatte angefangen, laut zu weinen.

Der junge Mann fühlte sich etwas fehl am Platze. Natürlich war er froh, dass es der Kleinen wieder gut ging - um sie hatte er sich am meisten Sorgen gemacht - aber ein leichtes Gefühl der Eifersucht machte sich auch in ihm breit. Er war neidisch auf die familiäre Bindung, die zwischen den Leuten, welche vor ihm standen, herrschte. Lymias war es bis jetzt verwehrt geblieben, sich eine Familie aufzubauen und wenn er geglaubt hatte, eine Neue gefunden zu haben, kam alles anders und sein Glück wurde zerstört. Betrübt wandte er sich ab und ging wieder auf das Gasthaus zu.

»Heiler, warte!«, rief eine schwache Kinderstimme.

Verwundert drehte Lymias sich um. Thog war aufgestanden und hatte seine Jüngste auf seinem Arm. Beide kamen sie mit den Anderen auf ihn zu. Sahra winkte den jungen Mann ganz nah an sich ran, küsste ihn auf die Wange und umarmte nun auch ihn.

»Danke«, flüsterte das Mädchen ihm in sein Ohr.

Betreten stand der junge Mann da und wusste nicht, was er darauf antworten oder tun sollte. So viel hatte er nun auch wieder nicht getan. Nur eine lächerliche Salbe zusammengerührt, mehr nicht. Deswegen war er doch noch lange kein Held, nichts besonderes. Nur er, einfach nur Lymias, niemand bedeutendes.

Der Heiler erwachte aus seiner Starre und zog sanft die dünnen Arme, die noch immer um seinen Hals lagen, von sich weg. Er lächelte der Kleinen ins Gesicht und sie erwiderte es mit einen ebenso warmen Grinsen.

»Sagt mal Heiler, seid ihr schon verheiratet oder versprochen?«, fragte Sahra auf einmal.

»Ehm, nein. Keines von beiden.«, stammelte nun der junge Mann verwirrt.

»Das ist gut. Wenn ich nämlich alt genug bin, werd ich euch heiraten. Mein Papa hat da bestimmt auch nichts dagegen.«, plapperte das Kind und sah ihn bestimmend an, als wäre es schon beschlossene Sache.

Lymias schaute nervös zwischen dem Dorfältesten und Sahra hin und her und lief leicht rötlich im Gesicht an. Die Anderen schmunzelten nur und warteten Thogs Reaktion ab. Dieser runzelte die Stirn und blickte nun gespielt empört den jungen Mann an.

»So ist das also. Erst schleicht ihr euch in unser Dorf und gebt vor, ein Heiler zu sein und dann beraubt ihr uns um unsere Frauen und verdreht ihnen den Kopf. Da ich der Sprecher des Dorfes bin, kann und will ich so etwas nicht dulden!«, grollte Thog.

Ein wenig verstört machte Lymias zwei Schritte nach hinten. Auf einmal begannen alle herzhaft zu lachen. Der junge Mann entspannte sich wieder, schüttelte nur verlegen seinen Kopf und blickte den Dorfsprecher an, dessen volltönendes Lachen die Restlichen überlagerte.

»Also wirklich Papa. Du sollst doch nicht immer alle veralbern!«, sagte Sahra und schaute ihren Vater vorwurfsvoll an.

»Und du mein kleiner Sonnenschein solltest schon längst im Bett sein!«, entgegnete Thog und kniff ihr dabei liebevoll in die Nase.

»Ihr seid mir wahrlich ein Kräuterkundiger. Lasst uns endlich hinein gehen. Es ist sehr spät geworden. Ein kräftiges Mahl und ein großer Humpen Bier wird uns allen jetzt gut tun.«, meinte der Dorfälteste und gab Sahra in die Hände von seiner Frau, die gerade mit hinzugekommen war.

So gingen die sechs Männer nacheinander in das Gasthaus und setzten sich an einen Tisch nahe dem Kamin, der zurzeit nicht benutzt wurde. Alle sanken sie erschöpft auf die Stühle nieder und warteten bis der Wirt vorbei kam und ihnen die Mahlzeiten brachte. Fast gierig fielen sie über ihr Essen her und verschlangen es in wenigen Minuten.

Nur Lymias aß mit Bedacht und musterte ab und zu seine Mitmenschen, die mit ihm zusammen am Tisch saßen. Es waren gute und nette Leute. ›Ob sie mich auch noch mögen, wenn sie wissen wer bzw. was ich bin?‹, grübelte der junge Mann und stocherte abwesend in seinem Essen herum. Von dem Bier, welches vor ihm stand, hatte er mit Absicht noch nicht getrunken, da der Wein von vorhin ihn noch ein wenig zusetzte.

»Was ist mit euch los, Heiler? Seid ihr schon von den paar Bissen satt, die ihr bis jetzt zu euch genommen habt oder schmeckt es euch nicht? Ich kann euch auch noch etwas anderes bringen lassen.«, sagte Thog, der ihn nun besorgt anschaute.

»Danke, aber es ist nichts. Ich bin nur müde. Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich mich jetzt entschuldigen und mich zurückziehen wollen. Es war wirklich ein langer Tag.«, meinte Lymias ausweichend und erhob sich von seinem Stuhl.

Der Dorfälteste schien zu ahnen, dass dies nicht der wahre Grund war, sagte aber nichts weiter dazu und winkte einem Knecht des Wirtes, der den Fremden sein Zimmer zeigen sollte. Der Heiler verabschiedete sich kurz und wünschte allen noch eine geruhsame Nacht. Dann folgte er dem Knecht eine Treppe hinauf in ein kleines Zimmer. Es war zwar kein königliches Gemach, aber das Bett sah trotzdem recht gemütlich aus. Lymias gab dem Jungen einen Kupferling und wollte sich gerade dem Bett nähern, als ihm noch etwas einfiel. Er drehte sich wieder zu dem Knecht um und fragte, ob er wisse, wo sein Pferd untergebracht war.

»Es ist bei uns im Stall, Herr.«, antwortete der Junge.

»Kannst du dich bitte besonders gut um ihn kümmern? Er ist mir sehr wichtig und ein guter Freund.«, sagte der Heiler, ging auf den Knecht ganz nah zu und drückte ihm ein Silberstück in die Hand.

»Natürlich Herr, sehr gerne.«, stotterte der Junge verlegen und blickte erstaunt auf das Silberstück, dann wieder zu dem Fremden.

»Du kannst jetzt gehen«, meinte Lymias und lächelte dem Knecht zu. Dieser bekam kein weiteres Wort heraus, deutete eine leichte Verbeugung an und verschwand aus dem Zimmer.

Der Heiler ging zu dem Bett, zog sich bis auf seine Leibwäsche aus und legte sich hinein. Es war wirklich sehr bequem und so schlief er in wenigen Minuten ein. In seinen Träumen zog der ganze Tag noch einmal an ihm vorbei, auch der silberne Schönling tauchte für einen Atemzug wieder auf. Dann aber wurde es schwarz, die Träume verschwanden, der Schlaf wurde tiefer und erholsamer.

Am nächsten Morgen wachte Lymias kurz nach Sonnenaufgang gestärkt auf. Er sprang fast fröhlich aus dem Bett, ging zu der Schüssel mit Wasser, die auf einem flachen Schrank stand und wusch sich die Nacht vom Leib. Als er sich gerade abtrocknete, klopfte es zögerlich an der Tür.

»Herein!«, sagte der Heiler laut und trocknete weiter sein Gesicht.

Der Knecht vom Vorabend steckte schüchtern seinen Kopf durch die Tür. Als er sah, dass der junge Mann ihn anschaute, ging er ein Stück ins Zimmer.

»Entschuldigt die Störung, Herr. Aber Thog bat mich euch zu wecken und euch auszurichten, dass das Frühstück bereit stehe.«, stammelte der Junge verlegen.

Lymias lächelte ihn freimütig an, bedankte sich und bat ihn Thog zu sagen, dass er gleich runter kommen würde. Als der Knecht sich nicht rührte, sondern ihn nur weiterhin anstarrte, merkte der Heiler, dass er vor dem Jungen nur im Lendenschurz da stand. Langsam legte er das Handtuch beiseite, ging fast gemütlich zu seinen Sachen und zog sich sein Hemd an. Er beobachtete den Knecht aus dem Augenwinkel und sah mit einem Schmunzeln, dass dieser jede seiner Bewegungen verfolgt hatte.

»Ist noch etwas?«, fragte Lymias.

Der Angesprochene zuckte merklich zusammen, nuschelte irgendeine Entschuldigung und flüchtete aus dem Zimmer. Grinsend schaute Lymias ihm nach, zog sich weiter an und wollte dann nach seinem Schwert greifen, um es sich wie immer an die linke Seite seiner Hüfte zu binden. Er besann sich aber eines Besseren und ging unbewaffnet nach unten in den Schankraum. Hier würde ihn bestimmt keiner angreifen und wenn, wusste sich der Heiler auch ohne Schwert zu verteidigen. Der Dorfsprecher saß mit seinen zwei Söhnen an einem Tisch und winkte Lymias zu, als dieser ihn sah.

»Wie mir scheint, habt ihr gut geschlafen. Ihr seht mir um einiges ausgeruhter aus als gestern Abend. Setzt euch zu uns und genießt das Frühstück.«, bedeutete ihm Thog fröhlich.

Lymias nahm Platz und griff nach einem Brötchen. Der Tisch war reichlich gedeckt mit Früchten, frisch gebackenem Brot und kleinen Brötchen, einem großen Stück Käse und verschiedener Wurst, mit Marmelade und Honig. Aus einem Krug roch es nach Pfefferminztee, der gerade frisch aufgekocht zu sein schien. Da er gestern kaum etwas gegessen hatte, war nun sein Hunger umso größer, also langte er dieses Mal richtig zu.

Als der junge Mann mit dem zweiten Brötchen fertig war und nach dem Dritten griff, fing der Dorfsprecher an zu erzählen.

»Ich habe mir vorhin ein paar der Kranken angeschaut. Es scheint ihnen bestens zu gehen. Wir konnten bei allen die Fesseln entfernen. Die Hälfte wollte jetzt schon wieder nach Hause oder ihre Arbeit auf den Feldern fortsetzten. Bitte schaut sie euch noch ein letztes Mal an. Ich will nur ganz sicher gehen.«

»Das hätte ich so oder so getan. Außerdem möchte ich, dass die anderen Dorfbewohner sich bei euch melden, sobald sie auch nur den kleinsten Ausschlag bei sich entdecken. Für manche Leute ist die Krankheit ansteckend. Wir müssen sie eindämmen. Nur so können wir sie aus dem Dorf für immer verbannen.«, gab der Heiler zu verstehen, stopfte sich den letzten Bissen in den Mund und spülte mit einem kräftigen Schluck des Tees nach.

Als alle fertig mit Frühstücken waren, standen sie auf und gingen hinüber zu Thog. Dort bot sich Lymias ein ganz anderer Anblick als beim ersten Mal, wo er durch diese Tür gegangen war. Die Kranken schwatzten fröhlich miteinander oder dösten friedlich vor sich her. Überall roch es nach Himbeeren und Bienenwachs.

Der Dorfälteste führte ihn in die Küche, wo der Heiler sich in Ruhe einen Kranken nach dem Anderen ungestört anschauen konnte. So verbrachten sie dann den ganzen Vor- und Nachmittag damit, die Befallenen zu untersuchen und neu einzubalsamieren. Es kamen immer mehr Dorfbewohner zu ihnen, um sich überprüfen zu lassen. Thog hatte anscheinend ein ernstes Wörtchen mit dem ganzen Dorf gesprochen, denn jeder war sehr darauf bedacht, die Anweisungen des Heilers einzuhalten. Lymias gab hier und da noch ein paar Auskünfte zu den kleineren Leiden der Dorfleute, wenn diese sich über einen schmerzenden Rücken oder flaues Gefühl in der Magengegend beschwerten.

Ab und zu kamen Sahra und Trischa in die Küche und brachten ihm etwas zu essen oder zu trinken. Jedes Mal rangelten die Beiden miteinander, wer ihm wohl was bringen dürfe und versuchten die Aufmerksamkeit des Heilers auf sich zu ziehen. Dieser lachte die Kinder an und bedankte sich artig, worauf die Mädchen wild kichernd wieder aus der Küche verschwanden.

Den größten Teil der Kranken konnte er schon nach Hause schicken, mit der Bedingung, sich dort noch ein wenig auszuruhen und sich selbst regelmäßig früh und abends einzucremen. Der junge Mann gab jeder Familie ein kleineres Tongefäß mit der Salbe mit und, wer wollte, bekam auch das Rezept zu deren Herstellung.

Mit der Zeit wurden die Schalen mit der Salbe immer geringer. Deswegen beschloss Lymias noch einmal in den Wald zu gehen, um die Kräuter zu sammeln.

»Ihr wollt doch dort nicht alleine hinein gehen?«, fragte Thog ungläubig und folgte dem jungen Mann mit auf sein Zimmer.

Lymias holte sich sein Schwert und band es sich an die Seite. Dann ging er wieder hinunter und in den Stall um sein Pferd zu satteln. Der Knecht hatte es wirklich sehr gut versorgt. Es schnaubte freudig auf, als es seinen Herren bemerkte.

»Es ist besser, wenn ich das allein mache. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass sich jemand wegen mir in Gefahr begibt.«, antwortete er ein wenig verspätet auf die Frage.

»Wegen euch? Ihr begebt euch doch wegen uns in Gefahr. Und da ich der Sprecher des Dorfes bin, werde ich euch auch begleiten. Und keine Widerworte!«, sagte Thog bestimmend.

Gerade als der junge Mann darauf etwas entgegnen wollte, erschien der Knecht des Wirtes hinter dem Dorfältesten mit einem gesattelten Pferd an den Zügel führend.

»Eurer Pferd, Herr.«, sagte er leise und schaute schüchtern zu Lymias hinüber.

»Danke Eric. Geh bitte zu unserem Heiler und hilf ihm sein Pferd zu satteln, damit wir heute noch vor Sonnenuntergang am Wald ankommen.«, triumphierend blickte Thog Lymias an.

»Gegen euren Starrsinn bin ich wohl machtlos. Dann lasst uns schnellstens losreiten.«, meinte Lymias nun grinsend.

Dank der Hilfe des jungen Knechtes war sein Pferd in wenigen Minuten gesattelt. Der Junge machte seine Sache wirklich sehr gut, trotz dass er nervös zu sein schien. Sie führten ihre Pferde nach draußen und saßen auf. Als Eric ihm die Zügel reichte, ruhten seine Finger einen kleinen Augenblick zu lange auf den Händen des Heilers.

Verlegen zog der Knecht mit einem Ruck seine Arme zurück und verschwand im Stall des Gasthauses. Lymias blickte ihm mit gerunzelter Stirn nach.

»Zuerst verdreht ihr unseren Weibern den Kopf und jetzt auch noch den Männern. Aber dass ihr mir bloß nicht das halbe Dorf durcheinander bringt!«, lachte Thog und gab seinem Pferd ein klein wenig die Sporen.

»Was ist Heiler? Wollt ihr dort übernachten?«, rief der Dorfsprecher und drehte sich zu dem jungen Mann herum als er merkte, dass dieser ihm nicht folgte.

Verwirrt schaute er zu Thog und trabte los, bis er auf seiner Höhe war.

»Der Bursche scheint euch zu mögen. Wenn ihr wollt, könnte ich ein Treffen für euch mit ihm arrangieren...«, sagte der Dorfälteste, wurde aber jäh von Lymias unterbrochen.

»Nein!«, fuhr er fast empört Thog an.

»Nein. Ich danke euch, wirklich, aber ich glaub, das ist das Letzte, was ich jetzt will.«, setzte er in einem beschwichtigendem Ton nach, als er merkte, dass er zu heftig reagiert hatte.


Damals, als er noch auf dem Schloss gelebt hatte, war es immer ein kleines Ritual zwischen ihnen gewesen, wenn er und der Prinz zusammen ausreiten wollten, dass sie selbst ihre Pferde sattelten. Sie hatten es sich zu einem Ritual gemacht, da sie sich so das erste Mal näher gekommen waren.

Lymias hatte sich eine schwere Wunde knapp unter den Rippen zugezogen als er einen Pfeil mit seinem Körper aufgehalten hatte, der eigentlich für den Prinzen bestimmt war. Die Verletzung war etwas abgeheilt und den Magier hielten keine zehn Pferde mehr in seinem Bett. Ihm war es verboten, schon jetzt wieder auszureiten, aber die Mauern des Schlosses beengten ihn. Er wollte nur noch hinaus.

Der Prinz hatte die ganze Zeit an seinem Bett gewacht und wusste, dass Lymias im Prinzip nicht die Kraft hatte, alleine hinaus zu gehen. Er wusste aber auch, dass man ihm nichts ausreden konnte. Deswegen beschloss er, sich dem jungen Magier anzuschließen und weiterhin auf ihn aufzupassen.

Die Beiden gingen in den Stall und sattelten die Pferde. Danach wollten sie aufsitzen, aber Lymias‹ Wunde begann beim Aufstieg zu schmerzen. Er krümmte sich kurz auf dem Sattel und stöhnte ein wenig. Der Prinz eilte sofort zu ihm, hielt die Zügel des Pferdes und die Hände fest, die sie hielten. Besorgt sah er zu dem Magier auf. Dieser fing seinen Blick auf und schaute ihm in die Augen. So standen beide nun da und starrten sich gegenseitig an. Jeder versank in den Augen des Anderen.

Lymias wusste nicht mehr, wie lange sie so da gestanden hatten. Er wusste nur, dass sie sich noch am gleichen Tag zum ersten Mal geküsst und ihre Liebe gestanden hatten. Der Junge hatte ihn an all das erinnert. Die gleiche Situation, fast der gleiche Blick, als er ihm die Zügel gereicht hatte. Der junge Mann wollte keinen Anderen. Er wollte seinen Prinzen wieder, aber das war unmöglich.


»Hm, ich dachte nur, dass ihr euch vielleicht etwas vergnügen und entspannen wollt, nach alldem, was in den letzten Stunden passiert ist. Wenn ihr möchtet, kann ich euch auch eine hübsche Frau besorgen.«, holte ihn Thog wieder aus seinen Gedanken.

»Nehmt es Eric bitte nicht all zu übel. Er wurde erst letztens erwischt, als er sich mit dem Müllersknaben amüsiert hat. Für ihn ist das Ganze noch sehr neu. Aber bei uns ist das nichts Ungewöhnliches. Also rate ich euch, wenn ihr gegen solch eine Liebe was habt, es nicht laut auszusprechen. Die Leute hier sind da sehr eigen.«, redete der Dorfsprecher weiter als ihm sein Gegenüber nicht antwortete.

»Das ist es nicht. Ich habe bestimmt nichts dagegen.«, sagte Lymias schwach und seufzte.

»Aha, eine verflossene Liebe.«, meinte Thog und lächelte ihn nun väterlich an, als Lymias verwundert aufblickte.

»Schaut mich nicht so an Heiler. Ich habe 4 Kinder und das Fünfte ist unterwegs. Bei uns ist es anders als in den restlichen Familien. Bei uns ist jeder für jeden da. Wir hören uns gegenseitig zu und teilen unsere Freuden und Ängste miteinander. Ich habe zwei Söhne und zwei Neffen, die schon mehr als einer Frau den Kopf verwirrt bzw. ihre eigenen verdrehen lassen haben. Ich kenne diesen hilflosen Blick.«

»Bin ich denn so durchschaubar?«

»Nur für ein geübtes Auge... oder für mich.«

Der Dorfälteste lächelte ihn an und zwinkerte ihm kurz zu. Lymias musste ein wenig schmunzeln und atmete tief ein. Er wollte sich so gerne Thog anvertrauen, aber die Wunden waren noch zu frisch. Dieser hakte auch nicht weiter nach. Und so ritten sie schweigend dem Wald entgegen.

Dort angekommen stiegen sie von ihren Pferden ab und ließen sie auf der Wiese davor grasen. Der Sprecher des Dorfes hatte zwei kleinere Körbe mitgebracht, in die sie die gesammelten Kräuter hineinlegen konnten. Lymias fand einige Pflanzen und zeigte Thog, wie man sie vom Boden löste, ohne ihre Wurzeln zu beschädigen, damit sie auch nachwachsen konnten.

Bald darauf fanden sie am Rand des Waldes keine mehr, deswegen beschlossen sie, im Inneren des Dickichts nach den Kräutern zu suchen. Mit gezückten Dolchen wateten die beiden Männer durch das Unterholz und suchten den Boden nach den gewünschten Pflanzen ab. Der junge Mann ermahnte nochmals Thog, dass er aufpassen solle, wohin er seine Füße setze. Die Erde dort im Wald war ein tückisches Moor. Schon ein Fehltritt könnte tödlich enden.

Eine gute Stunde stolperten sie zwischen den Bäumen einher, bis sich Lymias mit einem Mal aufrichtete und horchte. Dabei beobachtete er seine Umgebung und tastete mit seinen Augen jedes einzelne Blatt ab.

»Was ist los? Habt ihr etwas gehört?«, fragte ihn Thog.

»Ich dachte da war etwas. Lasst uns schnell die letzten Kräuter einsammeln. Je eher wir hier verschwinden desto besser.«, antwortete der junge Mann und legte die Pflanze, welche er noch in den Händen hielt, in den Korb.

In Wahrheit hatte Lymias nichts gehört, nur etwas gespürt. Etwas dunkles, was nur auf den richtigen Moment wartete, um über seine Beute herzufallen.

»So, ich bin fertig. Das dürften zunächst genug Kräuter sein, um auch noch den Rest meines Dorfes damit zu versorgen. Was ist denn nur los mit euch? Ihr seht aus als hättet ihr einen Geist gesehen.«, scherzte Thog und gesellte sich zu dem jungen Mann.

»Vielleicht hab ich das auch. Hoffen wir nur, dass er dort bleibt, wo er ist und uns nicht in die Quere kommt. Gehen wir, kommt.«, erwiderte Lymias nur und ließ dabei die Gegend nicht aus den Augen.

»Eure Mutter hat euch wohl zu viele Schauergeschichten erzählt. Es gibt keine Geister und die Monster, von denen erzählt wird, sind nur übergroße hungrige Tiere. Das Einzige worüber ich mir hier Gedanken mache, ist das Gesindel, dass sich hier herumtreibt, wobei Diebe noch das kleinere Übel von denen sind. Aber keine Angst kleiner Mann, ich werde euch schon beschützen.«, witzelte der Dorfälteste weiter, blieb aber stehen, als der Heiler ihm am Arm packte.

»Wenn es keine Geister und Monster gibt, wie erklärt ihr euch dann das da?«, fragte Lymias und deutete nach vorne.

»Bei den Göttern. Was ist das und was macht es dort?«, wie vom Blitz getroffen stand der Sprecher des Dorfes da und starrte auf das Wesen vor ihm.

Man sah nur einen riesigen Erdklumpen, der über etwas gebeugt war und dies in sich hinein stopfte.

»Soweit ich es erkennen kann, ist es ein Moorwesen und wie es ausschaut, ist er gerade beim Fressen.«, scherzte nun der junge Mann seinerseits, wurde aber schnell wieder ernst.

»Diese Wesen mögen es nicht besonders, wenn sie in ihrer Ruhe gestört werden. Ich würde sagen, wir gehen langsam rückwärts, verschwinden ganz leise und machen dann einen großen Bogen um ihn. Er könnte für uns mehr als nur gefährlich werden.«

»Da stimme ich euch nur zu gern zu. Machen wir, dass wir hier weg kommen.«, erwiderte Thog und fing genauso wie der Heiler an, vorsichtig zurückzugehen.

Der Erdhaufen hob auf einmal seinen Kopf - wenn man es als solches bezeichnen konnte, da Kopf und Torso eins waren - und schien zu schnüffeln. Er wandte sich zu den beiden Menschen um und betrachtete sie aus schmalen schwarzen Schlitzen, was wohl seine Augen darstellen sollten.

»Oh, ich glaube wir haben ein Problem.«, sagte Lymias ruhig.

»Ich sehe auch, dass es uns entdeckt hat, aber ich dachte, wenn wir es in Ruhe lassen, lässt es auch uns in Frieden.«, flüsterte der Dorfsprecher fast.

»Na ja, sonst schon. Aber es ist Paarungszeit.«

»Was hat denn das jetzt mit diesem Monster zu tun?«

»Wesen, nicht Monster.«

»Wie?«

»Ach, ist egal Thog. Es ist nur so, diese Wesen fressen nur wenn es Paarungszeit ist, also einmal im Jahr. Und dann sind sie sehr hungrig.«

»Oh.«, war alles was der Dorfälteste erwidern konnte.

Das Moorwesen richtete sich vollends auf. Es war gut zwei Meter fünfzig groß und doppelt so breit wie Thog. Seine Haut bestand überwiegend aus braunem Schlamm und grauer Erde. Die Arme und Beine waren so dick wie kleinere Baumstämme und an seinen Händen hatte es jeweils nur drei Finger, wenn man den Daumen mitzählte.

In der rechten Hand hielt es ein längliches blutiges Stück Fleisch, was es nun achtlos auf den Boden fallen ließ. Der Dorfsprecher starrte das Stück an und ihm wurde übel als er sah, was es war. Es war der Rest eines Beines, an dem noch ein verstümmelter Fuß hing.

Das Wesen ging nun langsam auf die beiden Menschen zu und fing an zu grunzen. Dabei öffnete es sein Maul aus welchen Blut und Schleim tropfte.

»So, ich glaube jetzt ist der Zeitpunkt vorbei, wo wir uns still und heimlich verkriechen können. Lauft!«, sagte der Heiler und wurde bis zum Schluss immer lauter.

Er riss Thog herum und rannte dann mit ihm durch den Wald. Weit kamen sie allerdings nicht, da das Moorwesen schneller war als gedacht. Mit einem kurzen Hieb schleuderte es Lymias von hinten an einem Baum, wo er für kurze Zeit bewusstlos davor liegen blieb.

Als er wieder zu sich kam sah er, wie das Wesen links vor ihm stand und Thog mit beiden Händen würgte. Der Dorfsprecher hing einige Zentimeter in der Luft, hatte das Wesen an den Handgelenken gepackt und versuchte sie von seinem Hals zu lösen. Lange würde er diesen Zustand nicht mehr aushalten können, da sein Gesicht schon begann, blau anzulaufen.

Lymias war mit einem Satz wieder auf den Beinen. Noch im Lauf zog er sein Schwert und schlug damit auf die Arme des Wesens ein. Es war ein Schnitt wie durch Butter und der Sprecher des Dorfes sank, neben den abgetrennten Armen, hustend zu Boden. Mit einer fließenden Bewegung vollführte der Heiler eine Linksdrehung um 360 Grad mit Schwert und Körper und schlitzte das Moorwesen von Kopf bis zur rechten Schulter schräg auf. Mit einem schmatzenden Geräusch lösten sich beide Teile voneinander und das kleinere Stück fiel nach unten.

»Alles O.K. bei Euch?«, fragte der junge Mann besorgt.

»Ja, mir geht es gut, danke. Aber ich denke unserem Freund hier geht es genauso.«, brachte Thog hustend hervor.

Erschrocken wandte sich der Heiler um und sah verblüfft, wie dem Wesen neue Arme wuchsen und sich auch der Rest zu regenerieren begann. Die Teile, die er vorher ihm mit dem Schwert abgetrennt hatte, waren auf den Boden zu einem leblosen matschigen Klumpen geworden.

Mit einem Ruck half er dem Dorfsprecher auf die Beine und stieß ihn nach vorne. Beide fingen sie wieder an, durch das unwegsame Gehölz zu rennen. Ein wildes, tief dröhnendes Gebrüll versicherte ihnen, dass sie immer noch verfolgt wurden.

»Wir müssen unbedingt aus diesem Wald raus!«, schrie der junge Mann Thog zu, »nach draußen wird es uns nicht verfolgen. Da ist es ihm viel zu warm und es könnte austrocknen.«

»So etwas Ähnliches hab ich mir auch schon gedacht, Heiler. Nur laufen wir im Moment in genau die entgegengesetzte Richtung. Wir müssen einen Haken schlagen. Wenn ich jetzt sage, folgt ihr mir nach links.«, schrie der Dorfsprecher zurück.

Lymias nickte und versuchte weiter auf ihren Weg zu achten. Er überlegte die ganze Zeit, wie man dieses Wesen aufhalten konnte. In irgendeinem Buch hatte er es einmal gelesen, aber es wollte ihm einfach nicht mehr einfallen.

»JETZT!«

Beide Männer stürmten nach links, das Wesen ihnen hinterher. Es holte sehr schnell auf, viel zu schnell. Auf einmal verloren sie den Boden unter ihren Füßen und stürzten einen kleinen Abhang hinab. Der Heiler rutschte ein gutes Stück weiter hinunter und rappelte sich dann fluchend wieder auf.

Er brauchte sich nicht groß umzuschauen, ob das Moorwesen noch in der Nähe war. Er roch es förmlich. Um so mehr beunruhigte ihn, dass der Dorfälteste nirgends zu sehen war.

»Thog, wo seid ihr? Ist mit euch alles in Ordnung?«, rief Lymias in den Wald.

Die Bäume standen hier so dicht, dass er kaum etwas anderes sehen konnte. Ein Stöhnen ließ ihn aufhorchen. Er lief um ein paar Bäume herum und fand den Sprecher des Dorfes am Boden liegend wieder. Sein linkes Bein war voller Blut und ein fingerdicker Ast ragte daraus hervor. Der junge Mann kniete sich neben Thog und machte Anstalten den Ast heraus zu ziehen, aber der Dorfälteste hielt ihn davon ab.

»Geht mein Freund. Ich werde versuchen dieses Monster aufzuhalten, sodass ihr unversehrt aus dem Wald gelangen könnt, wenn ihr euch beeilt. Mit meiner Verletzung werde ich nicht mit euch Schritt halten können, das Moorwesen ist viel zu schnell. Es würde mich so oder so kriegen.«

»Nein! Ich lass euch nicht hier liegen. Kommt, ich stütze euch.«, sagte Lymias und wollte ihm wieder aufhelfen, doch dieser schüttelte nur mit dem Kopf.

»Wir sind zusammen nicht schnell genug. Ihr seid noch jung, ihr müsst leben. Das ist mein Geschenk an euch, da ihr meine Tochter gerettet habt. Und jetzt geht schon. Das Wesen ist nah.«, meinte Thog mit fester Stimme und zückte seinen Dolch.

Der Heiler blieb wie angewurzelt stehen und schaute den Dorfsprecher an. Er wollte ihn nicht hier zurück lassen. Er wollte nicht, dass er sich für ihn opferte. Er wollte, dass sie beide halbwegs unbeschadet aus diesem verfluchten Wald herausfanden. Er wollte nicht alleine in das Dorf zurück kehren und Sahra, Trischa und den Anderen mitteilen, dass sie ihren Vater und geliebten Menschen nie wieder sehen würden, nur, weil er sich darauf eingelassen hatte, ihn mit in den Wald zu nehmen. Thog war ein guter Mensch, er wollte nicht, dass gerade dieser hier und jetzt starb und noch durch die Klauen eines solchen Wesens.

Lymias hechtete links zur Seite, rollte sich ab und drehte sich wieder zu Thog. Dort, wo der Heiler vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte, waren nun die Fäuste des Moorwesen, die einen kleinen Krater in die Erde gestampft hatten. Der junge Mann nahm kurz Anlauf und warf sich dann mit seiner rechten Schulter und seiner ganzen Kraft gegen das Wesen. Dieses strauchelte und fiel mit ihm auf die Seite. Schnell rollte Lymias sich wieder links weg und stellte sich schützend vor dem Dorfsprecher.

Und dann, ganz plötzlich, fiel ihm wieder ein, wie das Wesen zu besiegen war. Die Lösung war Hitze. Wenn er nur genügend Hitze erzeugen könnte, würde das Moorwesen austrocknen und zu Staub zerfallen.

»Was macht ihr denn da?«, rief Thog wütend, »Verschwindet, solange ihr noch genügend Zeit habt! Auf was wartet ihr denn noch? Was habt ihr denn vor?«

»Ich bin mir zwar nicht sicher, ob es funktioniert, aber ein Versuch ist es wert.«, sagte der Heiler.

»Denkt ihr wirklich ihr könnt dieses Wesen besiegen? Habt ihr denn nicht mit eigenen Augen gesehen, dass euer Schwert ihm nichts anhaben kann?! Macht keine Dummheiten, sonst bringt es uns zusammen um!«, schrie nun der Dorfälteste aufgebracht.

»Keine Angst kleiner Mann, ich werde euch schon beschützen!«, sagte Lymias grinsend und begann sich zu konzentrieren.

Warm begann die Magie durch seine Adern zu pulsieren. Er hob die Arme und presste seine Hände aufeinander. Dazwischen entstand ein lila Licht, welches immer größer und dann zu einer hellen Kugel heran wuchs.

Ungläubig beobachtete Thog das Geschehen. Der junge Mann hatte angefangen am ganzen Körper lila zu glühen. Das Licht wurde so grell, dass er seine Augen mit einer Hand abschatten musste. Er konnte nur noch wage erkennen, wie der Heiler die Kugel, die sich zwischen seinen Händen gebildet hatte, auf das Wesen niederließ. Dieses stieß einen bis ins Mark erschütternden Schrei aus. Man konnte hören, als das Wesen zu erstarren begann, wie wenn Wasser zu Eis gefror. Dann zersplitterte das Moorwesen in tausend kleine Teilchen.

Erschöpft fiel Lymias zu Boden. Eigentlich war das nur ein kleiner Teil seiner Macht gewesen, aber von seinem letzten Kampf hatte er sich noch nicht ganz erholt.

»Was...?«, mehr brachte Thog nicht heraus.

»Ich habe uns gerettet, mehr nicht«, sagte der junge Mann ruhig und drehte sich zu ihm um.

»Ihr habt lila Augen. Ihr seid kein gewöhnlicher Magier. Bei keinen von denen ändert sich etwas an ihrem Äußeren wenn sie ihre Kräfte herbei rufen. Ihr seid ein Erdkind!«, stammelte der Dorfsprecher und schaute ihn mit großen Augen an.

»Ja, das bin ich. Aber keine Angst. Ich bringe euch nur noch aus dem Wald. In das Dorf zurück zu reiten, schafft ihr sicherlich alleine.«, sagte Lymias betrübt und untersuchte erneut die Wunde an Thogs Bein.

»Wieso allein? Wollt ihr uns denn jetzt schon verlassen? Ihr habt doch noch ein Teil von eurem Habe im Gasthaus auf dem Zimmer liegen. Wenn ich ehrlich bin, haben wir ein kleines Fest euch zu Ehren heute Abend arrangiert. Und außerdem wären Trischa und Sahra nicht gerade erfreut, wenn ich ohne euch zurückkehre!«, sprach der Dorfälteste und schaute ihn verwundert an.

»Ihr wollt mich also nicht fort schicken?«, fragte der junge Mann vorsichtig.

»Wieso sollte ich so etwas tun?«

»Na ja, weil... ich meine weil... weil ich doch...«

»Weil ihr ein Erdkind seid? Gewiss nicht. Ich gebe aber gerne zu, dass ihr das den Anderen aus dem Dorf nicht wissen lassen solltet. Sie glauben den Gerüchten, die abends vor dem Kaminfeuer erzählt werden, sie sind nicht besser zu belehren. Mir habt ihr euren wahren Wert schon bewiesen. Es sind die Taten der Menschen, an denen ich sie messe, nicht wer sie laut ihrer Geburt sind.«

»Ihr sprecht weise Worte Thog, danke.«, sagte Lymias erleichtert.

»Schon gut. Aber nun helft mir langsam auf. Ich will keinen Augenblick länger als nötig in diesem Wald bleiben.«, lachte der Dorfsprecher.

Der Heiler zerriss ein Bein von Thogs Hose, die eh nur noch in Fetzen an ihm hing. Dann band er mit diesem Stück oberhalb der Wunde das Bein ab und half dem Dorfältesten auf. Nach einer Viertelstunde waren sie wieder unter freiem Himmel. Der junge Mann pfiff kurz und nach wenigen Augenblicken trabte sein getreuer Freund an, hinter ihm das Pferd von Thog.

Er half dem Sprecher des Dorfes in den Sattel und überprüfte nochmals sein Bein. Dann drehte er sich wieder gen Wald und ging darauf zu.

»Was habt ihr denn nun schon wieder vor? Wollt ihr noch ein paar anderen Moorwesen einen Besuch abstatten?«, fragte der Dorfälteste leicht spöttisch, aber doch mit ein wenig Sorge in seiner Stimme.

»Ihr wisst doch noch, weswegen wir eigentlich hierher gekommen sind? Keine Angst, ich bin gleich wieder da. Ich sammle diesmal nur die Kräuter auf meine Art.«, antwortete der Heiler lachend und verschwand hinter einem Baum.

Besorgt schaute er dem jungen Mann nach. Er überlegte schon ob er ihm nicht nachreiten solle. Dann sah er aber einen sanften lila Nebel durch die Bäume schimmern. Nach wenigen Minuten war dieser wieder verschwunden und Lymias tauchte aus dem Wald auf. Er hatte die zwei Körbe in der Hand, welche sie bei ihrer Flucht vor dem Wesen achtlos beiseite geworfen hatten, bis zum Rand gefüllt mit den Kräutern.

»Wir hätten uns also das Ganze ersparen können, wenn ihr gleich mit eurer Magie die Pflanzen gesammelt hättet?«, fragte Thog den Heiler amüsiert.

»Ja hätten wir. Aber da ich nicht wusste, wie ihr darauf reagiert und ihr aber unbedingt mitkommen wolltet, musste ich halt mit euch ganz normal die Kräuter zusammen suchen.«, meinte der junge Mann gelassen und lachte den Sprecher des Dorfes an.

»Ich und mein Starrsinn...«

»Da habt ihr wohl Recht. Ach ja, mein Name ist Lymias.«, sagte der Heiler, stieg elegant auf sein Pferd auf und reichte Thog seine rechte Hand.

Dieser ergriff sie freudig, ohne zu zögern und drückte fest zu. Beide ritten sie Seite an Seite zurück zum Dorf, der farbenprächtigen Dämmerung entgegen.


»Bei den Göttern! Was ist mit euch geschehen?«, besorgt lief Vana, Thogs Frau, den beiden entgegen, als Lymias dem Dorfsprecher vom Pferd half.

Er hatte viel Blut verloren und war dementsprechend wacklig auf den Beinen. Sie brachten ihn in ein Zimmer im oberen Stockwerk des Hauses. Der Heiler schickte Vana wieder nach unten und bat sie, ihm warmes Wasser und frisches Verbandszeug zu bringen. Thog hatte sich auf das Bett gelegt und die Decke beiseite geschoben. Der junge Mann ging auf ihn zu, beugte sich über sein Bein und betrachtete den Ast, der daraus hervor ragte.

»Bist du bereit?«, fragte Lymias und schaute ausdruckslos in sein Gesicht.

Die förmliche Anrede hatten sie im stillen gegenseitigen Einvernehmen nach dem Erlebnis im Wald fallen gelassen. Der Heiler legte seine rechte Hand oberhalb von Thogs Wunde auf sein Bein, mit der Linken packte er den dünnen Ast. Er schaute noch einmal den Dorfsprecher an. Dieser nickte nur stumpf. Mit einem Ruck zog Lymias den Stock heraus. Thog bäumte sich kurz auf, krallte sich in die unter ihn liegenden Laken und stieß ein Stöhnen zwischen zusammen gebissenen Zähnen aus. Geschickt löste der junge Mann den Stofffetzen, den er oberhalb der Wunde gebunden hatte und band die Verletzung vorerst damit ab.

Als Vana wieder im Zimmer erschien, ging der Heiler ihr entgegen, nahm ihr das schwere Wasser ab und stellte es neben dem Bett ab. Er bedeutete ihr kurz zu warten, lief schnell nach unten zu seinem Pferd und holte aus einem der Körbe eine grüne Pflanze. Mit dieser ging er wieder zu Thogs Frau, zerrieb das Kraut in seiner Hand und mischte es unter das warme Wasser. Dann beauftragte er Vana Thogs Wunde damit auszuwaschen und danach sorgfältig zu verbinden.

»Tauche die Verbände, die direkt auf der Verletzung liegen, auch kurz in das Wasser ein. Die Pflanze, die ich mit untergemischt habe, lässt das Blut schneller gerinnen und hilft der Wunde, sich zu schließen.«, sagte der Heiler zu ihr.

Er drehte sich herum und lief langsam aus dem Zimmer hinunter in die Küche. Dort schürte er erneut Feuer unter dem Kessel an der Wand und suchte sich die Zutaten der Salbe wieder zusammen. Hegal tauchte in der Küche auf und bot dem jungen Mann seine Hilfe an.

»Du kommst gerade zur rechten Zeit. Ich brauche noch etwas Schmalz und Bienenwachs. Die restlichen Zutaten hab ich noch hier. Ach ja, und einen Eimer Wasser.«, meinte Lymias bittend und holte wieder die große Schüssel und den hölzernen Mörser hervor.

»Wenn ich ehrlich bin, schickt mein Vater mich zu euch. Er meinte ihr könntet etwas Unterstützung gebrauchen. Was ist eigentlich im Wald passiert?«, fragte Hegal und schaute den Heiler wunderlich an.

»Wir wurden von einem Moorwesen angegriffen. Dank deinem Vater ist uns nichts weiter passiert. Er hat schnell reagiert und uns sicher wieder aus dem Wald geführt. Auf der Flucht habe ich nicht auf den Weg geachtet und bin einen kleinen Abhang hinunter gestürzt. Dein Vater wollte mir helfen und ist mir gefolgt. Dabei ist er gestolpert und den Rest des Weges hinunter gerutscht. Leider lag ein Baum quer, gegen welchen er geschlittert ist und dabei ist das mit seinem Bein passiert. Das Moorwesen muss wohl eine leichter zu fangende Beute gefunden haben und hat deswegen von uns abgelassen. Dein Vater ist wirklich ein tapferer Mann.«, sagte Lymias und blickte die ganze Zeit über auf den Tisch.

Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er Hegal angelogen hatte, aber er konnte ihm wohl kaum die Wahrheit sagen. Thog hatte ihm gesagt, dass es besser sei, wenn die Anderen davon erstmal nichts wüssten, da die meisten Leute lieber den Gerüchten glaubten, als ihrem Herzen. Der Heiler nahm sich vor, darüber noch einmal mit dem Dorfältesten zu sprechen. Wenigstens dessen Familie wollte er die Wahrheit über sich sagen.

»Ja, das ist er.«, holte ihn Hegal wieder aus seinen Gedanken, »Er ist der größte Mensch, dem ich bisher begegnet bin.«, sagte er stolz. »Ich werde dann mal die Zutaten holen.«

»Gut. Dann werde ich die Pferde in den Stall schaffen und die Kräuter her bringen.«, meinte der junge Mann und nickte ihm zu, erleichtert, dass Hegal seine Ausrede erst einmal hingenommen hatte.

Beide erledigten das Gesagte und trafen wieder in der Küche zusammen. Lymias zeigte nun auch Thogs Sohn, wie die Salbe herzustellen war. Dieser stellte sich genauso geschickt dabei an, wie sein Vater, so war der Balsam schnell fertig. Ein kleines Problem war nur, die passenden Gefäße für die Salbe zu finden. Die beiden jungen Männer mussten erst Feris losschicken, um von den Dorfleuten kleinere Tonkrüge und Schalen einzusammeln, damit sie die Salbe dort hinein füllen konnten.

Als sie gerade den Balsam in die Tongefäße füllten, kam Feris in die Küche und brachte noch ein paar Schalen.

»So das waren die Letzten. Ich habe sie von Horst, dem Wirt. Er wollte mir noch mehr gegeben, wenn ich mehr hätte tragen können.«. Lachend stellte der Junge die Tonschalen auf den Tisch.

»Ach und er meinte, dass euer Bad bereit stehe.«

»Mein Bad?«, fragend schaute der Heiler Feris an.

»Ja. Meine Mutter muss ihn beauftragt haben. Sie war wohl der Meinung, dass ihr euch noch ein wenig entspannen solltet für heut Abend.«, antwortete der Junge geheimnisvoll und blickte Lymias schelmisch an.

Dieser musste schmunzeln. Natürlich wusste er, was heute Abend geschehen sollte. Nur wollte der Heiler den Leuten ihren Spaß nicht verderben und stellte sich weiter unwissend.

»Was soll denn am Abend sein?«, fragte er deswegen Feris.

»Och nichts weiter. Ich glaube meine Mutter wollte etwas Besonderes kochen oder so. Sie legt dann immer auf sehr viel Reinheit am Tisch wert. Also rate ich euch, dass ihr auch gründlich badet.«, versuchte sich der Junge heraus zu reden und grinste weiterhin von einem Ohr zum anderen.

»Hm, wenn du meinst, dann werde ich mich wohl an deine Anweisungen halten müssen und rüber gehen, ehe das Wasser kalt wird.«, meinte der Heiler schmunzelnd und stellte die letzte Schale beiseite.

Er ging, unter den wachsamen Augen der beiden Brüder, durch die Hintertür hinaus dem Gasthaus entgegen. Im Schankraum wurde er von Horst abgefangen und der Wirt geleitete den jungen Mann sogleich in ein Zimmer nahe der Küche. Der Raum war sehr geräumig und eine leicht drückende Schwüle lag in der Luft. Es standen zwei Wannen aus Holz in der Mitte und aus einer stieg sanfter Dampf auf. Das ganze Zimmer roch angenehm nach Seife.

»Falls ihr noch irgendetwas benötigt, Herr, ruft einfach nach mir.«, sagte Horst und nickte ihm überschwänglich zu, dann verließ er den Raum.

Lymias ging zu der Wanne, legte seine Kleidung auf einen daneben stehenden Hocker ab und lehnte sein Schwert griffbereit daran. Er wusste, dass das eigentlich eine alberne Angewohnheit war, gerade hier, aber nur so fühlte er sich sicher und konnte etwas entspannen. Er glitt langsam in die Wanne und genoss den leicht süßlichen Duft, der daraus hervor ging. Draußen war es zwar auch sehr warm gewesen, aber nun, als er so in dem Wasser lag, fielen die ganzen Anstrengungen und Spannungen des Tages von ihm ab und er begann leicht vor sich hinzudösen.

Der Heiler erwachte wieder, als er ein leises Geräusch aus Richtung Tür wahrnahm. Er erkannte sofort an seiner Aura, dass es der Knecht des Wirtes war. Er ließ sich von ihm nicht beirren, hielt seine Augen weiterhin geschlossen und versuchte noch ein wenig zu entspannen. Der Junge ging zögerlich auf den scheinbar Schlafenden zu, stellte sich neben den Hocker und betrachtete ihn. Lymias spürte regelrecht die Blicke des Knechtes über seinen Körper wandern.

Dann wandte sich der Junge ab und griff nach den Sachen des Heilers. Nur stellte er sich dabei ein wenig ungeschickt an und stieß mit dem Fuß an das Schwert. Dieses rutschte nach links, prallte an die Wanne und war im Begriff scheppernd zu Boden zu fallen. Blitzschnell streckte Lymias seine Hand aus dem Wasser und fing sein Schwert auf. Der Knecht war, erschrocken über die Bewegung des jungen Mannes, drei Schritte nach hinten gestolpert und schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Der Heiler hielt immer noch seine Augen geschlossen und ließ dem Jungen etwas Zeit sich wieder zu beruhigen. Dann, ganz langsam, hob er seinen Kopf, machte seine Augen auf und sah den Knecht durchdringend an.

»Was wolltest du denn an meinen Sachen?«, fragte er ihn langsam, fast verschlafen.

»Nur waschen, Herr, ehrlich.«, stotterte der Junge leise.

»Na dann ist es ja gut. Bringst du mir dann bitte meine andere Kleidung aus meinem Zimmer? Ich kann hier ja leider nicht die ganze Zeit nackt herumlaufen. Sie sind in der linken Satteltasche. Ich glaube, sie müssten nur noch mal geglättet werden.«, meinte Lymias, wandte seinen Blick von dem Knecht, als dieser ihm zunickte, ab und lehnte wieder das Schwert an den Hocker.

Dann streckte er sich in der Wanne aus, schloss wieder seine Augen und tauchte ein wenig tiefer in das Wasser mit einem leisen entspannten Seufzer. Da der Zuber nicht all zu groß war, legte der junge Mann seine Füße auf den Rand über Kreuz, um bis zum Kinn in das angenehm warme Nass eintauchen zu können. Der Knecht begann langsam wieder aus seiner Starre zu erwachen und lief eiligst der Tür entgegen.

»Hast du nicht noch etwas vergessen?«, fragte der Heiler ruhig.

Der Junge blieb wie vom Donner getroffen stehen, seine rechte Hand griff schon nach der Türklinke. Er schien sich nicht zu getrauen, ihn noch einmal anzuschauen.

»Meine Sachen. Ich denke, du wolltest sie waschen?«, fragte Lymias und musste sich zusammen reißen, nicht belustigt zu klingen.

»Oh. Ja natürlich, sicher, Herr.«, stammelte der Knecht des Wirtes, ging steif zum Hocker, nahm die Bekleidung an sich und hetzte fast aus dem Zimmer.

Schmunzelnd sann der Heiler dem Jungen nach. Er schien ihn wirklich total durcheinander gebracht zu haben. ›Schlecht sah der Kleine auf jeden Fall nicht aus‹, dachte er so bei sich. Helle Haut, schlank, etwas kleiner als er selbst, kurzes, dunkelbraunes, volles Haar, das knapp über seine Ohren reichte, bläuliche Augen... Gedankenversunken nickte der junge Mann ein. Er musste einige Zeit geschlafen haben, denn als er wieder aufwachte, war das Wasser gänzlich kalt geworden. Steif stand er auf und kletterte aus der Wanne. Lymias sah sich im Zimmer um und suchte nach einem Handtuch, aber nirgends war eins zu sehen.

Er drehte sich zur Tür, als er ein leises Geräusch hörte. Eric trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Der Knecht verharrte aber sofort, als er sah, dass der junge Mann aus dem Zuber hinaus gestiegen war und nun vollkommen nackt vor ihm stand. Der Heiler schaute Eric an und sah, dass er nicht nur seine Sachen, sondern auch ein Handtuch mitgebracht hatte.

»Ah, du kommst gerade recht. Mir wird nämlich langsam kühl. Gibst du mir bitte mal das Handtuch, damit ich mich abtrocknen kann?«, fragte er gelassen den Jungen und ging auf ihn zu.

Dieser stand nur wie angewurzelt da und blickte Lymias mit leicht offenem Mund an. Als der junge Mann noch drei Schritte von ihm entfernt war, besann sich Eric eines Besseren, schaute auf den Boden und reichte ihm das Handtuch. Der Heiler merkte, dass seine Nähe den Jungen beunruhigte und ging, sich nebenbei abreibend, wieder in Richtung des Hockers.

»Danke. Leg die Sachen einfach hier irgendwo hin. Ankleiden kann ich mich schon selbst.«, sagte Lymias stumpf und fing an, seine Haare trocken zu rubbeln.

Er rechnete fest damit, dass Eric seine Sachen einfach an der Tür fallen lassen und wieder verschwinden würde. Stattdessen aber, kam der Junge näher und legte die Bekleidung auf den Hocker neben ihm. Verwundert schaute der junge Mann den Knecht an. Beide standen nahe beieinander, sodass jeder den Atem des Anderen auf seiner Haut spüren konnte. Lymias vergaß das Handtuch in seiner Hand und ließ es fallen. Sanft glitt es zu Boden vor die Füße des Jungen. Dieser bückte sich danach und reichte es dem Heiler. Lymias griff danach und wieder berührten sich ihre Hände. Ihre Blicke trafen sich und beide hielten die Luft an.

Jetzt wusste Lymias, warum Eric so nervös war. Mit einem Mal konnte er es spüren. Der Junge hatte keine Angst vor ihm, im Gegenteil, er war bis zum äußersten erregt. Anscheinend war das der Grund, warum der Knecht des Wirtes jedes Mal das Weite gesucht hatte oder zittrig geworden war, wenn er in seine Nähe kam. Es schien ihm peinlich gewesen zu sein, da man, wie der Heiler nun bemerkte, als er so nah bei ihm stand, seine Erektion deutlich sehen konnte.

Ein warmes Kribbeln durchflutete seinen ganzen Körper, als Eric anfing seine Hand zu streicheln. Lymias‹ Atem ging schneller. Er liebte diesen Jungen nicht, das wusste er. Aber er war zu erregt, um darüber nachzudenken. Er wollte ihn und zwar hier und jetzt. Er wollte seine Lippen mit den seinen berühren, wollte mit seiner Zunge nicht nur die Mundhöhle des Jungen erforschen, er wollte sanft in ihn eindringen und seine Lust, Begierde und sein körperliches Verlangen stillen.

Der Heiler warf achtlos das Handtuch beiseite, legte seine Arme um Erics Körper und zog ihn leicht zu sich heran. Ihre Lippen trafen sich und sie versanken in einen langen, erotisierenden Kuss, indem sich ihre Münder öffneten und die Zunge mit der des anderen wild spielte. Währenddessen ergriff Lymias das Hemd des Knechtes und streifte es über seinen Kopf ab. Die Hände des Jungen waren auf einmal überall, an seinem Rücken, Po, auf seinen Armen, seiner Brust und seinen Wangen. Ungeduldig fingerte der junge Mann an der Kordel von Erics Hose, die als Gürtel diente. Dieser stieß aber seine Hände zitternd beiseite und versuchte selbst den Knoten des Strickes zu öffnen. Nach wenigen Sekunden fiel das letzte Stück Stoff zwischen ihnen zu Boden und nun stand auch der Junge vollkommen nackt da.

Wieder zog der Heiler Eric an sich ran. Er küsste ihn überschwänglich, streichelte mit der linken Hand über seinen Rücken und glitt mit der Rechten zu den Lenden. Der Junge stöhnte lustvoll auf, als Lymias ihn an seinem steifen Penis sanft, aber doch kraftvoll packte.

»Wartet.«, flüsterte der Knecht heißer und schob die Hände des jungen Mannes fort.

Dann lief er zu seiner Hose und kramte aus einer Tasche eine handtellergroße, flache Dose. Er ging zurück zu dem Fremden, zeigte ihm den Inhalt und grinste ihn lüstern an. Lymias runzelte die Stirn und stierte die Dose an. Darin befand sich ein fast durchsichtiger Balsam. Der Junge tauchte zwei Finger darin ein, trat wieder sehr nah an den Heiler heran und rieb mit gleichmäßigen festen Bewegungen sein hartes Glied damit ein.

Der Heiler taumelte vor Ekstase, hielt sich an den schmalen Schultern des Knechtes fest und lehnte sein Kopf stöhnend an die Stirn des Jungen. Viel zu lang war es her gewesen, dass so etwas passierte wie jetzt. Er war wie im Fieber, wollte nur noch mit dem Jungen eins werden. Eric musste es wohl gespürt haben, denn er ließ von ihm ab, drehte sich um, beugte sich über die Wanne und stützte sich mit beiden Händen am Rand ab.

Lymias griff noch einmal zu der Dose, ging dann zu dem Knecht, küsste seinen Rücken, spielte mit seinen stecknadelgroßen Brustwarzen und massierte zärtlich seinen Penis. Dann drang er behutsam ein. Es gab keinen Widerstand. Beide stöhnten erregt auf und verfielen in gleichmäßigen Bewegungen. Es dauerte nicht lange und sie gelangten zum Höhepunkt, der Heiler etwas eher als Eric. Schwitzend standen sie da und kosteten es bis zur letzten Minute aus.

Sachte trennten sie sich wieder und wuschen sich mit dem kalten Wasser aus der Wanne den Schweiß vom Leib. Dann trockneten sie sich ab und begannen sich anzuziehen. Eric war ein wenig schneller fertig als der Heiler, da er nicht soviel Sachen angehabt hatte. Der Junge steckte gerade wieder die Dose in seine Tasche, als von draußen der Wirt nach ihm rief. Erschrocken schaute er auf und dann zu Lymias.

»Geh nur, den Rest schaff ich schon allein.«, sagte er sanft, hauchte dem Knecht einen Kuss auf die Lippen und streichelte ihm sanft mit seiner rechten Hand über seine Wange.

Dieser nickte nur und lächelte ihn verträumt an. Dann lief er aus dem Zimmer. Der junge Mann schaute sich kurz um, suchte seine restlichen Sachen zusammen und zog sich fertig an. Danach ging er aus dem Raum in die Schankstube. Dort herrschte eine Totenstille, keiner war zu sehen, nicht einmal mehr der Wirt. Nur von draußen vernahm er leises Gelächter und Stimmen. Er lief auf den Marktplatz hinaus, wo in der Mitte ein helles Feuer brannte und darum herum sehr viele Leute auf Baumstämmen saßen.

Lymias blinzelte in das grelle Licht und versuchte Thog und seine Familie unter den Menschen auszumachen. Das war nicht besonders schwierig, da die Worte des Dorfältesten alles übertönten und das Gemurmel der Anderen zum Schweigen brachte.

»Sieh einer an. Da ist ja unser großer Heiler. Kommt nur näher.«, erhob der Sprecher des Dorfes seine Stimme.

Zögernd trat Lymias vor Thog. Dieser legte seinen linken Arm um des Heilers Schulter und drehte sich mit ihm zu den Dorfleuten um.

»Ihr habt uns allen einen großen Dienst erwiesen. Mehr als einmal habt ihr den Menschen hier neues Leben und neue Hoffnung geschenkt. Durch kein Gold der Welt ist dies aufzuwiegen, aber bitte nehmt dieses bescheidene Fest als Dank dafür an, dass ihr uns so selbstlos geholfen habt. Horst war so frei, uns Speis und Trank zu Verfügung zu stellen, damit es uns heute Abend an nichts fehlen wird.«

Alle fingen an zu klatschen und zu jubeln. Der Wirt stand kurz auf, deutete eine leichte Verbeugung an und setzte sich wieder auf einen der Holzbalken am Rande des Feuers. Währenddessen beugte sich Thog zu Lymias.

»Ich weiß, dass du das nicht magst, aber lass den Leuten dies als Grund zum Feiern. Viel zu lang war dazu keine Gelegenheit mehr gewesen.«, flüsterte der Dorfälteste dem Heiler ins Ohr.

Der junge Mann schaute ein wenig zweifelnd zu dem Sprecher des Dorfes, nickte knapp und wand sich nun seinerseits an die Leute, als das Klatschen abebnete. Alle sahen ihn gespannt an und warteten auf seine Antwort.

»Ich danke euch wirklich sehr für die netten Worte und das ich in euer Dorf so freundlich aufgenommen wurde. Den Dank nehme ich sehr gerne entgegen und fühle mich geehrt an diesem Fest teilnehmen zu dürfen. Ich möchte gleich die Gunst der Stunde nutzen und mich von euch verabschieden. Der Weg, den ich noch zu gehen habe, ist lang und steinig. Deswegen werde ich morgen bei Sonnenaufgang meine Reise fortsetzten. Ich werde mir aber nicht nehmen lassen, den Abend mit solch vortrefflichen Menschen wie euch zu feiern. Auf unser aller Wohl!«

Ein Raunen ging durch die Runde. Keiner sagte etwas laut, alle sahen ein wenig verstört und ungläubig aus.

»Auf den Heiler!«, ertönte Thogs laute Stimme.

»Auf den Heiler!«, stimmten alle wie im Chor dem Dorfältesten zu.

Becher wurden aneinander gestoßen, man prostete sich zu und wiederholte den Aufruf. Die Leute fingen wieder an zu schwatzen und zu lachen, ein paar stimmten sogar ein Lied an. Der Sprecher des Dorfes zog Lymias zur Seite, ging mit ihm ein Stück um das Feuer herum auf einen Baumstamm zu, welcher vor einem mannshohen Stapel voller kleinerer Hölzer lag.

Die ganze Zeit hatte Thog seinen Arm nicht von der Schulter des Heilers genommen. Lymias merkte, dass dem Dorfältesten sein Bein immer noch zu schaffen machte, wunderte sich aber, dass er schon wieder so munter auf den Füßen war. Zusammen ließen sie sich auf den Baumstamm am Feuer sinken, so dass es aussah als würden sie Spaß haben. Es bekam niemand mit, wie schwer dem Sprecher des Dorfes jede Bewegung fiel und er eigentlich eine kräftige Schulter zum stützen brauchte.

»So so, du willst also morgen schon weiter reisen. Hm, so schnell hatte ich zwar nicht mit deinem Aufbruch gerechnet, aber wenn du es so willst, sorge ich dafür, dass alles bei Sonnenaufgang bereit ist. Bist du sicher, dass du hier nicht noch ein wenig verweilen willst? Wie mir scheint würden sich einige über deine Anwesenheit freuen.«, Thog nahm seinen Arm von Lymias‹ Schulter und sah grinsend zwei jungen Frauen hinterher, die verstohlen den Heiler ansahen und hinter vorgehaltener Hand kichernd an den beiden Männer vorbei gingen.

Der junge Mann schaute erst verlegen zu Boden, dann sah er den Frauen nach. Die Beiden bemerkten seinen Blick, grinsten und warfen ihm viel sagende Augenaufschläge zu. Nur galt seine Aufmerksamkeit nicht mehr ihnen, sondern den zwei Personen, die hinter den Frauen waren. Dort stand der Knecht des Wirtes mit einem anderen Jungen im Arm, der ihn liebevoll über den Rücken streichelte. Als würde Eric spüren, dass er beobachtet wurde, hob er seinen Kopf und schaute zu Lymias. Beide lächelten sich sanft an.

»Danke, aber ich werde hier nicht mehr gebraucht. Mich zieht es weiter, genau wie der Wind, der nie ruht.«, sagte der Heiler leise und schaute in das Lagerfeuer, das prächtig brannte.

»Für mich klingt das eher, als wärst du dein Leben lang auf der Flucht. Ich weiß, du bist noch jung, aber hast du denn nie daran gedacht, dich irgendwann einmal irgendwo niederzulassen, wenigstens für ein paar Monate?«, fragte der Sprecher des Dorfes.

Lymias atmete schwer und schaute auf den Boden. Natürlich hatte er daran schon gedacht. Aber jedes Mal, wo er versucht hatte, sich was aufzubauen, wurde alles zerstört. Diesen Schmerz wollte er nie wieder spüren.

»Ich bin ein Erdkind. Ich glaube, dass erklärt alles weitere. Mir scheint es vergönnt zu sein, in Frieden leben zu können.«, antwortete er betrübt.

»Was ist passiert?«, fragte Thog ruhig weiter.

»Viel zu viel. Egal wo ich bin, den Menschen in meiner Nähe ereilt Elend und sie werden unglücklich. Wieso sollte es hier anders sein? Früher oder später wird hier das gleiche geschehen wie in...«, Lymias stockte.

Er wollte sich dem Dorfsprecher offenbaren. Der Heiler merkte, dass er ihm vertrauen konnte. Nur spürte er nun etwas. Es war ein einzelnes Gefühl, welches ihm über den Rücken bis hinauf in den Nacken kroch und dort seine Haare zum Sträuben brachte. Er spürte Gefahr, die vom Feuer aus ging. Lymias runzelte die Stirn und suchte die Umgebung in der Nähe des flackernden Lichtes ab.

»Du musst es mir ja nicht erzählen, aber manchmal hilft es, wenn man die Last mit jemand anderem teilt. Natürlich ist es dir überlassen...«

»Nein, das ist es nicht.«, unterbrach der junge Mann den Dorfältesten, »Irgendetwas wird gleich geschehen, ich weiß nur nicht was.«

Thog sah ihn verwirrt an und folgte den Blicken des Heilers. Seine Augen schweiften nach rechts. Dort tanzten Trischa und Sahra vor den Baumstämmen nahe am Feuer zu einem Lied. Hinter den Beiden rangelten Feris und ein anderer Junge in seinem Alter spielerisch miteinander. Der Sprecher des Dorfes stand auf, wollte zu den Kindern hingehen und ermahnen, dass man so nah am Feuer acht geben sollte, aber da passierte es schon.

Feris wurde leicht von dem anderen Jungen geschubst, stolperte rücklings über seine eigenen Beine, prallte dabei gegen Trischa, die mit voller Wucht gegen Sahra gestoßen wurde. Das kleine Mädchen kreischte erschrocken auf und fiel kopfüber den Flammen entgegen. Thog stürzte nach vorn, um seine Tochter vor den Folgen zu schützen, Lymias aber war schneller. Mit raschen Schritten glitt er an dem Dorfältesten vorbei, packte Sahra am Arm und zog sie zurück an seine Brust. Sekundenlang standen sie so da, die Kleine grub sich immer tiefer in des Heilers Arme. Dann löste sich der junge Mann mit sanfter Gewalt von dem Mädchen und kniete sich zu ihr hinunter.

»Ihr müsst aufpassen, wo ihr spielt oder euch rangelt. Manches könnte gefährlicher werden als ihr denkt!«, sagte Lymias sanft, blickte abwechselnd von einem Kind zum anderen, drehte sich dann wieder zu Sahra zurück und wischte ihr liebevoll die Tränen von ihren Wangen.

»Da habt ihr wohl Recht Heiler. Lasst euch das eine Lehre sein Kinder! Es ist Zeit für euch alle zu Bett zu gehen, ihr Bälger, also Abmarsch!«, sagte Thog in einem strengen väterlichen Ton.

Die Kinder murrten zwar etwas, aber keiner wagte es zu widersprechen. Sie hatten zu viel Respekt vor diesem Bär von Mann. Sie wünschten sich alle noch eine gute Nacht und die beiden Mädchen gaben ihrem Vater und Lymias einen Kuss auf die Wange. Sie blickten den Kindern nach, bis sie im Dunkel der Nacht verschwanden, dann setzten sie sich wieder zurück auf den Baumstamm.

Der Wirt kam vorbei, gab ihnen zwei Tonbecher und schenkte ihnen Wein aus. Thog leerte ihn in einem Zug, während der Heiler nur daran nippte. Der Dorfsprecher ließ sich gleich von Horst den ganzen Weinkrug geben, goss sich nach und prostete Lymias zu. Dieser tat es ihm gleich und nahm diesmal einen kräftigeren Schluck. Der Wein war zwar nicht besonders gut, aber diesmal störte es ihn wenig. Vielleicht war es mal wieder an der Zeit, dass er sich etwas begoss.

»Danke. Und schon wieder hast du meine Tochter gerettet. Ich stehe langsam immer tiefer in deiner Schuld.«, sagte Thog, als der Wirt verschwunden war.

»Du schuldest mir gar nichts. Ich habe nichts Besonderes getan. Die Vorräte und das Fest sind mir Lohn genug, obwohl ich nicht weiß, ob das Fest nötig gewesen wäre...«, sagte Lymias, wurde beim Reden immer leiser und starrte in seinen Becher.

»Nicht nötig?«, der Sprecher des Dorfes lachte laut auf, »Meine Leute sind alle wieder endlich froh, dank dir Heiler!«, sagte Thog und schlug mit der linken Hand freundschaftlich auf den Rücken seines jungen Freundes.

Lymias verkippte die Hälfte seines Weines und wäre fast nach vorn gestürzt, wenn er den Schlag nicht hätte kommen sehen. Der Dorfsprecher beugte sich nach vorn, legte seine Arme auf die Beine und drehte seinen Becher in seinen Händen.

»Du bist wirklich zu bescheiden. Aber wie gesagt, falls es noch irgendeinen Wunsch geben sollte, den ich dir erfüllen könnte, sag nur Bescheid.«

»Ich habe schon einen Wunsch, aber diesen kann mir keiner erfüllen.«, erwiderte der junge Mann traurig und trank den Rest seines Weines.

»So kann das doch nicht weiter gehen. Willst du wirklich die ganze Zeit alles in dich hinein fressen und traurig und allein durch das Land ziehen? Du kannst mir vertrauen und das weißt du auch. Du hast mir einmal und meiner Tochter zweimal das Leben gerettet, von dem Rest des Dorfes einmal abgesehen. Einen besseren Tausch gegen meine Verschwiegenheit kann ich mir nicht denken.«, meinte Thog und goss Lymias nach.

Der Heiler wusste, dass er ihm vertrauen konnte, fast sogar von dem Zeitpunkt an, als sie sich das erste Mal begegneten. Er war auch einer der Wenigen, die ihn so akzeptierten, wie er war. ›Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich meine Erinnerungen teile. Was soll jetzt noch groß passieren? Dann gibt es wenigsten jemand, vor dem ich mich nicht mehr verstecken muss‹, dachte er bei sich.

Ehe der junge Mann aber sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, wurde er von einem lauten Gepolter unterbrochen. Erschrocken sprang er auf als er merkte, wie die Holzscheite, die hinter ihm aufgestapelt waren, nach vorne kippten und auf ihn zu fallen drohten. Er schaute verwundert zu Thog, der ebenfalls aufgesprungen war, dann zu seinen Füßen.

Dort lag ein Jüngling stöhnend mitten in den Stücken aus Holz. Er rappelte sich bis auf die Knie auf und blickte nach oben zu dem Dorfsprecher. Dieser schaute nur kurz verdutzt und fing ein wenig an zu grinsen. Dann drehte er seinen Kopf mit einem Ruck nach links und Lymias starrte in die erschrockenen Augen des Jungen.


Es war, als hätte der aufkommende Wind alle Geräusche mit sich davon getragen. Lymias nahm nur noch den Jungen wahr, in dessen dunkelbraunen Augen er fast versank. Sein Herz klopfte immer schneller und seine Hände wurden feucht. ›Wie kann es sein, dass er sich so nah an mich hatte heran schleichen können, ohne dass ich es bemerkte? Selbst jetzt, wo er vor meinen Füßen kniet, sehe ich ihn zwar, aber spüre seine Anwesenheit nicht. Das ist unmöglich!‹, dachte der junge Mann und taumelte einen Schritt zurück.

Mit einem Schlag wurde der Heiler wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Jemand hatte ihn von hinten angerempelt und stampfte wütend auf den Jungen zu.

»Hatte ich dir nicht aufgetragen erst deine Arbeit zu verrichten, bevor du dich herumtreiben kannst? Ich sollte dir wohl ein paar Manieren beibringen!«, tobte der Mann, packte den Jungen am Arm und holte aus.

Lymias aber ergriff das Handgelenk des Mannes, zog ihn nach hinten und stellte ihm ein Bein, sodass der Mann mit rudernden Armen auf dem Rücken am Boden landete.

»Wie soll der Junge Manieren lernen von jemanden, der selbst keine besitzt?!«, sagte der Heiler fast spöttisch, ging auf den Jüngling zu und half ihm auf die Beine. Beide blickten sich wieder in die Augen. Lymias versuchte darin zu lesen, aber wie ihm schien, wusste der Junge selbst nichts über seine Gabe.

»Was??? Wie könnt ihr es wagen!«, sagte der Mann wütend und rappelte sich auf. »Geht mir aus dem Weg! Der Bengel gehört mir und ich kann mit ihm machen, was ich will!«

»Gerald beruhige dich. Der Junge war doch nur neugierig. Ich denke, dass Kay jetzt nach Hause geht, sich schlafen legt und damit der ganze Vorfall geklärt ist. Wir sollten dieses vortreffliche Fest nicht mit einem Zwist beenden. Horst! Bring noch etwas Wein!«, rief Thog und winkte dem Wirt.

»Nein. So einfach kommt mir der Bursche nicht davon. Das war heute das letzte Mal, dass der Rotzlöffel sich meinen Anweisungen widersetzt hat. Ich will, dass er bestraft wird!«, grollte Gerald und fixierte den Jungen kalt.

Wütend blickte Lymias zu dem Mann, dann zu Kay. Der Junge hatte seine Hände zu Fäusten geballt und zitterte vor Zorn. Starr blickte er zu Boden und biss sich auf die Unterlippe, bis sie blutete.

»Ich glaube nicht, dass das nötig ist Gerald. Er ist halt jung und braucht ab und zu auch mal Zeit für sich. Ich denke, das war ihm jetzt Lehre genug, dass er seine Aufgaben nicht mehr vernachlässigen wird.«, sagte der Sprecher des Dorfes beschwichtigend.

»Diesmal nicht Thog. Oft genug hab ich von Strafe abgesehen. Der Bengel hat es nicht anders verdient. Keiner hat mir vorzuschreiben, wie ich ihn zu behandeln habe! Er gehört mir!«, zischte der Mann und ging einen Schritt auf Kay zu.

Lymias wollte sich instinktiv dazwischen stellen, aber der Junge verlor auf einmal all seine Beherrschung und schrie seinen Pflegevater an.

»Halt den Mund, halt endlich deinen Mund! Du hast mir gar nichts zu sagen. Du bist nicht mein Vater! Und ich bin nicht dein Eigentum! Ich bin ein Mensch mit freiem Willen und kein Gegenstand, den man nach Belieben nutzen kann.«, brüllte Kay seinen Tyrannen entgegen.

Alle Demütigungen der letzten Jahre, die ganze aufgestaute Angst und Verzweiflung bündelten sich mit einem Male zu einer riesigen Flutwelle voller Hass, die der Junge zitternd über seinen Pflegevater niederließ. Von Jahr zu Jahr brannten sich diese Worte immer tiefer in sein Herz ein. Nun war es an der Zeit, sie frei zu lassen und damit seinem Tyrannen die Stirn zu bieten, koste es was es wolle.

»Du verbietest mir nicht meinen Mund. Ist das der Dank dafür, dass ich dich selbstlos in meinem Heim aufgenommen und großgezogen habe?«

»Selbstlos? Ha! Das Einzige was ich für dich bin, ist ein billiger Arbeiter für die Feldarbeit, mehr war ich nie für dich gewesen!«

»Natürlich muss man auch für ein behagliches Heim und eine warme Speise arbeiten. Wenn ich nicht alles auf dem Hof machen würde, würden wir noch verhungern! Ich bin der Einzige, der dich aufgenommen hat. Wenn du dich so gerne rumtreibst, dann tu es doch für immer. Ich brauche dich nicht für die Feldarbeit. Das schaff ich auch allein. Aber wenn du mir einmal den Rücken gekehrt hast, brauchst du nie wieder bei mir aufzutauchen! Überleg es dir gut. Entweder gehst du mit mir zum Hof zurück und erwartest deine angemessene Strafe, hast aber dafür ein Dach über dem Kopf und ein warmes Heim oder du verschwindest von hier und kommst nie mehr zurück. Ich wüsste hier niemanden, der dich aufnehmen würde.«, säuselte Gerald und griente den Jungen böse an.

»Ich nehme ihn.«, sagte Lymias in die Stille hinein.

Die Leute hatten aufgehört zu singen und zu tratschen und schauten nun dem Spektakel zu, welches ihnen dargeboten wurde. Nur das vereinzelte Knistern des Feuers war zu hören. Der Junge sah ihn verwundert mit großen Augen an. Der Zorn war aus seinem Gesicht gewichen, nur die blutende Lippe zeugte noch von seinem Wutausbruch.

»Ich meine, wenn er denn will. Wie ich schon sagte, habe ich noch einen langen Weg vor mir. Ein Knappe käme mir gerade recht.«, redete der junge Mann weiter und blickte abwechselnd zu Thog und Kay.

»Was?«, hauchte Gerald ungläubig, »Treibt es nicht zu weit, Heiler! Ihr habt euch schon viel zu sehr eingemischt! Der Bengel gehört mir.«

»Falsch Gerald. Du hast den Jungen gerade frei gesprochen. Nun liegt es in Kays Händen, welchen Weg er einschlagen möchte.«, meinte der Dorfälteste bestimmend und schaute den Burschen an. »Wie entscheidest du dich?«

Verstört wanderte der Blick des Jungen zwischen Thog, dem Schönling und seinem Pflegevater hin und her. Er hatte Angst vor diesem Geschöpf aus dem Wald. Irgendetwas behagte ihm ganz und gar nicht an ihm.

»Mein Platz ist bei meiner Familie und in meiner Heimat«, flüsterte Kay fast und schaute dabei auf den Boden, seine Hände wieder zu Fäusten geballt.

»Ha, ich wusste es! Der Junge gehört mir und keiner wird ihn je von hier fort bringen.«, rief Gerald und verfiel in ein hysterisches Gelächter.

Lesemodus deaktivieren (?)