zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Engel

Winterchallenge 2005

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

„Jetzt beeil dich endlich, wir haben noch viel vor.“, hörte ich meine Mutter irgendwo sagen.

Hallo! Ich bin 17 und dein Sohn und nicht dein Schwertransporter. Mühsam schleppte ich die ganzen Tüten diverser Modegeschäfte und Einrichtungshäuser durch die Einkaufspassage. Jedes Jahr zu Weihnachten das selbe Spiel: Meine Mutter zückt die Kreditkarte meines Vaters und macht die Stadt unsicher. Und ich, ihr heiß geliebter, einziger Sohn, darf Packesel spielen. Toll, oder?

„Kommst du jetzt endlich?“

„Ja! Ich bin unterwegs. Kannst du mir vielleicht mal was abnehmen? Ich seh kaum noch was.“

„Stell dich nicht so an, die paar Sachen.“

Wenn es nur ein paar Sachen wären, würde ich bestimmt nicht halb blind durch die Gegend laufen und mich aller paar Sekunden bei wildfremden Leuten entschuldigen müssen, weil ich sie anremple oder auf ihren Schuhen herumtrete. Durch eine Lücke der verschieden großen Pakete, welche durcheinander auf meine Arme gestapelt waren, konnte ich ein Stück meiner Mutter in ihrem roten Mantel sehen, der vor mir her wehte. Mit einem Mal blieb sie ohne Vorwarnung stehen. Total überrascht versuchte ich meine Beine zu bremsen, aber es war zu spät. Mit einem „Wahhh“ von mir und einem „Uff“ meiner Mom prallte ich auf ihren Rücken. Glücklicher Weise hatte ich nicht mehr so viel Schwung drauf gehabt, so dass der Turm von Paketen zwar bedrohlich schwankte, jedoch, dank einiger balancierender Schritte meinerseits, nicht umkippte. Prüfend blickte ich den Berg von Geschenken vor meiner Nase an, dann atmete ich erleichtert auf, als ich sah, dass noch alles an seinem Platz war.

„Was machst du den, Alex? Hast du keine Augen im Kopf?“, blaffte meine Mutter mich genervt an.

„Oh entschuldige! Durch das ganze Zeug vor meinem Gesicht hab ich nicht gesehen, dass du mitten in deinem Marathonlauf ohne ein Wort der Warnung anhältst!“

„Entschuldige, mein Schatz, aber du weißt doch, wie wichtig mir dieses Fest ist. Schau mal wer hier ist. Das ist doch der kleine Dastin mit seiner Mami. Du bist aber groß geworden.“, fing meine Mom in einer quietschsüßen Stimme an zu reden und beugte sich zu einem Kinderwagen hinunter.

Eine stolz grinsende Frau stand uns gegenüber und grüßte, als sie mich hinter den Paketen erkannte. Es war unsere Nachbarin mit ihrem Kind, die mich fast mitleidig und doch ein bisschen belustigt anschaute.

„Hallo Alex, das ist aber lieb von dir, dass du deiner Mutter beim Einkaufen hilfst. Wenn mein kleiner Schatz etwas älter geworden ist, wird er mir bestimmt auch gerne helfen, nicht wahr.“, meinte sie, wandte sich zu ihrem Sohn und verfiel in die Babysprache meiner Mutter.

Beide Frauen waren nun über den Kinderwagen gebeugt und bemutterten den Jungen. Der Kleiner tat mir richtig leid. Wieso müssen Frauen sich immer so seltsam benehmen, wenn sie ein Baby in die Finger bekommen? Ich glaube, wenn Dastin schon laufen oder sprechen könnte, würde er fluchend wegrennen.

So stand ich nun da, voll gepackt mit riesigen, teils auch schweren Schachteln und hörte mir das Getratsche der Frauen an, während meine Arme immer länger wurden. Wie war das noch mal? „Wir haben noch viel vor und wenig Zeit?“ Super. Ganz toll. Genervt versuchte ich mich in eine halbwegs bequeme Position zu stellen, ohne ständig von anderen angerempelt zu werden und ging meiner Lieblingsbeschäftigung nach. Leute beobachten.

Zum Glück fand ich ein Stück neben mir ein etwas breiteres Werbeschild auf Hüfthöhe. So konnte ich meine schmerzenden Arme entlasten und mich in Ruhe umschauen. Viel gab es leider nicht, was für mich von Interesse hätte sein können. Kleine Kinder, die quengelnd hinter ihren genervten Eltern hertapsten, einige Pärchen, die eng beieinander durch die Passage schlenderten und sich verliebte Blicke zuwarfen, gestresst aussehende Menschen, die voll gepackt durch die Menge hetzten.

Doch am Rand der Rolltreppe bei der Raucherinsel stand jemand, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war gut einen halben Kopf größer als ich, hatte ein breiteres Kreuz und so nen Igelhaarschnitt mit blond gefärbten Spitzen. Er trug eine helle Stoffhose und einen Pullover in beige. Drunter schien er ein dunkles Hemd zu tragen, da der Kragen am Hals über den Pullover drüber gekrempelt war. Alles sah an ihm perfekt aus, seine elegante Bewegung, als er genüsslich mit seinen schmalen Lippen an seiner Zigarette zog, wie er eine Sekunde lang wartete, um dann den Rauch sinnlich auszuatmen.

Verträumt stand er gute fünf Meter von mir entfernt und musterte die Leute um sich herum. Ich fragte mich, auf wen er wohl wartet, als er seinen Kopf auf einmal genau in meine Richtung wandte. Viel zu perplex um wegzuschauen, starrte ich ihn weiterhin an. Man, ich machte mich bestimmt gerade zum Volldeppen, aber ich konnte einfach nicht anders. Und was machte der Typ? Er fing an zu lächeln. Gott, sah das lecker aus. Ich unterdrückte den Impuls, mich sofort an seinen Hals zu schmeißen, um ihn zu küssen und versuchte zurückzugrinsen. Ob mir das gelang? Keine Ahnung. Das Lächeln dieses Schnuckels wurde auf jeden Fall immer breiter. Ein letztes Mal zog er an seiner Zigarette, bevor er sie im Aschenbecher ausdrückte und dann auf mich zu kam. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich wurde nervös.

Als dieser Gott fast bei mir war, setzte ich schon zu einem schüchternen „Hi.“ an. Mit einem Mal aber wurde ich von hinten angerempelt, so dass wieder der Berg aus Paketen gefährlich zu schwanken begann. Verärgert drehte ich mich zu der Person um, die dafür verantwortlich war, doch diese stürmte weiter und klammerte sich an meine Schönheit. Beide gaben sich einen innigen Kuss, bei dem man sogar ab und zu die Zunge sehen konnte. Angeekelt und enttäuscht drehte ich mich weg.

„Mom, komm schon. Wir müssen weiter.“, maulte ich genervt und schaute noch mal kurz zu dem Pärchen. Die Beiden blickten nur belustigt zu mir rüber und schlenderten dann Arm in Arm gemütlich davon.

„Kommst du Schatz, oder willst du bis Weihnachten dort stehen bleiben?“, fragte mich meine Mutter drängelnd, worauf ich mir die Geschenke schnappte und ihr folgte.

Sie stand indes schon auf der Rolltreppe zum oberen Geschoss der Passage und überflog ihren Einkaufszettel. Also eine richtige Rolltreppe war es gar nicht. Eher ein Rollband, damit Einkaufs- und Kinderwagen bequem alle Stockwerke erreichen konnten. Super. Was für ein Tag. Zuerst werd ich von meiner eigenen Mom als Lasttier missbraucht und dann dieser Typ mit seiner Tusse. Besser konnte es doch wirklich nicht mehr werden, oder? Dachte ich zumindest.

Ich drängelte mich gerade an den Leuten vorbei, die von der oberen Etage kamen, als etwas mit voller Wucht gegen mich prallte. Krachend fiel ich auf den Boden, gefolgt von den Paketen.

„Ahhh, was verdammt noch mal…“, protestierte ich stöhnend und richtete mich halb auf.

Eine kleine Menschentraube hatte sich um mich gebildet und ein paar Leute musterten mich besorgt, andere räumten sogar schon die Kartons wieder auf einen Haufen. Verärgert suchte ich nach diesem Vollidioten, dem ich das zu verdanken hatte und fand ihn ein paar Meter vor mir, wie er seine Stirn betastete. Der Typ trug eine legere Hose und einen weiten Pullover mit Kapuze, die er weit über seinen Kopf gezogen hatte. ‚So ein Traumtänzer hat mir jetzt gerade noch gefehlt.‘, dachte ich wütend, stand auf und ging auf den Jungen zu. Dieser hatte sich ebenfalls erhoben und betrachtete das Chaos um sich herum. Er drehte mir gerade den Rücken zu, als ich anfing ihn anzuschnauzen.

„Sag mal, hast du keine Augen im Kopf, oder was?“

Der Typ reagierte überhaupt nicht, sondern kniete sich zu den Paketen und Tüten nieder und fing an, diese zusammen zu scharren.

„Hey, ich rede mit dir!“

Wieder nichts. Der Junge tat weiterhin so, als ob er mich nicht hören würde. Ich war nahe dran, den Kleinen – er war vielleicht nen halben Kopf kleiner als ich – am Kragen zu packen und mal kräftig durchzuschütteln. Nur schaute er auf einmal auf. Er blickte aber nicht zu mir, sondern fixierte starr die Rolltreppe. Irritiert folgte ich seinem Blick und sah ein paar Männer vom oberen Stockwerk kommen, die sich mühsam einen Weg durch die Menschen erdrängelten. Irgendwie kamen mir die Kerle so vor, als wären sie aus einem Men in Black Film entsprungen. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, Sonnenbrille. Nur die schwarzen Handschuhe, die sie trugen, passten nicht wirklich dazu.

„Da ist er.“, rief einer der Typen seinen Leuten zu, worauf der Junge vor mir aufsprang, sich umdrehte und nach vorne stürzte. Genau in meine Arme.

„Man, was soll denn das?“, blaffte ich ihn an. Dann hob der Kleine seinen Kopf und blickte mir direkt in die Augen.

Wow. Das war das einzige, was mir in diesem Augenblick einfiel. Er hatte ein Gesicht wie ein Engel. Volle Lippen, leicht hohe Wangenknochen, blasse Haut, lange Wimpern und diese Augen. So eine Farbe hatte ich bisher noch nie gesehen. Sie schimmerten in einem hellen Braun, an manchen Stellen sogar in dunkelsandigem Gelb. Keine Ahnung wie lange wir so dastanden, aber mir kam es wie eine kleine Ewigkeit vor. Nicht mehr Herr über meinen Körper lockerte ich meinen Griff um die Oberarme des Jungen, den ich vorher so von mir geschobenen hatte, um ihn noch besser anschauen zu können.

„Gleich haben wir dich, Freundchen!“, drang die siegessichere Stimme eines der Typen in schwarz zu mir vor, worauf der Junge sich gehetzt umsah und dann wieder zu mir zurück blickte.

„Ich mach’s wieder gut, versprochen.“, sagte mein Engel, riss sich von mir los und lief davon. Total verwirrt starrte ich ihm hinterher, bis ihn die Menschenmenge endgültig verschluckte.

Die Männer in den Anzügen stürzten dem Jungen nach, ohne auch nur die geringste Notiz von mir oder das Durcheinander um mich herum zu nehmen. Ich stand nur da wie bestellt und nicht abgeholt und war zu keiner Bewegung fähig.

Wenig später merkte ich, wie meine Mom mir fachkundig das Gesicht, besonders meine Beule an der Stirn, abtastete und besorgt auf mich einredete. Einige Aufseher der Passage kamen uns endlich zur Hilfe, schleppten die Tüten und Kartons zum Auto meiner Mutter und mich zum Erste-Hilfe-Zimmer. Nach einer halben Stunde durfte ich es wieder verlassen und meine Mom brachte mich erstmal nach Hause.

Sie machte sich tierische Vorwürfe, weil sie mich viel zu sehr belastet hatte und entschuldigte sich am laufenden Band bei mir. Ich war noch nicht mal fähig, dem was entgegen zu setzten. Nicht, weil mich meine Mutter ja wirklich als Schwertransporter missbraucht hatte, eher weil ich die Augen meines Engels einfach nicht mehr aus dem Kopf bekam.

Meiner Mom half ich noch die ganzen Pakete und Tüten in unsere Wohnung im Dachgeschoss zu schaffen (zum Glück gab es einen Fahrstuhl), dann schnappte ich mir eins der Kühlkissen, die, durch den Sport, den meine Schwester betrieb, immer vorrätig im Kühlschrank lagen und verkroch mich auf mein Zimmer. Ich warf mich auf mein Bett, angelte die Fernbedienung meiner Musikanlage und ließ die CD anlaufen, die gerade im Player lag. Sanft erklangen die ersten Töne, wurden schneller und von Zeit zu Zeit auch etwas härter. Ich legte das Kühlkissen auf meine Stirn, schloss die Augen und lauschte den Liedern von Schandmaul.

Die Welt um mich herum verschwand, einzig die Musik existierte noch. Und wieder tauchte der Junge vor mir auf mit dem Gesicht eines Engels. Ich merkte, wie ich immer weiter abtriftete und mich dann der Schlaf einholte. Erst durch ein klopfen wachte ich später wieder auf. Meine Mom steckte ihren Kopf durch die Tür und schaute mich besorgt an.

„Darf ich rein kommen?“

„Klar.“, antwortete ich verschlafen.

„Na wie geht’s dir mein Schatz? Tut es noch sehr weh?“, fragte sie und reichte mir ein neues Kühlkissen.

„Nö, geht schon.“, meinte ich und gab ihr das Alte.

„Alex, das mit heute Nachmittag…“, setzte sie reumütig an.

„Lass mal. Dafür kannst du doch nichts.“

„Ach ich hätte einfach besser aufpassen müssen. Es ist jedes Jahr das Gleiche um diese Zeit. Weißt du, erst meine Arbeit, dann der Stress wegen den Geschenken und der Haushalt macht sich auch nicht von alleine.“

„Mom, jetzt bleib aber mal ganz ruhig. Wenn du irgendwie Hilfe brauchst wegen Wohnung und so, du weißt, dass Sahra und ich dir gerne helfen. Du musst nur sagen, was wir machen sollen.“

„Ach Schatz, ich weiß doch, aber manches mach ich doch lieber selbst.“

„Stimmt, meine Schwester würde ich auch nicht freiwillig an den Herd lassen.“, kicherte ich, worauf mich meine Mom gespielt mahnend anschaute.

„Ehrlich gesagt war ich richtig froh, Alex, als du die schlechte Note mit nach Hause gebracht hast. Da dein Vater durch seine Arbeit erst kurz vor Weihnachten nach Hause kommt, brauchte ich jemanden, der mir bei den Einkäufen hilft. So fiel mir die Entscheidung zwischen meinen beiden Schätzen nicht so schwer.“

„Na toll.“, meinte ich äußerst begeistert, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen. „Mom, ich glaube du solltest einfach lernen, dich zu entspannen. Die Läden in der Passage auf dem Hauptbahnhof haben bis 22 Uhr geöffnet und glaub mir, gerade zu Weihnachten hat jedes Geschäft genug Zeugs auf Lager. Wieso also hektisch werden?“

„Schatz, ich glaube du verstehst nicht ganz recht. Dein Vater und ich haben unser Weihnachtsgeld erhalten, was gerade bei Michael nicht wenig ist. Und dann bekomme ich seine Kreditkarte in die Hand gedrückt. Zeig mir bitte auch nur eine Frau, die da ruhig bleiben kann! Ein Stück müsstest du dass doch auch verstehen, oder?“, sagte sie lachend und zwinkerte mir zu.

„Mom, bitte nicht schon wieder dieses Klischee. Ich bin schwul und keine Frau – zum Glück! So was komisches wie ne feminine Seite hab ich nicht.“

„Das stimmt.“, lachte meine Mutter und wuschelte mir durchs Haar. „Mach dich kurz frisch mein Schatz. Das Abendbrot ist gleich fertig.“, sagte sie und drückte mir nen Kuss auf die Stirn. Dann stand sie auf und ging zur Tür.

„Du, Mom?“

„Hm?“

„Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch mein Schatz.“

Kurz fiel ich wieder aufs Bett zurück und kuschelte mich in mein Kissen. Vielleicht lag es an Weihnachten, der festlichen Stimmung oder einfach nur daran, dass ich zur Zeit verdammt sentimental war. Auf jeden Fall wurde mir in diesem Moment wieder mal bewusst, was ich für ne richtig schöne Familie hatte. O.K. Vielleicht waren wir alle ein wenig durchgeknallt, aber gerade das gefiel mir.

Mein Vater zum Beispiel ist leidenschaftlicher Soldat bei der Bundeswehr. Deshalb war er auch zur Zeit nicht zu Hause, da er mit irgendwelchen Neulingen ne Übung mitten in der Pampa durchführte. Meine Mom ist Direktorin einer Mittelschule und hatte somit nicht viel weniger Arbeit. Aber sie liebte ihren Job, auch wenn die Kids ihrer Meinung nach immer schlimmer wurden und kaum einer ne Zukunftsperspektive hatte. Denen schien es egal zu sein, ob sie später eine Lehrstelle bekommen würden oder nicht. Die meisten wussten noch nicht einmal, welchen Beruf sie mal erlernen wollten. Eigentlich voll traurig.

Und meine kleine große Schwester? Sie war ein Unikat. Klein groß deshalb, weil sie einen Kopf kleiner, aber anderthalb Jahre älter war als ich. Sie machte gerade so ne bürotechnische Lehre und nicht wie ich Gymnasium. Irgendwas hat sie danach noch vor, aber was genau verriet sie Keinem. Was sie zum Unikat machte? Na ja, dazu gab es viele Argumente, doch eines war das, dass sie dem Anschein nach Schmerz liebte. Sonst würde sie nie freiwillig zum Kampfsporttraining gehen.

Der einzige, der halbwegs normal war, war ich. O.K., ich war schwul, aber so unnormal ist das nun auch wieder nicht. Vor über einem Jahr hatte ich mich bei meiner Familie geoutet. Die Reaktionen waren recht unterschiedlich. Meine Schwester zum Beispiel fragte fast im gleichen Atemzug was es zum Mittag gab (verfressene Göre). Meine Mom holte den Whisky und zwei Gläser, nahm nen kräftigen Schluck aus ihrem Glas und sagte streng zu meiner Schwester, dass der Fortbestand unserer Familie nun allein in ihre Hände fallen würde. Dann stand sie auf und nahm mich in ihre Arme. Sie hat nichts gesagt, hat mich einfach nur gedrückt und später ganz leise „Ich liebe dich“ geflüstert.

Für meinen Vater war es allerdings nicht so einfach. Er fragte mich ein paar mal, ob ich mir auch wirklich sicher sei und das nicht nur ne Phase war. Aber dann, nachdem er schon zwei Gläser auf Ex getrunken hatte, meint er, dass er sich zwar erst dran gewöhnen müsste, aber ich immer sein Sohn bleiben würde, egal was noch passiert. Als sich dann alle beruhigt hatten, warf ich noch in den Raum, dass ich in jedem Fall trotzdem noch meinen Wehrdienst leisten und niemals Zivi machen würde, worauf mein Vater nur meinte, dass das ihm gerade noch gefehlt hätte. Dann fingen wir alle laut an zu lachen und gingen, zur Freude meiner Schwester, in die Küche um endlich Mittag zu essen.

Meine Familie war eindeutig die Beste, die ein Junge wie ich sich wünschen konnte.

„Alex kommst du endlich? Das Abendbrot ist schon lange fertig und ich hab Hunger.“, holte mich meine genervt klingende Schwester aus meinen Gedanken.

„Du hast immer Hunger.“, rief ich ihr hinterher, stand auf und lief fix ins Bad, um mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen und meine Haare zu richten. Ich wollte sie mir etwas länger wachsen lassen, aber nun wuselten die wie Zotteln auf meinem Kopf und mochten nicht so liegen bleiben, wie ich es wünschte.

„Das hilft eh nichts.“, drang die belustigte Stimme meiner Schwester zu mir. Sie hatte sich lässig gegen den Türrahmen gelehnt und grinste mich schelmisch an.

„Danke für die Blumen.“

„Bütte bütte. Nu komm. Mutti hat frisches Gehacktes gekauft.“

„Sag mal, kannst du auch an was anderes denken, als ständig ans Futtern?“

„Klar, an meinen Schatz zum Beispiel. Der sitzt übrigens unten mit Mutti am Tisch und beide warten nur auf uns.“

„Dennis ist da? Cool. Na jut, dann lass uns mal runter gehen. Aber warte mal. Meine Haare hängen mir ständig im Gesicht. Hast du ne Idee?“

„Außer abschneiden? Nimm nen Tuch, falte es schmal zusammen und binde es dir als Kopfband um. Du gehst ja eh so in die Bikerrichtung von den Klamotten her. Da passt das ganz gut. Ich kann dir nen Schwarzes von mir leihen, aber lass uns erstmal essen.“

Nach einen gestöhnten „O.K.“ von mir, gingen wir also in die Küche, damit meine Schwester endlich ihrer Sucht nachgehen konnte. Natürlich wurde am Tisch der Tratsch des Tages ausgetauscht und so bekamen Sahra und ihr Freund brüh warm von meiner Mom erzählt, was heute alles beim Einkaufen passiert war. Meine Schwester verschluckte sich ein paar mal beim Kichern, was dann wenigstens für mich zum Lachen war.

„Sag mal Alex, was hast du eigentlich mit dem Typen gemacht, der dich übern Haufen gerannt hat?“, fragte Dennis, als wir soweit mit Essen fertig waren und nur noch an unseren Gläsern mit Wein nippten, den meine Mom zum Abendbrot ausgeschenkt hatte.

„Ich hab ihn angeschnauzt, aber der Kerl reagierte überhaupt nicht. Drum bin ich zu ihn hin und wollte ihn mir vorknöpfen. Doch dann kamen solche Männer in schwarzen Anzügen. Echt, das war wie im Film. Der eine Typ rief zum anderen ‚Da ist er‘ und zeigte auf den Jungen vor mir. Der schien voll die Panik zu bekommen und stürmte nach vorne, direkt in meine Arme.“

„So unglücklich scheinst du darüber aber nicht zu sein.“, sagte meine Schwester und schaute mich prüfend von der Seite an.

Ich bekam nur ein geseufztes ‚Hm‘ raus und musste wieder an meinen Engel denken.

„Oh je, ich glaube, da hat es jemanden voll erwischt.“, stichelte Sahra und grinste mich breit an.

„Ach ich weiß auch nicht. Aber seine Augen… Er sah so traurig aus.“

„Wenn ich dich so anschau, möchte ich auch noch mal jung sein.“, meinte meine Mutter, stand auf und räumte in Ruhe den Tisch ab.

„Nichts is, Mutti, deine Zeit ist vorbei.“, neckte Sahra.

„Na vielen Dank aber auch.“

„Bütte.“

Beide Frauen lächelten sich an, bis meine Mom zu ihrer Tochter sprang und sie ordentlich durchkitzelte. Dennis und ich gingen indes zur Dachterrasse, um eine zu rauchen. Ich leistete also meinem Schwager in Spee nur Gesellschaft, da ich nicht so viel von den Glimmstängeln hielt. Meine Schwester bettelte uns zwar um Hilfe an, aber wenn sich zwei Frauen „bekriegen“, war es gesünder als Mann sich dort nicht reinzuhängen. An diesem Abend verkroch ich mich recht früh ins Bett. Der verrückte Freitag, meine Beule am Kopf und der halbtrockene Wein zum Essen hatten mich so ziemlich zermürbt.

Am nächsten Morgen wachte ich total zerstört auf. Mein Engel hatte mich im meinen Träumen heimgesucht, nur wurde er wieder von den Männern in schwarz verfolgt. Diesmal hatten die Typen ihn geschnappt und schlugen ihn zusammen. Irgendetwas warfen sie ihm vor, was, konnte ich aber nicht hören. Der einzige Laut, der zu mir drangen, war das schmerzhaft klingende Stöhnen des Jungen, wenn die Kerle auf ihn einschlugen. Um von diesen Bildern loszukommen, ging ich ins Bad und stellte mich unter die Dusche. Zuerst schaltete ich das Wasser auf kalt, damit ich erstmal richtig wach wurde. Danach drehte ich es auf schön warm, fast heiß, schloss meine Augen und genoss das friedliche Geplätscher um mich herum. Kaum hatte ich mich etwas entspannt, tauchte sein Gesicht vor mir auf.

‚Ich mach’s wieder gut, versprochen.‘ Stimmt, das hatte er gesagt, bevor er weg gerannt war. Nachdenklich kletterte ich aus der Dusche, trocknete mich ab und lief wieder in mein Zimmer um mich anzuziehen.

„Alex, bist du schon munter?“, hörte ich meine Schwester vor meiner Tür fragen.

„Jup, bin ich.“

„Gut ich mach mir gerade nen Cappu. Magst du auch einen?“

„Ja gerne, bin gleich unten.“

„Alles klar.“

Als ich dann endlich Klamotten nach meiner derzeitigen Stimmung gefunden hatte, trabte ich in die Küche und ließ mich auf einen Stuhl fallen.

„Na Kleiner.“, begrüßte mich Sahra und reichte mir den Cappuccino.

„Na Große.“, grinste ich zurück und bedankte mich artig für die Tasse.

„Wo ist denn Dennis abgeblieben?“, fragte ich sie nach einer Weile der Stille.

„Er wollte noch irgendwas besorgen.“

„Ahso.“, meinte ich verwundert, da die Beiden vor zehn Uhr eigentlich nie aus dem Bett zu kriegen waren. Jetzt war es erst kurz vor neun.

„Morgen ihr Beiden.“

„Morgen Mom.“, antworteten Sahra und ich gleichzeitig auf die Begrüßung unserer Mutter.

„So früh schon munter? Entschuldigt, aber ich habe es eilig. Ich treffe mich nachher mit einer Freundin in der Stadt und will vorher auf dem Bahnhof noch ein paar Kleinigkeiten besorgen. Das Mittagessen steht ihm Kühlschrank. Wenn ihr Hunger habt, macht es euch in der Mikrowelle warm. Für Dennis ist natürlich auch genug da. Seid brav und stellt keinen Unsinn an, O.K. Bis heute Abend, ja.“, quasselte meine Mom, drückte jedem von uns einen Kuss auf die Wange und lief dann in den Flur, um sich ihre Schuhe anzuziehen.

„Warte mal. Ich komme mit und helfe dir beim Tragen.“, rief ich ihr hinterher und sprang auf. Im Flur angekommen, fand ich meine Mutter vor, wie sie gerade dabei war, sich ihre Handschuhe drüber zu streifen, jedoch mitten in der Bewegung inne hielt und mich mit großen Augen anstarrte.

„Oh je, ich glaube der Schlag gegen deinen Kopf gestern zeigt langsam seine Nachwirkungen.“, sagte sie besorgt, legte ihre Handschuhe beiseite, kam auf mich zu und prüfte, ob ich Fieber hätte. „Oder haben vielleicht Aliens meinen Sohn entführt und vor mir steht nur eine billige Kopie. Wenn ja, gebt ihn mir wieder. Mein Jüngster ist eh zu nichts nutze!“

„Mom!“ Manchmal glaube ich echt, dass sie sich zu viele Science-Fiction-Filme eingezogen hat.

Meine herzallerliebste Schwester zerkringelte sich hinter mir zu Tode, bis sie sich etwas beruhigt hatte, zu mir trat und ihren Arm um meine Schulter legte. Na, eigentlich legte sie nur eine Hand auf meine linke Schulter, da sie ja viel zu klein war.

„Ich glaube nicht Mutti, dass Alex mit dir mitkommt um dir zu helfen.“

„Hm?“ Verwirrt schaute meine Mom abwechseln zu mir und Sahra. Dann auf einmal fing sie an zu verstehen, denn ein wissendes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Ach so ist das. Na dann beeil dich mal. Ich will nicht zu spät kommen“, lachte sie und deutete auf mein T-Shirt, damit ich mir was Wärmeres anzog.

Wenige Augenblicke später saß ich neben ihr im Auto und sie steuerte souverän das Fahrzeug durch die Straßen. Ich wurde immer nervöser, je näher wir dem Bahnhof kamen und verfluchte jede rote Ampel. Dummer Weise war die Innenstadt die reinste Baustelle, da gerade ein Citytunnel gebaut wurde. In diesem würde später eine U-Bahn fahren, die zu den wichtigsten Punkten der Stadt führen sollte. Ihr könnt euch vorstellen, was das für ein Chaos auf den Straßen war, zum Samstag zwei Wochen vor Weihnachten.

Als wir uns dann endlich durch die ganzen Ausstädter und diversen Baustellenfahrzeugen gezwängt hatten, parkte meine Mutter das Auto im Parkdeck, welches neben dem Hauptbahnhof stand. Dann liefen wir zusammen zu den Einkaufspassagen, die an den Gleisen des Bahnhofes grenzten. Zwar wurde sie wieder etwas hektisch, aber diesmal trug sie sogar ein paar Tüten selbst. Ja, auch Mütter sind lernfähig.

Nach gut zwei Stunden gingen wir beide wieder zum Auto und verstauten die neuen Errungenschaften meiner Mom. Danach schlenderten wir noch gemeinsam zurück zu der Passage. Meine Mutter blieb davor stehen, drehte sich zu mir um, drückte mir einen Kuss auf die Wange und einen Zwanzig-Euroschein in meine Hand.

„Danke, dass du mir geholfen hast mein Schatz. Geh und hol dir was zum Mittag. Und mach keinen Blödsinn, O.K.?“, sagte sie und rieb mit den Fingern über meine Wange, um den Lippenstift davon abzuwischen.

„Mooom.“

„Ja ja, schon gut. Ich hör schon auf. Viel Glück.“, verabschiedete sie sich, worauf ich ein leises, nicht gerade siegessicheres ‚Danke‘ erwiderte.

Sie ging Richtung Innenstadt davon und ich durchquerte die schwere Tür des Bahnhofes. Die Passage verlief über drei Etagen. Ganz oben waren MC Doof, ein paar Zeitungsläden und die Zuggleise, in der Mitte überwiegend Mampfbuden und unten Klamotten- und Schuhläden. Ich holte mir was Kleines vom Bäcker und durchkämmte in Ruhe alle drei Stockwerke. Leider fand ich nicht das, wonach ich suchte.

Nach gut zwei Stunden sinnlosen Rumgelaufe, setzte ich mich frustriert auf eine Bank, stützte meine Arme auf meine Beine und fuhr mir durch die Haare. Wie kam ich auch nur auf die dumme Idee, dass ich ihn hier wieder treffen würde, oder dass er sein Versprechen hielt??? Ich fing an, die Leute zu beobachten, die von der oberen Etage kamen und fröhlich miteinander schwatzten. Lustiger Weise bemerkte ich erst jetzt, dass ich genau an dem Ort saß, wo ich ihm das erste Mal begegnet war. Innerlich musste ich über mich selbst lachen.

Dann fielen mir wieder sie Männer in schwarz ein. Warum hatten die es auf ihn abgesehen? Waren das vielleicht Ladendetektive und der Kleine hatte einfach nur was geklaut? Nein, dafür sahen diese Typen zu… zu professionell aus. Keine Ahnung warum, aber wenn ich an diese Männer dachte, krampfte sich mein Magen zusammen.

Hhm, das konnte vielleicht auch daran liegen, dass ich tierischen Hunger hatte, denn mein Bauch machte sich durch ein lautes Knurren bemerkbar. Kurz wuschelte ich mir noch mal selbst durchs Haar, dann stand ich auf, um zur nächsten Mampfbude zu gehen. Nur war ich diesmal derjenige, der keine Augen im Kopf hatte bzw. mit den Gedanken alles andere als hier war, denn kaum das ich stand, landete ich wieder auf meinen Allerwertesten. Ich war doch tatsächlich mit jemandem zusammen gestoßen und das nicht gerade sanft.

„Shit. Oh man. Hey tut mir echt leid. Irgendwie hab ich nicht aufgepasst.“, stammelte ich, rieb mir meine Stirn und versuchte die Sterne vor mir wegzublinzeln.

„So sind wir wenigstens quitt.“, meinte mein Gegenüber, richtete sich auf und reichte mir seine Hand, um mir aufzuhelfen.

Aber anstatt sie zu ergreifen saß ich nur weiter auf den Boden und starrte ihn mit offenen Mund an. Mein Engel. Vor mir stand wirklich mein Engel und grinste mich schüchtern an. Ich war wie geplättete. Wie kann man nur so schnuckelig ausschauen?

„Hey, alles klar bei dir?“, fragte er mich, doch nur ganz langsam verstand ich den Sinn seiner Worte.

„Ehm… ja klar. Sorry, ich glaub mich hat es doch härter getroffen als ich dachte.“, sagte ich, ergriff seine Hand und wurde von ihm hochgezogen. Der Kleine schien richtig Kraft zu haben, bemerkte ich und wurde noch viel neugieriger, was wohl hinter der legeren Hose und dem Kapuzenpullover steckte.

„Am Kopf?“, fragte er wieder besorgt und musterte meine Stirn.

„Auch.“ Shit, was laber ich hier nur?

„Du wegen gestern. Das tut mir echt leid. Ich hoffe, du hattest wegen mir nicht all zu viel Stress.“

Hm, entweder hat’s er nicht mitbekommen oder übergeht das Ganze äußerst clever.

„Na ja, ging so.“, erwiderte ich und sah, wie er mich reumütig anschaute. Er hatte zwar die Kauze wieder über seinen Kopf gezogen, aber seine Augen leuchteten dermaßen, dass ich darin hätte versinken können. Ich konnte meinen Blick einfach nicht vom ihm abwenden, wie er so niedlich nervös an seinem Pullover zupfte.

„Ich bin übrigens Alex.“, sagte ich und reichte ihm meine Hand, die er sichtlich erleichtert ergriff.

„Keyl. Frag nicht erst. Meine Mutter war bestimmt nicht ganz bei Verstand, als sie mir den Namen verpasst hat.“, meinte er auf meinen fragenden Blick, worauf ich mitfühlenden grinste.

„Du, hast du etwas Zeit? Wir könnten uns nen Burger bei Meggens holen oder so.“, fragte ich und versuchte obercool und locker zu wirken. Er senkte nur traurig seinen Kopf und antwortete kleinlaut, dass er total pleite sei. „Was soll’s, dann lad ich dich halt ein.“

„Ne lass mal, ich hab was gutzumachen, nicht du.“, stotterte er bedrückt.

„Lass stecken. Meine Mom hat mir ein bisschen Kohle in die Hand gedrückt, weil sie wegen gestern ein schlechtes Gewissen hat. Also geht das Essen eh auf sie. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich aber lieber zum Chinesen gehen. Auf Burgers hab ich ehrlich gesagt keine Lust.“, lachte ich ihn an.

„Ich weiß nicht. Ist das wirklich O.K.?“

„Klar, wenn du Hunger hast schon“, sagte ich, worauf wie bestellt sein Magen knurrte.

Beide schauten wir uns an und unser Grinsen wurde immer breiter. Zusammen schlenderten wir zu meinem Lieblingschinesen und bestellten uns einen Tee und eine extra große Portion gebratene Ente mit Reis. So saßen wir also in der hintersten Ecke des Lokals und schlürften an unserem Heißgetränk. Ein Gesprächsthema zu finden war nicht schwer. Irgendwie lagen wir auf einer Wellenlänge. Wir redeten über die bescheuerten Baustellen, über die Stadt, über Musik, das Essen, einfach über alles. Viel über sich selbst allerdings erzählte er nicht. Ich wusste, dass er durch den Job seiner Mutter viel von eine in die andere Stadt zog, dass er noch nicht lange hier war, jedoch das Chaos ihm irgendwie gefiel.

Nach einer Weile kam dann endlich das heiß ersehnte Essen, doch als ich mir meine Gabel schnappte um los legen zu können, tat mein Gegenüber etwas total unerwartetes. Er schob seine Kapuze vom Kopf. Einmal mehr war ich der Überzeugung, dass ich einem Engel gegenüber saß. Er hatte langes, richtig dunkelbraunes, volles Haar, welches er locker nach hinten zusammen gebunden hatte. Einige Strähnen hingen ihm wirr vom Kopf ab, was ihm eine gewisse Wildheit verlieh.

„Sieht’s denn so schlimm aus?“, holte mich Keyl aus meinen Gedanken.

„Ehm. Nein nein. Ich ehm… finde… ehm… es sieht gut aus.“, stotterte ich und wurde bei jeden Wort immer leiser. Mein Gesicht fing unangenehm zu prickeln an, was nur bedeutete, dass ich übel rot anlief. Nervös drehte ich die Gabel zwischen meinen Fingern und wagte es, ihm vorsichtig in die Augen zu schauen. Er grinste mich nur breit an.

„Gut, da bin ich echt beruhigt.“, sagte er, griff nach seinen Stäbchen und fing an zu essen.

Unheimlich geschickt angelte er sich Stücken der Ente, Gemüse oder Reis und ließ diese in seinem Mund verschwinden. Irgendwie schien mir mein Engel richtig ausgehungert zu sein, denn von Bissen zu Bissen wurden seine Bewegungen immer schneller, bis er das Essen halb verschlang. Über meine Beobachtung hinweg vergaß ich fast selbst zu essen, besann mich wieder und fing endlich auch an.

Als ich zum größten Teil meinen Hunger gestillt hatte, schaute ich zu Keyl rüber. Er war schon länger fertig, hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und schien mich zu beobachten. Verlegen senkte er seine Augen, als sich unsere Blicken trafen und fing an, mit seinen Stäbchen zu spielen. Gott sah das niedlich aus.

„Du kannst ja mit diesen Teilen umgehen.“, bemerkte ich und deutete auf die Essstäbchen.

„Eigentlich ist es ganz einfach. Willst du es mal probieren?“

„Klar, wenn du mir zeigst, wie es funktioniert.“

„Gerne.“, lächelte mein Engel mich an und reichte mir seine Stäbchen.

„Also, den tust du hier so auf den Zeigefingern und den Anderen dorthin. Nein nicht so.“, sagte Keyl und versuchte mir zu erklären wo was hingehörte.

Da ich mich aber heidendämlich anstellte, verlor er bald die Geduld, beugte sich zu mir rüber, griff nach meiner Hand und legte die Stäbchen ungefähr so zurecht, dass ich sie benutzen konnte. Nur konnte ich mich ab jetzt überhaupt nicht mehr konzentrieren. Seine schlanken Finger, die mich so sanft berührten, machten mich irre. Nach einer Weiler hatte ich – welch ein Wunder – es doch noch geschafft, die Stäbchen richtig zu bewegen und sogar ein Gemüsestückchen in meinen Mund zu stopfen. Keyl war die ganze Zeit nur am Lachen, weil ich manche Stücke genau in die Soßen fallen ließ und einige Spritzer direkt in meinem Gesicht landeten.

„Los komm, lass uns noch irgendwo anders nen Eis essen. Ich hab Bock auf was Süßes zum Nachtisch.“, sagte ich später und schaute mich nach der Bedienung um, um zu bezahlen. Mein Engel aber blickte mich nur unsicher an. „Du machst dir wohl doch nicht schon wieder nen Kopf ums Geld? Ich sagte doch, dass meine Mom spendabel war. Außerdem gehen wir eh zu Mc Doof. Die haben dort das beste Eis mit warmer Karamellsoße und das kostet gerade mal ein Euro.“

„Ich will dir aber nicht zu sehr auf der Tasche hängen.“

„Tust du nicht. Wenn dem so wäre, hätte ich es dir schon längst gesagt. Ich bin in dieser Hinsicht recht ehrlich. Das gefällt zwar nicht jedem, aber ich find das besser so.“

„O.K.“, meinte Keyl schüchtern und sah dabei wieder zum Anbeißen lecker aus.

Endlich kam die Bedienung an unseren Tisch und ich bezahlte unser Essen. Danach liefen wir nach oben, kauften das besagte Eis und schlenderten zu den Bahngleisen. Mein Engel sah richtig süß aus, wie er das Eis genüsslich löffelte, als hätte er so was noch nie gegessen. Wir setzten uns auf eine Bank vor irgendein Gleis und beobachteten die eintreffenden Züge, die Menschen, die aus denen hinausströmten und die, die einstiegen.

„Irgendwann mal fahr ich auch mit so einem Zug.“, sagte Keyl nach einer Weile träumerisch und lehnte sich so zurück, dass sein Kopf auf der Lehne der Bank lag. Ich glich mich seiner Position an und rückte so – hoffentlich auffällig, unauffällig – noch ein Stück näher zu ihm.

„Du bist noch nie mit nem Zug gefahren?“, fragte ich leise verwundert.

„Noch nie. Meine Mom meint, es sei zu gefährlich.“

„Und was sagt dein Dad dazu?“

„Keine Ahnung. Ich kenn ihn nicht.“

„Oh, entschuldige.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wenn, dann müsste das schon meine Mom machen.“

„Bist du deshalb von zu Hause weggelaufen?“ Verwundert drehte er seinen Kopf zu mir und blickte mich mit großen Augen an. „Komm schon Keyl. Du warst vorhin total ausgehungert, als hättest du Tage nichts mehr richtiges zwischen die Zähne bekommen. Außerdem versteckst du dein Gesicht ständig unter dieser doofen Kapuze, damit dich ja keiner erkennt. Dabei kannst du dich echt blicken lassen. Die Typen, die gestern hinter dir her gewesen sind, waren entweder viel zu gut gekleidete Ladendetektive, oder, wenn deine Mom zu viel Kohle hat, von ihr angeheuerte Kinderfänger, um dich zurück zu holen.“

Ich drehte nun auch meinen Kopf zu ihm und schaute ihn triumphierend an. Würde ich noch einen Zentimeter näher rücken, würden sich glatt unsere Nasenspitzen berühren. Mein Engel wirkte auf einmal traurig und schien irgendwie mit sich zu kämpfen.

„Zum Teil hast du recht. Alex, gib mir bitte etwas Zeit. Ich muss mir erstmal über einiges klar werden.“, sagte er und schaute mich ängstlich an.

„Man Keyl, bleib locker.“, erwiderte ich sanft. „Wir sind Freunde und du kannst mir alles erzählen. Und zwar dann, wenn DU bereit dafür bist. O.K.?“

„Freunde?“, hauchte er ungläubig.

„Ich dachte zumindest… ich meine ich…“, stotterte ich unsicher werdend.

„Freunde.“, grinste auf einmal mein Engel überglücklich, was mich wieder beruhigte.

Beide saßen wir wieder schweigend da und beobachteten einigen Tauben, die sich nach drinnen verirrt hatten. Nur das lästige Klingeln eines Telefons durchbrach die angenehme Stille. Keyl suchte kurz in den Seitentaschen seiner Hose, bis er den Unruhestifter fand. Besorgt schaute er auf das Display, klickte den Anruf weg und musterte aufmerksam die Umgebung.

„Was ist los?“

„Nichts, nur das übliche. Du, es tut mir wirklich leid, aber ich muss weg.“, sagte mein Engel nervös und sprang auf. „Danke für den schönen Tag. Es hat echt Spaß gemacht.“ Verlegen und traurig zu gleich sah er mich an und ich wurde weich wie Butter, die zu lange in der Sonne gelegen hatte.

„Also wenn dir das schon Spaß gemacht hat, dann warte erstmal morgen ab.“

„Morgen?“

„Na, wir sehen uns doch wieder, oder?“, fragte ich unsicher. Keyl schien kurz zu überlegen, dann lächelte er.

„Um zwei Uhr an dem Ort, wo wir das erste Mal aufeinander getroffen sind.“

„Wortwörtlich.“, lachte ich und rieb demonstrativ meine Stirn. „Ich werde da sein.“

„Schön, also dann bis morgen.“, verabschiedete sich mein Engel und strahlte mich mit seinen gelb-braunen Augen umwerfend an.

„Bis morgen.“, hauchte ich und sah, wie Keyl sich in Bewegung setzte.

„Ich freu mich.“, rief ich ihm noch hinterher, als er schon ein ganzes Stück weg war. Fast glaubte ich, dass er es nicht gehört hatte, doch dann drehte er sich zu mir um und rief zurück: „Ich auch!“, ging noch ein paar Schritte rückwärts, hob seine Hand zum Abschied, wandte sich dann wieder nach vorn und war hinter der nächsten Werbetafel verschwunden.

Tief seufzend begab ich mich langsam auf den Heimweg. Verträumt saß ich in der Straßenbahn und dachte die ganze Zeit an meinen Engel. ‚Shit, ich hab mir noch nicht mal seine Handynummer geben lassen. Und was hatte ich eigentlich für nen Blödsinn gelabert. Von wegen ich freu mich. Das war ja wohl mega peinlich und auch eindeutig, oder? Aber er freut sich auch, hat er gesagt, oder hat er nur aus Höflichkeit geantwortet?‘ Ich zermarterte mir dermaßen den Kopf darüber, dass ich fast meine Haltestelle verpasst hätte und mich nur mit einem Sprung noch aus der Bahn retten konnte.

Zu Hause angekommen verkroch ich mich in mein Zimmer, schaltete meine Musikanlage ein und lauschte den wohligen Klängen von Sub7even, währenddessen ich auf dem Bett lag und an nichts anderes als an meinen Engel denken konnte. Gegen halb Acht rief meine Mom zum Abendbrot und ich tapste in die Küche. Irgendwie hatte ich aber überhaupt keinen Hunger, knabberte die ganze Zeit an einer Schnitte und starrte Löcher in die Luft.

„Ich glaube Mutti, er hat ihn wieder getroffen und diesmal war der Zusammenstoß um einiges heftiger.“, stichelte meine Schwester. Meiner Mutter allerdings bekam große Augen und fing an zu stottern:

„Du meinst die Beiden hatten… sie haben miteinander…“

„Oh Gott, Mutti hör bloß auf. So was will ich mir bei meinem kleinen Bruder gar nicht vorstellen! Außerdem meinte ich nur, dass sich Alex Hals über Kopf in den Jungen verknallt hat.“, unterbrach Sahra sie und schaute empört zu ihr rüber.

„Oh, O.K., gut.“, erwiderte meine Mom und blickte nicht ganz so überzeugt zu mir hinüber. Ich seufzte nur und nahm nicht wirklich das wahr, über was oder wen sich die Frauen unterhielten.

„Hallo Alex, bist du anwesend?“, fragte meine Schwester und schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht.

„Hm?“, mit gerunzelter Stirn schaute ich zu ihr.

„Oh je. Das sieht äußerst schlimm aus. Wann trefft ihr euch denn wieder?“

„Morgen, um zwei Uhr auf dem Bahnhof.“, sagte ich leise, legte meine halb angeknabberte Schnitte auf den Teller und stand auf. „Sorry Mom, aber ich hab keinen Hunger. Bin dann in meinem Zimmer.“

Ich sah noch, wie Sahra und meine Mutter sich seltsam anschauten, dann ging ich aus der Küche, stellte in meinem Zimmer die Musik wieder an und kuschelte mich ins Bett. Von Schlafen konnte allerdings überhaupt keine Rede sein. Schließlich schwirrte er mir ständig durch meinen Kopf und ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Gegen späten Abend klopfte meine Schwester an die Tür und setzte sich neben mich auf meinen Bett, als ich sie herein gebeten hatte. Sie fragte mich ein wenig über den Tag aus und nur zu gerne erzählte ich ihr mein Erlebnis. So konnte ich noch mal alles Revue laufen lassen und mit jemandem meine Sorgen teilen. Sahra hörte geduldig zu, kicherte sogar einige Male und lächelte mich zum Schluss liebevoll an.

„Nur Mut Alex. Er mag dich, ganz bestimmt.“, machte sie mir Hoffnung und gab mir nen Kuss auf die Stirn. „Mutti hat dir ein paar Schnittchen gemacht. Die liegen auf einem Teller im Kühlschrank, falls du heute Nacht Hunger bekommen solltest.“, zwinkerte mir meine Schwester zu, wünschte dann eine gute Nacht und ging aus dem Zimmer. Mütter und Schwestern sind echt die seltsamsten Wesen, die es gibt. Da ich überhaupt nicht schlafen konnte, stand ich wirklich mitten in der Nacht auf und lief zum Kühlschrank runter, weil mein Bauch sich lautstark bemerkbar gemacht hatte.

Am nächsten Morgen war ich zum ersten Mal der Erste in der Küche, hatte Kaffee für meine Mom und heißes Wasser für den Cappu meiner Schwester und mich angesetzt und sogar den Frühstückstisch gedeckt. Von meinem Geklapper wurden die beiden Frauen dann auch wach und setzten sich verwundert, teils noch verschlafen an den Tisch.

„Guten Morgen.“, begrüßte ich sie fröhlich.

„Gnaaa, wie kann man zum frühen Morgen schon so munter sein?“, stöhnte Sahra und rieb sich die Augen.

Ich grinste nur weiter vor mich hin und reichte ihr ein frisches Brötchen. Sie lächelte gequält und nahm es dankbar entgegen. Nach dem Frühstück verschwand ich erstmal im Bad, nahm eine kräftige Dusche und putzte zum zweiten Mal mir die Zähne. Dann stand ich vor meinen Kleiderschrank und gleichzeitig vor einem riesigen Problem. Was anziehen? Nach einer guten dreiviertel Stunde entschied ich mich für meine schwarze tarngefleckte BW-Hose und einem Pullover, den ich mal aus dem EMP-Katalog geschenkt bekommen hatte.

Das nächste Desaster waren meine Haare. Ich war nahe dran, die Schere anzusetzen, als die nach einer halben Stunde immer noch nicht so liegen wollten, wie ich es vorhatte.

„Hier.“, unterbrach mich Sahra, die wohl schon eine ganze Zeit im Türrahmen des Bades gestanden haben musste und drückte mir ein schwarzes Tuch in die Hand. Verwirrt blickte ich sie an.

„Pass auf. Du musst es so falten, schau. Dann wird es schmal. Mach dich mal klein! Ich binde es dir gleich um den Kopf.“

Nachdem sie dies getan hatte, zupfte sie noch ein paar Haare an der Stirn über das Tuch und ließ mich dann in den Spiegel schauen. Irgendwie sah ich aus wie eine Mischung zwischen Biker und Grufti.

„Wenn du nicht gerade mein Bruder wärst, könnte ich jetzt schwach werden.“

„Joa, so kann ich mich blicken lassen.“, sagte ich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Man sind wir in der letzten Zeit alle sentimental.“, meinte meine Schwester und ging mit mir aus dem Bad.

„Muss wohl an der weihnachtlichen Stimmung liegen.“, erwiderte ich, worauf sie nur anfing zu lachen.

Ich zog mir Schuhe und Jacke über und lief Richtung Haltestelle. Draußen war es sau kalt, deshalb grub ich meine Hände tief in die Jackentasche, nur stieß ich dort auf ein Hindernis. Hervor holte ich meinen MP-3-Player, den ich freudig in Betrieb nahm. Natürlich war ich viel zu früh auf dem Bahnhof und schlenderte deshalb, krampfhaft die Ruhe bewahrend, durch die riesige Eingangshalle.

Es musste gerade ein Zug angekommen sein, denn viele Menschen mit schwer aussehenden Koffern kamen die Treppe herab und liefen Richtung Ausgang. Da kam mir die Idee. Schnell hatte ich mir am Automaten das Gewünschte gezogen, hatte die Zeiten geprüft und ging aufgeregt unserem Treffpunkt entgegen. Es war erst gegen ein Uhr, also noch über eine Stunde Zeit. Ich hoffte irgendwie, dass er genauso hippelig war wie ich und somit auch ein bisschen eher kam. Jedoch war das weit gefehlt.

Halb Drei stand ich immer noch alleine vor der Rolltreppe und lief nervös von einem Ende zum Anderen. Um Drei saß ich total niedergeschlagen auf der Bank und hätte einfach nur heulen können. Kurz nach halb Vier fand ich mich langsam damit ab, dass niemand kommen würde und stand auf. Ich fühlte mich wie ausgekotzt. Ein letztes Mal blickte ich auf die Rolltreppe, dann drehte ich mich um und ging.

Nach wenigen Schritten hörte ich auf einmal hinter mir jemand meinen Namen rufen.

„Alex. Alex, warte. Bitte.“ Mein Herz machte einen Luftsprung, als ich Keyl sah, der mir entgegen rannte und heftig nach Luft japsend vor mir stehen blieb.

„Tschuldige, mir ist was dazwischen gekommen. Ich konnte mich nicht eher abseilen.“, keuchte er und stützte die Hände auf seine Beine.

Man, der Kleine machte mich echt schwach, wie er so schwer atmend vor mit stand und vereinzelte kleine Schweißperlen von seiner Stirn liefen. Aber so leicht wollte ich es ihm nicht machen, dafür war ich einfach zu stinkig. Gerade als ich ihn wütend fragen wollte, was so wichtig war, dass er mich dermaßen versetzte, fing mein Engel an, mich von Unten nach Oben und wieder zurück, zu mustern.

„Sag mal, für wen hast du dich so aufgedonnert?“, fragte er mit groß gewordenen Augen und ruhigerem Atem.

Das war mir einfach zu viel.

„Na für meine Freundin. Für wen denn sonst? Sie ist groß, hat blonde lange Haare und mega Titten. Habe ich echt gestern vergessen, sie dir vorzustellen?!“, schnauzte ich ihn an, drehte mich um und stapfte davon.

„Alex. Bitte warte doch mal. Es tut mir wirklich wahnsinnig leid. Ehrlich. Aber ich konnte nicht eher weg.“, versuchte Keyl sich zu rechtfertigen und lief mir nach.

„Und was war so super wichtig, hm?“

„Nichts weiter, ich wurde nur aufgehalten.“

„Wenn nichts weiter gewesen wäre, hättest du mich nicht gut zwei Stunden sitzen lassen! Was soll der Blödsinn?“, blaffte ich ihn an und blieb stehen.

Eingeschüchtert stand mein Engel vor mir und suchte nach den wohl passenden Worten. Nachdem er nach einer kleinen Weile nichts raus bekommen hatte, schüttelte ich nur meinen Kopf und ging weiter. Keyl allerdings verhaarte an Ort und Stelle und starrte zu Boden.

„Du hast gesagt, dass wir Freunde sind und ich mich dir anvertrauen kann, wenn ich dafür bereit bin. Alex, bitte, ich würde dir ja gerne mehr über mich erzählen, aber ich habe Angst. Angst, dass du dann nicht mehr mein Freund sein willst.“

Verwundert blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um. Er hatte seine Hände fest zu Fäusten geballt und schien leicht zu zittern. Ich ging zu ihm und berührte sanft seine Schulter. Er zuckte kurz zusammen, als würde er was Schlimmes erwarten.

„Hey Keyl. Tut mir leid, dass ich dich so angeschnauzt habe. Ich war einfach wütend und da setzt immer mein Verstand aus. Zu dem, was ich gesagt habe, steh ich auch.“, entschuldigte ich mich leise und blickte ihm in die feucht glänzenden Augen.

„Also sind wir noch Freunde?“, fragte mein Engel mich ängstlich.

„So ne bescheuerte Frage, ehrlich mal. Klar sind wir das! Oder dachtest du, dass du mich so leicht los wirst?“, antwortete ich aufmunternd und legte meinen Arm um seine Schulter. „Aber nun komm endlich. Wir sind spät dran.“

Beide lachten wir uns erleichtert an und ich zog ihn mit in Richtung Rolltreppe.

„Was hast du eigentlich vor Alex?“

„Ist ne Überraschung.“ Man, ich freute mich jetzt schon auf sein niedlich dummes Gesicht. Anstatt mich weiter auszufragen starrte Keyl wieder nur auf den Boden und schien zu überlegen. „Hey, alles klar bei dir?“, fragte ich ihn besorgt und drückte sacht seine Schulter.

„Sag mal. Hast du wirklich eine Freundin?“ Er sah einfach mega schnuckelig aus, wie er so schüchtern fragte und mich vorsichtig von unten aus anschaute.

„Ne lass mal. Auf ne Freundin hab ich überhaupt keinen Bock.“, meinte ich und betonte dabei - wie ich hoffte recht eindeutig - die letzten drei Buchstaben. Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf Keyls Lippen ab, was aber wieder verschwand, als er merkte, wohin ich ihn führte.

„Was wollen wir den hier oben auf den Gleisen?“, fragte mich mein Engel und blickte mich verwundert an.

„Zug fahren, was sonst. Ich habe uns zwei Karten besorgt. Zwar nur bis zur nächsten Stadt – wenn man die so schimpfen kann – da mein Budget ein bisschen knapp war, aber ich hoffe, es gefällt dir trotzdem. Komm, wir müssen uns beeilen. Unser Zug fährt gleich los. Da brauchen wir nicht so lange auf den nächsten zu warten.“, antwortete ich und zog ihn weiter. Und tatsächlich, kaum das wir im Zug saßen, fuhr er auch schon los.

„Wir werden nur an wenigen Stationen halt machen, da das ein Regional Express, also eine Direktverbindung ist. Rückzu können wir ja die S-Bahn nehmen, die über die Dörfer fährt.“, erklärte ich meinem Engel, der, aufgeregt wie ein kleines Kind, auf seinem Platz hin und her rutschte.

„Du scheinst wirklich noch nie mit einem Zug verreist zu sein.“, meinte ich und freute mich, dass ihm meine Überraschung gefiel. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd und blickte dann fasziniert aus dem Fenster. Wir fingen wieder an, uns über alles mögliche zu unterhalten, bis wir nach gut einer Viertelstunde am Flughafen meiner Stadt kurz anhielten.

„Hier schau mal, das ist unser Flughafen. Der wurde erst vor kurzem erneuert. Wenn du magst, können wir hier aussteigen und uns mal dort umschauen.“

„Lass mal. Den kenn ich schon.“, antwortete Keyl betrübt und wandte sich vom Fenster ab. „Flughäfen bedeuten für mich immer Abschied nehmen zu müssen und auf so was hab ich zur Zeit überhaupt keine Lust.“, erklärte er mir auf meinen fragenden Blick hin.

„Das ist beruhigend zu wissen. Außerdem hat Dennis, der Freund meiner Schwester, dort die Feueralarmanlagen installiert. Ich glaube, da sind wir eh hier viel sicherer.“, sagt ich grinsend, worauf sich sein Gesicht wieder aufhellte.

Nach einer weiteren Viertelstunde waren wir schon am Ziel und mein Engel stieg nur widerwillig aus. Leider mussten wir feststellen, dass die S-Bahn, die uns zurück bringen sollte, erst in einer halben Stunde kam. So standen Keyl und ich zitternd am „Bahnhof“ der Möchtegernstadt und stapften von einem Fuß auf den anderen. Leider kannte ich mich dort nicht so gut aus und wusste nicht, wo das nächste MC-Doof war. Auf diesem, nur halb überdachten, Bahnhof gab es keine Geschäfte, wo man sich hätte aufwärmen können, da dort auch gerade umgebaut wurde. Meinem Engel erging es viel schlechter als mir. Er hatte nur den Pullover von gestern an und keine Jacke oder so was drüber. Seine Lippen waren schon ganz rissig und begannen leicht bläulich anzulaufen.

„Mensch Keyl, du erfrierst doch noch in diesen dünnem Teil da. Hast du keine Jacke?“, fragte ich besorgt.

„Hab sie vergessen, als ich losgerannt bin.“, antwortete er bibbernd und versuchte zu grinsen, was ihm kläglich misslang.

Ich konnte mir das Gezitter echt nicht mehr mit ansehen, ging deshalb zu ihm hin, öffnete den Reißverschluss meiner Jacke und umarmte meinen Engel. Ich versuchte ihn so nahe wie möglich an mich zu drücken, damit meine Jacke ihn so gut es ging wärmen konnte.

„Entschuldige, aber ich will nicht, dass du erfrierst und Körperwärme ist besser, als wenn ich dir nur meine Jacke geben würde.“, versuchte ich mich sanft zu rechtfertigen, aber das schien gar nicht nötig zu sein, denn der Kleine rückte noch ein Stück näher, nuschelte ein Danke und kuschelte seinen Kopf an meine Schulter. Wow. Ich war im siebenten Himmel. Durch das Adrenalin, was in Unmengen gerade durch meine Adern pulsierte, hätte ich eine ganze Stadt wärmen können.

„Du riechst gut.“, durchbrach mein Engel die Stille und ließ mein Herz schneller schlagen.

„Das ist das Showergel von Nivea, was unter der Dusche zu Schaum wird.“ Was redete ich eigentlich wieder für ein Müll?

„Nein. Das bist du.“

Keyl hob seinen Kopf und schaute mir tief in die Augen. Meine Knie wurden weich wie Gele und in meinen Magen begann es wohlig zu kribbeln. Langsam beugte ich mich zu ihm hinunter und er hob etwas sein Kinn. Sanft trafen unsere Lippen aufeinander. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl explodierte in meinem Körper und hüllte jede einzelne Faser von mir ein.

Als wir uns wieder voneinander trennten, grinsten wir uns verlegen an. Dann fing es an zu schneien. Erst ganz leicht und vereinzelt, dann immer heftiger, bis uns das kalte Weiß am Ende komplett einhüllte. Staunend beobachteten wir das Treiben und lächelten uns dann verliebt an. Sachte streichelte ich mit meiner Nase über die des Engels in meinen Armen und küsste ihn. Keyl hatte die Augen geschlossen und umklammerte mich wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz.

Nur widerwillig lösten wir unsere Umarmung, als unser Zug endlich kam, huschten schnell ins Warme und suchten uns ein ruhiges Plätzchen. Diesmal saß ich am Fenster und schaute träumerisch in die Ferne. Mein Engel hatte seinen Kopf an meine Schulter gebettet und seinen Arm um meinen Bauch geschlungen. Ich graulte sanft seinen Nacken und seine Wange, während er langsam einzunicken schien. Meine Jacke hatte ich über seinen Rücken ausgebreitet, aus Angst, dass er noch immer frieren könnte. Vorher hatte ich meinen MP-3-Player aus der Tasche geangelt und so glitt die Landschaft mit den Tönen von Sub7even und ‚I see you dancing‘ an uns vorbei.

Auf dem Heimatbahnhof wieder angekommen, weckte ich meinen Schatz sacht, worauf er mich verschlafen anblinzelte. Ich gab ihm einen Kuss auf die Nase und wollte aufstehen. Er jedoch zog mich wieder nach unten und drückte seine Lippen auf die meine. Fordernd strich seine Zunge über meinen Mund, bis ich ihn öffnete. Der Kleine war einfach der reinste Wahnsinn und ein absolut guter Küsser. Ich hätte ewig so weitermachen können, wenn uns nicht die neuen Fahrgäste unterbrochen hätten.

Grinsend schnappten wir uns die Jacke und den MP-3-Player und stiegen aus dem Zug aus. Kaum das wir auf dem Bahnsteig standen, klingelte gleich mein Handy. Meine Mom war dran und fragte besorgt, wo ich denn steckte, da ich nicht zum Abendbrot da gewesen sei. Schnell versicherte ich ihr, dass alles in bester Ordnung sei und legte wieder auf.

„Ich muss mich mal kurz zu Hause blicken lassen. Ist so ne Tradition, das wir am Wochenende immer zusammen am Tisch sitzen.“, meinte ich und verstaute dabei das Handy wieder in meiner Tasche.

„Hm. Ist wohl besser so. Nicht das sie sich noch Sorgen macht.“, sagte Keyl leise und sah irgendwie total traurig aus.

„Komm doch mit.“

„Meinst du das ernst?“

„Klar, wieso nicht? Meine Mutter hat eh immer viel zu viel zu Essen zu Hause. Außerdem ist sie ganz cool drauf. Also für ne Mutti.“

Erleichtert lächelte mich mein Engel an und zusammen gingen wir zur Haltestelle. Draußen traf uns die Kälte wie ein Hammer und ließ uns in Kürze bis ins Mark frieren. Die Bahn war zum Glück nach einigen Minuten da und brachte uns zu mir nach Hause. Schnee bedeckte die Straßen und glitzerte wie tausend kleine Diamanten, wenn das Licht der Laternen auf ihn trag. Aneinander geklammert stapften wir die letzten Meter zu dem Haus, in dem ich wohnte. Oben angekommen, zogen wir uns vor der Wohnungstür die nassen Schuhe aus. Meine Mutter muss uns wohl gehört haben, öffnete die Tür und blickte uns erschrocken an.

„Sagt mal, was macht ihr denn für Sachen? Ihr seht ja halb erfroren aus. Aber ab, schnell rein mit euch.“, scheuchte sie uns in den Flur. „Ihr beide werdet sofort ein heißes Bad nehmen!“

„Mooom.“

„Dann wenigsten warm duschen und ihr müsst aus den nassen Sachen raus. Wie kann man nur ohne Jacke bei dem Wetter raus gehen?“

„Entschuldigen sie, das war meine Schuld.“, sagte mein Engel kleinlaut, wurde aber von meiner Mutter gleich wieder unterbrochen.

„Schuld hin oder her, das ist jetzt egal. Hallo erstmal. Ich bin Marianne und lass bitte das Sie, da komm ich mir immer so alt vor.“

„Hallo, ich bin Keyl.“, antwortete er schüchtern und ergriff die ihm dargebotene Hand.

„Mein Gott Keyl, du bist ja eiskalt. Duschen! Und zwar sofort! Zum Glück haben wir zwei Bäder. Alex, Schatz, zeig deinem Freund wo alles ist und gib ihm ein paar Sachen von dir und ein Handtuch. Ich wollte eh gerade noch einem Schwung Wäsche ansetzten, da tu ich deine gleich mit dort rein. Wenn ich sie danach in den Trockner werfe, hast du sie morgen gleich wieder.“

Meine Mutter konnte sehr überzeugend sein, besonders wenn ihr Beschützerinstinkt in ihr hervor kam. Wir taten wie uns geheißen. Ich zeigte Keyl kurz mein Zimmer und suchte für ihn und auch gleich für mich Klamotten raus.

„Schön hast du’s hier.“, sagte mein Schatz und blickte sich neugierig im Zimmer um.

„Danke, mir gefällt es hier auch echt gut. Komm, nebenan ist das Bad.“, erwiderte ich und zeigte ihm die Räumlichkeiten. Nach dem ich kurz in einem Schrank gewühlt hatte, holte ich ein Handtuch hervor, welches ich ihm reichte.

„Wenn noch irgendwas ist, ruf einfach.“ Mein Engel nickte zögerlich, was ich wieder mehr als nur niedlich fand. Dann drehte ich mich um, damit er in Ruhe duschen konnte.

„Alex?“

„Hm?“

„Danke.“ Verlegen zupfte er an dem Handtuch in seinen Händen.

Mit gerunzelter Stirn ging ich wieder auf ihn zu und nahm ihn in meine Arme.

„Ich weiß, dass klingt jetzt voll kitschig, aber irgendwie mag ich dich wirklich sehr.“, flüsterte ich ihm zu.

„Mir geht es genauso.“, flüsterte er zurück und drückte mich an sich.

„Jetzt geh aber wirklich duschen, sonst erkältest du dich noch. Komm in die Küche, wenn du fertig bist. Folge einfach immer dem Teegeruch.“, sagte ich nach einer Weile, schob ihn sanft von mir und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund, bevor ich aus dem Bad verschwand.

Draußen wartete ich, bis ich das Wasser plätschern hörte. Dann schnappte ich mir meine Sachen und lief ins Gästebad, welches in der unteren Etage lag. Meine Schwester und Mutter standen im Türrahmen der Wohnstube und grinsten mich breit an.

„Das ist also dein Engel. Sieht auf den ersten Blick gar nicht mal so übel aus.“, stichelte Sahra und Mutti setzte noch nach:

„Und Manieren scheint er auch zu haben.“

Ich lächelte nur süffisant und verzog mich ins Bad. Das warme Wasser war jetzt genau das, was ich brauchte. Trotzdem beeilte ich mich, da ich so schnell wie möglich wieder bei meinem Schatz sein wollte. Frisch geduscht und in trockene Sachen gepackt, trottete ich in die Küche und schlürfte am Tee, den mir meine Mom reichte. Nach einigen sehr nervend fragenden Blicken meiner Schwester erzählte ich grob, was passiert war. Frauen sind echt dermaßen neugierige Wesen. Kaum war ich fertig, erschien Keyl im Türrahmen.

„Hey.“, begrüßte ich ihn und stand auf. Er grinste nur unsicher und bewegte sich keinen Millimeter. Deshalb ging ich zu ihm hin, griff nach seiner Hand und führte ihn zu dem Stuhl neben meinem.

„Na geht’s dir wieder besser?, fragte meine Mom und reichte ihm den Tee.

„Ja danke.“

„Ich bin Sahra, Alex’ große Schwester. Hi.“, stellte sich Sahra vor, die an die Küchentheke gelehnt stand.

„Keyl.“, erwiderte mein Schatz lächelnd und musterte sie kurz, dann zog er die Augenbraue verwundert zusammen und fragte sie: „Große?“, worauf meine Schwester ihn nur verdutzt anstarrte.

„Also vom Humor her passt ihr beide schon mal prächtig zusammen.“, sagte Sahra und fing an zu Lachen, in welches wir anderen mit einstimmten. Das Eis war somit auf jeden Fall gebrochen.

„Wenn deine Eltern nichts dagegen haben Keyl, würde ich es vorziehen, wenn du heute hier übernachten könntest. Draußen tobt ein richtiger kleiner Schneesturm und ich will dich mit nassen Haaren nicht dort hinaus schicken.“, meinte meine Mom, worauf die Augen meines Engels immer größer wurden.

„Wenn das für sie… ehm für dich keine Umstände sind.“

So, wie meine Mutter gerade schaute, hatte sie meinen Kleinen schon voll ins Herz geschlossen.

„Musst du morgen zur Schule?“, fragte sie weiter.

„Nein, ich habe einen Privatlehrer, da meine Mutter durch ihren Beruf viel unterwegs ist und ich bisher immer mit ihr gereist bin. Wenn ich ihn anrufe, fangen wir mit dem Unterricht später an.“, antwortete Keyl und meine Mom nickte zufrieden.

„Und du hast ja so eine Projektwoche, oder Schatz?“, wandte sie sich an mich.

„Jup. Wir fangen erst gegen zehn Uhr an.“

„Toll, ihr habt’s gut. Ich werde mal ins Bett gehen. Denn im Gegensatz zu euch, muss ich morgen früh raus.“, murrte Sahra, wünschte allen eine gute Nacht und verschwand in ihrem Zimmer.

„Wir werden uns auch verziehen. Irgendwie bin ich total fertig.“, sagte ich und sah meinem Schatz an, dass es ihm genauso ging, da er echt Probleme hatte, seine Augen offen zu halten.

„Na dann schlaft mal schön ihr Beiden. Decken und Kissen hast du Frostbeule ja eh genug.“, neckte meine Mom und ging aus der Küche.

Wir tranken unseren Tee noch aus und verkrochen uns dann auch in meinem Zimmer. Ich setzte mich auf mein Bett, angelte die Fernbedingung und schaltete meine Anlage an. Mein Engel stand derweil in der Mitte des Raumes und wirkte seltsam verloren. Er sah einfach zum Anbeißen niedlich aus. Ich stand wieder auf, ging zu ihm und zog ihn zu mir. Wir küssten uns, streichelten über die Haut des Anderen und genossen jede Berührung. Langsam zog ich ihm das Shirt über den Kopf, neckte ihn mit meiner Zunge und liebkoste seinen Hals mit meinen Lippen.

„Alex.“ Sanft schob mein Schatz mich von sich.

„Was ist?“, fragte ich ihn leise und schaute in sein ängstliches Gesicht.

„Ich… es ist für mich das erste Mal.“

„Für mich in gewisser Weise auch. Ich bin bereit, wenn du dafür bereit bist. Keine Angst, ich mach nichts, was du nicht auch wirklich willst.“, sagte ich und strich ihm liebevoll einige Strähnen seines Haares aus dem Gesicht. Unsicher sah mein Engel mich an. „Komm, lass uns einfach nur beieinander liegen, nicht mehr. Ich möchte einfach nur ganz nah bei dir sein.“

Wir zogen uns bis auf die Boxers aus und kuschelten uns ins Bett. Keyl hatte wieder seinen Kopf auf meine Schulter gebettet und ich spürte seinen immer regelmäßiger werdenden Atem auf meiner Brust. Leise lief die entspannende Musik von Schandmaul im Hintergrund und machte mich schläfrig. Verträumt glitt meine Hand über den Oberarm meines Schatzes, was er mit einem süßen Schnurren quittierte.

Ich bemerkte wieder, dass der Kleine für seine Statur recht gut durchtrainiert war. Ein Sixpack zeichnete sich deutlich auf seinem Bauch ab und wenn er seine Arme auch nur leicht anwinkelte, sah man gut ein leichtes Spiel der Muskeln. Also richtig extrem war es nicht, aber halt doch sichtbar. Mein Engel machte mich von Minute zu Minute neugieriger. Ich wollte noch viel mehr über ihn erfahren… viel mehr. Mit diesem Gedanken glitt ich in die Welt der Träume und schlief so gut wie seit langem nicht mehr.

Am nächsten Morgen weckte mich das nervige Piepen meines Weckers. Grummlig langte ich zu dem Störenfried und schaltete es ab. ‚Nur noch ein Minütchen‘, dachte ich und drehte mich um, damit ich mich an meinem Schatz kuscheln konnte. Doch seine Betthälfte war leer. Verwundert öffnete ich die Augen und setzte mich auf.

„Keyl?“

Ängstlich schaute ich mich im Zimmer um, bis mein Blick auf einem ordentlich zusammengelegten Wäschestapel hängen blieb. Nichts Gutes ahnend stand ich ganz auf und ging zu den Sachen. Es waren die, die mein Engel gestern Abend noch getragen hatte. Obendrauf lag ein Blatt, welches ich zitternd aufhob und ungläubig zu lesen begann:

Liebster Alex,

ich danke Dir für die letzten beiden Tage, sie waren die schönsten im meinem ganzen Leben. Noch nie habe ich mich so wohl und sicher gefühlt, wie in Deinen Armen. Du bist die erste Person in den sechzehneinhalb Jahren meines Lebens, bei welcher ich ausgelassen lachen und ich einfach ich selbst sein konnte. Du akzeptiertest mich so, wie ich bin, weil ich ich bin und nicht der Sohn einer bestimmten Person. Selbst, als ich bewusst Geheimnisse vor Dir hatte, drängtest du nicht auf Antworten, sondern überließt es mir, den Zeitpunkt, wann ich mir Dir anvertraue, aussuchen.

Vielleicht ist das jetzt zu viel für Dich, aber wegen all dem liebe ich Dich. Ja, ich liebe Dich. Ich weiß, es ist utopisch so etwas schon nach nur zwei Tagen zu sagen, dennoch ist es so. Und gerade weil ich Dich so sehr liebe, muss ich Dich verlassen. Es ist zu Deiner eigenen Sicherheit. Den Status, den ich inne habe, erlaubt mir nicht in Frieden zu leben und verschont auch nicht die Menschen um mich herum. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn Dir etwas zustoßen würde. Deshalb verlasse ich, vielleicht noch heute, die Stadt. Sie wird nie sicher sein, solange ich in ihr wohne. Ich habe meine Aufpasser kontaktiert. Sie sind bereits unterwegs und werden mich auf dem Bahnhof abholen. Ich gehe zu meiner Mutter zurück. Dort ist zwar nicht der Himmel auf Erden, so wie bei Dir, aber lieber will ich, dass Du ein friedliches Leben führen kannst, als dass Du von irgendwelchen Typen ständig wegen mir belästigt wirst.

Auf Deinen Sachen liegt ein kleines Geschenk. Das war auch ein Grund, warum ich gestern zu spät gekommen bin, da ich es extra für Dich anfertigen ließ. Es tut mir leid, dass ich Dir das nicht persönlich sage, aber dafür hatte ich einfach nicht den Mut. Bitte verzeih mir ein letztes Mal. Ich danke Dir für alles, was Du mir gegeben hast. Diese zwei Tage und ganz besonders Dich werde ich nie vergessen.

In verzweifelter Liebe

Keyl

Ungläubig starrte ich das Stück Papier an und schaute dann auf meine Sachen. Dort lag ein in dunkelbraun gehaltenes, schmales Lederarmband, auf welches ein wunderschön geschlungenes Tribal in den Farben der Augen meines Engels geprägt war.

„Keyl.“, flüsterte ich verwirrt und betrachtete das Band und den Brief in meinen Händen.

„Keyl!“ Laut rufend stürmte ich los, die Treppe nach unten zur Wohnungstür. Seine Schuhe waren zwar weg, aber der Platz, wo sie gestanden hatten, glänzte noch feucht. ‚Oh bitte, lass ihn noch nicht lange weg sein.‘, betete ich und rannte in mein Zimmer.

„Sag mal, was soll’n der Krach in der Frühe?“, hörte ich die genervte Stimme meiner Schwester. Überrascht stürzte ich auf den Flur.

„Du bist noch da?“

„Hä? Oh Shit, ich hab vergessen meinen Wecker zu stellen. Scheiße, das ist gar nicht gut. Nein, das ist überhaupt nicht gut.“, stammelte Sahra nervös und lief hin und her.

„Nein, das ist perfekt. Meine Gebete wurden wirklich erhört, denn das ist sogar sehr gut!“, sagte ich aufgeregt, worauf sie mich nur verständnislos anschaute.

„Du musst mich zum Bahnhof fahren und zwar sofort!“

„Aber sonst geht’s dir noch ganz gut, oder?“

„Nein eben nicht. Keyl ist abgehauen. Er hat mir nen Abschiedsbrief hinterlassen.“

„Er will sich umbringen?“

„Schlimmer. Er will die Stadt verlassen. Bitte, ich muss ihn vor seinen Aufpassern abfassen, bitte, bitte, bitte.“

„Aufpassern?“

„Bitte Sahra. Ich übernehme auch ein Leben lang den Abwasch- und Müll-runter-bring-Dienst für dich.“

„Alex, wir haben einen Geschirrspüler und den Müll nimmt Mom mit, wenn sie früh zur Arbeit geht.“

„Komm schon Sahra, bitte, ich tu alles für dich, die Zeit rennt mir davon.“ Ich war so verzweifelt, dass mir Tränen die Wangen hinab flossen. Meine Schwester musterte mich erschrocken, dann nahm sie eine entschlossene Haltung an.

„Ich mach heute blau. Zieh dich an. Unten liegen die Schlüssel. Mach du schon mal das Auto fertig wegen Kratzen und so. In der Zeit spring ich in meine Klamotten und fliege durchs Bad. Ich beeil mich, versprochen.“

„Danke.“, hauchte ich erleichtert und beide verschwanden wir in unsere Zimmer.

Viel zu lange Minuten später saßen wir im Corsa meiner Schwester und fuhren Richtung Bahnhof. Sahra flog regelrecht über die Straßen, sich an keine Geschwindigkeitsbegrenzung haltend und ich erklärte ihr, was passiert war. Als wir den Bahnhof erreichten, sprang ich sofort aus dem Auto.

„Viel Glück. Ich warte hier vorsichtshalber.“, rief sie mir hinterher, worauf ich ein ehrliches ‚Danke‘ erwiderte.

Als wäre der Teufel persönlich hinter mir her, rannte ich durch die Einkaufspassage, unserem Platz entgegen. Dort angekommen war jedoch keine Spur von Keyl zu sehen. Gehetzt blickte ich mich um und ging einige Schritte nach vorn. Ein gutes Stück vor mir erregte ein gut zwei Meter großer Typ in einem langen Mantel und mit schwarzen Haaren meine Aufmerksamkeit. Er umarmte einen Jungen, welcher sich eine Kapuze tief über den Kopf gezogen hatte.

„Keyl.“, flüsterte ich und starrte verunsichert auf die Beiden. Als sie sich voneinander lösten, glitt dem Jungen seine Kapuze zurück und zum Vorschein kamen die vollen, dunkelbraunen Haare meines Engels.

„Keyl!“, rief ich erleichtert, aber er reagierte nicht. Nur dieser schwarzhaarige Schönling wandte sein blasses Gesicht zu mir und funkelte mich wütend an, dass mir ein Schauer den Rücken hinab lief.

‚Was will nur mein Schatz bei so einem Kerl?‘, dache ich und wollte zu ihm gehen, aber eine Schulklasse blockierte mir gerade jetzt den Gang. Nur langsam vorankommend musste ich mit ansehen, wie dieser Typ seinen Arm um Keyls Schulter lege und ihn Richtung Ausgang schob. Mühsam bahnte ich mir einen Weg durch die Massen und rannte ihnen hinterher. Wie es aussah, wollten sie zu den Taxiständen und tatsächlich sah ich die Beiden durch die Tür nach draußen gehen, als ich um die Ecke bog. Ich beschleunigte noch einmal meine Schritte und stürmte wie wild los.

Am Taxistand angekommen beobachtete ich, wie mein Engel in einen schwarzen Van stieg. Der Kerl in dem dunklen Mantel schloss hinter ihm die Tür und blickte noch einmal zu mir. Dieses böse funkelnde Grün, was mir entgegen schlug, ließ mich an Ort und Stelle verharren. Dann stieg er auf dem Beifahrersitz ein und das Auto setzte sich in Bewegung. Ich wollte einfach nicht glauben, was gerade passierte, dass ich meinen Schatz nur um Haaresbreite verfehlte. Tränen brannten mir in den Augen und liefen ungehalten hinab. Mit einem Mal fing ich an zu laufen und rannte dem Van ein Stück hinterher.

„Keyl! Bleib bei mir. Keeeeeyl!“ Hilflos schrie ich die Verzweiflung aus meinem Herzen, doch das Auto hielt nicht an. Mit klopfendem Herzen blickte ich dem Van nach, bis er nach der nächsten Kurve verschwand. Schwach fiel ich auf meine Knie und begann laut zu schluchzen. „Keyl. Bleib bei mir!“

„Hey Kleiner, ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte mich nach einer Weile irgend so ein Typ in nem schwarzen Anzug.

„Nein, nichts ist in Ordnung, gar nichts, klar! Den Junge, den ich über alles liebe, verlässt gerade die Stadt und ich konnte ihm noch nicht mal ‚Auf Wiedersehen‘ sagen!“, schrie ich den Mann an und wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen für diese bescheuerte Frage.

„Wenn du willst, kann ich ein Treffen mir dir und dem Prinzen arrangieren.“, laberte der Kerl weiter und… ‚Warte mal, was hatte er gerade gesagt?‘ Verwundert hob ich meinen Kopf und sah einem geschniegelten Affen in die Augen. ‚Hatten nicht so welche vor vier Tagen meinen Schatz verfolgt?‘

„Wie meinen sie das?“, fragte ich ihn und stand vorsichtig auf.

„Wir bieten dir die Möglichkeit, deinem Herzblatt noch einmal nahe zu sein.“, lachte der Anzugheini schmierig und gab den Männern, die sich hinter mir postiert hatten, ein Zeichen, worauf mich diese grob an den Armen packten.

„Hey, was soll das? Was wollt ihr von mir?“, fragte ich verärgert und versuchte mich zu befreien. Leider brachte mir das nur einen schmerzhaften Faustschlag in den Magen ein. Hustend hing ich zwischen diesen Fieslingen und ließ mich vom Anführer der Typen zulabern.

„Keine Angst Kleiner, wir tun dir schon nichts, wenn du fein brav bist und mit uns kommst. Sobald wir dich haben, kommt der Prinz von ganz alleine angekrochen.“

„Ich habe aber keinen Bock, mit euch Oberlosern mitzulatschen. Meine Mom hat mir außerdem verboten, mit Volldeppen wie dir zu reden.“ Ich glaube, meine Antwort gefiel ihm nicht ganz so gut, was auch den Handrücken erklären würde, der postwendend in meinem Gesicht landete.

„Du hast keine andere Wahl Freundchen.“

„Das hab ich mir schon fast gedacht.“, sagte ich stumpf und spukte das Blut aus, was sich in meinem Mund gesammelt hatte. Ich hasste Männer, die schwere Ringe trugen.

„Stopft ihm das Maul.“, hörte ich den Widerling noch sagen, bis ich verdammt hart von hinten getroffen wurde und mich tiefe Dunkelheit umfing.

*

Stöhnend wurde ich langsam wieder wach und öffnete vorsichtig meine Augen. ‚Man, was war hier eigentlich los?‘ Mein Kopf dröhnte unangenehm und ich konnte mich kaum bewegen, was wohl daran lag, dass meine Hände über mir zusammengeschürt waren. Ängstlich werdend musterte ich meine Umgebung und fand mich in einer Art Lagerhalle wieder.

Nur gedämpft fiel graues Licht durch viel zu kleine Fenster. Etliche Frachtcontainer standen gestapelt beieinander und bildeten ein Labyrinth aus schmalen Gassen und Wegen. Ich saß am Rand an einem Käfig festgebunden und hatte Sicht auf eine Treppe, die nach oben zu einem Raum führte, dessen Wände zum größten Teil aus milchigem Glas bestanden. In dem Zimmer brannte Licht und schwach konnte ich einige Schemen von Menschen ausmachen, die dort hin und her liefen.

Unbeholfen richtete ich mich auf und klammerte mich dabei an die dicken Gitterstäbe hinter mir. ‚Ich muss hier raus.‘, dachte ich mit einem Mal und erinnerte mich an das Gerede des Typen im Anzug. Mit aller Kraft zog ich an meinen Fesseln, doch anstatt sich zu lösen, schnitten mir die Bänder nur noch mehr ins Fleisch. Es waren keine normalen Seile, mit denen die Entführer mich gefesselt hatten, sondern eine Art Lederriemen, welche zwar porös ausschauten, aber trotzdem nicht nachgaben, egal wie sehr ich mich auch anstrengte. Meine Hände wurden langsam taub, darum beugte ich mich nach vorn und versuchte, mit den Zähnen die Knoten zu lösen, doch das war auch vergebens.

‚Wieso war ich hier, verdammt? Was wollen diese Anzugsheinis überhaupt von mir?‘ Die Worte des Schnösels, der mich angequatscht hatte, fielen mir wieder ein. Er sagte, er könne ein Treffen mit mir und meinem Engel arrangieren. Moment mal. Er sagte nicht Engel, sondern Prinz. Der Prinz. In Keyls Abschiedsbrief stand zwar, dass er einen Status inne hatte, durch den man nicht in Frieden Leben könnte, aber ich dachte immer, dass ein Prinz außer Paparatzies und lange Weile nichts zu befürchten hatte.

‚Keyls Gesicht hab ich auch bisher noch nie im Fernseher oder auf nem Schmierblatt gesehen. Von welchem bescheuerten Land soll er also der nächste Herrscher sein?‘ Allerdings war mir bewusst, dass diese Typen hinter meinem Schatz her waren. Nur deswegen hatten die mich entführt. Ich war ihr Druckmittel. Doch wieso verdammt noch mal, hatten sich die Kerle nicht gleich Keyl geschnappt, bevor er überhaupt ins Auto einstieg, schließlich wurde er nur von zwei Leuten beschützt. Zum einem von diesen großen, grünäugigen Typen und zum anderen von dem Fahrer des Vans. Vielleicht war noch ein Mann auf dem Rücksitz, aber mehr hätten bestimmt keinen Platz in dem Auto gehabt. Die Kerle hätten die Bodyguards nur ausschalten müssen und schwups, der Prinz wäre in ihren Händen gewesen. ‚Wieso haben die gezögert?‘

Wütend spukte ich ein Stück von dem seltsamen Lederband aus und rüttelte verzweifelt an den Stäben, die trotz meines Protestes keinen Millimeter nachgaben.

„Versuchst du Schwächling etwa das Gitter zu durchbrechen? Es ist eine Spezialanfertigung um wilde Tiere einzusperren. Oder vorwitzige kleine Jungs. Ha ha ha ha.“

Och nö, nicht schon wieder der Lackaffe von heute morgen.

„Hey man, ist ja echt schön, dich wieder zu sehen, aber weißt du, ich steh nich auf Fesselspielchen. Also sei so nett und bind mich los. O.K.?“ Ich weiß nicht, warum ich so eine große Klappe hatte, besonders in dieser für mich nicht gerade positiven Situation. Jedoch konnte ich damit meine Angst hervorragend überspielen und diese vor dem Anzugfritzen verbergen. Der sollten in keinem Fall mitbekommen, wie viel Schiss ich in Wirklichkeit hatte.

„So gern ich mich mit dir auch vergnügen würde, ich darf dich nicht frei lassen. Anweisung von oben.“, meinte der Typ zu mir und wandte sich zu einem der beiden Männer, die hinter ihm standen. „Gib dem jungen Herren Bescheid, dass unser Gast wach ist.“ Der Angesprochene verbeugte sich schnell und lief zu der Treppe, hinauf zu dem oberen Raum.

„Könntest du mir freundlicher Weise erklären, was ihr vom mir wollt?“, fragte ich genervt.

„Dank dir gewinnt unsere Einladung an den Prinzen, uns zu besuchen, an Gewicht.“

„Erstens kapier ich nicht, von wem ihr redet und zweitens, wenn er erfährt wie miserabel ihr mit euren Gästen umgeht, kommt er bestimmt nicht.“

„So so, du willst uns also wirklich weis machen, dass du den Prinzen nicht kennst. Ihr wart sozusagen nicht zusammen chinesisch und hinterher bei MC Donald’s Eis essen? Ihr wart nicht den nächsten Tag mit dem Zug unterwegs und habt euch am Bahnhof geküsst? Und er hat bestimmt auch nicht die Nacht von gestern auf heute bei dir verbracht? Zuerst dachten wir, du wärst einer seiner neuen Bodyguards, aber die Show, die ihr uns am Taxistand geboten habt, überzeugte uns vom Gegenteil. Außer deinem vorlauten Mund, scheinst du ja nichts weiter drauf zu haben.“

„Mach mich los und ich zeig dir, wie viel ich wirklich drauf habe.“, zischte ich verärgert und riss an den Riemen. ‚Woher, zum Teufel noch mal, wusste der, was ich mit Keyl alles unternommen hatte? Haben uns die etwa die ganze Zeit beobachtet?‘

„Hm, stimmt. Selbst du dürftest in einer Hinsicht nicht schlecht sein. Du bist sicher noch ganz eng.“, sagte der Widerling und musterte mich von Oben nach Unten mit einem schmierigen Grinsen im Gesicht. Dann kam er näher.

Der Typ war ungefähr genauso groß wie ich, sah aber total abgemagert aus. Seine fettig glänzenden, etwas längeren Haare hatte er zur Seite gekämmt und rasieren schien er sich auch nicht zu können, da sein Hals und die Kinnpartie überzogen waren von lauter kleineren roten Flecken. Kalt stinkender Zigarettenrauch kam mir entgegen, als der Kerl sich mit der rechten Hand an dem Gitterstab neben mir abstützte und sich zu mir beugte. Angeekelt wandte ich mich ab.

„Man, hast du noch nie was von ner Zahnbürste und Zahncreme gehört? Ein Bad würde dir bestimmt auch mal ganz gut tun. Ich bekomm ja kaum noch Luft.“ Langsam hatte ich alles andere als nur Angst.

„Gleich wirst du auch keine Luft mehr bekommen, Kleiner!“, meinte der Widerling und mir war wie kotzen zumute.

Gerade als er seinen Arm hob um mich am Kinn zu packen, tat ich das, was mir in meiner aufkeimenden Panik einfiel. Ich trat zu. Schreiend taumelte der Anzugheini zurück, fiel zu Boden, krümmte sich zusammen und hielt sich den Schritt. Der Gorilla, der die ganze Zeit daneben gestanden und sich das Schauspiel rein gezogen hatte, lief schnell zu seinem Boss und beugte sich besorgt zu ihm herunter. Mit dessen Hilfe kam der schmierige Kerl japsend wieder auf die Beine und funkelte mich wütend an.

„Na, wer bekommt jetzt keine Luft.“, sagte ich triumphierend. Shit, ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. Manchmal war es wirklich besser, seine Klappe zu halten, wie ich gerade jetzt wieder merkte. Denn der Typ holte ein Messer aus seiner Tasche und stürmte damit auf mich zu.

„Das reicht. Jetzt bist du fällig!“

Zu keiner Bewegung fähig stand ich da und blickte apathisch auf die blinkende Klinge, die immer näher kam. Doch kurz bevor sie mich erreichte, gab es einen lauten Knall. Das Messer fiel aus der Hand meines Angreifers und blieb mit der Spitze vor meinen Füßen stecken. Erschrocken schaute der Kerl zurück und starrte auf den Jungen, der ihm bei seinem Vorhaben unterbrochen hatte.

„Junger Herr.“, hauchte er nur.

„Hatte ich nicht gesagt, dass unserem Gast nichts zu Leide getan wird?“, erklang eine helle Stimme.

Ein paar Meter vor mir stand, zwischen einer Handvoll Gorillas, ein Junge vielleicht gleichen Alters mit Silber gebleichtem Haaren und hellblauen Augen. Seine Haut war fast so blass wie die weißsilbernen Sachen, die er trug. Fast hatte ich den Eindruck, dass er seine Klamotten aus Matrix geklaut und eingefärbt hätte. Ich konnte erkennen, wie der Junge eine gleichfarbige Peitsche sich an der Seite am Gürtel fest band, was dann wohl den lauten Knall von eben und den roten Striemen auf der Hand des Anzugheinis erklärte.

„Aber junger Heer, der Rotzbengel…“, setzte der Widerling zu einer Erklärung an, doch schon der Blick des Silberschopfes ließ ihn verstummen.

Der Mann verbeugte sich tief vor dem Jungen, steckte sein Messer wieder ein und trat bei Seite. Eigentlich wollte ich wieder einen dummen Spruch loswerden, diesem Kind mit irgendwas Blödes kommen, aber ich kriegte einfach meinen Mund nicht mehr auf. Langsam kam der Kopf der Entführer zu mir.

„Du bist also der Neue, den sich der Prinz rausgesucht hat. Eigentlich hatte ich ihm einen besseren Geschmack zugetraut. Du schaust zwar ganz niedlich aus, aber besondere Fähigkeiten scheinst du nicht zu haben. Sonst ist Keyl doch immer so anspruchsvoll.“, meinte der Silberschopf und musterte mich eindringlich.

„Was weißt du schon von Keyl?!“, warf ich ihm an den Kopf, aber dieser fing nur an zu lachen.

„Wie mir scheint, mehr als du. Da ich gerade in bester Laune bin, will ich dir ein paar Kleinigkeiten erzählen, was es mit dem Jungen auf sich hat, den du glaubst zu lieben. Dein Prinz ist der Sohn der wichtigsten Frau von ganz Deutschland. Nein, ich rede ganz bestimmt nicht von der neuen Möchtegernkanzlerin. Ich rede von dem Kopf der größten Verbrecherbekämpfungsorganisation, die es hier gibt. Vergiss die Bundeswehr oder die Spezialeinheiten der Polizei, denn diese Organisation steht über den allen.

Deren Mitglieder bestehen nur aus ausgewählten oder extra dafür trainierten Leuten. Manche werden sogar von Kindesbeinen an getrimmt, Verbrecher zu jagen und in die Hölle zu schicken. Sie sind Richter und Vollstrecker zu gleich. Die Organisation finanziert sich selbst, in dem sie konfisziertes Schwarzgeld für ihre eigenen Zwecke missbraucht. Ihnen stehen die neusten Errungenschaften der Technik zur Verfügung und sie dürfen damit machen, was sie wollen. Stell dir einfach viele James Bonds oder Charlys Engel in jeder, aber auch wirklich jeder erdenklichen Alterklasse vor.

Ich will ehrlich gesagt nicht unbedingt wissen, was Keyl mit seiner noch viel größeren Freiheit, die er in jeder Hinsicht als Prinz genießt, bisher so angestellt hat. Prinz wird er deshalb genannt, weil die Rangeinteilung aus dem Mittelalter übernommen wurde. Es existieren dort keine Feldwebel oder Kriminaloberkommissare. Es gibt Knappen, Ritter, Lords und Ladys, um einige wenige zu benennen. Nicht viele wissen über die Organisation bescheid, weil sie größtenteils im Verborgenen agieren. Verstehst du nun die Tragweite des Geschehens? Du durftest eine der wichtigsten Personen überhaupt kennen lernen. Fühle dich geehrt, dass er mit dir gesprochen und etwas unternommen hat.

Die Hälfte war sicherlich für ihn eh nur Zeitvertreib. Bestimmt ist er wieder von zu Hause weggelaufen, weil ihm seine gluckende Mutter auf die Nerven ging. Er hatte Hunger, konnte aber seine Kreditkarte nicht benutzen, weil sie ihn dadurch ja dann gefunden hätten. Also suchte er sich ein Opfer, welches ihn ein wenig aushalten konnte und zog die Nummer des Zusammenstoßens ab. Das ist wirklich die älteste Tick der Welt. Aber es war klar, dass du einfacher Bengel darauf reinfällst, auf seinen ach so niedlichen Hundeblick. Er ist schließlich geübt darin. Ja, du hörst richtig. Du bist nicht der Erste und wirst auch nicht der Letzte sein. Du warst lediglich einer weitere Möglichkeit, im Warmen übernachten zu können.“

Der Junge blickte mich mit seinen ausdruckslosen Augen an und ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Dann fing er wieder an zu reden:

„Nimm bitte den Abschiedsbrief nicht so ernst, den er dir geschrieben hat.“

Verwirrt schaute ich mein Gegenüber an. ‚Woher wusste er davon?‘

„Ach komm schon. Sieh mich nicht so erschrocken an. Er macht das doch immer. Der Prinz ist etwas dramatisch veranlagt, weißt du.“

„Das klingt ja fast so, als wenn… als wenn…“, sagte ich leise und wollte es einfach nicht wahr haben.

„Ah, wie ich sehe begreifst du langsam. Ja, auch ich bin schon ‚aus Versehen‘ mit Keyl zusammen gestoßen. Auch ich habe ihn für die Nacht zu mir eingeladen und er hatte natürlich dankend angenommen. Auch ich habe am nächsten Morgen einen Brief bei den Sachen, welche ich ihm geliehen hatte, vorgefunden. Sag mal, hat er sich bei dir anfangs auch so geziert?“

„Halts Maul!“ Mit Tränen in den Augen schrie ich den silbernen Jungen an. Seine Worte drangen wie Gift in mich ein und machten klares Denken unmöglich. ‚Keyl liebte mich doch, genauso sehr wie ich ihn. Ich hatte es gespürt, als er in meinen Armen lag, bei jeder auch noch so kleinsten Berührung. War das wirklich alles eine Lüge? Seine Emotionen, seine Gefühle, alles nur Show?‘ Salziges Nass vernebelte meinen Blick und lief ungehalten meine Wangen hinab.

„Weine nicht. Er ist es wirklich nicht wert. Nur wegen ihm sitzt du jetzt hier fest. Ich habe mit ihm noch eine Rechnung zu begleichen. Mach dir keine Hoffnung, dass er her kommen wird, weil er was für dich empfindet. Nein. Eine der wenigen Regeln der Organisation besagt, wenn man einen Zivilisten in Schwierigkeiten bringt, dass man ihn auch selbst wieder da rausholen muss. Der Prinz wird zwar etwas ungehalten zwecks der Anweisung sein, aber es lockt ihn her und das ist alles, was ich will.“

Mit den Nerven am Ende, rutschte ich kraftlos an den Gitterstäben zu Boden. Den Schmerz in meinen Armen hatte ich vollkommen vergessen, dafür loderte der in meinem Herzen umso mehr. Anstatt mich endlich in Frieden zu lassen, kam der Silberschopf näher, kniete sich knapp vor mir nieder und hob mein Kinn an, damit ich ihm in die Augen blicken musste.

„Du schaust richtig niedlich aus, wenn du so traurig bist. Wären wir uns unter anderen Umständen begegnet, hättest du gute Chancen gehabt, eines meiner Spielzeuge zu werden.“ Dann presste er mir einen Kuss auf die Lippen und schob seine Zunge tief in meinen Mund. Unfähig mich zu wehren, ließ ich es geschehen.

„Wirklich schade.“, seufzte der Junge, als er sich wieder von mir löste und stand auf.

„Stellt Wachen auf, verteilt euch im ganzen Lagerhaus. Wenn die Nacht anbricht, wird der Prinz kommen. Bereitet euch darauf vor. Ach und noch was: Ich will ihn lebend!.“, zischte der Silberschopf seine Untergebenen an, welche sich tief verbeugten und dann aufteilten. Nur noch von zwei Gorillas begleitet, ging der Junge wieder hinauf in das Zimmer, wo er hergekommen war, ohne mich eines letzten Blickes zu würdigen. Wie ein Häufchen Elend saß ich am Rand des Käfigs und heulte leise vor mich hin.

Draußen wurde es langsam dunkler und in der Lagerhalle stockfinster, da kein Licht mehr brannte. Ich starrte blind vor mich hin und fror erbärmlich. Mein Kopf war leer, nicht mehr fähig zu denken. Nein, ich wollte es auch nicht. Ich wollte nur noch nach Hause in mein warmes Bett und schlafen. Oder vielleicht lag ich ja schon dort und träumte nur. Wenn ja, wollte ich so schnell wie möglich aufwachen und diesem Alptraum hier entfliehen. Vielleicht lag ich noch immer neben meinem Engel und er kuschelte sich gerade wieder an meine Schulter. Ich schloss die Augen und sah vor mir ein gelbbraunes Leuchten, sah, wie es mich anstrahlte und mit Wärme füllte. Ich sah seine volle Lippen, wie sie mich küssten, liebkosten und meinen Namen riefen.

„Alex.“

Ein Schauer lief mir über den Rücken, da ich wirklich fast glaubte, seine Stimme zu hören.

„Alex, bitte. Komm wieder zu dir. Wach auf!“

Moment mal, dass war mir ein bisschen zu real, gerade die leichten Schläge auf meiner Wange. Ich riss meine Augen auf und blickte in das besorgte Gesicht meines Engels.

„Keyl.“, hauchte ich ungläubig.

Erleichtert atmete er aus.

„Dem Himmel sei dank. Ich dachte, du wärst schon erfroren. Warte, ich mach die los.“, sagte Keyl und holte ein großes Messer hervor.

„Vielleicht wäre es ja besser so gewesen.“, meinte ich leise. „Dann müsstest du wenigstens nicht die Anweisung der Organisation befolgen und mir helfen, sondern könntest dir weiter ein unbeschwertes Leben als Prinz machen.“

„Was hat er dir erzählt?“, fragte Keyl ernst und schaute mich forschend an.

Irgendwie hatte ich was anderes erwartet. Ich hatte mir wirklich erhofft, dass er alles dementieren würde, dass er sagt, dass er mich liebt und der silberne Junge nur Lügen erzählt hätte. Stattdessen musterte mich mein Engel und versuchte rauszubekommen, wie viel ich wirklich wusste. Wie war das? Die Organisation agiert im Verborgenen? Was ist, wenn ein Zivilist davon was mitbekam? Ich konnte seinem Blick nicht länger stand halten und senkte meinen Kopf.

„Komm, lass uns erstmal von hier verschwinden. Es war schon schwierig genug, die Wachen auszuschalten.“, sagte Keyl, legte mein Arm um seine Schulter und zog mich kraftvoll nach oben. Nur hatte ich nicht gerade viele Ambitionen mit ihm zu gehen.

„Lass mich in Ruhe, lasst mich einfach alle in Frieden!“

„Alex bitte. Ich erklär dir alles, wenn wir draußen sind. Hier ist es zu gefährlich.“

„Ob ich nun von dem silbernen Jungen oder von dir umgebracht werde, ist doch vollkommen egal. Das Silberhaar spielt wenigstens mit offenen Karten und ist nicht so hinterhältig wie du.“

Ängstlich sah Keyl sich um, ließ mich wieder zu Boden gleiten, nahm dann mit beiden Händen meinen Kopf und schaute mir tief in die Augen. Selbst im Dunkeln leuchteten die seinen dermaßen, dass mein Herz wieder anfing, schneller zu pochen.

„Alex. Ich weiß nicht, was Julian dir alles erzählt hat, vielleicht entspricht davon auch die Hälfte der Wahrheit, aber der Rest ist eine Lüge. Ich würde dich nie töten wollen. Alex. Ich liebe Dich! Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“

„Du hast die Wachen ausgeschalten, wie viele Leute hast du noch auf dem Gewissen?“

„Ich habe die Wachen mit einer konzentrierten Dosis Schlafmittel lahm gelegt. An mir kleb kein Blut, da ich noch nie jemanden getötet habe!“

„Du als Prinz hast doch bestimmt schon viele Verbrecher zur Hölle geschickt.“

Keyl stützte sich auf seine Knie ab, ließ meinen Kopf los und lehnte sich auf seine Hacken zurück.

„Alex. Das, was wir in der Organisation Hölle nennen, ist das größte Strafgefängnis, was es in Deutschland gibt. Wir jagen Verbrecher, die schon vom Gericht verurteilt wurden und führen sie ihrer gerechten Strafe zu. Wir greifen außerdem erst dann ein, wenn die Polizei und andere Einrichtungen nicht mehr weiter wissen. Es sind also keine einfachen Ladendiebe, auf die wir angesetzt werden, sonder die schlimmsten Kriminellen des Landes. Außerdem können wir nicht einfach so Menschen töten, da wir für alles, was wir tun, Rechenschaft ablegen müssen. Ich noch mehr als alle anderen.“

„Haust du deswegen ständig von zu Hause ab, weil dich die ständige Kontrolle nervt? Quartierst du dich deshalb regelmäßig bei immer anderen wildfremden Leuten ein, um von all dem wegzukommen? Oder macht es dir einfach nur Spaß, Menschen wie mich oder Julian auszunutzen und zu quälen?“ Ich hatte mich dermaßen in Rage geredet, dass ich nicht mehr kontrollieren konnte, was ich von mir gab. Mir war nur bewusst, dass ich meinem Engel weh tun wollte. Er sollte genauso leiden, wie ich, als mir dieser silberne Junge die Wahrheit über ihn erzählte. Ich hasste mich selbst für diese Worte, konnte ihm deshalb auch nicht in die Augen schauen.

„Wieso machst du das? Du glaubst jemandem, dem du gerade einmal begegnet bist. Jemandem, der dich hier in Eisenskälte an einen Käfig festgeschnürt hat. Ich weiß, dass wir uns auch nicht viel länger kennen, aber habe ich dir in der kurzen Zeit weh getan? Bisher habe ich dir immer die Wahrheit gesagt. Lieber gab ich offen zu, dass ich ein Geheimnis habe, als dich zu belügen. Es tut mir wirklich leid, wenn ich dich in irgendeiner Sache gekrängt haben sollte. Hier und jetzt kann ich dir auch nichts beweisen. Du hast nur mein Wort. Mein Wort und meine Liebe.“ Keyl saß angespannt da, seine Hände fest zu Fäusten geballt, die unter dem Druck leicht zitterten.

„Und was ist mit diesem Julian?“, fragte ich kleinlaut.

„Tze. Julian. Er ist der verwöhnte Sohn eines großen Drogenbosses. Um zu bekommen, was er will, geht er über Leichen. An mir ist er nur interessiert wegen Florian. Flo ist einer meiner Aufpasser. Julian hatte sich in ihn verliebt, konnte es aber nicht ertragen, dass Flo mit mir mehr Zeit verbrachte und von ihm nichts wissen wollte. Florian ist auch ein Prinz der Organisation, unsere Mütter sind so was wie verwandt. Deshalb ist er nicht nur ein Bodyguard für mich, sondern fast wie ein Bruder. Er und sein Freund Chris decken mich sogar öfters, wenn ich von zu Hause weglaufe. Beide verstehen mich in vielerlei Hinsicht sehr gut.

Mit Julian bin ich in einer anderen Stadt zusammengestoßen. Ja, wortwörtlich gemeint. Ich war wieder allein unterwegs und er hatte nicht auf den Weg acht gegeben. Damals wusste ich nicht, dass er mich schon kannte und alles geplant war. Er bot mir an, bei ihm zu übernachten und da ich keine Lust auf meine Mutter hatte, sagte ich zu. Kaum waren wir in seiner Wohnung, fing er an, mir zu nahe zu kommen. Ich musste ihn regelrecht von mir weg stoßen. Er entschuldigte sich zwar und ich schlief bei ihm auf dem Sofa, nicht mit ihm in seinem Zimmer, geschweige denn in einem Bett. Ich hatte dich nicht belogen, als ich gestern sagte, dass es mein erstes Mal wäre.

Auf jeden Fall war mir unwohl, je länger ich in seiner Nähe blieb, darum zog ich mich mitten in der Nacht wieder an, schrieb ihm kurz, dass es mir Leid täte und schlich mich davon. Für sein Ego war es nicht gerade förderlich, dass er ein zweites Mal von einem Prinzen abgewiesen wurde. Darum jagt er mich seit gut einem viertel Jahr. Flo hat ein riesigen Aufstand gemacht, als er erfuhr, mit wem ich mitgegangen sei. Er war deshalb auch überhaupt nicht davon begeistert, als ich ihm von dir erzählte. Dabei bist du das Beste, was mir seither passiert ist.“

„Meinst du das wirklich?“ Tränen flossen mir unaufhaltsam an meinen Wangen hinab und ich blickte ihn ängstlich an.

„Dummerchen. Na klar mein ich das so, sonst hätte ich es nicht gesagt.“, lächelte mein Engel, wischte mir zärtlich die Tränen von den Wangen und nahm mich dann in seine Arme.

Gott tat das gut, seine Wärme zu spüren. Diesmal war ich derjenige, der sich an dem Anderen festklammerte und ihn nie wieder loslassen wollte. Nach einer halben Ewigkeit schob er mich sachte zurück um mir wieder in die Augen schauen zu können. Er strich mir ein paar widerspenstige Strähnen aus dem Gesicht, streichelte mit seinen Fingerspitzen über meine Stirn bis in den Nacken. Langsam senkte er seine Lippen auf die meinen und ich glaubte wieder zu schweben.

Doch plötzlich wurde die Lagerhalle nach einem lauten ‚Klack‘ hell beleuchtet. Geblendet schloss ich meine Augen und hielt meinen Arm schützen vor meinem Kopf.

„Och, ist das nicht herzallerliebst. Das ist ja besser als wie in jeder Telenovela. Aber wie ihr wisst, hat diese irgendwann mal ein Ende. Und eures scheint wohl hier und jetzt zu sein.“

Als ich mich langsam an die Helligkeit gewöhnt hatte, sah ich, wie mein Schatz sich schützend vor mir postiert hatte und der silberne Junge mit gut zehn Gorillas von der Treppe her auf uns zu kam.

„Julian. Wie konntest du Alex nur da mit hineinziehen?! Das ist eine Sache zwischen uns. Lass ihn dabei aus dem Spiel!“, schrie mein Engel ihn an, doch dieser lachte nur laut auf.

„Ach Keyl, noch immer so süß naiv. Wie kommst du nur darauf, dass dies etwas mit dir zu tun haben könnte? Du bist nur ein Mittel zum Zweck. Genau wie der Kleine hinter dir. Ihr bedeutet mir nichts. Allerdings wird es mir eine große Freude bereiten, dich zu quälen, junger Prinz, da ich weiß, dass dann auch Florian leidet und er alles für mich tun würde, nur um dich zu schützen. Ist schon irgendwie erbärmlich, findest du nicht? Aber ich muss ihn haben, egal wie. Er gehört mir und kein Möchtegernadliger wird ihn mir wegnehmen!“

„So wirst du Flo nie an dich binden können!“

„Das werden wir ja noch sehen!“, sagte Julian kalt und blaffte dann seine Untergebenen an: „Zwingt ihn auf die Knie!“ Daraufhin setzten sich die Gorillas in Bewegung und kamen auf Keyl und mich zu.

Ich stand wacklig auf und wollte mich neben meinem Engel postieren um ihm beizustehen, doch er streckte nur seinen Armen aus, so dass ich weiterhin hinter ihm stand.

„Alex, vertrau mir jetzt bitte einfach. Ich bin ein Prinz der Organisation, ich weiß mich schon zu wehren. Versuch einfach nur bitte, in meiner Nähe zu bleiben.“

„Keyl.“, besorgt blickte ich meinen Schatz an und legte eine Hand auf seine Schulter. Er schaute ängstlich fragend zurück. „Ich liebe dich.“ Genau. Ich liebte ihn über alles und vertraue ihm voll und ganz. Selbst wenn wir hier nicht heil mehr rauskommen würden, ich war mir endlich sicher, was ich wollte. Ich wollte ihn, mit allem, was da noch kommen sollte. Als er meine Worte hörte, begann er zu lächeln und nickte mir zu. Dann drehte er sich wieder zu den Angreifern um und nahm eine entschlossene Haltung an.

Er ging zwei Schritte nach vorn und holte dabei unauffällig etwas von hinten aus seinem Gürtel. Es sah wie eine graue Murmel aus, die Keyl, kurz bevor die Männer ihn erreichten, mit voller Kraft auf den Boden vor ihren Füßen warf. Ein dichter Nebel breitete sich explosionsartig aus, in dem mein Engel mit einem Satz verschwand. Vereinzelt konnte man ein Keuchen, Stöhnen oder einen überraschten Aufschrei hören, welcher gleich darauf wieder verstummte. Als der Nebel sich lichtete, standen nur noch die Hälfte der Gorillas auf ihren Beinen. Die Anderen lagen bewusstlos verstreut in der Gegend.

Überhaupt nicht davon eingeschüchtert kamen die restlichen Männer auf meinen Schatz zu. Dieser ballte nur seine Hände zu Fäusten und ging schreiend auf die Angreifer los. Es war Wahnsinn, wie unglaublich schnell Keyl war. Hier wich er einem Schlag aus und trat dem Anderen in den Magen, dort entkam er einer Attacke und setzte einen Stoß nach. Ich weiß nicht, was für eine Kampfart mein Engel gerade anwandte, es schien mir eher eine Mischung aus vielen verschiedenen. Aber in kürzester Zeit hatte er die Männer soweit, dass sie stöhnend auf dem Boden herum krochen.

Leider wurden die anderen Wachen, die sich im Lagerhaus postiert hatten, von dem Lärm angelockt und so stürmten immer mehr Gorillas auf meinen Schatz ein. Ich sah, wie seine Kräfte mehr und mehr nachließen und er immer langsamer wurde. Ängstlich beobachtete ich, wie einer der Typen sich von hinten an Keyl heran schlich und ausholte.

„Keyl!!!“ Ich rannte los und warf mich mit voller Kraft gegen den Angreifer. Dieser donnerte laut mit seinem Kopf gegen einen der Container und blieb dort liegen. Besorgt drehte sich mein Engel zu mir um und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich grinste und nickte nur.

„Danke. Pass aber bitte auf, die sind recht brutal.“, meinte Keyl und rieb sich dabei die Brust, dann stürzte er sich wieder zwischen die Männer.

Mit klopfendem Herzen verfolgte ich den Kampf, bewunderte die eleganten Bewegungen meines Schatzes, wie er nur mit knappen Berührungen andere zu Boden gehen ließ. Ich war so sehr gebannt, dass ich nicht merkte, wie sich mir jemand näherte. Ein harter Schlag traf mich von der Seite und schleuderte mich gegen die Wand eines Containers. Dann wurde ich an den Haaren wieder nach oben gezogen und mein Arm auf den Rücken verdreht.

„Hey, Prinz! Besser, du hörst auf dich zu wehren, wenn dir das Leben dieses Bengels hier lieb ist!“, schrie der Typ hinter mir und kalter Zigarettengestank stieg mir in die Nase.

Mein Engel hielt mitten in seiner Bewegung inne und schaute erschrocken zu mir rüber. Sofort wurde er von den Männern gepackt und kassierte einige Faustschläge in den Magen.

„Keyl!“, wild strampelnd wollte ich mich von dem Kerl losreisen und meinem Schatz zu Hilfe kommen „Hört auf, verdammt noch mal. Lass mich los du Vollidiot!“, brüllte ich, wurde aber wieder ganz still, als ich ein Messer im Licht blitzen sah und dessen Klinge an meinem Hals spürte.

„Alex.“, hustete mein Engel und blickte hilflos zu mir rüber. Seine Lippe war aufgeplatzt und aus seiner Nase rann hell glänzendes Blut. Zwei Gorillas stellten Keyl wieder auf die Beine und hielten ihn an beiden Armen fest.

„Lange genug warst du mir im Weg, junger Prinz. Es ist an der Zeit, dass du deine Bestimmung erfüllst, mir zudiensten bist und mir meinen geliebten Florian wieder zurück gibst.“, sagte der silberne Junge triumphierend und ging zu meinem Schatz.

„Er wird dir nie gehören. Flo ist ein Mensch und keine Ware, die du einfach nach Belieben hin und her schieben kannst! Ganz gleich, was du mit mir anstellst, er wird dir niemals untertan sein!“, funkelte mutig mein Engel seinen Gegner an.

„Das werden wir ja noch sehen.“, meinte Julian darauf nur und ließ sich eine Spritze und ein kleines, gläsernes Gefäß von einem seiner Leute geben.

„Das ist die neuste Entdeckung meines Vaters. Eine der edelsten Aphrodisiakums, die er bisher hergestellt hat. Nur ein Tropfen davon in einem normalen Glas Wasser und du kannst die ganze Nacht über Exzesse der Extraklasse feiern. Leider wurde es bisher nicht groß getestet. Bevor ich es allerdings mit dem wahren Prinzen zusammen ausprobiere, finde ich, wäre ein Studium an dir, wie eine bestimmte Dosis auf den menschlichen Körper wirkt, ganz interessant.“, erklärte der silberne Junge und sog die Spritze mit der Droge bis zum Ende voll.

„Keyl.“, jammerte ich und schaute abwechselnd zwischen meinem Schatz und Julian hin und her.

Mein Engel verkrampfte seine Arme und wollte sich aufbäumen, doch als er sah, dass der Typ hinter mir den Druck gegen meine Kehle verstärkte und ein einzelner Bluttropfen meinen Hals hinunter lief, wurde er wieder ruhiger. Seine Augen waren starr auf die Nadel gerichtet, die unaufhaltsam näher kam. Kurz sah er zu mir rüber und mich traf tiefe Hilflosigkeit. Ich versuchte zu lächeln, versuchte ihm Mut zu schenken, wusste aber nicht, ob ich dies auch schaffte.

Die Männer rissen den rechten Ärmel von Keyls Sweatshirt ab und legten somit seinen Unterarm frei. Julian strich mit den Finger sachte über den Arm und suchte die passende Stelle, wo er die Spritze ansetzen konnte. Siegessicher lächelte der silberne Junge meinen Schatz an und begann, die Nadel zu senken.

Doch noch ehe sie Keyls Haut berührte, hörte ich ein seltsames Summen und dann, ganz plötzlich, zerbrach die Spritze in tausend Teile. Einem Bummerhang gleich, flog etwas um die Köpfe der Männer und steuerte dann zu seinem Ausgangpunkt zurück. Auf einem der Container stand ein großer, schwarzhaariger, junger Mann, der dieses Etwas mit der linken Hand auffing und es hinter sich verschwinden ließ. Fast glaubte ich, ein tiefes, dunkles Grün dort schimmern zu sehen.

„Flo.“, hauchte mein Engel und atmete erleichtert aus.

Der Druck auf meinen Hals verschwand, auch der widerliche Zigarettengestank. Stattdessen stand ein Typ mit hellbraunem Haar und wachen Augen neben mir.

„Chris.“, wandte sich Keyl freudig an den Neuankömmling.

„Julian. Diesmal bist du zu weit gegangen.“, erklang die kraftvolle Stimme von Florian. „Die Königin verlangt Rechenschaft. Deshalb muss ich dich leider bitten, uns zur Residenz zu begleiten.“

„Eigentlich würde ich jeder Zeit mit dir überall hingehen, mein Prinz, doch du wirst verstehen, dass ich unter diesen Umständen die Einladung leider ablehne.“, antwortete der silberne Junge. „Aber ich kann dir anbieten, die Sache hier friedlich ausklingen zu lassen, in dem wir zusammen einen kleinen Cocktail zu uns nehmen und miteinander reden.“

„Zum Reden hattest du lange genug Zeit. Außerdem hast du einen meiner Schützlinge angegriffen. Das kann ich dir leider nicht durchgehen lassen!“, meinte Flo, sprang von dem Container und landete sanft vor den Anderen.

„Kannst du auch mal an etwas anders denken, als immer nur an deine Schützlinge? Was ist mit mir? Ich weiß genau, dass du was für mich empfindest.“

„Das stimmt auch. Das, was ich für dich fühle, ist einzig und allein Mitleid. Mitleid dafür, weil du in deinem Besitzergreifenden Egoismus nicht weißt, was wahre Liebe bedeutet.“

Ungläubig starrte Julian den Prinzen an und begann, am ganzen Körper zu zittern. Dann griff er blitzschnell hinter sich und zog eine Pistole.

„Wenn du mich nicht lieben kannst, dann sollst du niemanden lieben!“, schrie der silberne Junge und drückte ab.

Florian aber sprang rechtzeitig zur Seite und zog dabei seine eigene Waffe. Mit einem Mal entbrannte eine wilde Schießerei. Chris hatte mich gepackt und hinter einem Container gedrängt. Immer wieder beugte er sich aus seinem Versteck und schoss in Richtung der Angreifer.

„Hey, warte mal.“, rief ich meinem Beschützer über den Lärm hinweg zu und zerrte an seinem Arm. „Keyl steht doch noch mitten unter diesen Gorillas. Was ist, wenn du ihn triffst?“

„Mach dir darüber keine Sorgen. Erstens bin ich ein guter Schütze und zweitens besitzen wir keine scharfe Munition. Unsere Kugeln betäuben nur den Gegner durch einen kurzen, elektrischen Schlag. Nur unter besonderen Umständen dürfen wir die rot gekennzeichnete Munition benutzen, aber schon aus ethischen Gründen macht das fast keiner.“, beruhigte mich Chris und kümmerte sich weiter um die Typen, die mit der Ethik allerdings keine Probleme hatten.

Nach schier endlosen Minuten wurde es langsam wieder ruhiger, bis es ganz aufgehört hatte zu lärmen. Vorsichtig lugten wir aus unserem Versteck und gesellten uns dann zu Florian, der ebenfalls ins Freie trat. Die Angreifer lagen bewusstlos auf den Boden verstreut, hier und da konnte man sogar ein elektrisches Knistern hören.

„Wo ist Keyl?“, fragte ich besorgt und sah mich um.

„Er hat sich von den zwei Kerlen befreit, als alles anfing und ging in Deckung. Moment mal, wo ist Julian?“, stellte Flo fest, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Wir suchten den Platz ab, ob er vielleicht unter seinen eigenen Leuten begraben wurden war, bis ein lauter Knall uns unterbrach und aufhorchen ließ. Chris und Flo schauten sich nur kurz an, dann stürmten sie los. Ich hatte wirklich ein Problem, mit ihnen mitzuhalten, weil sie unglaublich schnell waren. Doch als ich um die nächste Ecke bog, blieb ich wie angewurzelt stehen. Mein Schatz saß blutüberströmt an einer Wand und hatte den Kopf gesenkt. Julian stand vor ihm und zielte mit einer Waffe direkt auf sein Gesicht.

„Keyl!“ Schreiend lief ich los, wurde aber von Chris und Flo aufgehalten. „Lasst mich los, verdammt! Ich will zu ihm. Er braucht Hilfe, seht ihr denn das nicht?!“

„Beruhige dich. Wenn du jetzt losrennst, drückt er vielleicht wirklich ab, wenn er nicht gleich seine Waffe auf dich richtet!“, zischte Florian und versetzte mir einen Schlag mit den Handrücken, als ich keine Ruhe geben wollte.

„Das kann dir doch vollkommen egal sein, ob er mich erschießt oder nicht. Du kannst mich doch eh nicht ausstehen. Falls du es noch nicht wusstest: ich liebe Keyl über alles und lieber lass ich mich von ein paar Kugel durchbohren, als dass er von diesem Wahnsinnigen getötet wird.“, fauchte ich den Prinzen mit Tränen in den Augen an.

„Ach und was ist, wenn Julian nicht seine Waffe hebt und gleich losballert? Dann hast du Keyl auf dem Gewissen! Du hast mit der Sache hier überhaupt nichts zu tun, also halte dich gefälligst raus und geh zurück zu deiner Mami!“

Hätte mich Chris nicht zurück gehalten, wäre meine Faust direkt in dem Gesicht von diesem arroganten Arsch gelandet.

„Flo, das war jetzt nicht fair von dir. Der Kleine liebt Keyl wirklich.“, versuchte Chris das ganze zu schlichten, aber anstatt sich zu entschuldigen, drehte sich Florian nur schnaubend weg.

„So mein Prinz, du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten. Entweder schwörst du mir ewige Treue und Gehorsam, oder dein kleiner Schützling hier ist des Todes!“, gewann Julian, der uns die ganze Zeit beobachtet hatte, wieder unsere Aufmerksamkeit.

„Los, schwör es schon.“, flüstere ich zu Flo und schaute ängstlich zu meinem Engel.

„Du verstehst da was nicht, Kleiner.“, klärte mich Chris auf. „Wenn Florian wirklich auf den Schwur eingeht, ist er auch daran gebunden. Er kann das nicht einfach so sagen und zwei Minuten später dementieren. Das wäre gegen die Ehre.“

„Scheiß auf die Ehre. Hier geht es um ein Menschenleben. Um Keyl!“

„Wenn wir keine Ehre hätten, Kleiner, was würde uns dann von den Verbrechern unterscheiden?“ Mitleidig sah Chris mich an und musterte dann seinen Freund, der langsam einige Schritte nach vorne ging. „Was hast du vor? Flo?“

„Tut mir leid Chris. Ich kann nicht zulassen, dass Keyl wegen mir noch mehr durchmachen muss. Versprich mir, dass du auf ihn aufpassen wirst. Auf ihn und… und auf seinen Freund.“

‚Bekam ich das jetzt richtig mit? Wollte sich dieser arrogante Arsch wirklich für meinen Engel opfern? Und hatte er gerade wirklich angeordnet, dass Chris nicht nur auf den Prinzen, sondern auch auf mich Acht geben sollte?‘ Ich spürte, wie der braunhaarige junge Mann neben mir am ganzen Körper zu beben begann.

„Tu es nicht.“, sagte eine schwache Stimme.

„Keyl.“, hauchte Florian und alle starrten wir auf die zitternde Gestallt am Boden.

„Tu es niiiiiicht!!!“, schrie mein Schatz mit einem Mal und sprang Julian entgegen, der verwundert seine Waffe hob und abdrückte.

Mein Herz blieb für Sekunden stehen. Ich riss mich von Chris los und stürmte zu meinem Engel. Irgendwas fehlte, nur war mir noch nicht bewusst, was. Flo hatte sich schon niedergekniet, hielt Keyl in seinen Armen und zielte mit seiner eigenen Pistole auf den silbernen Jungen. Dieser schaute nur ängstlich den Prinzen an und kroch einige Zentimeter rückwärts. Chris packte Julian von hinten, schleuderte ihn herum, sodass er auf den Bauch landete und machte dessen Hände auf dem Rücken mit Handschellen fest.

Die Anderen ignorierend, setzte ich mich auf meine Knie ab und beugte mich zu meinem Engel. Sanft strich ich ihm über die Wange, wollte nicht glauben, was gerade passiert war.

„Keyl. Bleib bei mir. Bitte verlass mich nicht. Keyl!“, schluchzte ich und begann mich apathisch vor und zurück zu wiegen.

Sacht legte sich eine Hand auf die meine. Florian blickte mich mit feucht glänzenden Augen an, dann hob er seinen Arm und führte meine Hand zur Brust meines Schatzes. Moment mal, diese hob und senkte sich. Zwar nur ganz leicht, aber dennoch eindeutig. Und dann wurde mir bewusst, was fehlte. Der Knall. Der ohrenbetäubende Laut, wenn eine Waffe los ging. Mein Engel begann zu husten und öffnete langsam seine Augen.

„Habt ihr ihn?“, fragte er an Flo gewandt, der dies mit einem freudigen Nicken bestätigte.

„Du lebst.“, flüsterte ich und hätte ihn am liebsten fest an mich gedrückt.

„Hey, ich bin ein Prinz der Organisation. Mich tötet man nicht so leicht. Außerdem war sein Magazin alle.“, grinste er schwach.

„Idiot!“, wütend funkelte ich ihn an. „Du Vollidiot! Wie kannst du mir das nur antun?! Ich wäre fast gestorben vor Sorge. Wenn du so was noch einmal durchziehst, kannst du dir nen anderen Freund suchen. Ist das klar?!“

„Ich will aber keinen Anderen. Ich will nur dich.“ Schwach hob er seine Hand und strich über meine Tränen, die mir unkontrolliert in Massen über die Wangen liefen.

Langsam wurde es wieder laut um uns herum. Schwerbewaffnete Männer mit Schutzwesten und schwarzen Stoffmasken tauchten plötzlich über all auf und draußen hörte man einige Sirenen.

„Helft mir auf. Ich will aufrecht nach draußen gehen.“, bat Keyl uns.

Florian schlang einen Arm von ihm um seine Hüfte und legte den eigenen auf die Schulter meines Engels. Chris zog mich beiseite und ließ die Beiden vor uns her laufen. Er erklärte mir, dass dies etwas mit der Ehre und dem Ansehen zu tun hätte. Es soll nicht gerade gut für das Image sein, wenn ein Prinz von einem Außenstehenden gestützt wurde.

Draußen kamen uns einige Sanitäter entgegen und untersuchten die Verletzung an Keyls Schulter. Die Notärzte meinten, es soll wohl ein glatter Durchschuss gewesen sein und müsste dringend gereinigt und genäht werden. So fuhren wir in ein Spezialkrankenhaus der Organisation, wo mein Engel in einem separaten Zimmer behandelt wurde. Eine Krankenschwester untersuchte derweil meine Abschürfungen an den Handgelenken, gab eine Salbe drauf und verband mir sie dann.

Ungeduldig wartete ich auf dem Gang, wann ich denn endlich zu meinem Schatz durfte. Nach einer nicht enden wollenden Stunde kam er endlich aus dem Zimmer, frisch geduscht, wie mir schien und in saubere Sachen gekleidet.

„Keyl.“

„Alex.“

Beide stürmten wir aufeinander zu und umarmten uns innig. Durch seine Verletzung konnte mein Engel seine Arme nicht so sehr hochheben und umklammerte deshalb nur meine Hüfte. Wieder hatte ich Tränen in den Augen, die ich nur schwer unterdrücken konnte.

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“, flüsterte Keyl und kuschelte seinen Kopf an meine Schulter. Wir sehr hatte ich dieses Gefühl der Wärme vermisst.

„Mir geht’s genauso mit dir. Bitte versteh das jetzt nicht falsch, aber wie kannst du schon so munter durch die Gegend laufen? Vorhin konntest du dich doch kaum alleine auf den Beinen halten.“

„Das sind einfach nur gute Schmerz- und Aufbaumittel. Außerdem wollte ich so schnell als möglich wieder zu dir.“

Ich grinste nur und hob sacht sein Kinn, damit ich ihn anschauen konnte. Leichte Spuren der letzten Stunden waren in seinem Gesicht noch zu sehen, aber sonst strahlte mich nur dieses wahnsinnige Gelbbraun an, was ich so sehr liebte. Er schloss seine Augen und ich tat es ihm gleich. Sanft trafen unsere Lippen aufeinander und unendlich viele Glückshormone explodierten in meinem Magen, durchzogen meinen Körper und ließen meine Knie weich wie Pudding werden.

„Wow.“, meinte Keyl, als wir uns wieder voneinander trennten und verlieh dem Ausdruck, was ich fühlte.

„Ähem. Wenn wir die Herren kurz stören dürften.“, drang die belustigt klingende Stimme von Chris zu uns, der ein paar Meter weiter mit Flo zusammen an der Wand lehnte.

„Florian. Chris.“, sprach mein Engel die Beiden an und jeder nickte, sobald er seinen Namen hörte. „Ich danke euch. Von ganzem Herzen.“

„Wir sind Freunde, wusstest du das nicht?“, meinte Flo, worauf wir uns alle anlachten. Nach einer Weile jedoch verschwand sein Lächeln und er blickte ernst drein. „Die Königin verlangt nach uns. Und zwar nach uns allen.“

Ich konnte richtig merken, wie mein Engel sich versteifte und sich noch mehr an mich zu klammern begann.

„Kommt, lasst uns das so schnell als möglich hinter uns bringen. Keine Angst mein Prinz. Wir sind alle bei dir.“, versuchte Florian meinen Schatz etwas aufzumuntern und lief dann mit Chris voraus.

Zusammen stiegen wir in den Fahrstuhl, der uns nach unten zu dem Parkdeck brachte, wo schon ein schwarzer Van auf uns wartete. Wir fuhren eine ganze Weile durch die Gegend. Wie lange die Fahrt dauerte, konnte ich nicht genau sagen, weil ich mich voll und ganz auf Keyl konzentrierte, der die ganze Zeit wie ein Häufchen Elend in meinen Armen lag.

„Hör mal Alex. Wenn wir in der Residenz sind, halte deinen Kopf immer hoch und deinen Blick gerade aus. Klammer dich nicht an Keyl und bleib dicht hinter uns. Versuch einen möglichst emotionslosen Gesichtsaudruck aufzulegen. Du bist der Freund des Prinzen, somit hast du nun auch einen gewissen Status inne. Du stehst damit nicht nur unter seinem Schutz, sondern unter dem der ganzen Organisation.“, wies mich Flo streng an.

„Tut mir leid, dass ich dich da mit rein gezogen habe.“, hörte ich meinen Engel leise sagen.

„Hey. Ich bin froh, dass ich dir begegnet bin. Ein bisschen böse gucken und die Nase oben halten ist doch wirklich das geringste Problem.“, erwiderte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, worauf er mich erleichtert anlächelte.

Wir parkten wieder in einer Tiefgarage, stiegen in einen recht großen Fahrstuhl und fuhren bis ins obere Stockwerk. Mit einem leisen ‚Pling‘ öffneten sich die Türen und ich fand mich in einer Art Großraumbüro wieder, wo Telefone pausenlos klingelten und Menschen wild durcheinander liefen. An die Anweisungen von Florian haltend, hob ich meinen Kopf und versuchte, so streng als möglich auszuschauen. Ich zuckte ein wenig zusammen, als Keyl plötzlich nach meiner Hand griff und sie fest drückte. Kurz blicken wir uns an, nickten knapp und stiegen gemeinsam aus dem Fahrstuhl.

Jeder im Raum war verstummt und alle schauten uns neugierig an. Hier und da hörte ich einige flüstern: „Da, der junge Prinz, er ist wieder da. Ist er verletzt? Scheint nicht so, oder? Wer ist der Junge neben ihm? Wer ist das? Sein Freund? Die Königin hat schon nach ihnen verlangt. Oh je, das kann ja heiter werden. Die Befreiungsaktion war nicht genehmigt, stimmts? Die Vier tun mir jetzt schon leid.“

Wir ließen die tuschelnden Leute hinter uns und standen nun in einem Empfangszimmer, wo eine zierliche Dame uns begrüßte und dann mitleidig anwies, weiter zu gehen. Sacht klopfte Flo an die Tür und öffnete diese nach kurzem Zögern. Nacheinander betraten wir das Büro der Königin. Sie selbst saß in einem großen, braunen Ledersessel vor einem riesigen Panoramafenster und beugte sich über ein Schriftstück, dass vor ihr auf dem großen Tisch aus Eichenholz lag. Die Wände waren kaum geschmückt und wirkten irgendwie kalt, wie das ganze Zimmer.

Die Königin legte ihren Stift beiseite, als wir vor ihrem Tisch standen und blickte auf.

„Weißt du was das ist?“, wandte sie sich gleich an ihren Sohn, ohne auch nur ein Wort der Begrüßung und zeigte dabei auf das Blatt Papier vor sich.

„Ein Schreiben der hiesigen Stadt?“, fragte mein Engel und schaute seine Mutter unsicher an.

„Genau. Und kannst du dir auch denken, was darin steht? Das ist eine Beschwerde über die Schießerei, die du diese Nacht angezettelt hast. Es geht noch weiter. Widerrechtliches Betreten einer Lagerhalle, vorsätzliche Beschädigung von Privateigentum und dann noch bewusste Verwicklung von Zivilisten in Organisationsstreitigkeiten!“

„Keiner hat mich zu etwas gezwungen. Das war mein freier Wille, weil ich Keyl…“, setzte ich zu einer Erklärung an, wurde aber gleich wieder unterbrochen.

„Ach, du wurdest also nicht gezwungen, in die Lagerhalle zu gehen, hast dir freiwillig deine Arme an den Gitterstäben festbinden lassen und wärst aus freien Stücken halb erfroren?! Sehr interessant.“

„Meine Königin, wenn ich dazu bemerkten dürfte…“, begann Flo zu reden.

„Schweigt! Alle beide! Ich habe keine Lust mehr, mir eure plumpen Ausreden anzuhören. Ihr habt mir bewusst verschwiegen, dass Julian in der Stadt ist, nur damit Keyl weiter draußen frei herum streunen kann. Florian. Du solltest auf ihn aufpassen und ihn nicht in die Arme irgendeines unbeteiligten kleinen Jungen treiben!“

„Mutter! Das reicht. Alex ist nicht irgendein Junge. Er ist mein Freund!“

„Es reicht. Wahrlich. Du führst nicht genehmigte Aktionen durch. Läufst ständig von zu Hause weg, um dich mit wildfremden Jungs zu treffen. Bestichst deine Aufpasser und ziehst sie mit in deine Machenschaften rein. Das geht so nicht weiter. Ich habe beschlossen, dich in ein Internat in der Schweiz zu bringen, wo du eine ordentliche Ausbildung genießen wirst und hoffentlich einige Manieren lernst.“

Ungläubig starrten wir die Königin an und wussten nicht recht, was wir darauf sagen sollten.

„Nein. Das mach ich nicht. Du kannst vergessen, dass ich von hier weg gehe. Lieber lebe ich als Bettler in dieser Stadt bei meinem Freund, als in nem wildfremden Land als Prinz.“

„Ich glaube, du hast keine andere Wahl, mein Sohn.“, meinte die Mutter meines Engels und drückte auf einen Knopf ihrer Wechselsprechanlage, die auf ihrem Tisch stand. „Ricarda? Bring bitte die neuen Aufpasser des Prinzens rein.“

„Neue Aufpasser?“, hauchte Flo und blickte verstört zwischen Keyl und der Königin hin und her.

„Keine Angst. Sie sind die besten der Akademie und werden den Prinzen sehr gut beschützen. Du warst doch immer so empört darüber, dass du auf Keyl aufpassen musstest. Nun habe ich dir deine Last abgenommen. Bis zu Neujahr darfst du dir Urlaub nehmen. Genieße deine freie Zeit mit deinem Freund. Ihr beide dürft gehen.“

„Neulinge? Bei allem Respekt, ihr wollt Grünschnäbel an die Seite eures Sohnes setzen? Vielleicht habe ich am Anfang etwas gemurrt über diese Aufgabe. Aber ich will keinen Urlaub. Ich will…“

„Ich habe mich wohl nicht klar genug ausgedrückt!“, unterbrach barsch die Königin Florian. „Du bist diesen Postens enthoben.“

„Mir ist egal, ob ihr mich dazu ernennt oder nicht. Ich bleibe Keyls Bodyguard. Ob ihr das nun wollt oder nicht!“

Wütend über so eine geballte Ladung Ungehorsams, funkelte die Königin ihn empört an. Wieder drückte sie auf ihre Wechselsprechanlage. „Ricarda! Wo bleiben die neuen Aufpasser des Prinzen?!“

Daraufhin schwang krachend die Tür auf, aber ins Zimmer traten keine neuen Bodyguards, sondern eine große, schwarzhaarige junge Frau, vielleicht Mitte Zwanzig, mit dunkelgrün leuchtenden Augen. Es war unverkennbar, mit wem sie verwand war.

„Vicky.“ Überrascht blickte die Königin den Neuankömmling an.

„Florian, Chris. Bitte bringt mit Keyl zusammen Alex nach Hause. Seine Familie ist schon fast krank vor Sorge. Danach geht ihr bitte in unser Apartment und wartet dort auf mich.“, wies sie sanft die anderen an.

„Warte mal, was soll das? Du kannst hier nicht einfach so reinplatzen und Befehle erteilen.“

„Stimmt, laut der Rangfolge bist du genau einen Grad höher als ich. Aber weißt du was, momentan ist mir das vollkommen egal, weil es nicht um die Organisation geht, sondern um die Familie und da, liebe Schwester, stehen wir auf einer Stufe. Kinders, auf was wartet ihr? Ich habe hier noch etwas zu bereden und zwar mit Katja alleine. Also seid so nett und schließt die Tür hinter euch, wenn ihr geht.“

Vicky scheuchte uns regelrecht aus dem Zimmer, doch so leicht gab sich die Königin nicht geschlagen. Sie lief ihrer Schwester nach, packte sie grob am Handgelenk und wollte sie herum schleudern. Nur fing sich die schwarzhaarige Frau ab und knallte ihr mit voller Kraft eine Ohrfeige auf die Wange. Mehr bekamen wir allerdings nicht mit, da Chris schleunigst die Tür hinter sich schloss. Total durcheinander stand ich in dem, außer uns leerem, Empfangsraum.

„Kann mir einer bitte mal erklären, was dort drin gerade passiert ist?“, fragte ich in die Runde.

„Also, meine Mom hat anscheinend die Schnauze voll mit mir und will mich in nen Internat stecken, zich Kilometer von hier entfernt.“, fing mein Schatz an.

„Mit mir als Keyls Aufpasser ist sie auch überhaupt nicht zufrieden, weil ich ihm zu viele Freiheiten gelassen habe.“, erzählte Flo weiter.

„Und die Frau, die du grade gesehen hast, ist Florians Mutter und die Stiefschwester von der Königin. Hoffentlich wäscht Vicky der Königin mal richtig den Kopf.“, schloss Chris.

„Die Schwarzhaarige ist deine Mutter? Ich habe sie auf maximal Mitte Zwanzig geschätzt und dich auf Neunzehn, oder so.“, sagte ich ungläubig.

„Das stimmt auch, aber das ist ne andere Story. Komm, wir müssen dich wirklich nach Hause bringen. Als ich vorhin im Krankenhaus mit deiner Mom telefonierte, klang sie mehr als nur besorgt.“, meinte Flo und ging mit Chris voraus.

Mein Engel blieb etwas unschlüssig im Zimmer stehen und blickte sich unbehaglich um. Ich ging zu ihm, strich eine Strähne seines Haares aus dem Gesicht und stupste ihn leicht mit der Nase an. Traurig lächelte er mir zu.

„Kopf hoch. Wir schaffen das. Zusammen!“, versuchte ich ihn aufzumuntern.

„Danke. Ich hatte nur gehofft, dass dein erstes Treffen mit meiner Mom etwas fröhlicher ausfällt und nicht im Chaos endet. Sie ist eigentlich ganz O.K. Wie jede Mutter macht sie sich ja auch nur Sorgen, aber in der letzten Zeit übertreibt sie es einfach.“, probierte Keyl das Verhalten seiner Mutter zu rechtfertigen.

„Pass auf. Sobald sich die Lage wieder entspannt hat, starten wir einfach einen neuen Versuch. So schnell geb ich nicht auf.“, zwinkerte ich meinem Schatz zu und er atmete erleichtert auf.

Dann folgten wir den beiden Anderen zum Fahrstuhl und stiegen, unten angekommen, mit ihnen wieder in den schwarzen Van ein. Schweigend flog die Landschaft an uns vorbei, bis ich nach einer Weile bekannte Häuser und Straßen entdeckte. Mir wurde immer unwohler zumute, je näher ich dem Ziel kam. Nur widerwillig löste ich mich von meinem Engel und stieg mit ihm aus dem Auto aus. Alle drei brachten mich noch bis hoch zur Wohnungstür, da Flo noch mit meinen Eltern etwas abklären wollte. So stand ich nun im Treppenhaus vor der Tür meiner Wohnung und wollte nicht wirklich hinein gehen.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte ich ängstlich meinen Schatz, der sich an mich geklammerte hatte und nicht wieder loslassen wollte.

„Ich weiß nicht, wie viel Vicky erreichen kann. Vielleicht ist das hier unser letztes Treffen.“

„Nein, ich will dich nicht wieder her geben. Ich will bei dir sein. Bleib hier bei mir. Bitte.“, jammerte ich und barg meinen Kopf an seinem Hals.

„Hab Geduld. Wir müssen erstmal abwarten, was Vicky erreichen kann. Wenn wir uns jetzt gegen ihre Anweisungen stellen, wäre alles für umsonst. Ich werde wiederkommen, das schwöre ich. Warte auf mich.“

„So lange du willst. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, mehr als alles andere auf der Welt.“

Wir trennten uns ein winziges Stück, nur um uns in die Augen blicken zu können. Mein Herz wurde unendlich schwer, als ich in das gelbbraune Leuchten schaute und darin mehr und mehr versank. Sanft berührten sich unsere Lippen. Zärtlich spielten wir mit der Zunge des jeweils Anderen, streichelten uns über die Wangen und den Nacken.

„Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber wir haben nicht mehr viel Zeit.“, unterbrach uns Flo leise und betätigte, nach einem zustimmenden Nicken unsererseits, die Klingel.

Meine Mutter riss förmlich die Türe auf und fiel mir erleichtert um den Hals, meine Schwester, Dennis und selbst mein Vater folgten.

„Dem Himmel sei dank, dir geht es gut.“, hauchte meine Mom und wischte sich Tränen aus den Augen.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich ihren Sohn da mit rein gezogen habe. Es war wirklich nicht meine Absicht.“, sagte mein Engel ängstlich und starrte auf den Boden.

„Ach halt deinen Mund.“, antwortete meine Mutter und ging zu ihm rüber. „Für solche geistesgestörten Menschen kann keiner was. Ich bin verdammt noch mal froh, dass es euch Beiden gut geht. Und hatte ich nicht gesagt, dass du dieses doofe Sie weglassen sollst?!“ Dann umarmte sie ihn. Meine anderen Familienmitglieder blickten ihn aufmunternd an und gaben somit zu verstehen, dass sie ihm für das Geschehene keine Schuld gaben.

„Entschuldigen sie die Unterbrechung, aber wie ich schon am Telefon mitteilte, müsste ich noch etwas mit ihnen besprechen. Es dauert nicht lang.“, wandte sich Florian höflich an meine Eltern, worauf beide sich zu ihm gesellten. Meine Schwester ging mit Dennis vorerst wieder in die Wohnung und ließ somit mir und Keyl genug Zeit zum Abschied.

Wir klammerten uns wieder aneinander, küssten uns innig und wollten uns einfach nicht voneinander trennen. Flo packte schon fast grob die Schulter meines Engels und zog ihn von mir fort, währenddessen mein Vater mich festhielt. Tränen rannen mir und Keyl unentwegt über die Wangen hinab und tropften lautlos zu Boden. Vom Fenster aus sah ich noch, wie mein Schatz vor dem Auto stand und ein letztes Mal zu mir nach oben blickte, bis ihn Florian drang, einzusteigen. Dann fuhr der Van davon.

*

Es war Heilig Abend. Überall roch es nach Pfefferkuchen, Äpfeln und Zimt. Leise hörte ich Musik von unten in mein Zimmer dringen. Fröhliche Weihnachtslieder. Danach war mir zur Zeit überhaupt nicht zu Mute. Knapp zwei Wochen waren vergangen, nachdem ich mich von meinem Engel trennen musste und bisher hatte ich nicht eine Nachricht von ihm erhalten. Weder wusste ich, wie es ihm ging, was er gerade machte, noch wo er war.

Seit ich mich von meinem Schatz verabschieden musste, hatte ich mich überwiegend in meinen Zimmer eingeschlossen und war nur zu den Mahlzeiten raus gekommen. Gegessen hab ich trotzdem kaum was. Von der Schule war ich bis nächstes Jahr frei geschrieben wurden, so blieb mir wenigstens dieses Laster erspart. Blind tastete ich in meinem dunklen Zimmer nach der Fernbedienung meiner Musikanlage und ließ wieder Schandmaul mit ‚Dein Anblick‘ anlaufen.

Ich lauschte den Worten des Sängers und erinnerte mich wieder an die zarte Haut meines Schatzes, an dessen weiche Lippen, an die Wärme und Geborgenheit, die er mit gespendet hatte. In meinen Augen brannten Tränen auf.

Jemand klingelte an unsere Wohnungstür und ich hörte, wie meine Mom diese freudig öffnete und aufquickte. Genervt schaltete ich meine Musik lauter, damit ich mir das fröhliche Gequatsche von unten nicht mit antun musste. Dieses Jahr wollte unsere Nachbarin ein Stück mit uns feiern, da ihr Mann erst spät von der Arbeit kam und der Rest ihrer Familie weggefahren war. Ich drehte mich nur in meinem Bett rum, kuschelte mich in mein Kissen und ergoss mich in meinem Kummer. Ein paar Minuten später klopfte es zaghaft an meiner Tür.

„Alex, kommst du bitte endlich runter? Unsere Gäste sind da und wir wollen mit der Bescherung anfangen.“, sagte meine Mutter sanft, mit etwas Besorgnis in der Stimme. „Und zieh dir bitte was Ordentliches an.“

„Ja, mach ich Mom.“, meinte ich schwach und stand langsam auf.

Meine Schwester hatte mir schon ein paar Sachen für den Abend hingelegt, weil sie der Meinung war, dass ich in der letzten Woche nicht gerade als Model durchging. Lustlos lief ich ins Bad, putzte mir die Zähne und kämmte mir halbherzig die Haare aus dem Gesicht. Dann schlurfte ich die Treppen hinab. Die ganze Wohnung war weihnachtlich geschmückt und leuchtete in einem sanften Grün und Rot. Nur hatte ich in diesem Augenblick absolut keinen Sinn dafür.

Ich stand gerade in Gedanken versunken auf den letzten beiden Stufen, als eine große, schwarzhaarige Person von links aus dem Wohnzimmer kam.

„Wird ja auch langsam echt Zeit!“

Verwirrt schaute ich Florian an.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich verdattert.

„Na was wohl.“, antwortete er schnippisch und blickte mich genervt an.

In diesem Augenblick trat eine weitere Person auf den Flur hinaus. Mein Atem setzte aus, als ich erkannte, wer da nun vor mir stand.

„Keyl.“, hauchte ich ungläubig.

„Hey.“, antwortete mein Engel nur und lächelte mich an.

„Keyl!“, rief ich und stürmte nach vorne. Allerdings verfehlte ich die letzte Stufe und strauchelte. Ich prallte mit voller Wucht auf meinen Schatz und riss ihn mit mir zu Boden.

„Na das nenn ich doch mal eine stürmische Begrüßung.“, lachte Chris, der gerade aus der Küche kam und zwei Schüsseln über uns drüber balancierte. Flo kam seinem Freund zur Hilfe, nahm ihn etwas ab und beide gingen grinsend wieder in die Wohnstube.

Ich konnte es einfach nicht fassen, dass mein Engel endlich wieder bei mir war. Lächelnd lag ich auf ihm und genoss seine sanften Fingerspitzen, als diese meine Wange liebkosten. Dann nahm Keyl meinen Kopf in beide Hände und zog mich zu sich hinunter. Ich spürte sein Verlangen, sein Drängen und seine Erleichterung, endlich wieder vereint mit mir zu sein – ich fühlte im Gegenzug nicht viel anders.

„Wollt ihr nicht endlich aufstehen und zu uns kommen? Wir möchten langsam die Geschenke auspacken.“, neckte meine Schwester.

Kichernd kamen wir der Aufforderung nach und gesellten uns zu den Anderen.

„Ich habe mein Geschenk schon.“, meinte ich zu Sahra, als wir ins Wohnzimmer kamen und uns nebeneinander auf das Sofa setzten. Mein Schatz legte gleich meinen Arm um seine Schulter und kuschelte sich wieder an die meinige.

„Oh, dann willst du unseres wohl gar nicht haben?“, fragte mich Chris und sah mich prüfend an. Er saß in unserem Sessel und Flo auf dem Boden zu seinen Füßen. Der Prinz hatte seinen Kopf gegen die Beine seines Freundes gelehnt und ließ sich sanft von ihm am Hals graulen.

„Nimm es an.“, drängte mein Engel mich, darum sagte ich brav, dass ich mich sehr über ihr Präsent freuen würde.

„Gute Antwort.“, lächelte Keyl und löste sich ein wenig von mir. „Also es ist so. Dank Vicky hat meine Mutter eingesehen, dass sie in Sachen Sicherheit bei mir sehr übertrieben hat. Des weiteren konnte meine Tante sie davon überzeugen, dass es wohl besser wäre, mich nicht in ein Internat zu stecken, sondern auf eine Schule meiner Wahl. Einzige Voraussetzung ist, dass ich regelmäßig zum Training gehe, brav zu meinen Aufpassern bin und sie nicht austrickse und dass ich meine Mutter auf dem Laufenden halte.“

„Eine Schule deiner Wahl? An welche hast du denn da gedacht?“, fragte ich vorsichtig, worauf mich mein Schatz nur breit angrinste.

„Na ja, ich habe gehört, dass ganz hier in der Nähe ein gutes Gymnasium sein soll.“

Mit immer größer werdenden Augen starrte ich meinen Engel an.

„Du meinst, du kannst hier bleiben?“

„Nein du Idiot. Das bedeutet, dass er auf den Mond zieht und sich dort nen Haus baut.“, stöhnte Florian genervt, handelte sich dabei aber einen Klaps von seinem Freund ein.

Überglücklich sprang ich meinem Engel um den Hals und drückte ihm danach einen langen Kuss auf die Lippen.

„Nu is aber Schluss hier. Ich bin zwar echt froh, dass mein kleiner Bruder endlich wieder happy ist, da er die ganze letzte Woche total deprimiert sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Also Keyl, falls du noch einmal so ne Nummer mit ihm abziehen solltest, von wegen allein lassen und so, dann gnade dir Gott! Aber bitte steck nich weiter deine Zunge in seinen Mund, wenn ich in der Nähe bin. Alex ist mein kleiner Bruder. Das ist irgendwie komisch. Für den Rest habt ihr freie Bahn.“

„Du hast es gehört Schatz.“, meinte ich zu Keyl. „Außer nem Zungenkuss dürfen wir hier alles machen. Los, zieh dich aus!“

„Nein! So meinte ich das nicht.“, japste meine Schwester nach Luft und schmiss mir dann ein Kissen an den Kopf, als sie merkte, dass ich nur Spaß machte.

„Jetzt ist aber gut.“, unterbrach uns meine Mutter lachend, stand auf und schenkte den Wein aus. „Auf dass es den Menschen, die uns wichtig sind, immer gut geht, wir sie oft in unsere Nähe wissen dürfen und auf das die Familie immer zusammen hält, sich in schwierigen Situationen beisteht und stetig wächst. Auf unsere Familie und unsere Lieben!“

„Auf unsere Familie und unsere Lieben!“, stimmten wir alle im Chor meiner Mutter zu und nippten an dem Wein.

Leise liefen im Hintergrund alte Weihnachtslieder. Ein Duft von Tanne, gemischt mit Lebkuchen und Apfelsinen stieg mir in die Nase, als die ersten Geschenke ausgeteilt wurden. Die Kerzen des Adventkranzes flackerten sanft vor sich hin und verströmten ein angenehmes Licht.

Mein Engel kuschelte sich wieder an mich und graulte mir zärtlich meinen Arm. Sacht lehnte ich mich auf dem Sofa zurück und genoss die Nähe der Menschen, die ich am meisten liebte.

Lesemodus deaktivieren (?)