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Irrwege

Teil 10

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Trotz meiner besonders emotionalen Art habe ich bisher noch nie einen so starken Drang empfunden, einem Menschen nah zu sein – Lucas zählt nicht! –, und das nicht ausschließlich auf sexueller Ebene. Kims bloße Anwesenheit gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit, seine Stimme sorgt für Schwärme von Schmetterlingen in meinem Bauch, sein Lächeln lässt meine Knie zu Pudding werden. Mit jedem Schritt, mit dem wir uns vom wilden Leben der Hauptstraße entfernen, steigt mein Verlangen, ihn zu berühren, den Geschmack seiner Lippen herauszufinden, doch scheint er meinen Wunsch nicht zu teilen.

Während es um uns herum leiser und dunkler, die Menschen weniger, ihr Lachen seltener wird, lotst mich mein Begleiter durch ein Labyrinth von Wegen und Gassen und lässt mich an seinem Leben teilhaben. Ich höre ihm mit einer Aufmerksamkeit zu, die sonst Lucas vorbehalten ist, als er mir von der schwulen Jugendgruppe erzählt, die er leitet, „eine Bande von Kids, die mehr Zeit im Gruppenzentrum verbringen als zu Hause, weil sie dort immer jemanden finden, der bereit ist, ihnen zuzuhören.“ Die wenigsten von ihnen sind schwul, sagt er, die meisten auf der Suche nach Aufmerksamkeit, nach Gleichaltrigen, nach sich selbst.

Den Großteil seiner Freizeit verbringt Kim dort oder unterwegs mit seiner Gruppe. Manchmal kann es auch vorkommen, dass er einen von ihnen suchen muss, wenn die Eltern aufgeregt im Zentrum anrufen, weil ihr Kind nicht nach Hause gekommen ist, „und bisher haben wir noch jeden gefunden, bei Freunden oder auf unserer Couch oder im Sommer unter freiem Himmel – im Park oder am Flussufer. Dann spielen wir die Vermittler zwischen ihnen und ihren Eltern. Und wenn alle Stricke reißen, …“

Zu Kims Lieblingsrestaurant schaffen wir es in dieser Nacht nicht mehr. Unser Gespräch wird vom Klingeln seines Handys unterbrochen und als Kim aufgelegt hat, laufen wir eine Straße weiter zu seiner Wohnung, steigen auf seinen Roller und er setzt mich vor dem bxd ab, wo ich ihm hinterher schaue, wie er seiner Berufung entgegenfährt. Er sieht nicht nur gut aus und ruft in mir ein unglaubliches Glücksgefühl hervor, er ist auch noch ein Heiliger – hoffen wir nur, dass er dem Jungen mit seinem verpatzten Coming-Out helfen kann. Ach was, das schafft er bestimmt!


Während das Rücklicht seines Rollers langsam verblasst, sehe ich mit einem Lächeln in meine linke Handinnenfläche, auf die er hastig seine Handynummer gekritzelt hat, kurz bevor er sich mit einem Ruf mich an, ja? von mir verabschiedet hat.

Auf Wolke Sieben schwebend nicke ich Vinnie zu und mache mich im nicht mehr ganz so überfüllten Club auf die Suche nach meinen Freunden. In einem privaten Raum hinter der Bar werde ich, dem Barmann sei Dank, fündig. Bei ihnen, genauer gesagt neben Bastian, sitzt ein untersetzter Mann, auf dessen Schoß sich eine kurzhaarige, gutaussehende Frau niedergelassen hat. Aus der Vertrautheit zwischen Bastian und dem Fremden schließe ich, dass es sich bei ihnen um David und Kara handelt. Als Basti mich bemerkt, steht er auf und stellt uns einander vor, dann setzt er sich zu mir auf den verbliebenen freien Zweisitzer, direkt Lucas und Kristin gegenüber, die so sehr in ihrem Gespräch versunken sind, dass sie mein Reinkommen gar nicht wahrgenommen haben.

Die anderen ignorierend, konzentriere ich mich auf ihre leisen Worte, schnappe hier und da was auf, nach einigen Sekunden macht es Klick. Musik, Klavierspielen – darüber unterhalten sie sich. Seit Jahren hat Lucas kein Klavier mehr angerührt, doch jetzt ist es wieder da – eines der wenigen Dinge, für die mein Freund mich nie hat begeistern können. Eine Welle von Eifersucht erfasst mein Herz, am liebsten würde ich aufstehen und Kristin von der Couch fegen, ihr klarmachen, dass Lucas mein Freund ist. Mein Freund, nicht ihrer! Was denkt sie sich bloß dabei, sich in meiner Abwesenheit so unverschämt offensichtlich an ihn ranzumachen?!

Aus weiter Ferne höre ich meinen Namen. Bastian. Bastis Stimme. Ich drehe den Kopf und sehe ihn an. Er legt einen Arm um mich und steht auf, deutet mit dem Kopf zur Tür; ich schüttle meinen verständnislos.

„Komm mal bitte kurz mit“, sagt er und wartet an der Tür auf mich. Mit einem verschwendeten vernichtenden Blick in Kristins Richtung komme ich Bastians Aufforderung nach und folge ihm in einen Lagerraum. Er greift gezielt in eine der Kisten und reicht mir eine Flasche Bitter Lemon, öffnet sich selbst auch eine.

„Trink.“ Er dreht zwei leere Kisten um, schiebt mir mit dem Fuß eine rüber, setzt sich auf die andere. Nach meinem ersten Schluck fragt er: „Besser?“ und ich nicke vorsichtshalber, denn ich habe keinen blassen Schimmer, was er meint.

„Es ist schwer loszulassen“, meint er mitfühlend. Natürlich hat er es gemerkt!

„Ich dachte, ich könnte es“, erwidere ich und beiße mir auf die Lippe. „Aber als ich ihn und Kristin so zusammen gesehen habe … Total dämlich, weil sie sich ja nur unterhalten haben, nichts weiter. Ich habe ihn mit Jesse schon ganz andere Dinge machen sehen und war nicht so aufgebracht wie gerade eben. Und außerdem … ich hätte Ja sagen können. Er wollte, dass wir es versuchen – als Paar –, aber ich habe ihn abgewiesen. Es wäre sonst Nötigung gewesen, oder? Wenn du mich liebst, vergisst du deinen Traum von einer Familie und Kindern und … Das ist keine Liebe ...“

„Nein, ganz sicher nicht.“

„Was soll ich tun, Basti? Er ist mein Freund, ich kann ihn nicht wieder aus meinem Leben vertreiben und vergessen. Ich will ihn daran teilhaben lassen, er ist ein Teil meines Lebens. Ich will ihm erzählen können, wenn ich mich verknallt habe ...“

„Gerade deshalb musst du einsehen, dass er das eines Tages auch wieder tun wird. Wenn er über Jesse hinweg ist und er es wieder zulässt, wird er sich wieder verlieben. Und zwar nicht in dich.“

Der letzte Satz fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Und doch, ist es nicht das, was ich im Grunde für ihn möchte? Dass Lucas glücklich wird? Und tief in meinem Inneren weiß ich, dass ich nicht der Richtige bin, um das zu bewerkstelligen.

„Ich weiß, es ist alles andere als leicht“, tröstet mich Bastian. „Mir ging es damals nicht anders. Nur weil David sich in jemand anderen verliebt hat, habe ich nicht aufgehört ihn zu lieben. Aber mit der Zeit habe ich Kara besser kennen gelernt, ich habe gelernt, sie mit seinen Augen zu sehen. Ich habe mich nicht in sie verliebt, aber ich kann mittlerweile nachvollziehen, wieso er so verrückt nach ihr ist. Manchmal reden wir über ihn – darüber, was ihn zum Lachen bringt; darüber, was ihn beschäftigt. Wir haben die Gefühle des jeweils anderen für David akzeptiert und ich denke, das ist wichtig – dass wir uns nicht als Konkurrenten betrachten. Ich bin mir sicher, wenn es irgendwann so weit ist, wirst du das auch schaffen, und bis dahin, denk daran, was du für ihn willst. Und für dich.“

Leichter gesagt als …

„Hast du?“, grinst Basti mich an und steht auf, steckt die leeren Flaschen in seine Kiste.

„Hab ich … was?“

„Dich verknallt. Nicht in Malte, oder? Ich hab noch gesehen, wie du mit ihm in den Darkroom verschwunden bist.“

„Dort drin hab ich es nicht lange ausgehalten. Nein, ich meine ja, ich hab mich verknallt. Aber nicht in Malte, in einen deiner Darsteller.“

„Kim“, sagen wir beide gleichzeitig.

„Klar, das Universum lässt ihn ja nicht umsonst in dich hineinlaufen“, schmunzelt Bastian. „Er ist ein guter Kerl, ihr würdet gut zusammen passen“, meint er geheimnisvoll.

„Würden wir?“, hake ich nach.

Basti lacht. „Gehen wir, die anderen wundern sich sicher schon, wo wir so lange bleiben.“

An der Bar treffen wir auf David und Kara, die sich von uns verabschieden – Bastian nicken sie stirnrunzelnd zu, mich lächeln sie irgendwie gequält an, was mich zu der Annahme verleitet, dass ihr Schön, dich getroffen zu haben nichts weiter als eine Floskel ist. Ich schätze, ich habe bei ihnen einen richtig guten ersten Eindruck hinterlassen – wenn ihre Beobachtungsgabe auch nur halb so ausgeprägt ist wie Bastis, ist das auch kein Wunder …

Zusammen mit meinem Beinahe-Benehmen von eben lässt das nur einen Schluss zu: So kann es mit mir nicht weitergehen!


Ich öffne die Augen und finde mich unter freiem Himmel wieder. Auf dem Rücken liegend, schaue ich direkt in die Sonne, beobachte wie eine Hand nach ihr greift, sie vom Himmel holt und eine zweite sie verdeckt. Einige Strahlen stehlen sich zwischen den zittrigen Fingern hindurch und beleuchten das faltige Gesicht, das zu mir herabsieht. Der alte Mann lässt die Sonne, nun eine faustgroße Feuerkugel, zu Boden fallen und stützt sich auf einen krummen Stock, als er mir grimmig zuruft: „Komm, Junge, wir haben nicht ewig Zeit!“

Er geht vor, der richtungweisenden, selbstständig rollenden Sonne hinterher, und lässt mich in der Dunkelheit zurück. Mit einem unmenschlichen Satz springe ich hoch und stehe im nächsten Moment neben ihm.

„Wer sind Sie?“, frage ich ihn.

„Fragen, Fragen, Fragen“, schüttelt er den Kopf. „Es sind die Antworten, die dir nicht gefallen, nicht die Fragen, also stellst du sie und ärgerst dich, wenn dir die Antwort nicht passt. Ich bin du, mein Junge.“

Das ist doch mal ein Traum, ich bin in der Weihnachtsgeschichte gelandet!

„Dummkopf“, schnaubt der Alte missbilligend. „Seh ich aus wie der verdammte Geist der verdammten Weihnacht? Häh?! Ich bin dein schlimmster Alptraum, Junge, ich bin deine Zukunft. Ein klappriger alter Schwachkopf, von Gott und der Welt verlassen. Oder siehst du hier außer uns noch wen?“

Ich sehe nicht viel, abgesehen von ihm und dem sandigen Boden unter unseren Füßen. Das Licht der Sonne ist zu schwach, so schwach, dass sie einen Kreis von höchstens zehn Metern im Durchmesser erleuchtet – jenseits davon herrscht tiefstes Schwarz.

„Wo gehen wir hin?“, will ich wissen.

„Schon wieder! Halt die Klappe und geh einfach weiter, du wirst dir noch früh genug wünschen, woanders zu sein.“ Ja, der Mann hat offensichtlich ein Motivationsseminar hinter sich. Ich bleibe stehen.

„Oh je, jetzt ist er eingeschnappt. Duziduzidu, möchte der Kleine vielleicht noch einen Schnuller?“ Er kommt auf mich zu und mit einem kräftigen Schlag auf meinen Hinterkopf sagt er: „Also schön, wozu es noch länger hinauszögern? Setz dich.“ Als ich nicht gehorche, befiehlt er es und eine unsichtbare Hand drückt mich auf den Boden.

Er setzt sich neben mich und schnippt mit den Fingern. Um uns herum entsteht Stück für Stück ein Zimmer. Nein, ein Flur; ein langer Flur. Wir sitzen mit dem Rücken zur Wand, an der Wand gegenüber hängen Fotos – geklebt, gepinnt, nur wenige eingerahmt, doch alle stellen sie die gleichen Menschen dar: Lucas und mich. Auf dem Karussell, im Auto-Scooter, am Strand, im Wald, vor unserer Lieblingseisdiele, in London, am Flughafen Heathrow, in Dänemark – Lucas und ich, seit wir uns kennen. Bis heute.

„Genau, unser gemeinsames Leben bis zur heutigen Nacht. Guck, da an der Seite.“ Ein Foto von heute Abend, Kristin hat darauf bestanden. „Und jetzt wollen wir uns die Zukunft anschauen, deine Zukunft mit Lucas.“ Wieder schnippt er mit den Fingern, doch nichts ändert sich.

„Wie findest du's?“

„Was? Es hat nicht funktioniert“, mache ich ihn aufmerksam.

„Da irrst du dich“, widerspricht er seufzend.

Minuten vergehen, lange Minuten, in denen ich jedes Bild genauer unter die Lupe nehme, auf der Suche nach Veränderungen, doch da ist nichts. Weil ...

„Unser gemeinsames Leben hört mit dieser Nacht auf. Das … das kann nicht sein“, wehre ich mich gegen meine eigene Schlussfolgerung. Der Alte zuckt gleichgültig mit der Schulter und hält mir ein Taschentuch entgegen. Ich nehme es und werfe es ihm ins Gesicht. „Sag mir, dass das nicht stimmt! Dass das nicht passiert! Es kann nicht passieren!“ Leiser füge ich hinzu: „Er liebt mich, er ist mein Freund.“

„Das tut er, er liebt dich. Über alles. Du ihn aber nicht.“

Ich stehe auf, drücke den Verrückten weg und laufe davon. Was für ein Schwachsinn! Ich und Lucas nicht lieben! Ich würde alles für ihn tun! Alles!

Der Alte steht wieder vor mir. „Wirklich? Alles?“ Wie kann er es wagen, meine Gefühle anzuzweifeln? Wenn er wirklich ich ist …

Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die Sonne, die größer und größer wird, eine durchsichtige Kugel, in deren Mitte mein Kopf schwebt, seine Augen – meine Augen – auf Lucas gerichtet, der, ebenfalls in der Kugel gefangen, um sein Leben rennt – ohne jemals vorwärts zu kommen.

„Das ist es, was du willst, nicht wahr?“, höre ich die Stimme des alten Mannes neben mir. „Die Kugel ist alles, was er noch hat, sie ist Lucas' Welt. Und sie dreht sich einzig und allein um dich.“

„Nein“, widerspreche ich schwach. „Das will ich nicht.“

„Nicht?“

Er deutet zu seiner Linken, wo die Sonne nacheinander drei blutüberströmte Leichen beleuchtet, alle drei mit demselben Gesicht: Lucas' Gesicht. Ich schnappe entsetzt nach Luft, drehe mich weg, doch der Alte zwingt mich hinzusehen. Auf jeder Brust steht ein anderes Wort: Freiheit, Freundschaft, Liebe. Kaum dass ich sie gelesen habe, schwebt die Sonne zu mir herüber, zeigt auf meine rechte Hand, in der ich ein rot tropfendes Messer halte; dann zielen ihre Strahlen auf meine eigene Brust, die zu brennen anfängt und mir ein viertes Wort präsentiert: Eifersucht.

Tränen schießen aus meinen Augen und ich lasse mich auf den Boden fallen und streiche über die Gesichter meines Freundes. Die kalten Gesichter, die blutleeren Lippen, denen kein Lufthauch entweicht, die geschlossenen Augenlider. Für immer.

Ich blicke zu dem Alten hoch. „Das will ich nicht“, flehe ich ihn an. „Bitte.“

Doch er schüttelt traurig den Kopf. „Nur du kannst das ändern, Markus.“ Die Leichen verschwinden, wir sind wieder allein.

„Und du? Du bist doch ich. Dann hilf mir. Hilf mir!“

„Nur du, Markus!“

„HILF MIR!“

„Markus!“ Sein Gesicht verblasst … „Markus!“ … und an seiner Stelle sieht mich Kristin großschwesterlich an. „Wach auf, Markus, du hast nur geträumt.“ Sie schaltet meine Nachttischlampe ein und setzt sich zu mir. „Monster-Alptraum?“, fragt sie mit einer Spur von Belustigung in ihrer Stimme.

Ich nicke. „Ich war das Monster.“

„Und Lucas dein Opfer, hm?“ Als ich nicht antworte, sagt sie: „Ihr seid zwei echt schräge Vögel, weißt du das? Letzte Nacht haben wir uns beide gelangweilt. Nicht meine Szene, das bxd, aber ich wollte einfach mal raus. Und Lucas' wohl auch nicht – er ist deinetwegen hingegangen. Also haben wir uns zurückgezogen und uns unterhalten; über Filme, Bücher, Natur, Reisen – glaub mir, ich hab alles versucht, aber es gab kein Thema, bei dem nicht nach spätestens drei Sätzen dein Name gefallen ist. Ich war echt frustriert, weil ich eigentlich mehr über ihn erfahren wollte. Aber ich schätze, das geht nicht, ohne dass du mit ins Spiel kommst.“

„Wir … haben viel zusammen erlebt“, gebe ich ihr zu bedenken.

„Das ist noch untertrieben! Kannst du dir meine Erleichterung vorstellen, als ich herausfand, dass es etwas gibt, was wir beide mögen ...“

„... und ich nicht ausstehen kann.“

Die Klavierstunden waren einer der vielen Versuche meiner Eltern, mich mit der Kultur jenseits von Fernsehen und Nintendo vertraut zu machen und anfangs machten sie mir auch Spaß: fröhliches Herumklimpern ohne Sinn und Verstand. Als ich aber merkte, dass es kein Spiel war, sondern viel, sehr viel harte Arbeit bedeutete, verlor ich das Interesse daran und ging nur noch als Lucas' Publikum hin – ihm zuzuhören fand ich okay. Doch er, er blühte richtiggehend auf in der Musik. Jahrelang waren die glasklaren Klänge ein Ausgleich für sein sonst so chaotisches Leben. Bis …

„Glaubst du ...“, frage ich Kristin. „Glaubst du, du kannst sie wieder zusammen bringen?“

„Die Musik und Lucas – ich? Bist du sicher? Nach der letzten Nacht?“ Auf meine Frage, woher sie das weiß, antwortet sie: „David ist nicht gerade dein größter Fan.“

„Kann ich verstehen. Aber – ja, ich bin mir sicher.“ Wenn Lucas nur einen Teil seiner Hingabe von früher wiederfindet – was könnte ihm besser über Jesse hinweghelfen?


„Ich habe schon den ganzen Morgen auf dich gewartet“, sagt er, als er mir öffnet und ich ihm in die Küche folge. Er sieht ausgeschlafen aus, voller Energie, glücklich – so richtig glücklich! Er tanzt zu Mikas Relax, singt mit, steckt mich mit seiner Laune an, wirbelt mich durch die Wohnung, am Ende landen wir auf unseren Hintern auf dem Wohnzimmerteppich. Was ist nur in ihn gefahren?

„Spürst du's nicht?“, klatscht er in die Hände. „Hörst du sie nicht? Die Musik … Nach all den Jahren habe ich endlich wieder jemanden gefunden, der versteht, was Musik für mich bedeutet, Markus!“

Voller Begeisterung springt er zur Anlage, wechselt auf CD und Sekunden später ist der Raum von Vivaldis Vier Jahreszeiten erfüllt. Passend zum Schnee draußen hat er den Winter angewählt, dazu legt er den Kopf in meinen Schoß, schließt mit einem Lächeln die Augen und bewegt die Hände im Rhythmus.

„Ich dachte“, sagt er am Ende des ersten Satzes, „ich hätte damals die Liebe zur Musik gänzlich verloren, für immer, aber sie hat nur geschlummert und auf Kristin gewartet. Wir haben miteinander geredet und als wir zum Klavierspielen kamen, da war das wie Magie. Du hättest sehen sollen, wie ihre Augen plötzlich geleuchtet haben! Und die Buchstaben ihrer Worte wurden zu Noten, ihr zuzuhören war, als würde ich einer Symphonie lauschen“, schwärmt er und mich beschleicht das Gefühl, dass ich nicht der einzige bin, den es letzte Nacht erwischt hat …

„Sie hat gesagt, sie spielt nicht nur, sie singt auch. Hast du sie schon mal singen hören?“

Ich nicke. „Manchmal höre ich sie in ihrem Zimmer singen und wenn sie in der Küche steht, dann summt sie für gewöhnlich.“

„Und spielen?“

„Sie setzt sich immer Kopfhörer auf, aber für dich macht sie vielleicht eine Ausnahme.“

„Ach ja?“, fragt er mit großen Augen.

„Und wenn du nett zu ihr bist, lässt sie dich bestimmt auch mal spielen.“ Neugierig sieht er mir hinterher, als ich aus meiner Jacke Kristins Handynummer hole. „Los, ruf sie an.“

Er nimmt den Zettel, sieht ihn kurz an – seine Methode, um sich Zahlen zu merken – und steckt ihn dann weg. „Später,“ sagt er, „erst will ich hören, was du so getrieben hast, warst ja eine ganze Weile weg. Mit 'nem heißen Typen, hab ich mir von Basti sagen lassen. Wie war der Sex?“

„Du meinst Malte …“

„Einen Namen haben wir schon mal. Und weiter?“

„Nichts weiter. Ich habe ihn schon im Anfangsstadium abgebrochen – war nicht so das Wahre. Dann aber bin ich mit Kim zusammengestoßen …“

Und während der Winter sich, zumindest musikalisch, seinem Ende zuneigt, fange ich an, Lucas von meinen Frühlingsgefühlen zu erzählen.

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