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Irrwege

Teil 11 - Die Welt - eine Bühne!

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Informationen

Vorwort:

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Dieses Werk ist, inklusive der darin vorkommenden Personen, fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Sofern Personen und/oder Organisationen des öffentlichen Lebens erwähnt werden, so geschieht dies nur zu dramaturgischen Zwecken und ist nicht als Aussage über diese Person/Organisation aufzufassen. Ferner wird kein Anspruch auf biographische oder historische Korrektheit erhoben.

 

Sie liebt es, einen zu überraschen, deshalb ruft sie nie vorher an, wenn sie zu Besuch kommt. Auch nicht am heutigen, ganz besonderen Tag, an dem wir eigentlich alle ausschlafen und nicht um acht – also praktisch kurz nach Mitternacht – von ihrem Sturmklingeln geweckt werden wollten. Aber so ist sie nun mal: sie kommt, klingelt und versprüht am frühen Morgen eine unmögliche Fröhlichkeit, schafft es damit aber dennoch nicht, meinen Mitbewohnern mehr als müde Blicke, Gähnen und das eine oder andere Hallo Bella zu entlocken, dem Kristin noch ein Weckt mich zwei Stunden vorm Losfahren hinzufügt, um es dann den anderen gleich zu tun und wieder ins Bett zu kriechen.

Für mich ist dagegen Schluss mit lustig, vorbei das Träumen von heißen Dates mit Kim, kein Einmummeln in die kuschelig weiche Decke mehr – mein Leben, ein Drama! Dementsprechend freundlich fällt mein Willkommensgruß aus: „Was gibt’s?“

„Du hast ein Problem, ich habe die Lösung“, sagt Bella selbstbewusst, setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl und dreht sich im Kreis.

„Was für ein Problem, was für eine Lösung?“, hake ich nach.

„Denk nach“, meint sie schlicht.

Wieso auch nicht? „Deine Lösung für mein Problem, das ich nicht einmal kenne, ist, dass ich nachdenke?“

„Genial, oder? Wie kommt's eigentlich, dass hier um diese Uhrzeit alle noch schlafen? Ich weiß, dass deine erste Vorlesung freitags erst um zehn anfängt, aber die anderen?“

„Kollektives Schwänzen“, antworte ich, was sie mir aber nicht glaubt, so dass ich ihr von unserer letzten Nacht erzähle. Denn während Bastian schon kurz nach zehn völlig cool ins Lala-Land abdriftete, waren wir anderen so aufgeregt wegen der Premiere heute Abend, dass wir unsere Versuche, seinem Beispiel zu folgen, gegen elf aufgaben, uns im Gemeinschaftsraum versammelten und uns bis nach drei von irgendwelchen Serien berieseln ließen.

„Dann ist es ja kein Wunder, dass ihr alle nur so vor Energie strotzt! Obwohl, nach dem, was ich bisher über Ole gehört habe, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass er aufgeregt gewesen sein soll.“

„War er auch nicht“, stimme ich zu. „Er hatte Schmerzen – hat sich aber geweigert, was dagegen zu nehmen. Und wieder ins Krankenhaus will er auch nicht.“

„Seine Sache“, winkt Bella gleichgültig ab. „Ich bin nicht wegen Ole hergekommen.“

„Sondern meinetwegen – ich weiß.“ Die Frage ist nur: Was genau hat sie hierher geführt? Sicher nicht die Sehnsucht nach mir. „Bella, ist etwas passiert? Du und Kevin ... ?“

„Nein, wo denkst du hin! Zwischen uns läuft's besser denn je.“ Mag sie das vielleicht noch weiter ausführen? „Wir haben uns über unser Intimleben unterhalten. Und – wie soll ich das ausdrücken? Ich hatte letzte Nacht den besten Sex meines Lebens.“

Das ist mal ein Ereignis, denn die Gute hat kein Problem damit, ihre Nase in die Angelegenheiten anderer zu stecken, wenn es aber um ihr eigenes Leben geht, dann bringt sie oft kein Piep raus.

„Mit Kevin? Den besten?“, vergewissere ich mich.

„Ja, mit Kevin. Und auch auf die Gefahr hin, dich damit zu kränken: Ja, bei weitem den besten.“

Kein Wunder, dass sie so gut gelaunt ist!

„Keine Angst, ich freue mich sogar für dich. Ich bin keineswegs gekränkt, höchstens ein bisschen neidisch.“

„Verstehe ich. Auch wenn ich das ziemlich frech finde, es aus dritter Hand erfahren zu müssen.“ Auf meinen fragenden Gesichtsausdruck hin entgegnet sie: „Kim, wenn ich mich richtig erinnere. Emma hat es mir erzählt.“

Woher meine Schwester davon weiß, kann ich mir vorstellen. Nur, seit wann telefonieren sie und Lucas miteinander? Früher haben sie das nie getan – allerdings war er damals auch fast jeden Tag bei uns zu Hause. Trotzdem ... was erzählen sie sich denn sonst noch so? Ich muss unbedingt mal wieder mit ihm unter vier Augen reden, in letzter Zeit habe ich unsere Freundschaft vielleicht zu sehr schleifen lassen, für mehr als kurze Wortwechsel hatten wir selten Zeit.

„Was genau hat sie dir erzählt?“

„Dass du in Kim verliebt bist, dich aber nicht traust, es ihm zu sagen.“

Da muss meine Schwester etwas missverstanden haben. „Mein Problem besteht mehr darin, dass ich mich wieder einmal in jemanden verliebt habe, der meine Gefühle nicht erwidert. Wir sind ... Freunde. Wir haben in den letzten Tagen sehr viel Zeit zusammen verbracht ... als Freunde.“

Nicht nur in der Lerngruppe, in der meine Augen immer wieder zu ihm wanderten und mein Mund sich zu einem Lächeln verzog, sobald sie auf seine trafen – ein Lächeln, das er erwiderte –, sondern auch außerhalb. Wir erledigten zusammen die Weihnachtseinkäufe, ich half ihm beim Lernen seines Textes und fand so heraus, dass er nicht irgendeine, sondern die Hauptrolle in Bastians Stück spielt, begleitete ihn abends zu den Proben und bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der er sich auf der Bühne bewegte, als sei sie sein zweites Zuhause.

„Aber nie auch nur eine Andeutung, dass er für mich mehr empfinden könnte. Vielleicht sogar ein Kuss. Nachts träume ich immer davon, weißt du?“

Meiner Ansicht nach ergab sich die erste Gelegenheit dafür gleich am nächsten Nachmittag. Ich rief ihn an – wie versprochen – und wir trafen uns – da er Dienst hatte – im Jugendzentrum. Wir quatschten, lernten uns besser kennen, alles lief super. Er lachte nicht einmal über meine Peter Pan-Vergangenheit, stellte mir stattdessen seinen momentanen Helden vor, eine Zeichentrickfigur namens Aang – ein zwölfjähriger Knirps mit der Weisheit zahlreicher Avatare vor ihm, dessen Schicksal – wie sollte es auch anders sein – die Rettung der Welt ist.

Während wir uns die erste Folge der Serie anschauten und Kim seine Lieblingsstellen kommentierte, berührten sich unsere Hände immer wieder und jedes Mal nahm ich mir vor, bei der nächsten Berührung seine Hand zu halten, ihm eine Reaktion abzutrotzen, doch ich zog jedes Mal den Kürzeren gegen das innere Monster namens Feigheit. Erschwerend kam hinzu, dass nach nicht einmal einer Viertelstunde eine Horde Teenager mitten in unsere Zweisamkeit platzte. Es erübrigt sich zu sagen, dass meine Laune dahin war und mit ihr die Hoffnung auf mehr Kim.

Auch die Mädchen und Jungs schienen von der Situation nicht allzu begeistert zu sein, sie entschuldigten sich und wollten sich wieder verdrücken – was mir nur recht gewesen wäre –, doch Kim bestand darauf, dass sie blieben, und stellte mich ihnen vor – als einen Freund! Die Action verlagerte sich in die Küche, denn die Kids waren gekommen, um Kim den üblicherweise langweiligen Sonntagsdienst mit selbstgemachten Plätzchen zu versüßen – die allerdings noch gemacht werden mussten.

Jetzt fragst du dich bestimmt: Wie alt sind denn diese Teenager? Drei, vier, fünf? Aber nein, sie waren tatsächlich Teenager! Fünfzehn, sechzehn, siebzehn, vielleicht auch achtzehn – keine Ahnung! Doch sie waren keine Kleinkinder, die die Vorweihnachtszeit am liebsten damit zubringen, mit Mutti oder Omi Plätzchen zu backen, am besten noch in Form ihrer Patschehändchen. Nein, sie waren Teenager, die am Nachmittag des zweiten Advents nichts Besseres zu tun hatten als – ja, genau! – Plätzchen zu backen!

Der Gedanke zu gehen, beschlich mich ein-, zweimal. Doch was sollte ich Kim sagen, auf Anhieb fiel mir keine Ausrede ein? Also blieb ich notgedrungen und versuchte, das Beste daraus zu machen. Ohne es zu merken, besserte sich mit der Zeit meine Laune wieder. Die im Hintergrund dudelnden Weihnachtslieder sorgten für eine ausgelassene Stimmung und ich ließ mich von der Fröhlichkeit der anderen anstecken. Spätestens als das erste Backblech im Ofen verschwand und ein paar der Jüngeren eine Teig- und Schokosoßenschlacht vom Zaum brachen, hatten sich sämtliche negativen Gefühle verflüchtigt. Ein Klecks Soße landete auf meiner Oberlippe. Kim kam auf mich zu, blieb vor mir stehen und sagte grinsend Komm, ich mach das weg. Kitschig, hätte einer beliebigen Liebeskomödie entspringen können, aber auch total süß. Ich hielt den Atem an – jetzt würde es passieren!

Im Film passiert es, in meinen Träumen sowieso, aber im richtigen Leben ... Fehlanzeige! Wenigstens wischte er die Schokolade mit dem Finger weg, den er dann ableckte, und benutzte nicht eine Serviette oder ein Küchentuch dazu. Resigniert drehte ich mich um, gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie zwölf Augenpaare wegschauten.

„Wahrscheinlich hatten sie am Himmel gerade einen fliegenden Weihnachtsmann entdeckt“, beende ich meinen Bericht, woraufhin Bella mich fragt:

„Und daraus schließt du, dass er kein Interesse an dir hat?“

„Offensichtlich. Ole meint, ich soll die Premiere heute Abend dazu nutzen, Kim mit einem Kuss zu gratulieren und so herauszufinden, wie er zu mir steht.“

„Alles oder nichts – klar, dass Ole dir dazu rät! Er hätte ihn auch gleich beim ersten Treffen flachgelegt! Aber ich bin noch nicht davon überzeugt, dass Kim gar nichts von dir will.“

„Nicht gar nichts“, wende ich ein. „Vorletzte Nacht, auf dem Heimweg von den Proben, meinte Kim, er habe nicht viele Freunde. Unzählige Bekannte, hat er gesagt, aber nur wenige, die ich als Freunde bezeichnen würde. Und später, in meinem Zimmer, habe ich mich gefragt, ob es vielleicht das ist, was er im Moment braucht: einen Freund, keinen Lover.“

„Möglich“, sagt Bella zögernd. „Genauso ist es aber auch möglich, dass er noch etwas Zeit braucht. Dass du dich sofort bis über beide Ohren in ihn verliebt hast, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es ihm ebenso ergangen ist. Sei sein Freund, lass ihm Zeit – euch beiden – und wer weiß, was eines Tages passiert. Nur eines ist wichtig, Markus ...“

„Nichts erzwingen“, deute ich ihre Stille.

„Das auch“, schmunzelt sie, „aber eigentlich dachte ich eher daran, dass du mich öfter anrufen könntest, damit ich nicht über fünf Ecken von dir hören muss.“

„Versprochen. Und jetzt beschreib mir jedes noch so kleine Detail von letzter Nacht ...“


Der heutige Freitagabend gehört Bastian, Kim und all den anderen Mitwirkenden von Das X-Mas Virus – Eine moderne Weihnachtsgeschichte. Während mein Mitbewohner sich hinter der Bühne ein letztes Mal seinen Schauspielern zuwendet, treffen wir im Foyer den einen oder anderen Kommilitonen, kommen ins Gespräch, reden über Nichtigkeiten, schlürfen aus unseren Sektgläsern und lassen Ole nicht aus den Augen, der sich auf seine Krücken stützt und dabei ganz tapfer keine Miene verzieht, obwohl wir alle wissen, dass Schmerzen sein ständiger Begleiter an diesem Abend sein werden. Als es schließlich gongt und sich die Masse der Zuschauer in den Saal begibt, wahren wir etwas Abstand zu ihnen, um Ole nicht dem Gedränge auszusetzen. Auf dem Weg zu unseren Sitzen fällt mir eine ältere Frau auf, die mich anlächelt und mir zunickt, als würden wir uns kennen, jedoch bin ich mir ziemlich sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. In den letzten Minuten vor Beginn der Vorstellung drehe ich mich mehrmals zu ihr um und überlege, ob ich sie nicht doch irgendwoher kenne, kann ihr Gesicht aber partout nicht zuordnen.

Obwohl man gewisse Parallelen zu Dickens' Weihnachtsgeschichte nicht von der Hand weisen kann, ist Bastians Stück doch anders als der berühmte Klassiker. Nicht nur modern, wie es der Titel bereits verrät, sondern zudem eine Komödie, in der ein zerstreuter Professor so sehr in seiner Arbeit vertieft ist, dass Weihnachten völlig an ihm vorbei zu gehen droht, bis ein Computer-Virus seinen Rechner lahm legt und über Tastatur und Maus auf ihn überspringt und ihm fortan seinen Willen aufzwingt, was zu diversen komischen Verstrickungen führt auf dem Weg zu einem gelungenen Heiligabend im Kreise seiner Eltern, Geschwister, Nichten und Neffen.

Der Applaus zum Ende der ersten Hälfte scheint nicht abebben zu wollen, nur langsam stehen die Zuschauer auf und verlassen, sich miteinander über das Stück unterhaltend, den Saal. Durchweg Positives ist zu hören, von erfrischend anders bis endlich mal wieder herzhaft gelacht, und auch Ole, Leah, Jonna, Kristin und Lucas sind begeistert davon und, mit mir zusammen, stolz auf unseren Mitbewohner.

Meine Gedanken, die bereits während des ersten Teils hauptsächlich Kim galten, kreisen wieder um ihn, denn seine äußerst glaubwürdige Darstellung des Professors hat mich, noch mehr als bei den Proben, beeindruckt und, nicht zum ersten Mal, auf die Frage gebracht, was um Himmels Willen er bei uns WiWis zu suchen hat, wo er doch mit seinen Kids und der Schauspielerei gleich zwei Dinge hat, die sein Innerstes zum Leuchten bringen.

Die zweite Hälfte gönnt unserem Zwerchfell noch seltener eine Pause und endet mit einer Szene, die die nachhaltige Wirkung der vergangenen Ereignisse auf das Leben des Professors aufzeigen soll. In dieser Szene, die sogar manch ergrautem Prof die eine oder andere Träne entlockt, sitzt der Professor mit einem Baby im Arm und einer Frau an seiner Seite vor dem Kamin und liest aus Charles Dickens' Weihnachtsgeschichte vor.

Mit frenetischem Beifall und stehenden Ovationen für Darsteller und Autor/Regisseur endet diese mehr als gelungene Erstaufführung, doch der Abend ist für uns noch längst nicht vorbei. Um diesem Ereignis einen besonderen Glanz zu verleihen, sozusagen das I-Tüpfelchen, hat Ole eine Limousine spendiert, die unseren Star mitsamt Begleitung ein bisschen durch die Gegend und schließlich ins bxd kutschieren soll, wo Bastians Eltern eine After-Show-Party organisiert haben.

An diesem Punkt seile ich mich ab und versichere den anderen, dass ich etwas später zusammen mit Kim dazustoßen werde. Dass er ausgerechnet mich gefragt hat, ihn zur Party zu begleiten, wundert mich immer noch, doch andererseits haben wir in den letzten Tagen so viel Zeit miteinander verbracht, dass es irgendwie logisch erscheint, auch dort zusammen hinzugehen.

Als ich an der Garderobentür klopfe, erwarte ich, ihn von seiner Gruppe umringt zu sehen, doch stattdessen begegne ich der Frau wieder, die mich vorhin so seltsam lächelnd angeguckt hat.

„Komm rein, Markus“, freut sich Kim und springt von seinem Stuhl auf, als er mein Spiegelbild sieht. Er nimmt meinen Arm und deutet mit dem anderen auf seinen Gast. „Darf ich vorstellen? Madame Xiao, meine Tante. Madame Xiao, Markus.“

„Enchantée, mon chéri“, sagt Madame Xiao mit einem Lächeln, das sie scheinbar überallhin begleitet, und streckt mir eine Hand entgegen. Verwirrt blinzle ich mehrmals, schaue Kim an, dann seine Tante. Dann endlich schüttle ich ihr die Hand, woraufhin sie sich, wieder auf Französisch, verabschiedet und uns allein lässt.

Endlich mit Kim allein ... Ich meine natürlich nur, dass ich ihm jetzt sagen kann, wie toll ...

„Du warst unglaublich“, sage ich, bevor mir doch noch was ganz anderes herausrutscht.

„Unglaublich gut oder unglaublich schlecht?“, scherzt er und nimmt die graue Perücke ab, die ihn zusammen mit dem Vollbart und etwas Makeup um zwanzig Jahre hat altern lassen. „Ich muss mich noch abschminken und schnell duschen, dann bin ich so weit – es sei denn, du willst mit einem Mittvierziger auf der Party aufkreuzen.“

„Gute Idee, dann stell ich dich allen als meinen Vater vor“, kontere ich und ernte dafür ein belustigtes Lachen und ein Kopfschütteln.

„Es ist phänomenal“, schwärmt er, als er sich vor den alten, hell erleuchteten Spiegel setzt und Stück für Stück die Schminke aus dem Gesicht, vom Hals und von den Händen entfernt. „Auf der Bühne zu stehen und alle Blicke auf dich zu ziehen, in den Augen des Publikums zu sehen, dass sie dir das, was du zu sein vorgibst, nein, das was du in jenem Moment bist, wirklich abkaufen, das ist ein Gefühl von Macht, ein Super-Booster für dein Selbstvertrauen. Man glaubt immer, dass Selbstvertrauen die wichtigste Komponente, eine unabdingbare Voraussetzung ist, um auf der Bühne zu stehen, aber so ist das nicht. Dich da hinzustellen ist leicht, schwer ist allein die Zeit, bis du merkst, ob die Zuschauer dir glauben oder nicht. Tun sie's nicht, hast du verloren, Pech! Aber wenn sie deine Maske als Wirklichkeit akzeptieren, bist du für zwei Stunden der König der Welt! Und diese zwei Stunden kann dir keiner je wieder nehmen ...“

Das ist es, wofür er die letzte Woche, die letzten Wochen, gearbeitet hat: Die Liebe des Publikums. Und die hat er bekommen, meine inklusive. Wenn überhaupt jemals, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um mich zu ihm hinunter zu beugen und seine Lippen zu spüren, meine Sehnsucht zu stillen; es nicht zu tun ist eine Qual. Ich schließe die Augen und stelle mir nichts vor. Das Nichts. Unendliche Weiten. Unendliche Schwärze. Unendliche Stille, die mein Verlangen umschließt und zum Schweigen bringt.

Als ich meine Augen wieder öffne, ist Kim weg und aus dem Raum nebenan dringen Wassergeräusche in meine Ohren. Ich versuche nicht daran zu denken, dass er nur eine Tür weiter splitterfasernackt unter der Dusche steht, mache es mir in seinem Drehstuhl bequem und sehe mich ein wenig um. Als erstes fällt mein Blick auf den Spiegel. Ohne darüber nachzudenken, setze ich mir die Perücke auf, die die Büste vor mir ziert und schaue hinein, sehe mich selbst, sehe wie ich eines Tages vielleicht aussehen werde, und ich muss gestehen, dass mir durchaus gefällt, was mir aus dem Spiegel entgegenguckt. Die Haare könnten etwas kürzer sein, das Grau aber passt gut zu meinem schmalen, länglichen Gesicht.

Meine Augen wandern weiter zu einem Poster, das an der Tür klebt und von dem eine Gruppe selbstgefällig, spöttisch und herausfordernd dreinblickender Schuljungs aus ihren Uniformen in die Welt hinausschauen, als würde jeder von ihnen ihr sagen wollen: Du gehörst mir! Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass das Poster eine Theaterproduktion mit dem Titel The History Boys ankündigt, das am Broadway aufgeführt werden soll. Ein Stück weiter, auf einen kleinen, hohen Glastisch, hat Kim die Vase mit den Blumen gestellt, die ich ihm mitgebracht habe. Und daneben steht nun, von einer Dampfwolke umgeben, ein Gott vor mir. Von der Taille abwärts ist er in ein Handtuch gehüllt, doch sein nackter Oberkörper droht mein Versprechen bezüglich Oles Vorschlag in Vergessenheit geraten zu lassen. Wäre ich ein gläubiger Mensch, fiele ich auf die Knie und so lange Und führe mich nicht in Versuchung vor mir herbeten, bis jemand mein Ersuchen erhören würde. Da ich aber nicht daran glaube, muss ich mich selbst zwingen mich zusammenzureißen.

Drei Schritte später steht Kim vor mir, geht in die Hocke, fixiert meinen Blick. Sein Gesicht nähert sich, er schließt seine Augen und ich die meinen. Ich spüre seine Hand an meiner Wange, eine zärtliche Berührung; sein Atem kommt näher, unsere Nasenspitzen gleiten aneinander vorbei, sein Daumen streichelt sanft meine Haut, seine weichen Lippen finden schließlich meine. Für einen kurzen Augenblick, in dem mein Atem stockt und meine Gefühle explodieren, bin ich der glücklichste Mensch auf Erden.

Ich atme aus, sehe ihn an; er hockt immer noch vor mir, seine Hand ruht immer noch auf meiner Wange, als ich ihn flüsternd bitte: „Sag mir, dass ich nicht fantasiere.“

Seine Antwort ist ein zweiter Kuss, genauso zart, nur länger. Der erste hätte ein Unfall sein können, der zweite ... nein, ganz sicher nicht.

„Wieso heute?“

Ohne mich aus den Augen zu lassen, steht er auf und zieht sich einen Stuhl heran, nimmt meine Hand in seine. „Ich wollte, dass du dir sicher bist. Dass du die Gelegenheit bekommst, mich kennen zu lernen, meinen Alltag mitzuerleben, damit du weißt, worauf du dich einlässt.“

„Die Kids“, schließe ich aus seinen Worten.

„Die Kids, das Theater. Beide sind wichtige Teile meines Lebens, aber ja, vor allem die Kids. Was du Sonntag gemacht hast, da wusste ich, ich habe gehofft, dass du ... hört sich sicher blöd an, aber ... dass du der Richtige bist. Dass du mich nicht wie mein Ex – und mein Ex davor – deswegen verlassen wirst, nicht gleich weglaufen wirst, weil ich mitten in der Nacht, oder bei anderen Aktivitäten, verschwinde.“

Soll ich es ihm sagen? Dass ich doch wie sie bin? Die Wahrheit?

„Ich stand kurz davor ...“

Er lacht. „Ich weiß, das konnte ich dir ansehen. Aber du hast es nicht getan und das ist es, was für mich zählt. Letzten Endes hattest du Spaß, mochtest sie vielleicht sogar, und sie mochten dich. Ich stehe so oft kurz davor, einen Anruf wegzudrücken, spiele mit dem Gedanken, um drei Uhr nachts einfach weiter zu schlafen, aber ich bringe es nicht übers Herz. Was du beinahe getan hast, interessiert keinen. Was du tatsächlich tust, darauf kommt es an. So wie das hier“, sagt er und küsst mich wieder. „Es sollte was Besonderes werden, deswegen heute. Was ist?“

„Was meinst du?“

„Du siehst mich an, als würdest du etwas sagen wollen, wärst dir aber nicht sicher, ob du es tun sollst.“

„Vielleicht solltest du dir was anziehen“, sprudelt es aus mir heraus.

„Ich soll ...?“, lacht er. „Das wolltest du mir sagen?“

Natürlich nicht. „Nein ... nein ... Ich wollte sagen ... Du und ich ... Du und ich?“

Er nickt. „Ja! Ja, wenn du es auch möchtest. Wir beide.“

„Und die Kids.“

„Und die ...“, bestätigt er. „Natürlich. Wenn ...“

Ich nicke. Und lache. Und grinse. Und ... ist das eine Träne? Wo kommt denn die auf einmal her?


Am liebsten würde ich ihm vorschlagen, die Party zu vergessen und den Rest des Abends und die Nacht zu zweit zu verbringen, aber zu einer ordentlichen Premiere gehört auch eine Feier, erst recht wenn man die Hauptrolle spielt. Also zieht Kim sich schnell an und zwanzig Minuten später winkt uns Vinnie durch, entgegen aller Proteste einiger Männer, die die Bedeutung einer geschlossenen Gesellschaft nicht verstehen wollen.

Als wir den Tanzsaal betreten, drehen sich alle zu uns um und rufen im Chor Kims Namen oder klatschen in die Hände. Wenig später lässt sich Bastian zu einer Rede hinreißen, in der er sich bei seinem Ensemble für die gute Arbeit bedankt und ihnen und sich selbst auch für die nächsten Vorstellungen ein weiterhin begeistertes Publikum wünscht. Mit gerötetem Gesicht setzt sich Basti zu uns und grinst anerkennend, als er bemerkt, dass Kims Hand meine festhält. Ole runzelt die Stirn und wirft mir einen Blick zu, den ich als Wie jetzt? interpretiere, Jonna gibt ein Und du hast dir gleich den Hauptdarsteller geschnappt, wie? von sich und erntet dafür einen Knuff in die Seite von Kristin, die eigens dafür ihr konspiratives Gespräch mit Lucas unterbricht, was ihm wiederum die Chance bietet, sich Kim zuzuwenden und ein bisschen Smalltalk zu betreiben. Einzig Leahs Reaktion fehlt noch, doch die sitzt, wie mir jetzt erst auffällt, gar nicht mit uns am Tisch.

„Auf der Tanzfläche“, erfahre ich von Basti, „wo sonst?“

„Gute Idee“, lächelt mich Kim von der Seite an. „Hast du Lust?“

Mit ihm? Aber immer doch! Kaum haben wir die Tanzfläche erreicht und uns dem schnellen Rhythmus der Musik angepasst, endet der Song. Als wüsste er genau, dass als nächstes eine Ballade gespielt wird, legt Kim seine Arme um meine Taille, während aus den Lautsprechern die ersten Töne eines Klassikers zu hören sind: You are so beautiful ... Dieses Mal ergreife ich die Initiative und küsse ihn.

Gegen Morgen, nach stundenlangem Tanzen (auch mit den anderen, nicht nur mit Kim), Essen, Trinken und Unterhalten, wobei mich mehr und mehr das Gefühl beschleicht, dass bei Lucas und Kristin irgendwas im Busch ist, haben sich, bis auf unsere Gruppe, alle verdrückt. Müde sieht mich Kim, der die ganze Nacht von keinem einzigen Anruf gestört wurde (ja, sein Handy ist eingeschaltet, ich habe extra nachgefragt) an und erkundigt sich, ob ich ihn begleiten möchte. Wer jetzt noch auf eine Runde heißen Sex hofft, der kann lange warten, denn, bei ihm angekommen, ziehen wir uns bloß die Stiefel und die Jacken aus und kuscheln uns, so angezogen wie wir sind, unter der Decke aneinander. Ein Gute-Nacht-Kuss noch und weg sind wir.

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