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Irrwege

Teil 5 - Neuanfang

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Der November liegt schon ein paar Tage zurück und ich habe somit meine ersten beiden Monate an der Uni hinter mich gebracht. Das Studium selbst verläuft so, wie Noah es vorhergesagt hat: ein bisschen Arbeit investieren und dann geht es wie von selbst. Wir treffen uns jeden Montag, Mittwoch und Freitag nach den Vorlesungen, helfen uns gegenseitig bei den Hausaufgaben, diskutieren offene Fragen, reden über dies und das - alles in einer lockeren Atmosphäre. Freitagabends gehen wir nach getaner Arbeit meist noch etwas trinken und dann jeder seines Weges.

Zugegeben, anfangs stand ich der Lerngruppe sehr skeptisch gegenüber; die Aussicht, meine Nachmittage mit Leuten verbringen zu müssen, die ich nicht kenne, fand ich ziemlich deprimierend. Vielleicht habe ich es Noah zu verdanken, oder ich hatte einfach Glück, dass sie mich so herzlich aufgenommen haben und ich es geschafft habe, mich so schnell zu integrieren. Mittlerweile kann ich es mir gar nicht mehr vorstellen, ohne Olivia, Paul und die anderen zu lernen; mir ist klar geworden, dass eine Gruppe einen entscheidenden Vorteil hat: Man motiviert sich gegenseitig und treibt einander zu Höchstleistungen an; und manchmal kommen da Ideen zustande, auf die keiner von allein gekommen wäre.

Zudem hat das regelmäßige Lernen den Vorteil, dass ich die Wochenenden für gewöhnlich frei habe. Zunächst befürchtete ich, ich würde die zwei Tage entweder verschlafen oder damit zubringen, über Lucas nachzudenken. Doch dazu kam es nie, da griff meine "neue Familie" rechtzeitig ein. Wie ich noch am darauf folgenden Tag herausfand, teile ich mir die WG mit drei Mädels (Jonna, Kristin und Leah) und zwei Jungs (Bastian und Ole).

Jonna und Leah sind diejenigen, die sich am Tag X bei meinem Anblick in Luft aufgelöst haben. In Wirklichkeit sind sie zwei Plappermäuler, die in dem Moment einfach nur etwas schockiert waren. Kristin hingegen ist eher zurückhaltend, wenn sie aber mal aus sich herausgeht, dann steckt sie mit ihrem Lachen noch den traurigsten Clown an.

Die Jungs könnten unterschiedlicher nicht sein: Bastian ist ein schlaksiger Großer, mit einer runden Brille auf der Nase, weshalb er von uns anderen manchmal als Potter geneckt wird; Ole ist etwas kleiner, gut gebaut und sehr eitel – so eitel, dass er das Badezimmer vor einem Date genauso lang in Beschlag nimmt wie wir anderen zusammengenommen. Er ist auch weniger der Typ, der an Wochenenden vor vierzehn Uhr aufsteht, aber an jenem Sonntag war er es, der kurz nach neun bei mir anklopfte und fragte, ob ich mit ihm und den anderen frühstücken wolle.

Während des Frühstücks dann wurde ich von allen mit Fragen bombardiert, gleichzeitig waren sie aber auch bereit, von sich zu erzählen: dass sie schon ein Semester lang zusammen wohnen, dass sie gern mal abends gemeinsam ausgehen und an den Wochenenden zusammen kochen, dass sie alle Außenseiter sind, die sich gefunden und so etwas wie eine lebenslange Freundschaft geschlossen haben. Letzteres gab mir das Gefühl, das fünfte Rad am Wagen zu sein, doch dann sagten sie noch, dass sie es schön fänden, wenn ich dazugehören wollte.

"Und übrigens, keinen stört's, dass du auf Kerle stehst," schloss Ole und fügte zwinkernd hinzu: "Wir alle haben hier so unsere Erfahrungen gemacht."

Wie er darauf gekommen war, erfuhr ich einige Tage später, als Jonna und ich auf der Couch im Wohnzimmer Johnny Depp alias Captain Jack Sparrow anschmachteten: "Es gibt kein Geheimnis, das vor Ole sicher ist," sagte sie, als ob das alles erklären würde, und dann: "Hetero-Jungs sehen sich keine Fotos von fremden Typen auf dem PC an."

Natürlich nicht. Als er bei mir angeklopft hatte, war ich gerade dabei gewesen, auch auf meinem Laptop die Lucas-Artefakte zu beseitigen und bei einem der Bilder hängengeblieben, das ihn neben der Peter-Pan-Figur in den Kensington Gardens zeigte. Ich brachte es schließlich nicht übers Herz, alles zu löschen, sondern verschob die Dateien in einen speziellen Ordner, den ich dann versteckte.

"Danke, dass du nicht weiter fragst," sagte ich Jonna.

"Wenn ich Johnny hab, interessieren mich keine anderen Männer," grinste sie und deutete mit einem Finger auf den Lippen auf den Bildschirm.

Ich weiß, all dies hört sich so an, als wäre ich ein vollkommen neuer Mensch geworden in den letzten vier, fünf Wochen. Als hätte ich mit meiner Vergangenheit abgeschlossen, meine Eltern und Schwester aus meinem Leben radiert, aber dem ist nicht so. Zu sagen, dass ich eine gespaltene Persönlichkeit habe, wäre zu viel des Guten (abgesehen davon, dass ich die genaue Definition dieses psychologischen Fachbegriffes nicht kenne), doch fest steht, dass ich emotional oft zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her pendele.

Meistens schaffe ich es, dank Noah und all den anderen, im Jetzt zu leben, mich aufs Lernen und Spaß haben zu konzentrieren, wobei meine Vorstellung von Spaß sich radikal geändert hat. Hatte ich früher alles, was ich mit Lucas unternommen hatte, mit Spaß gleichgesetzt, so war es doch immer nur seine Anwesenheit, die zu diesem Gefühl geführt hatte – oder zumindest in der Intensität, in der ich es empfunden hatte. Heute empfinde nicht mehr so stark, dafür aber länger und deutlich öfter. Und das Beste: es ist nicht von einem einzelnen Menschen abhängig.

"Das klingt ganz so, als ob ... Du bist ein Idiot!" Von wem könnten diese schmeichelhaften Worte sonst kommen als von Bella? Nachdem sie mich die ganze Zeit nicht unterbrochen hat, steht sie jetzt verärgert auf und gestikuliert wild mit den Händen.

"Höre ich in letzter Zeit ziemlich oft von dir!"

"Weil du ... weil du ... du bist nun mal einer. Alles, was du mir eben erzählt hast, jedes einzelne Wort, das bist nicht du!"

"Nein, das ist die Dunkle Seite", versuche ich mich an einer Darth-Vader-Imitation.

"Das glaub ich dir aufs Wort!" Oh, sie meint es ernst. "So sehr du dich auch bemühst, Markus, du kannst mir nicht weismachen, dass du nicht mehr an Lucas denkst, oder dass dich der Gedanke an ihn kalt lässt."

"Aber ist das nicht besser, als ihm ein Leben lang nachzutrauern? Dem nachzutrauern, was nie da war?"

"Nein," sagt sie resigniert und setzt sich wieder aufs Bett. "Es ist nicht besser. Weil du dich selbst belügst."

Ich schüttle den Kopf. "Du meinst, ich rede mir alles nur ein. Dass er ein ... Ich weiß noch nicht mal, was er ist; ich weiß nur, dass er nicht mein Freund war."

Bella ist jetzt an der Reihe, den Kopf zu schütteln. "Glaubst du das wirklich?"

"Fragst du mich das wirklich? Nach allem, was du eben gehört hast?"

Sie nickt gedankenverloren. "Ich kenne dich, Markus. Er kennt dich. Er kennt dich und er liebt dich."

Natürlich! Wie konnte ich nur so blind sein? "Klar!"

"Du bist jemand, der sich gern selbst bestraft."

"Oh ja, ich steh drauf! Jeden Abend fünfzig Peitschenhiebe und morgens hundert – ohne kann man mich in die Tonne treten. Wer redet jetzt Müll?"

"Du, Markus. Keine Peitschenhiebe, sondern Gedanken und Gefühle. Sie können genauso schmerzen, oder sogar noch mehr. Aus irgendeinem Grund, den wahrscheinlich nicht einmal der beste Psychiater rausfinden würde, bist du der Meinung, dass du es nicht wert bist, geliebt zu werden, dich also auch niemand liebt."

"Bull..."

"Unterbrich mich nicht! Das ist kein Bullshit. Niemand. Außer deiner Familie. Aber das stimmt nicht. Ich habe dich geliebt, Markus. Und, wer weiß, wenn du für mich das Gleiche empfunden hättest ... Und Lucas liebt dich auch – er liebt dich über alles. Aber dir passt es besser in den Kram, wenn ..."

"Meinst du das ernst?"

"Ja, Lucas würde dir die Welt zu Füßen legen. Er hat dich nicht betrogen, du hast ..."

"Nein, ich meine ...", sie hat es mir nie gesagt, mit keinem Wort, "... das über uns."

"Lenk jetzt nicht ab!"

Klar, dass ich wieder Schuld bin. "Ich lenke nicht ab, du hast es selbst gesagt. Jetzt, nach all den Jahren."

Sie zuckt mit der Schulter, als ob egal wäre. Aber das ist es nicht - nicht, wenn es stimmt.

"Bella, in der Zeit, in der wir zusammen waren, bist du nie über ein Ich hab dich gern hinausgegangen."

Sie weicht mir aus, als sie sich etwas aus den Augen wischt. Eine Träne, der ein paar mehr folgen.

"Wie hätte ich denn was anderes sagen können? Ich wusste, dass dir niemand je so viel bedeuten wird wie Lucas, wozu es dann aussprechen, wo mir doch offensichtlich war, dass du es nie erwidern würdest."

"Aber ..." Wenn sie es wusste, oder meinte, es zu wissen, wieso hatte sie sich dann überhaupt darauf eingelassen?

"Immer auf der Suche nach Gründen, hm? Weil ich verliebt war, und wenn man verliebt ist, dann ist man blind für alles andere. Dann schrumpft die Welt um einen herum und man nimmt nur Schmetterlinge und Sonnenschein wahr. Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus, denn während meine Welt sich um dich drehte, drehte sich deine um Lucas – und für mich war nur am Rande Platz."

Es lag also wirklich an Lucas, oder vielmehr an meiner Besessenheit von ihm, dass unsere Beziehung in die Brüche gegangen war. Bella hatte Recht gehabt. Geistesabwesend streichle ich ihr über die langen Haare, doch als ich sie an meine Brust drücken will, stößt sie mich weg.

"Nicht, Markus, ich brauche dein Mitleid nicht. Ich bin jetzt glücklich mit Kevin; ich möchte nur, dass dir klar wird, dass du einen Fehler machst."

"Ich habe einen Fehler gemacht," gebe ich zu. "Ich wünschte, ich könnte ihn rückgängig machen."

"Man kann keine Gefühle erzwingen, also hast du auch keinen Fehler gemacht. Nicht damals. Aber du bist jetzt gerade dabei, den größten Fehler deines Lebens zu machen, und das werde ich nicht zulassen."

"Nein, das ist kein Fehler, ganz sicher nicht." Doch so sicher, wie ich klingen möchte, bin ich mir nicht.

"Du hast Lucas in dein Herz gelassen, und jetzt stößt du ihn wieder von dir weg. Du stößt jeden von dir weg, Markus."

Das stimmt doch nicht! Sieht sie denn nicht, dass ich mich geändert habe? "Nicht mehr. Ich habe neue Freunde, so viele wie in meinem ganzen Leben nicht."

"Ja, die hast du. Aber es sind oberflächliche Freundschaften. Sie halten ein paar Monate, vielleicht ein, zwei Jahre. Nicht die Art, die ein Leben lang hält."

"Ist das wichtig? Carpe diem."

Sie schüttelt ungläubig den Kopf. "Das von dir? Lebe den Tag, scheiß auf echte Freundschaft?!"

Gibt sie denn nie auf? Kapiert sie denn nicht, dass er mich nur benutzt hat, um sein Gewissen zu beruhigen? "Sie war nicht echt," flüstere ich so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie mich gehört hat. Ich setze mich zu ihr und sie nimmt meine Hand in ihre.

"Das glaube ich nicht, Markus. Eine Freundschaft, wie ihr sie habt ..."

"Hatten. Oder nicht."

"Wie ihr sie habt, Markus! Er ist immer noch dein bester Freund, du willst es nur nicht wahrhaben. Eine solche Freundschaft kann man nicht vortäuschen, schon gar nicht dreizehn Jahre lang."

"Stimmt schon, das ist 'ne lange Zeit, aber das ändert nichts an den Tatsachen, "gebe ich ihr zu bedenken.

"Die du dir selbst zurecht gelegt hast!"

"Ich hab ... Alles, was ich dir gesagt habe, ist so passiert!"

"Die einzige Frage ist, ob alles wahr ist, was Jesse dir erzählt hat."

"Sicher ist das wahr!" Warum versteht sie nicht, dass Jesses Worte keinen Raum für Interpretationen lassen. Es gibt nur eine Möglichkeit: Lucas ist ein ... – nie mein Freund gewesen!

"Wie kannst du dir da so sicher sein? Du hast Lucas keine Chance gegeben, dir alles zu erklären."

"Es gibt nichts zu erklären. Alles, was gesagt werden musste, wurde gesagt. Jesse hat die Drecksarbeit für ihn übernommen."

"Und du glaubst ihr?" Ihre Hand berührt meine Wange, als ich langsam nicke. "Dann irre ich mich und du liebst ihn nicht; dann hast du ihn nie wirklich geliebt."

Damit steht sie auf, sieht mich nachdenklich an, schnappt sich ihren Rucksack und geht. Die Tür bleibt hinter ihr offen und ein paar Minuten lang hoffe ich, dass sie zurückkehrt.

Stattdessen kommt Ole mit einem breiten Grinsen rein.

"Hallo, mein Name ist Markus und meine beste Freundin hat mir gerade den Hintern versohlt. Leider nicht wörtlich, wäre bestimmt was für YouTube geworden."

"Was willst du, Ole?"

"Heiß, die Kleine!"

Noch einer, der auf Spielchen steht. Wieso können mich nicht alle einfach nur in Ruhe lassen? "Geh, Ole! Ich will allein sein!" Er macht keine Anstalten das Zimmer zu verlassen.

"Verschwinde", versuche ich es mit mehr Nachdruck, doch das Einzige, was ich erreiche, ist, dass sein Grinsen breiter wird.

"Sonst was?," fragt er herausfordernd, was mir nur Recht ist. Ich fange an, an seinem Spiel Gefallen zu finden.

"Sonst setzt es was!" Woher das kommt, kann ich nicht sagen. Ich habe mich in meinem ganzen Leben nicht einmal geprügelt, aber ich spüre, dass ich die Worte so meine.

Er kommt auf mich zu, bleibt wenige Schritte vor mir stehen. "Ooh, jetzt habe ich aber Angst!" Sein lautes, hämisches Lachen erfüllt das Zimmer; der Typ fängt an, mir richtig auf den Geist zu gehen.

"Solltest du", kommt es aus mir heraus, während meine Arme nach vorn schießen und meine Hände ihn an seinem Hemdkragen packen.

"Du willst spielen", lacht er nur und drückt mich nach hinten, bis mein Kopf gegen die Wand stößt.

"Ich hab jetzt keine Lust auf deine Scherze, Ole. Lass mich los und verzieh dich, okay?"

Er tut für einen Moment so, als würde er darüber nachdenken, dann erhöht er den Druck auf meine Schultern und presst seine Lippen hart auf meinen Mund. Ich fühle ein elektrisierendes Schaudern durch meinen Körper jagen und die Anspannung in mir mit jeder verstreichenden Sekunde nachlassen und als seine Zunge sich durch meine geschlossenen Lippen kämpft, geben sie nach und meine eigene stimmt mit ein in einen intimen Tanz, der mich für eine Weile dorthin entführt, wo es keine Probleme und keine negativen Gefühle gibt.

Keinen Augenblick lang kommt es mir in den Sinn, mich zu wehren, Ole zu sagen, dass es falsch ist und ich es nicht tun möchte, denn es ist genau das, was ich brauche. Zu lange ist es schon her, dass ich jemanden geküsst habe, jemandem körperlich so nah war – gefühlsmäßig eine Ewigkeit. Ich giere nach Nähe, hungere nach Hautkontakt, suche die Ablenkung, reiße ihm und mir selbst die Kleidung vom Leib, steigere mich in ein Verlangen hinein, das ich so intensiv noch nie gespürt habe.

Völlig verschwitzt liegen wir nebeneinander, während sich unsere Atmung allmählich normalisiert, was bei Ole deutlich schneller passiert als bei mir - kein Wunder bei all der Erfahrung, die ihm nachgesagt wird. Angeblich soll er in den vier Semestern, die er schon den Campus unsicher macht, mit mehr Leuten geschlafen haben, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Manche glauben, dass die Anzahl seiner One-Night-Stands sogar für zehn oder zwanzig Leben reichen würde. Die Wahrheit - und den Grund dafür - kennen wohl nur Gott und Ole selbst.

"Und? Geht's dir besser?" Er hat sich zu mir gedreht und sieht mich fürsorglich an.

"Besser? Ich fühl' mich großartig!"

"Du weißt, dass es eine einmalige Sache war", sagt er, als ob ich mehr erwarten würde. Und vielleicht tue ich es, ich hatte noch nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Will ich mehr? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der das nicht gern wiederholen würde. Die blauen Augen, die dunkelblonden, schulterlangen Haare, die makellose Haut und die gazellenhaften Bewegungen, die perfekte Mischung aus animalischer Lust und gefühlvoller Zärtlichkeit. Ja, ich will definitiv mehr.

"Ja." Ich drehe mich zu ihm und lasse meine Fingerspitzen über seine Haut gleiten, spüre sein Zittern, seine erneute Erregung; sehe sie in seinen Augen. "Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du schön bist?"

Überrascht reißt er die Augen auf und lacht in sich hinein. "Nein, noch nie. Niemand. Niemand außer dir ... und mir."

"Dir? Du selbst sagst dir, dass du schön bist?"

Seine Antwort folgt einem kurzen Nicken. "Jeden Morgen vor dem Spiegel. Was glaubst du, weshalb ich so lange im Bad brauche?"

Logisch. "Niemand sonst?"

"Einem Mann sagt man nicht, dass er schön ist", antwortet er mit einem Kopfschütteln. "Das macht ihn ... unmännlich."

"Ist das der Grund, weshalb du ...?"

"Deine Freundin hatte Recht, du brauchst immer und für alles einen Grund."

Weicht er bewusst einer Antwort aus? "Also ja."

Er dreht sich weg von mir, entzieht sich meinen Fingerspitzen und meinem Blick. "Nein." Dann steht er auf, wirft mir einen verletzten Blick zu und sagt im Gehen: "Ich geh jetzt duschen."

Der Wurm muss ziemlich tief stecken, wenn er auf eine simple Frage so abweisend reagiert. Ich laufe ihm hinterher, halte mich gar nicht erst mit Klopfen auf. Der Spiegel ist bereits beschlagen, ebenso die Wände der Duschkabine, dahinter ist sein Körper als schemenhafte Figur zu erkennen. Ich öffne die Kabinentür und schließe sie hinter mir; er steht mit dem Rücken zu mir, denkt nicht mal daran, sich umzudrehen.

"Soll ich dir den Rücken einseifen?," frage ich und lege ihm die Hand auf die rote, nasse Haut, von der heißer Dampf aufsteigt.

"Nein", sagt er mit gebrochener Stimme. "Verschwinde einfach nur."

Die Verletzlichkeit in seiner Stimme drängt mich dazu, mich beim ihm zu entschuldigen, auch wenn ich mir keiner Schuld bewusst bin. "Es tut mir leid", flüstere ich, um dann seine Schulter mit den Lippen zu berühren und anschließend seiner Bitte nachzukommen.

Die Wassertropfen laufen an mir hinab, als die Badezimmertür hinter mir zufällt und ich in meiner Unachtsamkeit gegen Leah laufe. Sie lauscht einen Moment lang in Richtung Bad, dann grinst sie mich an und fragt: "Ist das Ole da drin?" Noch bevor ich irgendwas erwidern kann, fährt sie in ihrer Begeisterung fort: "Du Teufel! Du musst mir heute Abend alles erzählen." Dann endlich bemerkt sie meinen fehlenden Enthusiasmus: "Er hat dir auch die Ein-Mal-Karte gezeigt, hm? Mach dir nichts draus, irgendwann wirst du drüber wegkommen."

Ich schaffe es nicht, ihr in die Augen zu sehen, als ich ihr gestehe, dass ich, irgendwie, und völlig unabsichtlich, Mist gebaut habe. Sprachlos sieht sie mir hinterher, ich kann ihren Blick sogar durch meine Zimmertür hindurch noch spüren. Ich lasse mich aufs Bett fallen, alles riecht noch nach Ole, ein dezenter, fruchtiger und herber Duft vermischt mit Schweiß und ... Männlichkeit, Ole!

Meine Nase gräbt sich tiefer ins Kissen, mein Körper schreit nach mehr, mein Herz schmerzt, mein Verstand aber bezwingt alle und übernimmt die Kontrolle. Ich stehe auf, stelle mich unter die inzwischen leere Dusche und flüchte Minuten später aus dem Wohnheim in die Unsichtbarkeit der Menge.

An Uni ist definitiv nicht mehr zu denken, ich könnte mich überhaupt nicht konzentrieren, und auch der Blick auf die Uhr sagt mir, dass es sich nicht mehr lohnt. Unser Liebesspiel, wenn ich es so nennen darf, hat den ganzen Vormittag in Anspruch genommen, mittlerweile ist es kurz vor zwei und mein Magen fordert sein Recht ein. Ohne darauf zu achten, wohin sie fährt, setze ich mich in die nächste S-Bahn und fahre ein paar Stationen, in der Hoffnung, dort niemandem über den Weg zu laufen, der mich kennt. Am Hauptbahnhof steige ich aus und kaufe mir einen Döner, stelle mich an einen der leeren Tische, doch trotz des lauten Grummelns im Bauch kriege ich keinen Bissen runter.

Also raus aus dem Bahnhof, hinein in den Trubel der überfüllten Einkaufsstraße. Allzu gern lasse ich mich von der Masse in einen Laden nach dem anderen treiben, lasse meine Augen auf teure Marken ruhen, stöbere durch CD- und DVD-Regale, probiere es mit einem Buch, einer Zeitung, alles vergebliche Versuche, mich abzulenken. Mich davon abzuhalten, über Ole nachzudenken. Doch je mehr ich mich bemühe, desto mehr denke ich an ihn. Immer wieder höre ich seine Stimme, mit der er mir gesagt hat, ich solle verschwinden. Immer wieder sehe ich ihn vor mir, der Rücken mir zugekehrt, der Kopf gesenkt, seine Muskeln angespannt. Und alles nur, weil ich nach einem Grund gesucht habe, um ihn zu verstehen. Wie ich alles versuche zu verstehen, als wäre das der Sinn meines Lebens.

Ein paar Schritte vor mir geht ein Paar, kaum älter als ich, Hand in Hand. Lachend hebt sie ihren Kopf, sieht ihn verliebt an, er lächelt zurück und wischt ihr mit dem Daumen etwas aus dem Gesicht, bleibt an ihren Lippen hängen, küsst sie. Von den Menschen um sie herum ungestört, versinken sie einen Augenblick lang in eine eigene Welt. Das hättest du mit Bella sein können, schießt es mir mit einem Mal durch den Kopf und ich bleibe stehen, betrachte die beiden Liebenden und fühle eine rasende Eifersucht in mir hochsteigen, die ich nur mit Mühe unterdrücken kann.

Zum Glück holt mich das Klingeln des Handys schnell wieder zurück auf den Boden. An der nächsten Ecke dränge ich mich aus der Menge hinaus, verliere dabei schon nach kurzer Zeit die beiden Turteltauben aus den Augen. Ohne nachzusehen, wer mich stört, gehe ich erleichtert ran.

"Ja?"

"Kannst du reden oder sitzt du in einer Vorlesung?", fragt Bella und flüstert so leise, dass ich sie kaum verstehen kann.

"Bin in der Stadt. Warum flüsterst du?"

"Oh, keine Ahnung, ich dachte ich würde dich stören und ... Kann mich ja sowieso niemand hören." Ich kann sie vor mir sehen, wie sie den Kopf über ihre eigene Schusseligkeit schüttelt.

"Bella, alles in Ordnung mit dir?"

"Ja, ja, na sicher...", sagt sie zerstreut und schweigt dann, als wäre ihr jetzt irgendwas eingefallen, was sie vergessen hat.

"Bella!"

"Ich bin noch dran. Hör mal, wegen heute Morgen ..."

Oh, ich hätte mich bei ihr melden sollen, nachdem sie so plötzlich aufgebrochen ist. Nur um mal nachzufragen, ob sie gut heimgekommen ist. Ein toller Freund bin ich!

"Ja, tut mir...", setze ich an, werde jedoch von ihr unterbrochen.

"Ich habe manchmal eine große Klappe, oder eigentlich immer. Viel zu groß. Kevin sagt ständig, irgendwann komme ich deswegen noch in Teufels Küche, aber ... Ich arbeite dran, ich geb mir echt Mühe, nicht zu allem meinen Senf dazu zu geben. Also, was ich sagen will: Ich hätte dich nicht so runterputzen sollen, weil du nicht mit Lucas reden willst. Es ist deine Sache und dein Leben und ich habe kein Recht, mich da einzumischen."

Obwohl sie mich nicht sehen kann, verkneife ich mir ein Lächeln.

"Hast du Kevin angerufen? Und war das dein Versuch einer Entschuldigung?" Eine Entschuldigung von Bella kommt einem Wunder gleich, es hat sie bestimmt eine unglaubliche Überwindung gekostet, das zuzugeben. Ich muss diesen Moment genießen - so lange er anhält.

"Ja. Und ja. Du weißt, ich bin nicht gut darin, aber heute bin ich zu weit ..."

"Bist du nicht", falle ich ihr ins Wort.

"Nicht?"

"Nein. Zugegeben, dass du darauf bestehst, dass ich mich mit Lucas versöhne, nervt etwas, weil ich über ihn jetzt einfach nicht nachdenken will, aber ist es nicht genau das, was echte Freunde von den anderen unterscheidet? Dass man die Dinge auch dann ausspricht, wenn sie dem anderen total gegen den Strich gehen?"

Sie braucht nicht darüber nachzudenken, sie weiß, dass es so ist. "Schätze schon."

"Deshalb muss ich dich jetzt auch was fragen," unterbreche ich die unangenehme Pause, die sich eingeschlichen hat. "Bereust du es manchmal?"

Ihr ist sofort klar, wovon ich rede. "Nein", sagt sie mit einer Überzeugung, die ich mir selbst nicht zutraue. "Es ist gut so, wie es ist. Ich würde die Vergangenheit nicht ändern, und ich glaube, selbst wenn dein Gefühl dir zur Zeit was anderes sagen sollte, du würdest es auch nicht wollen."

Darauf weiß ich nichts zu erwidern, das Alleinsein macht mich wohl zu fertig, um ihr Recht geben zu können. Denn obwohl ich die Freundschaft meiner Mitbewohner schätze, fehlt mir doch die Nähe und menschliche Wärme, die ich früher als selbstverständlich erachtet habe. Ich möchte ihr von meiner kurzen Reise in den Himmel und den darauf folgenden Geschehnissen erzählen, aber etwas hält mich zurück, ein anderes Mal, flüstert meine innere Stimme und ich gehorche.

Der Rest des Nachmittags vergeht wie im Fluge, da ich weiß, dass wenigstens zwischen Bella und mir alles im Lot ist. Zwei CDs, drei DVDs, drei Bücher und ein ausgiebiges Abendessen beim Griechen später, mache ich mich in der hereinbrechenden Dunkelheit auf den Weg nach Hause, wo ich von einem Post-it auf meiner Tür empfangen werde. WG-Konferenz, 18 Uhr, steht da in Kristins unverkennbaren, schönen Handschrift. Die Uhr verrät mir, dass ich genau zur rechten Zeit zurück gekommen bin, und als ich die Tür zum Gemeinschaftsraum öffne, gucken alle zu mir hoch. Alle, bis auf Ole, der ist nirgendwo zu sehen.

"Was liegt an?", erkundige ich mich, als ich die nagende Ungeduld in ihren Augen erkenne.

"Frustshopping?", kommt von Leah die Gegenfrage, nachdem ich mehrere Einkaufstüten neben der Tür abgestellt habe. Ich nicke kurz und setze mich neben Bastian auf den Zweisitzer. Jonna klopft mit einem quietschbunten Quietschhämmerchen auf den Couchtisch und ergreift dann das Wort.

"Ihr wisst, ich liebe es, mit euch zusammen zu sitzen und zu quatschen, und heute gibt es sogar etwas Wichtiges zu … verkünden; anschließend können wir dann zum Üblichen übergehen, Lästern und Johnny," sagt sie und wedelt mit einer DVD-Hülle herum, auf der ein sehr junger Depp zu sehen ist. "Ihr werdet die Serie lieben, das verspreche ich euch. Aber bevor wir damit loslegen, hat uns Markus etwas zu erzählen."

Was soll das, was habe ich denn getan? Was will sie von mir? Ich sehe sie an, vergeblich. Dann wandert mein Blick zu Leah, deren Lippen lautlos Oles Namen formen. Ich muss mich später bei ihr unbedingt dafür bedanken!

"Also gut." Ich suche nach Worten und nach dem, was ich genau sagen will, und entscheide mich dafür, mit ihnen nur den Part zu teilen, der unser alltägliches Miteinander beeinflussen könnte. "Ole und ich sind aneinander geraten. Wir haben uns gestritten und ich trage die Schuld dafür."

"Oh, erspare uns die Mitleidsnummer," winkt Leah gelangweilt ab und fährt fort: "Sie haben es endlich getan," verkündet sie, als wäre es die Neuigkeit des Jahrtausends.

"Leah!"

"Was? Wenn du und Ole Sex habt, interessiert uns das genauso wie der Streit. Nein, stimmt nicht: wesentlich mehr!", betont sie und die anderen beiden fangen an zu kichern, als wären wir alle im Kindergarten.

Hilfesuchend wende ich mich an Bastian, der grinst aber auch von einem Ohr zum anderen. "So ist das, wenn du mit Frauen zusammenlebst", kommt seine Entschuldigung, also versuche ich, das Gespräch von mir abzulenken.

"Was meinst du mit endlich getan? Heißt das, ihr habt gewusst, es würde passieren?"

Alle drei Mädchen nicken ganz eifrig. "Es war nur eine Frage der Zeit", gibt auch Bastian zu. "Obwohl wir schon angefangen haben, Wetten darüber abzuschließen, ob es überhaupt noch passiert, Ole hat sich noch nie so lange Zeit gelassen."

Klingt das nur für mich so, als wäre ich in einem wilden Wer-treibt-es-mit-wem?-Spiel gelandet? "Habt ihr ...? Hat er ...?"

"Klar, ich meine, er schläft mit der Hälfte der Stadt und nicht mit uns?", rechtfertigt sich Kristin. "Ole könnte es nicht aushalten, dazu ist er zu neugierig. Eine einzige Frage treibt ihn an: Was wäre, wenn ...? Die meisten von uns bleiben auf dieser Frage ihr Leben lang sitzen, aber Ole findet es immer heraus. Außerdem musst du zugeben, du wolltest es auch." Das kann ich schlecht abstreiten. Ich wollte es nicht nur, ich würde es auch jederzeit wieder tun wollen. "Irgendwie schafft er es, den richtigen Moment abzupassen, wenn man es braucht – und dann kann man nicht nein sagen."

"Ging mir auch so", kann ich nur bestätigen und die anderen stimmen zu. Einzig unser Potter-Klon hält sich zurück. "War das bei dir anders, Bastian?"

"Ein bisschen", sagt er geheimnisvoll.

"Von wegen! Potter hat gekniffen!", wirft Jonna ihm vor. "Dabei kann man nicht schwuler sein als er."

"Ich habe nicht gekniffen!", protestiert er.

Kristin eilt ihm zur Hilfe: "Bastian ist ein Romantiker, er möchte mit niemandem schlafen, den er nicht liebt; ich finde das sehr bewundernswert. Würden wir alle es so handhaben, würden wir nicht so oft verletzt werden."

Da ist was dran. "Aber manchmal muss man einfach die Gelegenheit beim Schopf packen, sonst verpasst man einiges."

"Es ist doch nur Sex, Markus!", meint Bastian gleichgültig. "Wenn du es mit jemandem machst, der dich mag und den du wirklich magst, dann ist es unendlich viel schöner, als mit einem Fremden. Oder?"

Eben – oder? Woher will er das wissen, wenn er nur die eine Seite kennen lernt. Fairerweise muss ich aber zugeben, dass meine Vergleichsmöglichkeiten auch sehr beschränkt sind, bedenkt man, dass Ole erst der zweite Mensch war, mit dem ich geschlafen habe.

"Er ist kein Fremder, wie lange kennst du Ole schon?", greift Jonna ihn an.

"Leute, jetzt hackt nicht auf Potter rum! Oder wollt ihr ihm jetzt vorschreiben, mit wem er schlafen darf und mit wem nicht?"

"Danke, Markus!", sagt er, und dann in die Runde: "Wir haben immer noch den Streit zwischen Ole und Markus zu klären. Was genau ist passiert?"

Ich gebe unsere karge Unterhaltung Wort für Wort wieder und schon bald sehe ich Zeichen von Verständnis in den Augen meiner Mitbewohner.

"Ah", entfährt es Kristin. "Wir hätten dich vorwarnen sollen."

"Ole ist super darin, die Geheimnisse anderer Leute herauszufinden. Wenn irgendetwas oder -jemand sein Interesse weckt, dann stürzt er sich wie besessen auf die Sache, bis er alles herausgefunden hat, was es herauszufinden gibt. Aber wehe, jemand versucht, etwas über ihn zu erfahren, dann schaltet er auf stur und zeigt ihm die kalte Schulter." Die anderen murmeln ihre Zustimmung.

"Ist alles nicht so wild. Er wird ein paar Tage auf der Hut sein und uns aus dem Weg gehen, aber mit der Zeit wird er wieder der Alte. Achte einfach darauf, nicht zu persönlich zu werden, dann kriegt er sich schnell wieder ein."

Das hört sich leicht an, und doch tut es mir Leid, dass ich diese Spannung in unsere WG gebracht habe.

"Mach dir keinen Kopf drum, das kommt immer wieder mal vor, man kann nicht genau vorhersagen, wann er sich auf den Schlips getreten fühlt. Das gehört zu seinem Wesen, du hast nichts falsch gemacht", beruhigen sie mich.

"Und jetzt Schluss mit Quatschen, jetzt kommt der King", ruft Jonna begeistert und beendet damit offiziell die Runde. Wir alle machen es uns bequem und warten gespannt auf die erste Folge von 21, Jump Street. Eine Sekunde lang wünsche ich mir, Ole würde neben mir sitzen, aber selbst wenn die Stimmung zwischen uns nicht so gereizt wäre, einen Freitagabend verbringt er so gut wie nie zu Hause.

Gut zwei Stunden und drei Episoden später gönnen wir uns eine Pause, strecken uns und stärken uns für die nächste Runde, als das Telefon klingelt. Leah nimmt ab und die Welt hält den Atem an. Ihre Gesichtsfarbe ändert sich von einer Sekunde zur nächsten von fröhlichrot in kreidebleich. "Das war das Krankenhaus, Ole ist auf der Intensiv", sagt sie schließlich.

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