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Irrwege

Teil 6 - Das F-Wort ...

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort:

Sämtliche Rechte, insbesondere, jedoch nicht ausschließlich, die der Veränderung, Vervielfältigung und Verbreitung des vorliegenden Textes in jeglicher Form, liegen beim Autor.

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Der Autor ist per Email unter der Adresse hiStoryboy@marcodonkins.com zu erreichen.

Dieses Werk ist, inklusive der darin vorkommenden Personen, fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Sofern Personen und/oder Organisationen des öffentlichen Lebens erwähnt werden, so geschieht dies nur zu dramaturgischen Zwecken und ist nicht als Aussage über diese Person/Organisation aufzufassen. Ferner wird kein Anspruch auf biographische oder historische Korrektheit erhoben.

Teil 1: Erkenntnisse

Wir entscheiden uns trotz der schlechten Wetterverhältnisse für das Auto, weil um diese Uhrzeit die S-Bahn nur noch alle halbe Stunde fährt und wir zudem noch zweimal umsteigen müssten. Im Nachhinein sollte sich unsere Entscheidung nicht als die beste erweisen, denn es dauert mehr als eine Stunde, bis wir endlich das Krankenhaus finden und auf dem großen, fast leeren Parkplatz davor anhalten. Zeit genug für mich, mir die Schuld für Oles Zustand zu geben, liegt es ja schließlich auf der Hand, dass, was auch immer passiert ist, es nur geschah, weil ich tief genug in sein Privatleben gebohrt habe, um einen wunden Punkt zu erwischen, den keiner von uns näher kennt, der aber für unseren Freund Grund genug gewesen sein muss, eine Dummheit zu begehen.

Irgendwann reicht es Bastian, der neben mir auf der Beifahrerseite sitzt, und er fragt mich, ob es mir Spaß mache, mich selbst zu quälen. Als die Bedeutung seiner Worte langsam in mein Gehirn sickert, wundere ich mich, ob vielleicht wirklich etwas dran ist, denn er ist nicht der Erste, der mich dessen beschuldigt. Die Antwort darauf geht in Leahs und Jonnas Geschnatter unter, die nichts Besseres zu tun haben, als uns die schrecklichsten Szenarien vorzumalen, die Ole zugestoßen sein könnten.

Und so atme ich erleichtert auf, als die gläsernen Eingangstüren mit einem Zischen auseinandergleiten und wir mit großen Schritten die Intensivstation ansteuern, wo wir von einer kleinen, rundlichen Nachtschwester begrüßt werden.

"Bitte hier warten, Polizei kommt gleich", sagt sie mit unverkennbar russischem Akzent und einer Kälte, die so gar nicht zu ihrem Äußeren passt, mich aber für einen Augenblick ins dunkelste Sibirien versetzt, wo ich einem blutüberströmten Ole gegenüberstehe, der mich mit vorwurfsvollen Blitzaugen ansieht.

Der Wind peitscht mir große Schneeflocken ins Gesicht, die, kaum dass sie an meinen schnell abkühlenden Wangen geschmolzen sind, wieder zu Eistränen gefrieren. Der klare, sternenbehangene Himmel leuchtet hoch über uns, das schwache Licht wird von der nicht enden wollenden Schneelandschaft reflektiert. Oles Hass und mein Flehen um Vergebung treffen aufeinander, messen sich, wetteifern darum, wer länger durchhält, minuten-, stundenlang, während sich sein Gesicht zu einer monströsen Fratze verzieht, bereit, auf mich loszugehen. Er kommt zwei Schritte näher, bleibt stehen, seine Füße wieder fest verankert im weißen Tod, öffnet den Mund, doch statt Worten sprühen heiße Blutfontänen zwischen seinen Lippen hervor, überall dunkle Flecken, die größer werden, das Weiß verdrängen, es durchtränken, bis wir von unendlicher Schwärze umgeben sind. Kraftlos sinkt Ole zu Boden, krümmt sich zusammen, schließt die Augen und knipst die Sterne am Himmel aus, wird Teil der dunklen Ewigkeit.


Plötzlich und unerwartet, als hätte jemand Millionen Leuchtraketen zur gleichen Zeit in den Himmel geschossen, geht am Firmament die Sonne auf und ihr gleißendes Leuchten raubt mir die Sicht, es blendet mich. Sobald ich wieder sehen kann, erkenne ich Bastian, der, über mich gebeugt, fragt:

"Na, geht's wieder?"

"Was ...?"

"Die Krankenhausluft ist nichts für dich, hm? Du bist wie ein Sack Kartoffeln zu Boden gefallen. Komm, lass uns rausgehen, an die frische Luft."

Bereitwillig stehe ich auf, meine Beine etwas wackelig, lasse mich von Bastian stützen, dann erinnere ich mich wieder daran, weshalb wir hier sind.

"Die Polizei ..."

"War schon hier. Und mit einem der Ärzte haben wir auch schon gesprochen."

Ein Blick in die stille Runde bestätigt seine Worte, die Gesichter der anderen legen einen schweren Stein auf meine Brust.

"Was ist los?"

"Komm, gehen wir", antwortet Bastian und schiebt mich Richtung Stationsausgang.

"Geh", flüstert Kristin, und als sie betreten wegsieht, wird mir klar: meine Vision ist wahr geworden.

Blind und taub vor Schock lasse ich mich unter wiederholtem "Oh Gott - Oh Gott - Oh Gott!" hinauszerren, wo mir eine heftige Schneewehe die Luft raubt und die Worte in den Mund zurückstopft. Unter einem dickstämmigen, alten Baum suchen wir Schutz vor dem Schneechaos.

"Ich habe Ole getötet!", verselbständigen sich meine Gedanken mit einem Schrei in Bastians Gesicht. Der schüttelt nur mit einem ernsten Lächeln den Kopf.

"Mal nicht den Teufel an die Wand", sagt er und lehnt sich dann wie ich an den harten Baumstamm. "Und hör endlich damit auf, dich für Dinge verantwortlich zu fühlen, für die du nichts kannst!"

Seine Stimme ist mit den letzten Worten lauter geworden, angespannter. Nach einer kurzen Pause sagt er wieder leiser:

"Er lebt. Und mit ein wenig Glück, und weniger Leichtsinn und Hartnäckigkeit, wird er das auch noch eine ganze Weile tun."

"Was ist passiert?"

Er lässt sich mit der Antwort ein paar Minuten Zeit.

"Ole ist passiert," sagte er schließlich. "Er konnte seinen Schwanz nicht in der Hose behalten und hat einen Typen angemacht, dem das gar nicht passte. Ole war im Heaven," wie passend, der Name, "und ist seiner üblichen Freitagabend-Beschäftigung nachgegangen."

"ONS."

"Genau. Als hätte er nicht schon genügend One-Night-Stands gehabt! Der Typ wäre Nummer 492 geworden und aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er auch ja gesagt, wenn er allein gewesen wäre. Aber vor seinen Kumpels ... wer gibt da schon zu, dass er einem kurzen Ausflug ans andere Ufer nicht abgeneigt wäre?"

Nach einer weiteren kurzen Pause, in der er sich eine Zigarette anzündet und gierig daran zieht, womit er seinen Erfolg einer rauchfreien Woche zunichte macht, fährt er fort:

"Sie haben draußen auf ihn gewartet, in einer mehr schlecht als recht beleuchteten Ecke, und dort haben sie ihn krankenhausreif geprügelt. Er hatte Glück, dass zwei Streifenpolizisten gerade vorbeigefahren sind und eingegriffen haben, bevor es zu spät gewesen wäre."

"Also ..."

"Also ist alles nicht so schlimm wie wir es uns ausgemalt haben."

"Aber ... die Mädels haben dort drin alle so ausgesehen, als stünde die Welt vor dem Untergang."

Bastian bläst einen Rauchring in die kalte Luft, der sich mit seinem dampfenden Atem vermischt.

"Sie sind müde - und sauer. Weil Ole sich wissentlich in Gefahr bringt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis seine Anmache irgendjemandem so sehr auf den Geist geht, dass er ausflippt. Dass Ole im Krankenhaus landet."

"Wozu dann die ganze Show von wegen Intensivstation? Die müssen schon einen Grund gehabt haben, ihn nicht von der Notfall- gleich auf eine normale Station zu verlegen."

"Ein paar gebrochene Rippen, innere Blutungen. Ziemlich üble Blutungen", rückt er jetzt mit der Wahrheit raus. "Sie haben zwei Stunden im OP damit zugebracht, die zu stillen und den Blutverlust auszugleichen."

"Es ist also doch so schlimm …"

"Es ist ernst, aber er wird es überleben", fällt Kristin mir ins Wort. Weder Bastian noch ich haben gemerkt, dass die drei Grazien sich still und heimlich zu uns gestellt haben. "Hoffe ich", flüstert sie gegen den Wind, "sonst bringe ich ihn um." Schluchzend läuft sie Bastian in die Arme, der sie an sich drückt und freundschaftlich auf den Kopf küsst.

Die ungewöhnlich stillen Jonna und Leah schlagen vor zu gehen: "Wir dürfen heute Nacht sowieso nicht zu ihm rein," sagt die eine, "und tun können wir auch nichts", ergänzt die andere. Manchmal frage ich mich, ob sie womöglich zweieiige Zwillinge sind, wie die beiden aus der 90er Serie Beverly Hills – wie hießen die nochmal? Egal. Keiner von uns widerspricht ihnen, wir alle wollen hier weg, so tun, als wäre nichts passiert. So tun, als hätte es keinen Anruf gegeben; als wäre Ole bei bester Gesundheit und gerade dabei, den Verlauf der Nacht zum x-ten Mal von seinem Unterleib bestimmen zu lassen; als würden wir alle, vom jungen Johnny Depp träumend, zufrieden in unsere Kissen sabbern.

Doch niemandem gelingt es. Auf der Rückfahrt, während wir an einer roten Ampel stehen, fängt Bastian aus heiterem Himmel an zu lachen.

"Ole liegt im Krankenhaus, wir sind alle hundemüde und du lachst?", platzt es aus mir heraus, und wenn er nicht am Steuer meines Autos sitzen würde, würde ich mir sicher irgendwas einfallen lassen, um ihm sein Lachen aus dem Gesicht zu wischen. "Was ist denn so witzig?"

"Du!"

"Bitte?"

"Du bist eine solche Drama-Queen! Ich meine, körperlich offensichtlich mehr King als Queen, aber dein Benehmen ... Ich habe Ole getötet!", sagt er und bricht wieder in Lachen aus. Also, irgendwie fühle ich mich auf den Schlips getreten! Ich und eine Drama-Queen! Das hält mich jedoch nicht davon ab, kurz darauf selbst in ein hysterisches Lachen auszubrechen, das einfach nicht mehr aufhören will, bis wir zu Hause ankommen.

"Ihr seid doch total durchgeknallt", sagt Kristin mit kühler Stimme, so dass Bastian und ich uns verpflichtet fühlen, unsere nicht eben leisen Laute hinunterzuschlucken, was keinem von uns leicht fällt.


Bis wir oben sind, haben wir uns allmählich beruhigt, und unsere kleine Gruppe verteilt sich ohne ein weiteres Wort auf die Zimmer, sobald die Tür hinter uns ins Schloss fällt. Ohne mich auszuziehen, lasse ich mich aufs Bett fallen, schließe die Augen und träume von Johnny Depp alias Jack Sparrow alias Tom Hanson alias ... Ole ... blutverschmiert, mit gebrochener Nase, gequollenen Augen, leerem Blick ...

Ich reiße die Augen auf, schüttle die Kälte aus meinen Gliedern, tausche die Jacke gegen einen zweiten Pullover aus und gehe, immer noch leicht zitternd und über meine eigenen Schuhe stolpernd, in den Gemeinschaftsraum, nur um festzustellen, dass ich nicht der Einzige bin, der nicht schlafen kann.

"Hi, Basti." Er sitzt da halb liegend in der Dunkelheit und löffelt gedankenverloren in einer Schüssel Schokopudding, den Kristin gestern für den Filmabend gekocht hat.

"Du auch?", fragt er und macht Platz auf der Couch.

Ich hole mir einen Löffel, setze mich zu ihm und gemeinsam lassen wir uns den Pudding schmecken, hoffen, dass keiner von dem zu sprechen anfängt, was uns beide bewegt. Nach einer Weile hält Bastian die Stille nicht mehr aus.

"Irgendwann musste es passieren, bisher ist es einfach nur Glück gewesen. Wenn man von Glück sprechen kann", sagt er. "Wir haben mehrmals versucht, ihn zu warnen, aber er wollte nicht hören. Er ist so von sich selbst überzeugt, dass er sich nicht vorstellen kann, dass jemand seinem Charme widerstehen könnte."

"Außer dir", sage ich mit vollem Mund.

Er verzieht die Mundwinkel. "Ja, mit Mühe und Not. Er hat es oft probiert, und, glaub mir, ich war jedes Mal versucht nachzugeben, mein Körper hat meine Worte immer Lügen gestraft und mit jedem Mal kam ich dem Nachgeben näher, bis ich ihn vor die Wahl gestellt habe: Entweder er lässt es bleiben oder wir tun es und er sieht mich nie wieder."

Das hätte ich ihm, ehrlich gesagt, nicht zugetraut: gegen Ole seinen Mann zu stehen. "Ich dachte, schwuler als du geht nicht."

Für einen Moment meine ich in seinem Gesicht zu sehen, dass meine Worte ihn gekränkt haben könnten.

"Findest du? Wirke ich so feminin?"

"Natürlich!", rolle ich mit den Augen. "Vor allem wegen deiner Größe! Nein, wirklich - hätte ich das nicht aus euren Gesprächen aufgeschnappt, von allein wäre ich nicht drauf gekommen. Du bist eher der lange, schlacksige Hetero-Junge, der sehnsüchtig den blonden Mädchen hinterherschaut und zu schüchtern ist, um sie anzusprechen."

"Nur dass meine blonden Mädchen dunkeläugige Jungs sind", lacht er.

"Dann ist Ole gar nicht dein Typ?" Ole mit seinen blauen Augen ...

"Ole ist jedermanns und jederfraus Typ. Aber er ist nicht mein Traumtyp. Eigentlich ist er das krasse Gegenteil von dem, was ich von meinem Traumtypen erwarte. Charakterlich, meine ich. Ich brauche Liebe, Gefühle, Treue. Das einzige Gefühl, das Oles Anwesenheit in mir hervorruft, ist, abgesehen von Freundschaft, Geilheit. Aber wenn sich die gelegt hat, klaffen riesige Löcher, die nur von der Liebe gefüllt werden können. Das ist meine Sicht zumindest."

"Dann hast du noch nie ...?"

Er grinst geheimnisvoll. "Klar hab ich. Wir waren sechzehn beim ersten Mal, es war perfekt. Ein ganzes Jahr lang."

Die perfekte Beziehung, Freundschaft, glaubte ich bis vor kurzem auch zu haben. "Bester Freund?", erkundige ich mich.

Bastian nickt. "So jemanden hat wohl jeder Schwule im Laufe seines Lebens."

"Und was ist dann passiert?"

"Er hat sich in jemand anderen verliebt", antwortet er mit einem Lächeln in den Augen.

"Hast du ihn gehasst? Ich meine, als es aus war?"

"Gehasst?", fragt er verwundert. "Wieso sollte ich ihn denn hassen?" Ich hätte es getan. Ich habe es getan, tue es noch. "Nein, nicht doch. Wir waren weiterhin Freunde, sind es heute noch. Nein! Wie könnte ich jemanden hassen, den ich geliebt habe?! Die meisten Menschen halten Liebe für etwas Ewiges, aber das ist sie nicht. Sie ist ein Moment des Glücks, den man mit jemand Besonderem teilt. Manchmal dauern diese Momente Jahre, manchmal sind sie nach ein paar Wochen verflogen. Aber sie währen nie ewig, es kommt immer etwas dazwischen. Wie eben ein anderer Mensch, ein wunderbares Mädchen voller Lebensfreude, in das sich dein bester Freund verliebt. Und ein bisschen was von ihrem Glück färbt auf dich ab und du freust dich für sie. Kara und ich verstehen uns prima. Sie weiß von unserer tiefen Freundschaft und mittlerweile sind wir zwei auch Freunde geworden. Wie könnte ich sie dafür hassen, dass sie David glücklich macht? Und David? Ich habe unsere Zeit zusammen nie bereut, mir nie gewünscht, die Uhr zurückdrehen zu können, denn ich hätte alles wieder genauso gemacht. Ich glaube, diese Bitterkeit nach einer Trennung haben die Menschen aus Filmen, da ist alles immer so tragisch, und das ist es, was Freundschaften kaputt macht. Was Liebe zerstört."

Basti tut so, als würde er auf die Uhr gucken, dann schaut er weg. Als er mich wieder ansieht, sagt er entschuldigend: "Monolog beendet."

Doch für mich ist sein Monolog nicht beendet, meine Gedanken laufen sich gerade erst warm. Bewundernswert, mit welcher Selbstverständlichkeit er das erzählt, mit welcher Leichtigkeit und positiven Einstellung. Müsste ich mich über Lucas äußern, würde ich jeden von Bastians Sätzen negieren müssen. Ich würde die Zeit gern zurückdrehen und alles ändern, mich zum Wolkenzählen woanders hinsetzen, nur um ihn nicht kennen zu lernen und mir seine angebliche Freundschaft zu ersparen. Für immer ein Einzelgänger, was wäre so schlimm daran? Was ist schon eine Freundschaft wert, wenn sie auf einer Lüge basiert?

Und was, wenn ...?

"Markus, hör auf damit. Es ist nicht deine Schuld."

Da bin ich der gleichen Meinung: alles Lucas' Schuld. "Bitte?"

"Ich denke auch ständig an Ole, deswegen rede ich auch so viel, aber du hättest nichts tun können. Er ist ein erwachsener Mann und zudem noch sehr eingebildet, er hätte sich von dir nichts sagen lassen. Von keinem von uns."

Ach so ... "Ich hab nicht ... Ja, ich weiß."

"Gut", sagt er und klopft mir auf die Schulter.

Die nächsten Minuten verbringen wir in Schweigen, genießen den Pudding, lauschen den Geräuschen der Nacht: irgendwo draußen jault eine Katze, Polizeisirenen werden lauter und wieder leiser, entfernen sich, verstummen.

"Du bist doch nicht in ihn verliebt, oder?", fragt Basti und steht auf, legt die leere Schüssel mitsamt den Löffeln ins Waschbecken, lässt Wasser hineinlaufen. "Man verliebt sich nicht in Ole", doziert er, "es sei denn, man steht darauf, dass er einem das Herz rausreißt und drauf rumtrampelt. Er macht das nicht absichtlich, weißt du? Er ist eben so, und Kristin weiß das ..."

"Was? Was hat das mit Kristin … ?" Aber klar! "Deshalb hat sie im Krankenhaus angefangen zu weinen", schlussfolgere ich und springe auf. Als ich zur Tür laufen will, um nach ihr zu sehen, hält Bastian mich am Arm fest.

"Sie muss allein sein, sie mag es nicht, wenn andere es sehen. Und sie braucht das", erklärt Basti, als er mich auf die Couch zurückzieht.

"Sie braucht die Einsamkeit?", frage ich zweifelnd.

"Die Einsamkeit, den Schmerz. Sie braucht sie für ihre Musik."

Ihr Zimmer befindet sich zwischen Bastians und meinem und so kann ich sie manchmal durch die dünnen Wände hören, ihre Stimme leise und doch glasklar, begleitet vom gelegentlichen Klacken der Keyboardtasten, die erzeugten Töne, unhörbar für die Welt, gehören ihr, ganz allein.

"Sie sollte mal vor Publikum auftreten", sage ich mehr zu mir selbst.

"Oh, das tut sie. Was denkst du, wohin sie jede Woche abends verschwindet?"

Zu ihrem Freund, dachte ich bisher. Doch den gibt es nicht, klärt mich Basti auf. Sie hat ihre regelmäßigen Auftritte in einem Club am anderen Ende der Stadt, in einem Vorort, dessen Namen ich bisher nicht einmal kannte. Weit weg von der Uni, weit weg von uns; sie möchte nicht, dass einer von uns sie sieht.

"Die Musik ist ihr zweites Leben, ihre Geheimidentität. So geheim, dass wir es nur durch Zufall herausgefunden haben und als wir sie darauf ansprachen, bat sie uns, nicht hinzugehen, wenn sie auftritt."

"Das versteh ich nicht, sie hat eine tolle Stimme."

Bastian nickt zustimmend. "Ich glaube nicht, dass es darum geht. Wenn sie nicht davon überzeugt wäre, dass sie singen kann, würde sie nicht auftreten. Nein, das Singen ist ihre Flucht aus dem Trott des Alltags, ihre Chance, eine andere Seite von sich selbst auszuleben. Wie die Schauspieler, die spielen ja für gewöhnlich auch Charaktere, die ganz anders sind als sie selbst."

Offenbar bin ich nicht der Einzige, der Dinge gern für sich behält, jeder hier scheint ein Geheimnis zu haben. Dass ausgerechnet Bastian sie alle zu kennen scheint, wundert mich aber, da er immer zurückhaltend ist und die Menschen nicht, wie Ole, mit Fragen bombardiert.

"Ich höre zu", unterbricht er meine Gedanken, als könne er sie lesen, "und beobachte: die Gesichtszüge, die Hände, die Körperhaltung. Der gesamte Körper spricht, nicht nur der Mund. Und jetzt gerade rede ich mich um Kopf und Kragen."

In der Tat ist das unser längstes Gespräch miteinander, bisher war er für mich nur eine Randfigur, gehörte dazu, wie ein Möbelstück.

"Wir sollten Oles Eltern anrufen", wechsle ich das Thema, um ihn von seinem Gefühl zu befreien, Vertrauliches ausgeplaudert zu haben.

Er verzieht ablehnend den Mund. "Das ... nee ... selbst wenn wir ihre Nummer hätten, oder herausfinden könnten ... Ole spricht nicht mit seinen Eltern!"

"Sie finanzieren ihm das Studium", wende ich ein.

"Ja, und sein Taschengeld ist mehr als üppig, das ist aber auch schon sein einziger Kontakt zu ihnen. Er spricht nie über sie", das ist mir auch schon aufgefallen, "telefoniert nicht mit ihnen, ehrlich gesagt, bin ich mir nicht einmal sicher, dass sie noch am Leben sind. Überhaupt wissen wir so gut wie nichts über sein Leben vor der Uni, außer natürlich von seinen Eroberungen", lacht er.

Seine fast fünfhundert One-Night-Stands, wer's glaubt! "Das war doch nur ein Scherz mit den 492, nicht?", frage ich, nur um sicher zu gehen.

Bastian unterdrückt ein Grinsen, beißt sich dabei auf die Unterlippe. "Nein, kein Scherz. Er hat ein PDA in seinem Zimmer, er hat es mir als seinen Schaaatz vorgestellt", sagt er und zischt das Wort wie Gollum im Herrn der Ringe. "Darin ist jeder seiner ONS festgehalten - auch die Fehlschläge."

Es gab also noch mehr Leute, die seinem Charme und seinem Aussehen widerstanden haben.

"Ich war der zweite, davor hat es nur ein Mädchen namens Larissa geschafft, das er während seiner Schulzeit kennengelernt hat. Und nach mir, nun, das Ergebnis erleben wir heute."

"Ja, aber 492, das würde bedeuten ... Das ist unmöglich", denke ich laut nach.

"Stimmt aber, wirklich jeder und jede Einzelne ist dokumentiert. Er hat mit fünfzehn angefangen, ist jetzt dreiundzwanzig, ergibt einen Durchschnitt von sechs Tagen zwischen den ... Ereignissen. Keine Zeit für eine echte Beziehung, wenn du mich fragst. Ich nehme an, dass es anfangs nicht so häufig passiert ist, hier an der Uni dafür aber umso mehr."

"492", wiederhole ich die Zahl, die mir allmählich ein mulmiges Gefühl vermittelt, "492 Möglichkeiten, sich zu infizieren - sich und alle darauffolgenden."

"Keine Angst, er ist gesund. Er verhütet immer, war noch nie so nachlässig, es ohne zu tun und lässt sich alle drei Monate durchchecken. Außerdem, ihr habt doch sicher auch Kondome benutzt."

Ja, das haben wir, dennoch ... das komische Gefühl bleibt trotz aller Vorsicht und Versicherungen von Bastian zu einem kleinen Teil bestehen. Was, wenn ... ?

Ach, zum Teufel mit den Sorgen! Vorsichtiger hätten wir nicht sein können.

Zur Sicherheit aber ...

"Ich geh mit dir hin, wenn du willst, damit du dir keine Gedanken mehr machen brauchst. Außerdem, vielleicht können wir morgen im Krankenhaus was erfahren, sie haben ihn bestimmt nochmal getestet."

"Sie dürfen es uns nicht sagen", murmle ich.

"Wir kriegen das schon raus", verspricht er und lenkt das Gespräch von Ole auf Leah und Jonna.

Die beiden scheinen keine dunkle Seite zu haben, Basti bestätigt meinen bisherigen Eindruck von ihnen - ihre Offenheit, ihre Direktheit und ihren Sinn für Humor. Nichtsdestotrotz verbringe ich eine ganze Weile damit, seinen Erzählungen von kindlichen Streichen, unerwarteten Überraschungen und kurzweiligen Konfrontationen zuzuhören. "Sie können einem nicht lange böse sein, und umgekehrt geht es einem genauso. Egal, was sie anstellen, nach kurzer Zeit vergisst man die Sache."


Inmitten unseres Gesprächs müssen wir eingeschlafen sein, denn das nächste Mal, als ich die Augen öffne, ist es hell und Jonna sieht mich an, mit einem so breiten Grinsen im Gesicht, dass ich für einen Augenblick alles Geschehen des gestrigen Tages für einen schlechten Traum halte und zurückgrinse, froh, dass es vorbei ist. Als sie dann jedoch sagt: "Du lässt aber auch nichts anbrennen, wie?," kann ich nur verständnislos blinzeln - bis sie mit einer Kopfbewegung auf einen Punkt hinter mir deutet, wo ich mit einem Mal leises, regelmäßiges Atmen vernehme, das von niemand anderem als Bastian kommt. Sein Arm um meine Taille, lässt sich der Gute weder von Jonnas Stimme noch von den kalten Sonnenstrahlen des Dezembers stören.

"Wir haben nicht ...", versuche ich zu erklären, doch Jonna winkt mit einem zweideutigen Lächeln ab und verlässt lautlos das Zimmer.

Mit panikgesteuertem Zerren an seiner Schulter und seinem Arm schaffe ich es, Bastian zu wecken, nicht jedoch ihn für meine Schilderung zu interessieren.

"Wir sind angezogen, haben völlig unschuldig auf der Couch übernachtet - sie kann gar nicht auf dumme Gedanken kommen. Und selbst wenn, würde es dich stören?" Ich denke kurz drüber nach und schüttle dann den Kopf. "Na siehst du! Und jetzt schläfst du am besten wieder ein, ich jedenfalls tue es und du wirst hier nicht weggehen - ich lasse nicht zu, dass mein persönliches Wärmekissen sich vom Acker macht."

Um seine Worte zu unterstreichen, schließt er die Augen und zieht mich noch enger an sich, so dass mir nichts anderes bleibt, als es ihm gleichzutun.

Teil 2: Erwachen

Gefühlte fünf Minuten später stehen wir bibbernd um das Auto herum und kratzen fleißig die Scheiben frei, nur um dann, kurz bevor wir fertig sind, zu beschließen, doch mit der Bahn zu fahren - die Mädchen haben es sich anders überlegt, wegen des Schnees und überhaupt. Der Weg zur S-Bahn ist kurz, doch wie es sich für einen Samstagvormittag gehört, sind die Wagen überfüllt. Alles drängt ins Zentrum - zum Wocheneinkauf, auf den Weihnachtsmarkt, Geschenke kaufen, was eben so ansteht drei Wochen vor dem wichtigsten Feiertag des Jahres. Und mit jeder Haltestelle quetschen sich noch mehr Sardinen in die bereits volle Büchse; man tritt sich gegenseitig auf die Füße, atmet den wohligen Geruch kalten Schweißes ein, wird angerülpst von Halbstarken, die sich noch vor dem Mittag ihre erste - oder zweite, oder dritte - Dose Bier gönnen und schließlich meint ein freundlicher Mitmensch es richtig gut mit uns und lässt, für alle vernehmbar, einen fahren. Wer freut sich an solchen Tagen nicht darüber, dass Gott uns öffentliche Verkehrsmittel geschenkt hat?

"Wenigstens müssen wir hier nicht frieren", meint Leah, die ihre Entscheidung mittlerweile wohl bereut, halbherzig.

Im Krankenhaus dürfen wir einzeln ein paar Minuten zu Ole rein. Er schläft, doch die Schwester, eine andere als in der Nacht, versichert uns, dass er zwischendurch wach war. Kristin geht als Erste zu ihm, nach ihr dann ich. Er sieht friedlich aus, ruhig, so untypisch für ihn, wie er da auf dem Rücken liegt, mit dem Kopf zur Seite. Einzig ein Pflaster über dem linken Auge und ein paar blaue Flecken auf der Wange deuten darauf hin, dass er sich nicht einfach nur von seinen gewöhnlichen Wochenendaktivitäten erholt. Ich setze mich auf den Stuhl neben dem Bett und berühre seine Hand, würde sie gern in meine nehmen, lasse es aber, nicht dass er aufwacht.

"Wie kannst du nur so dumm sein?", frage ich ihn leise.

Die Narbe, die wird sicher bleiben, das macht aber nichts, denn er ist immer noch schön, so schön, dass es weh tut. Ich kann meine Augen nicht von seinem Gesicht nehmen, meine Hand macht sich selbständig, streichelt seine verletzte Wange, zeichnet seine Lippen nach ...

"Markus", höre ich Bastian hinter mir und spüre seine Hand auf meiner Schulter. Ich stehe auf, wende mich zum Gehen, da flüstert er: "Sie werden ihn heute auf eine normale Station verlegen, er ist überm Berg."

Das Gleiche sagen mir die Mädchen auch und Kristin strahlt dabei, als wäre sie die Sonne selbst. Sie denkt laut darüber nach, wie sie ihr Leben umkrempeln will, um möglichst viel Zeit mit Ole zu verbringen - die Vorlesungen ganz sausen lassen, ausstehende Hausaufgaben mit ins Krankenhaus nehmen, ihr Zuhause hierher verlegen.

"Ich glaube nicht, dass das Krankenhaus das mitmacht", gibt Jonna ihr zu bedenken. "Außerdem kannst du dein Studium nicht einfach so beiseite schieben. Wir finden gemeinsam eine Lösung, wir sind eine Familie, also werden wir uns auch gemeinsam um Ole kümmern - und um dich!," sagt sie mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Ich gebe zu, dass ich es bewundere, wie sie in solch einer Situation einen kühlen Kopf bewahrt.

"Wo bleibt Basti denn nur?", fragt Kristin nach einigen Minuten panisch. "Er hätte längst wieder draußen sein müssen - es ist was passiert!"

Just in dem Moment lässt sich der Vermisste wieder blicken und sagt verlegen: "Sorry, hab die Zeit vergessen!"

Sichtlich erleichtert lässt Kristin sich auf einen der Stühle fallen, schließt die Augen und beruhigt sich langsam, während Jonna und Leah zusammen Ole unter die Lupe nehmen.


Die Heimfahrt ist deutlich angenehmer, was auch daran liegen mag, dass die Anspannung der letzten Stunden von uns gewichen ist, wir sind ruhiger, gesprächiger, machen Pläne, wie es in der nächsten Zeit weitergehen soll: wir wollen uns mit den Besuchen abwechseln und dabei sicher stellen, dass zwischen zehn Uhr vormittags und abends um acht immer jemand bei unserem Freund ist - am besten so, dass jeder an möglichst vielen seiner Uni-Veranstaltungen teilnehmen kann. Für die Zeit danach ist auch schon gesorgt, dann stellen wir den Zeitplan auf vierundzwanzig Stunden täglich um, inklusive Nachtbereitschaft. Kristin meldet sich freiwillig, um Kontakt zu Oles Kommilitonen herzustellen und dafür zu sorgen, dass er nichts Wichtiges verpasst, Basti und ich werden, sobald wir zu Hause sind und die Liste steht, zum Einkaufen verdonnert. Was Jonna und Leah betrifft - nun, sie koordinieren das Ganze, das ist ihre Gabe.

"Darf ich fahren?", fragt Bastian auf dem Weg nach unten. "Ich hatte schon ganz vergessen, wie viel Spaß das machen kann!"

Ich runzle die Stirn, kann mich nicht entscheiden. Letzte Nacht ist er nur deshalb gefahren, weil alle der Meinung waren, ich sei zu aufgeregt dazu; jetzt aber gibt es keinen Grund, ihm mein Auto zu überlassen. Andererseits kann ich seine Begeisterung verstehen, denn für die meisten Studenten ist ein eigener Wagen ein Luxus ... Da stellt sich die Frage: Wie kommt es dann, dass Ole keinen hat? Bei seinem Taschengeld sollte es für ihn kein Problem sein, für Versicherung und Steuern aufzukommen ...

"Fahr vorsichtig!", bitte ich Basti und werfe ihm den Schlüssel zu.

"Mach ich", antwortet er strahlend - wie ein Kind, dem man seinen Herzenswunsch erfüllt hat. Wenn man jedem so leicht eine Freude bereiten könnte ...

"Wegen vorhin", beginnt er, nachdem wir losgefahren sind, "ich habe nicht die Zeit vergessen, sondern mit Rita gesprochen." Mit der Schwester? Hat sie ihm etwas über Ole gesagt, was er uns anderen verschwiegen hat? "Sie ist die Tochter einer guten Freundin meiner Mutter und sie hat sich Oles Krankenakte angesehen. Du darfst es niemandem verraten, okay? Nicht einmal den anderen - und schon gar nicht Ole. Sie könnten Rita deswegen feuern", warnt er mich.

Wieso sagt er nicht einfach worum es geht? Ich werde schon nichts verraten! "Versprochen."

"Also, er ist negativ. HIV, Hep und alles andere auch." Ich kann richtig hören, wie der Stein von meinem Herzen abfällt und mit einem lauten Platsch im entfernten Ozean versinkt. War da noch ein unausgesprochenes Aber am Ende seines Satzes?

"Ich hab gesehen, wie du ihn angeschaut und berührt hast; tu dir das nicht an, Markus." Klingt das nur für mich nach Eifersucht? Kann ich verstehen - meine dunklen Augen, so tiefgründig, sexy und unwiderstehlich ...

"Ähm, nicht jeder verliebt sich in dich", holt Basti mich grinsend auf den Teppich zurück.

"Keine Angst", beruhige ich ihn, "das mit Ole ist nichts weiter als Schwärmerei, geht vorüber." Mit welcher Zuversicht ich das von mir gebe! Fehlt nur noch ein bisschen und ich bin selbst davon überzeugt.

"Ich kann's nachvollziehen, er ist nun mal verdammt gutaussehend", gibt Basti zu.

"Er ist nicht der Einzige, der gut aussieht. Orangene Haare, Sommersprossen ..."

"Du sprichst von Lucas, stimmt's?" Oh, habe ich das etwa laut gesagt? Mist!

"Ich dachte, Hogwarts sei der einzige Ort, wo Geheimnisse allgemein bekannt wären", kontere ich.

"Die Wände haben Ohren", erklärt Bastian - und dann: "Ich glaube, es ist an der Zeit, mir eine neue Brille zuzulegen."

"Nicht doch, so war das nicht gemeint, Basti! Diese steht dir super, sie passt perfekt zu deinem Gesicht. Tut mir leid, dass ich dich damit aufziehe."

"Schon gut, die anderen tun's ja auch." Wie wahr! Dennoch, wir sollten etwas kürzer treten und uns ein neues Opfer zum Necken aussuchen - Hauptsache, ich bin das nicht selbst!

"Weißt du, was das Witzige ist?", fragt er und fährt das Auto elegant in die enge Parklücke. "Ich habe kein einziges Potter-Buch gelesen. Und die Filme habe ich auch nicht gesehen. Ich gehöre zu einer Minderheit, die Potter nicht vergöttert und trotzdem werde ich damit in Verbindung gebracht."

"So ist das Leben, Kleiner!", drücke ich ihm aufmunternd die Schulter.


Nach dem Mittagessen dürfen Bastian und ich den Abwasch erledigen, denn trotz unseres gemeinsamen innigen Wunsches, ein Geschirrspüler möge aus dem Nichts auftauchen und uns anflehen, ihn zu benutzen, geschieht das nicht - wo sind denn nur die Feen, wenn man sie am dringendsten braucht?

Im Anschluss daran macht sich die gesamte "Familie" erneut ins Krankenhaus zu Ole auf, der typischerweise mit einer Überraschung aufwartet, denn sobald wir die Tür zu seinem Einzelzimmer öffnen und einen Schritt in den Raum machen, bleiben wir auch wieder stehen. Was wir nämlich zu sehen bekommen, ist Ole, der ... nun, eigentlich nicht Ole selbst, sondern nur die Umrisse seines Körpers sind unter der Decke zu erkennen und dort, wo sein Kopf sein sollte, bewegt sich eine wilde, lockig-blonde Mähne im Rhythmus zu den Knutschgeräuschen, die uns entgegenkommen. Während Bastian sich räuspert, hört Kristin auf zu atmen, bricht zugleich in Tränen aus und mir wird klar, dass die Gute zu nah am Wasser gebaut ist und dass ich, zu meinem Glück, kein bisschen auf die kurvige Krankenschwester eifersüchtig bin.

"Hi Leute", grinst Ole unverschämt und sieht uns an, sobald er der Krankenschwester zugezwinkert und an den Hintern gefasst hat, was für die arme Kristin zu viel ist, so dass Leah sie hinausbegleiten muss.

"Schön, dass es dir wieder besser geht!", giftet Jonna ihn an und folgt den anderen beiden aus dem Zimmer. Ich kann ihre Reaktion verstehen, waren wir uns vor sechzehn Stunden noch nicht einmal sicher, dass Ole die Nacht überlebt. Bastian hingegen setzt sich ganz lässig auf die Fensterbank, guckt hinaus auf die verschneite Umgebung und schüttelt schmunzelnd den Kopf. Was an dem Ganzen witzig sein soll, entgeht mir vollkommen.

"Wie lange bist du schon wach?", fragt er Ole.

"Zwei Stunden etwa. Zeit genug, um einen einigermaßen klaren Kopf zu kriegen. Zum Glück hat man aus diesem Fenster einen guten Blick auf den Haupteingang; die Schwester hat mir Bescheid gesagt, als sie euch gesehen hat." Als würde der nächste Satz alles erklären, sieht Ole mich an und sagt: "Ich konnte mir eine solche Chance nicht entgehen lassen." Und wieder an Bastian gewandt: "Denkst du, sie hört jetzt damit auf?"

Bastian verzieht das Gesicht: "Nein. Sie wird dich für einen noch größeren Mistkerl halten als bisher, aber sie ist zu besessen von dir, um es sein zu lassen."

Nach diesen Worten dämmert mir langsam, was hier eben passiert ist. "Du hast das alles nur inszeniert? Um Kristin eifersüchtig zu machen?"

Ole nickt bedächtig, als bereite ihm die winzigste Bewegung unvorstellbare Qualen. Und auch seine Worte, fällt mir nun auf, werden von Ausdrücken des Schmerzes begleitet. "Die paar Sekunden Rumknutschen haben höllisch weh getan – und sie haben nichts gebracht. Ich hatte gehofft, Kristin würde richtig ausrasten und mir die Pest an den Hals wünschen ..."

Sie hat losgeheult, ist doch schon mal was. "Vielleicht hasst sie dich jetzt. Die nächsten Tage werden's zeigen."

Ole quittiert das mit einem skeptischen Lächeln.

"Wie geht's dir?", erkundige ich mich und schiebe einen Stuhl zu Oles Bett. Als ich seine Hand berühren will, höre ich Bastians warnende Stimme in meinem Kopf und ziehe sie, als hätte ich mich verbrannt, wieder zurück.

"Ich bin vollgepumpt mit Schmerzmitteln, nur mein Kopf und mein Gesicht tun weh. Sieht es sehr übel aus?"

Bastian beschränkt sich scheinbar auf die Rolle des Zuschauers, hält sich ganz aus der Unterhaltung raus. "Die Ärzte sagen ..."

"Mein Gesicht", unterbricht Ole mich und schluckt schwer. Sein wirklicher Schatz, sein Schlüssel zu jeder Tür, zu jedem Herzen … Fast …

Ein kurzer Blick zu Bastian, ob ich ihm die Wahrheit sagen soll oder nicht. "Die blauen Flecken sind nicht der Rede wert ..."

"Aber … ?"

"Die linke Augenbraue … da bleibt 'ne Narbe zurück."

"Verstehe", sagt Ole und man kann regelrecht sehen, wie er in sich zusammensackt.

"Das ändert aber nichts daran, dass du schön bist", versuche ich rasch meinen Fehler wiedergutzumachen. "Sie macht dich nur verwegener ... gefährlicher ... sexier ..."

Sein Mundwinkel schießt leicht nach oben, nur für einen kurzen Augenblick. "Ich zeig's dir," verspreche ich und verlasse kurz den Raum, um mir von den Stationsschwestern einen Handspiegel auszuleihen. Als ich, von einer der Schwestern begleitet, wiederkomme, ist Basti dabei, die mitgebrachte Tasche auszupacken und Oles Sachen im Schrank unterzubringen. Die Schwester, ihr Name ist Nancy, nimmt Ole das Pflaster ab, säubert die Wunde und überreicht ihm den Spiegel. Er nimmt ihn in die Hand, atmet tief ein, aus und wieder ein, dann hebt er langsam den Spiegel und blickt mutig hinein. Ich vergesse zu atmen, Basti hält mit einem Stapel T-Shirts mitten in der Bewegung inne und Schwester Nancy sieht Ole mitleidig an. Erst als sich auf seinem Gesicht ein Grinsen andeutet, wagen wir es auch zu lächeln.

"Verwegener, hm?", gibt Ole sich sichtlich zufrieden.

Nachdem sie ihren Patienten verarztet hat, verlässt uns Schwester Nancy. Wenig später klopft es an der Tür und unsere drei verschwundenen Mitbewohnerinnen treten ein. Jonna und Leah sind wieder guter Laune und auch Kristin gibt sich Mühe, Fröhlichkeit zu versprühen. Aus ihrer großen Handtasche zaubert sie allerlei Süßes hervor: kleine Schoko-Nikoläuse, gebrannte Mandeln, dragierte Erdnüsse, kandierte Äpfel – sie scheint den halben Weihnachtsmarkt leergekauft zu haben, der praktischerweise nur eine S-Bahn-Station vom Krankenhaus entfernt ist. Mit Schlemmen und Geschichten (wobei sich Ole jeden Bissen genau überlegt und ansonsten den Zuhörer spielt), viel Kichern und Lachen verstreicht der Nachmittag viel zu schnell. Am Abend müssen wir uns von Ole verabschieden, nicht aber ohne ihm zu versichern, dass wir morgen wiederkommen - und seinen MP3-Player nicht vergessen werden.


Zuhause zieht sich das rasch zusammengestellte Abendessen zu einem stundenlangen Mahl hin, bei dem die Gespräche sich um ein ganz bestimmtes Thema drehen: Mistkerl – oder nicht? Kristin plädiert vehement dafür und gibt zu, dass genau diese Eigenschaft an ihm ihr traumhafte Nächte bereite. Durchs Leben gehen zu können, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen, sagt sie, wünsche sie sich auch. Zu sehr lasse sie sich fremdbestimmen, von ihren Freunden und besonders von ihren Eltern zu Dingen überreden, die sie nicht ausstehen könne.

"In den Sommerferien war ich zu Hause, wie ihr wisst. Meine Eltern haben einen Bauernhof", sagt sie zu mir gewandt. "Und wisst ihr, was ich gemacht habe? Anstatt länger liegen zu bleiben und endlich mal auszuschlafen, bin ich jeden Morgen um fünf aufgestanden, habe die Kühe gemolken, die Hühner gefüttert und mich mit den Gänsen unterhalten. Total behämmert, versteht ihr? Ich mag Hühner nur auf dem Teller, Kühe erst recht und dafür, dass ich mit dem Federvieh rede, würde mich so mancher in die Klapse stecken. Aber ich tue das, weil meine Eltern es von mir erwarten und ich nicht nein sagen kann. In meinen Träumen, da … bin ich wie Ole: Ich sag ihnen die Meinung und sie lassen mich in Ruhe. Oder wenn ich mit meiner besten Freundin Chantal unterwegs bin, dann bezahl immer ich, weil sie chronisch pleite ist, obwohl sie einen gut bezahlten Job hat und ich vom BAföG lebe. Und manchmal, wenn ich die Straße entlang gehe, würde ich mir liebend gern den nächstbesten Typen schnappen und mit ihm die wildesten Sachen anstellen. All das, das lebt Ole aus, er träumt nicht nur davon! Und dafür … liebe ich ihn. Und ich hasse ihn, weil er mich nicht zurückliebt … und er so ein … Gott, ich könnte ihn manchmal umbringen!"

Als ich ihr widersprechen möchte, greift Bastian bestätigend ein: "So ist er eben, der Ole."

Zu meinem Erstaunen stellen sich Jonna und Leah auch auf seine Seite und bemühen sich Kristin klarzumachen, dass es Unsinn sei, länger an ihm festzuhalten, an dem Traum, der ihr Leben bestimme. "Ole wird sich nie ändern", sagt Leah, "nicht für dich, nicht für uns, für niemanden. Und du solltest das akzeptieren. Es gibt so viele andere gut aussehende Typen dort draußen, die nur darauf warten, von uns angesprochen zu werden. Mindestens genauso interessant, nur ohne Bindungsangst. Das ist es, was du brauchst."

"Du musst sie dir nur holen, Kristin. Niemand wird vor dir niederknien und dich anflehen, seine Freundin zu werden!", ermutigt Jonna sie. "Was hältst du davon, wenn wir uns heute Nacht ins Getümmel stürzen und uns heiße Männer ansehen und über sie herziehen. Nur wir drei Frauen. Ich bezahle", grinst sie. Und da waren's nur noch zwei.

Sobald Bastian und ich unsere Funktion als Geschirrspülerersatz wahrgenommen haben, während dessen sich unsere Hände auffällig oft berühren, schlägt er vor, dass wir auch ausgehen, "ins Kino oder so. Wenn … du Lust hast."

Teil 3: Flucht … nach vorn

Tage später ist der Schnee größtenteils zu Matsch geschmolzen und der ständige, kühle Regen trägt zusätzlich dazu bei, dass man sich nur ungern vor die Tür begibt. Die dunklen, schweren Wolken hängen gewichtig über einem und man fragt sich, ob es denn überhaupt nochmal hell wird. Ein unerklärliches Hochgefühl in mir lässt mich dennoch leichtfüßig einer Pfütze nach der anderen ausweichen, fast tanze ich zur Melodie von Singing in the Rain, die in meinem Kopf endlos abgespielt wird. Die Aussicht, den Tag mit Ole zu verbringen, mit ihm allein zu sein, macht mich glücklich. Ich weiß nicht, was ich mir davon verspreche, zumal ich davon überzeugt bin, dass eine Beziehung mit ihm keinerlei Chancen hätte – und das nicht nur seinetwegen. Vielleicht ist es der Reiz eines neuen Abenteuers, die Hoffnung, dass Ole wegen der außergewöhnlichen Umstände eine Ausnahme machen und die Ein-Mal-Karte in kleine Stücke zerreißen könnte, die mich so euphorisch mehrere Schritte auf einmal machen lässt. Auf die Idee, dass seine Schmerzen ihn davon abhalten könnten, auch nur im Entferntesten an Sex zu denken, komme ich gar nicht, denn was ist wichtiger für einen Mann in unserem Alter als Mini-Me seinen Spaß zu gönnen?

Ich öffne die Tür, ohne von Szenen wilden Rumknutschens überrascht zu werden, und schließe sie hinter mir wieder. Ole öffnet die Augen, zieht sich die Ohrhörer raus und sieht mich freudestrahlend an.

"Das Gute an Krankenhäusern ist, dass man Zeit zum Nachdenken hat", sagt er.

"Während man sich mit Hip Hop volldröhnt", führe ich seinen Gedanken fort.

"Irgendwie muss man ja die Zeit totschlagen, bis endlich der ersehnte Besuch kommt." Er scheint heute bester Laune zu sein – ob sie ihm versehentlich was in den Frühstückskaffee geschüttet haben? "Ich darf morgen nach Hause", beantwortet er begeistert meine unausgesprochene Frage.

"Morgen schon? Klasse! Was ist mit … ?" Er bekommt Schmerzmittel und muss in zwei Wochen zur Kontrolle kommen, sagt der Arzt, soll die nächsten Tage möglichst noch im Bett bleiben, darf spätestens nächsten Samstag aber länger aufstehen und leichte Arbeiten verrichten – als ob wir das zulassen würden; vor allem Kristin wird ihn bestimmt von Kopf bis Fuß verwöhnen.

"Wie geht's der OP-Wunde?", erkundige ich mich, während ich ihm das Kissen zurechtschüttle, damit er sich richtig aufsetzen kann. Sein Gesicht hat wieder ein gesundes Rosa angenommen, nur die Augenbraue verrät ihn.

"Verheilt gut, sagen die Ärzte, keine Infektion. Sonst würden sie mich auch noch nicht rauslassen. Angeblich soll keine Narbe zurückbleiben", hofft er und zieht die Decke und das Krankenhaushemd hoch. Sieht man von den Fäden einmal ab, ist kaum noch etwas zu sehen. Er aber sieht mehr - er und sein makelloser Körper!

"Jeder hat irgendwo irgendwas, Ole. Bei dir ist es nur ein kleiner Schnitt, man muss genau hingucken, um ihn überhaupt zu erkennen."

"Lügner", lacht er und wechselt das Thema: "Vorhin, was ich wegen des Nachdenkens gesagt habe, das war eine Vorlage, die du nicht besonders elegant ignoriert hast."

"Du hast nachgedacht", stelle ich fest und setze mich ans Fußende des Bettes, sobald ich ihn zugedeckt habe. "Worüber?"

"Über dich", macht er mir Hoffnung. "Nein, die Ein-Mal-Karte gilt nach wie vor", und die Hoffnung verpufft wieder …

"Will ich das hören?" Wenn er schon so anfängt, dann wohl eher nicht.

"Ja, ganz sicher. Vielleicht."

Ich hasse Antworten, die noch mehr Fragen aufwerfen. "Ganz sicher vielleicht? Legen wir noch eine Nein-Karte auf den Tisch, damit's interessanter wird!" Was zum Kuckuck soll das, wieder eins seiner Spielchen? "Okay, ich gehe besser wieder. Ich rufe Basti an oder Kristin und dann bin ich hier raus! Und bis dahin ... keine Spiele, Ole!"

"Keine Spiele, Markus! Ich habe mich tagelang hierauf vorbereitet … ich … verfluchte … Gott!" Ole bekommt keinen vollständigen Satz zusammen? Das muss eine Premiere sein. "Steck das verdammte Handy weg und setz dich wieder! Bitte ..." Und bitte sagen kann er auch …

Ich breche die Suche nach Bastians Nummer ab und schalte das Handy ganz aus. Setze mich – diesmal aber auf einen der Stühle am Tisch.

"Ich bin das Ganze falsch angegangen, entschuldige bitte", sagt er leise. "Was ich dir erzählen möchte, hat eigentlich nichts mit dir zu tun, nur insofern, als dass ich dich im Anschluss daran um einen Gefallen bitten werde."

"Um einen Gefallen? Was für ein Gefallen?"

"Er ergibt keinen Sinn, wenn ich dir nicht vorher die Geschichte erzählt habe. Meine Geschichte."

Das ist definitiv eine Premiere! Hat Basti nicht gesagt, dass keiner etwas über Oles Leben vor der Uni weiß? Nicht, dass ich mich beschwere, aber … "Wieso ich? Wir kennen uns erst seit einigen Monaten."

"Vielleicht weil wir uns ähnlicher sind, als du denkst." Das wage ich ernsthaft zu bezweifeln. "Du bist genauso neugierig wie ich, Markus, ob du es zugibst oder nicht. Du stellst ständig Fragen, willst alles wissen, immer Wieso? Weshalb? Warum? Dir fehlen nur meine Ausdauer und mein Ehrgeiz, du gibst zu früh auf. Und nur du verstehst meine Vergangenheit. So, wie sie zu verstehen ist. Nur du kannst meine Gefühle nachempfinden. Deswegen: du."

Okay, jetzt bin ich wirklich neugierig. Nachdem ich seiner Bitte entsprechend das Fenster geschlossen und die Tür mit einem der Stühle blockiert habe, was mich noch neugieriger werden lässt, mache ich es mir auf dem Bett bequem und höre gespannt zu.


Ich weiß, das klingt jetzt nach Angeberei, aber meine Eltern sind reich, sehr reich. Sie arbeiten für Regierungen, sind per Du mit Staatschefs und hochrangigen Militärs, hin und wieder durften mein Bruder und ich auch mit und haben einige von ihnen getroffen. Genau, mein Bruder, um ihn geht es hier im Grunde. Stian heißt er, meine Mutter hat ein Faible für Skandinavien und dortige Namen. Stian ist zehn Jahre älter als ich - ich war acht, er achtzehn, als es passiert ist.

Du musst verstehen, Stian war Gott für mich. Was ich wollte, bekam ich von ihm: Spielzeug, Süßigkeiten, Bücher, alles, was man sich als Achtjähriger nur vorstellen kann. Und er nahm mich überall mit hin; er hatte kein Problem damit, mich seinen Freunden vorzustellen und er schämte sich nicht, mit mir gesehen zu werden. Von was ich so gehört habe, ist das nicht gerade üblich zwischen Geschwistern, besonders nicht wenn sie altersmäßig so weit auseinander liegen. Manchmal … manchmal stritt er sich mit unserer Mutter oder mit meinem Kindermädchen, wenn sie mich nicht mitgehen lassen wollten, so lange, bis sie nachgaben. Und dafür liebte ich ihn, mehr als sonst jemanden.

Er hörte mir zu, lachte mit mir über die Storys, die ich aus der Schule mitbrachte … Welcher Achtzehnjährige lacht über die Witze seines kleinen Bruders? Er hat's getan … Er hat mir das Schwimmen beigebracht, das Radfahren, auch Einrad, und ein paar Mal durfte ich sogar auf seinem Schoß Auto fahren. Ich vergötterte ihn - und er mich.

Eines Nachts, einige Wochen nach der großen Achtzehn, hörte ich ihn unten mit meinen Eltern streiten, der einzige Satz, an den ich mich erinnern kann, ist: Ihr könnt uns doch nicht trennen, ich passe auf ihn auf, ihm wird nichts passieren. Ich dachte, es wäre nur ein Traum, bis ich am nächsten Morgen einen von ihm schnell hingekritzelten Zettel fand, der unter meinem Kissen hervorragte. Ich werde dich immer liebhaben. Stian, stand drauf, und ich lief in sein Zimmer, um ihn zu fragen, was er damit meinte, aber er war weg. Nicht nur er, sein ganzes Zimmer war praktisch leergeräumt. Seitdem habe ich Stian nicht mehr gesehen. Meine Eltern sagen, dass es ihm gut geht und dass wir uns alle bald wiedersehen werden, aber das sagen sie seit Jahren.

Die nächsten zwei Tage durfte ich das Haus nicht verlassen, dann ging es mit einem neuen Namen direkt in ein neues Leben. Mein Vater hat das Flugzeug selbst geflogen, nur Mom war noch mit an Bord, niemand sollte wissen, wo sie mich hinbrachten. Auf dem Weg ins Internat musste ich unter Tränen und dem mehrmaligen Versprechen meiner Eltern, dass sie mich liebten und wir bald wieder vereint sein würden, meine neue Identität zigmal wiederholen, bis sie davon überzeugt waren, dass ich mich, zumindest oberflächlich, von meinem alten Ich verabschiedet hatte. Du darfst auf keinen Fall jemandem etwas über uns erzählen, egal, wie lieb er dich bittet oder wie sehr er dir wehtut – du musst stark sein und immer bei dem bleiben, was du heute gelernt hast, mein Schatz, haben sie gesagt.

Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, Markus. Mit meinen Eltern telefoniere ich zweimal im Jahr, an Weihnachten und an meinem Geburtstag, aber Stian …


Oles Tränen laufen in Rinnsalen an seinen Wangen hinab und führen mich in Versuchung, ihm seine irrwitzige Geschichte, bei der mich das Gefühl beschleicht, sie sei einem billigen Fernsehthriller entsprungen, doch abzukaufen, denn, so gut er auch darin sein mag, Menschen zu manipulieren, wer wird bei einer solchen Story so emotional, wenn sie ihn nicht selbst betrifft? Im Zweifel für den Angeklagten also …

"Danke fürs Zuhören", sagt er schließlich und trocknet seine letzten Tränen mit einem Taschentuch ab. "Danke, dass du mir gestattet hast, es nach so langer Zeit loszuwerden."

"Klar!" Was soll ich denn sonst erwidern? Wenn wirklich alles wahr ist, dann … Kein Wunder, dass er gefühlsmäßig immer so distanziert ist, dass er niemandem über den Weg traut und nichts von Beziehungen hält.

"Diese Leute, sie haben deine Eltern erpresst", denke ich laut nach.

"Nein, nicht erpresst. Mit Erpressungen rechnet man, wenn man solch ein Unternehmen …"

"Was ist das für ein Unternehmen?", unterbreche ich neugierig, gebe mich aber schnell damit zufrieden, dass er es mir lieber nicht sagen würde.

"Es waren Morddrohungen, keine Erpressung, keine Forderungen, nur die Schreiben hirnkranker Psychos, die meinen Eltern Stians und meinen Tod innerhalb einer Woche ankündigten."

"Dann", schlussfolgere ich, "hast du dich und deine Familie in der letzten Stunde in ziemliche Gefahr gebracht."

"Indem ich mich dir anvertraut habe, habe ich unsere Sicherheit in deine Hände gelegt, falls du das meinst. Aber ich weiß, dass ich dir vertrauen kann."

"Kannst du?" Wie kommt er darauf? Steht auf meiner Stirn geschrieben Erzählt mir eure Geheimnisse, ich behalte sie für mich? "Wie war nochmal die Nummer von El-Quaida? Oder war es die ETA oder die IRA?" Zu spät wird mir klar, wie dumm meine Worte sind. "Tut mir leid, darüber macht man keine Witze", entschuldige ich mich. Die Ereignisse, die auf die Konten ebendieser Organisationen gehen, sind zu präsent in unseren Köpfen – man muss nur den Fernseher einschalten und ist davon umzingelt.

"Ich musste es endlich mal laut aussprechen, Markus. Und als Kristin mir gesagt hat, dass du dir die Schuld für das hier", er beschreibt mit einer Handbewegung sein Krankenzimmer, "gibst, wusste ich, dass du der Richtige dafür bist. Deswegen noch einmal: Danke!"

Ich stehe auf und setze mich auf die Fensterbank, bringe einen räumlichen Abstand zwischen uns, den ich brauche um … Er hat mir mit seinem Vertrauen eine schwere Last aufgebürdet, eine Verantwortung, von der ich mir nicht sicher bin, dass ich sie tragen kann.

"Du glaubst mir nicht", interpretiert Ole mein Wegsetzen.

"Doch", versichere ich ihm, "das tue ich. Auch wenn du zugeben musst, dass sich die Geschichte ziemlich an den Haaren herbeigezogen anhört."

Er nickt verständnisvoll. "Ich wünschte, es wäre alles nur ein Hirngespinst." Das wäre mir auch lieber – für ihn und für mich.

"Du hast vorhin von einem Gefallen gesprochen. Ich soll dir helfen, deinen Bruder aufzuspüren, nicht? Ich meine, das ist jetzt fünfzehn Jahre her, ihr solltet mittlerweile sicher sein vor diesen Idioten. Ich weiß nur nicht, womit ich dir helfen könnte."

"Meinen Bruder suchen … nein, darum geht's nicht. Wenn es wirklich sicher ist, dann melden sich meine Eltern. Nein, es geht um weit mehr als um Stian, Markus, es geht darum, was ich an jenem Tag vor fünfzehn Jahren verloren habe, um etwas, was die meisten Menschen als das Wichtigste im Leben bezeichnen."

"Ich verstehe nicht, was du meinst", gebe ich zu und hoffe auf eine Erklärung für seine Andeutungen.

"Du willst es nicht verstehen, weil du dabei bist, dir diese Fähigkeit selbst zu verwehren, sie aus deinem eigenen Leben zu radieren. Spiel nicht den Dummen, Markus!", regt er sich auf und versucht sich aufzusetzen, bewegt sich dabei aber so ungeschickt, dass ein heftiger Schmerz ihn durchfährt und ich zu ihm eile, um zu sehen, ob die OP-Narbe vielleicht aufgerissen ist – zum Glück nicht. Ich richte ihm das Bett so ein, wie er es haben will, und hole für mich einen Stuhl heran.

"Lucas", sagt er nur und wartet auf eine Reaktion von mir. Vor meinen Augen flasht ein Bild vorbei, in dem ich das zu Ende führe, was Oles Angreifer vor fast einer Woche begonnen haben. Ich schüttle das Bild weg und beiße mir auf die Unterlippe – nur nicht überreagieren, den Streit mit Bella musst du hier nicht wiederholen, nur um dich anschließend wieder zu entschuldigen.

"Lucas ..."

"Du vermisst ihn doch, das kann ein Blinder sehen. Gerade jetzt, so kurz vor Weihnachten."

"Ich habe euch." Meine schwache Verteidigung geht nahezu lautlos in den aufkommenden Tränen unter, die ich gerade noch in ihre Schranken verweisen kann.

"Ja, du hast uns, aber wir sind kein Ersatz für eine so tiefe und lange Freundschaft, Markus."

"Aber er hat mich hinausgeworfen, er hat unsere Freundschaft beendet."

"Hat er? Wenn ich mich richtig erinnere, dann war das seine Freundin, diese ..."

"Jesse ..."

"Genau die. Bist du dir sicher, dass ihre Worte wirklich seine Worte waren und sie dich nicht nur aus Lucas' Leben verbannen wollte? Glaub mir, ich habe schon etwas Erfahrung mit Frauen und sie tun einiges aus Liebe. Männer auch, aber Frauen noch mehr. Kristins Reaktionen sind da noch am harmlosesten."

Ich verziehe mich zurück auf die Fensterbank. Draußen hat es erneut angefangen zu schneien, große weiße Flocken heben sich vom dunkelgrauen Himmel ab. Immer noch von Ole abgewandt, gestehe ich ihm:

"Anfangs hat er täglich zigmal angerufen, inzwischen nur noch alle paar Tage."

"Lass mich raten, du gehst jedes Mal ran?", lächelt er.

"Hab ihn immer weggedrückt. In die Vorlesungen gehe ich extra später, damit er sich nicht zu mir setzen kann. Und wenn sich unsere Blicke mal durch den Saal oder über dem Campus treffen, dann ..."

"... wehe dem, den dein Blick trifft", nickt Ole.

"So in etwa. Ich habe mein Bestes gegeben ihm klarzumachen, wie sehr ich ihn verabscheue."

"Und doch gibt es niemanden, den du mehr brauchst, dessen Freundschaft ...", kommentiert er. "Rede mit ihm, Markus, lass ihn alles erklären, und wenn du dann immer noch der Meinung bist, dass er nichts mehr mit dir zu tun haben will, dann hast du es wenigstens versucht und die Zweifel, die an dir zerren, ausgeräumt."

So was Ähnliches hat Bella auch durchblicken lassen.

"Weihnachten steht vor der Tür, Markus. Wer weiß, vielleicht geschehen noch Wunder."

"Die Tür", sage ich anstelle einer Antwort und entferne den Stuhl, mit dem ich die Klinke blockiert habe. "Gewissheit, hm?" Ole nickt. "Okay", verspreche ich und atme tief durch. Hoffentlich geht das nicht nach hinten los.


Das Mittagessen, eine doppelte Portion Zigeunerschnitzel mit Reis und grünem Salat, sowie einem kleinen Blumenstrauß als besonderen Gruß von Schwester Nancy für den Patienten, verläuft ungewöhnlich ruhig. Ob das an Oles Schmerzen nach der brüsken Bewegung von vorhin liegt oder daran, dass er in Erinnerung und Sehnsucht nach seiner Familie schwelgt, kann ich nicht sagen, denn normalerweise ist er nicht so still.

Mir soll das mehr als recht sein, so habe ich die Chance, mir zu überlegen, wie ich das Versprechen, das ich ihm gegeben habe, einlösen oder noch besser, ob ich es umgehen kann. So sehr ich mir auch wünsche, mich mit Lucas auszusprechen, mich mit ihm zu versöhnen, so groß ist auch meine Furcht vor einer Ablehnung. Wenn er nie wieder mit mir reden wollen sollte, dann ist es mir lieber, es nicht zu erfahren.

Doch wenn tatsächlich alles nur ein Missverständnis oder, wie Ole, und auch Bella, meinen, eine Intrige von Jesse war, um Lucas und mich auseinander zu bringen, und ihm unsere Freundschaft ebenso fehlt wie mir, würde ich mir damit nicht ins eigene Fleisch schneiden? Wenn er nur anrufen würde, dann könnte ich ihn fragen! Selber seine Nummer zu wählen, dazu bin ich zu feige.

"Markus", lässt der Kranke sich aus dem Bett vernehmen, "ich kann nicht schlafen."

Ich schlage ihm vor, Schwester Nancy zu bitten, ihn in den Schlaf zu wiegen, aber er möchte lieber eine Geschichte hören, und so fange ich an, ihm das Märchen von zwei Freunden zu erzählen, die zusammen nach London fuhren und sich ewige Freundschaft schworen. Als ich fertig bin, weiß ich, dass ich es versuchen muss und nehme mir vor, gleich morgen früh, noch vor der ersten Vorlesung, mit Lucas zu sprechen.

Bevor ich Ole am Abend versichere, ihn morgen, unabhängig vom Ergebnis meiner Unterhaltung mit Lucas, abzuholen und ihm eine gute Nacht wünsche, fällt mir noch eine Frage ein, die ich ihm, sobald er zu Hause ist und unter Kristins ständiger Aufsicht steht, nicht mehr stellen kann:

"Ole", frage ich mit einer Hand auf der Türklinke, "dann heißt du in Wahrheit gar nicht Ole?"

Er grinst von einem Mundwinkel zum anderen. "Doch, schon. Ist aber mein zweiter Vorname. Der erste ist ..." Er bedeutet mir mit dem Zeigefinger näher zu kommen und flüstert mir ins Ohr: "Sören. Und wegen Lucas, das hier soll dir Glück bringen", sagt er und gibt mir einen Kuss auf die Wange. "Bis morgen."


Das warme Wohlgefühl von heute Morgen setzt wieder ein und hält bis zu Hause an, trotz der vielen Nadeln, mit denen die Furcht vor Lucas' Reaktion Löcher in die bunten Glücksbläschen sticht, die um mich herum schweben. Und so kommt es, dass ich auf der Strecke vom Parkplatz zum Wohnheim gegen jemanden pralle, der unerwartet schnell um die Ecke geschossen kommt. Im Laufen dreht sich derjenige um, schickt ein "Sorry" in meine Richtung und geht weiter seines Weges. Das Gesicht, das von der Straßenlaterne kurz beleuchtet wurde, kommt mir bekannt vor, nur woher?

"Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen", empfängt Leah mich vor der Tür zum Gemeinschaftsraum.

"Nein, kein Geist. Nur jemand, den ich kenne. Wenn ich nur wüsste … Kim!"

"Kim?", fragt Kristin aus dem Zimmer.

"Wer ist Kim?", kommt es von Basti und Jonna gleichzeitig.

"Kein Geist", mokiert sich Leah.

"Kein Geist", lache ich laut. "Kim ist ein Typ aus meiner Lerngruppe, der immer zu spät kommt und zu früh geht. Er spricht kaum, außer wenn es ums Fachliche geht und … bis heute habe ich ihn noch nie nach sechzehn Uhr auf dem Campus gesehen. Er ist irgendwie merkwürdig ..."

"Ist er süß?", fragt Jonna und leckt einen Teelöffel ab.

Hm … Ist er süß? "Ja", nicke ich langsam und lasse mich auf die Couch fallen, während die anderen es sich um mich herum bequem machen und auf die Neuigkeiten des Tages warten. Gerade als ich ihnen von Oles Entlassung berichten will, klingelt es an der Tür.

"Das ist bestimmt dieser Kim", grinst Basti und eilt hin. Es dauert ein paar Sekunden, dann hört man, wie die Tür wieder geschlossen wird, und er kommt zurück. Sein Grinsen ist einem Stirnrunzeln gewichen. "Markus", sagt er tonlos, "es ist für dich."

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