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Frühlingsgefühle - Thema mit Variationen

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort:

Ein Text – Geschichte wäre zu viel gesagt – für alle, die Freude an sprachlichen Spielereien haben, für alle, die ihre Stadt zumindest meistens mögen und für alle, die sich das irgendwie anders vorgestellt hatten. „Diese Scheißstadt hier ist nämlich ein verdammtes Verhütungsmittel.“ (Isabella in ‚Shoppen‘).

Exposition

Sommer. Zumindest fast. Ein Bach, eine Wiese. Ein Junge. Martin. Er schlenderte den geschotterten Weg entlang, um sich blickend, die Leute beobachtend, Ausschau haltend, träumend, stolpernd.

Er blieb stehen. Wo war er nur schon wieder mit seinen Gedanken? Frühlingsgefühle. Doch für wen? Da war niemand in seinem Leben, dem er diese Gefühle zu Teil werden lassen hätte können. Niemand? Naja. Da war Leo – unerreichbar. Felix – garantiert nicht schwul. Tom – schon ewig nicht mehr gesehen. Der Junge da drüben am Bach – niedlich. Sehr niedlich! Hingehen? Klar. Hingehen, sich in die Nähe setzen und was dann? Ansprechen? Aber wie? Schwierig. Was, dachte sich Martin, war eigentlich so schwer daran? Alles. Aber dennoch: Hingehen, das konnte nicht schaden. Ganz zufällig, die Wiese war ja schließlich nur ein paar hundert Meter lang, warum sich also nicht wenige Meter neben den Jungen setzen? Das konnte doch gar nicht auffällig sein, bestimmt nicht, überhaupt nicht ... Dem Jungen fiel es auf. Natürlich.

Er hob den Kopf, blinzelte kurz rüber, kniff die Augen etwas zusammen – die Sonne – und legte sich wieder zurück, das war’s. Schade. Wirklich? War’s das? Martin wollte nicht, dass es das war, malte sich aus wie es wäre, falls es das nicht schon wäre. Ein Traum. Der Junge hob noch einmal den Kopf, doch diesmal lächelte er. Martin auch. Sekunden vergingen. Mehrere, bestimmt zehn. Vielleicht aber auch nur zwei. Zeitgefühl geht schnell verloren, wenn andere Gefühle im Spiel sind. Frühlingsgefühle. Der Junge stand auf, kam auf Martin zu, lächelte etwas unbeholfen, zeigte auf den Boden.

„Ist da noch frei?“

Niedlich. Was für eine Frage. Die Wiese war ja schließlich nur ein paar hundert Meter lang. Ja, klar sei da frei, und ob er denn öfter hier sei, meinte Martin. Der Junge erwiderte, er käme immer dann hierher, wenn er sich einsam fühle. Ja, die Stadt. Immer voll Leben, pulsierend, tobend. Nie ist man alleine, doch oft genug einsam. Als Single in der Großstadt. Irgendwie hatte Martin sich das anders vorgestellt. Nun kam er oft hierher, immer dann, wenn er sich einsam fühlte. Der Park lag nur ein paar Blocks von seiner Wohnung entfernt. Ideale Lage. Dennoch erschwinglich, weil Altbau. Nicht groß, aber ausreichend. Nicht schön, aber charmant. Martin war bemüht, das Beste aus dem kleinen Apartment zu machen und es gelang ihm, wie er fand, ganz gut. Wie er fand. Denn viele andere Meinungen hatte er noch nicht gehört. Ein bisschen mehr Leben könnte sie vertragen, die Wohnung. So hübsche Jungs wie jener dort drüben würden ihr ab und zu ganz gut tun.

Martin drehte den Kopf zur der Seite, wo der Junge lag. Unverändert. Ihn einfach mitnehmen, das wär was. Auf einen Kaffee einladen, ihn kennenlernen, wenn er nett ist, ihn gleich zum Abendessen dabehalten. Paprika. Hackfleisch. Reis. Vorhin frisch eingekauft. Genug für zwei Mahlzeiten, das ist praktischer. Oder für eine zu zweit. Danach vielleicht noch einen Film schauen. Oder quatschen bis tief in die Nacht, philosophieren über Gott und die Welt. Vielleicht sich langsam näher kommen und ein wenig schmusen oder vielleicht auch nicht heute, sondern erst beim nächsten Treffen. Oder beim übernächsten oder erst in einem halben Jahr. Erstmal sich kennenlernen. Bloß keine Eile, Hauptsache mal ein bisschen was Neues. Ein Abenteuer. Etwas entdecken. Jemanden. Rübergehen? Ihn ansprechen? Schwierig. Was, dachte sich Martin, sollte er denn bitte sagen?

„Ist da noch frei?“

Lächerlich. Was für eine Frage. Die Wiese war ja schließlich nur ein paar hundert Meter lang. Er blickte in den Himmel. Ein paar kleine Wolken zogen vorüber, sonst war alles blau. Die Frühlingssonne schaffte es, einen in den Glauben zu versetzen, es sei bereits Sommer. Zumindest fast.

Ihm gehe es ähnlich entgegnete Martin dem Jungen, der in seinem Traum nun direkt neben ihm saß, er fühle sich auch oft einsam. Die Stadt, erläuterte er dem Jungen seine Empfindungen, sei immer voll Leben, immer pulsierend, tobend. Man sei nie alleine, doch oft genug einsam. Der Junge verstand ihn, sie kamen ins Gespräch, alles ganz einfach. Er hieß Jan. Eigentlich Janosch, aber für seine Freunde Jan. Martin sah hinüber. Genau, Jan. So konnte er heißen. Das passte doch ganz gut zu ihm. Vielleicht aber auch Marc. Oder Jo, weil er fand, dass Johannes zu lang sei. Auf jeden Fall ein kurzer Name.

1. Variation

Sommer. Zumindest fast. Ein Bach, eine Wiese. Ein Junge. Matthias. Er lag in der Nähe des Baches, sich ab und zu aufsetzend, um sich blickend, die Leute beobachtend, Ausschau haltend, träumend, vor sich hin starrend.

Er schloss die Augen. Wo war er nur schon wieder mit seinen Gedanken? Frühlingsgefühle. Doch für wen? Da war niemand in seinem Leben, dem er diese Gefühle zu Teil werden lassen hätte können. Niemand? Naja. Da war Lisa – unerreichbar. Sophie – vergeben. Tanja – schon ewig nicht mehr gesehen. Das Mädchen da drüben am Bach – niedlich. Sehr niedlich! Hingehen? Hingehen, sich in die Nähe setzen. Zu auffällig. Warum hatte er sich nicht gleich, als er gekommen war, in ihre Nähe gesetzt? Feigheit? Hingehen und sie ansprechen? Aber wie? Schwierig. Was, dachte sich Matthias, war eigentlich so schwer daran? Alles. Aber dennoch: Zu ihr hinüber blicken, das konnte nicht schaden. Ganz zufällig, es gab ja nur vier verschiedene Himmelrichtungen, warum also nicht in ihre schauen. Das konnte doch gar nicht auffällig sein, bestimmt nicht, überhaupt nicht ... Schräg hinter ihr die Turmuhr. Es konnte fast so aussehen, als ob er dorthin schaute. Nicht dauernd. Zwischendrin die Augen schließen, sich zurücklehnen, träumen. Dann wieder hinschauen. Natürlich.

Er hob den Kopf, blinzelte kurz rüber, kniff die Augen etwas zusammen – die Sonne – verdammt! Ein anderer Junge hatte sich dazwischen gesetzt, direkt in die Sichtlinie. Matthias legte sich wieder zurück, das war’s. Schade. Wirklich? War’s das? Er wollte nicht, dass es das war, malte sich aus wie es wäre, falls es das nicht schon wäre. Ein Traum. Das Mädchen stand auf, sah zu ihm rüber und lächelte. Matthias auch. Sekunden vergingen. Mehrere, bestimmt zehn. Vielleicht aber auch nur zwei. Zeitgefühl geht schnell verloren, wenn andere Gefühle im Spiel sind. Frühlingsgefühle. Das Mädchen kam auf Matthias zu, lächelte etwas unbeholfen, zeigte auf ihr leeres Handgelenk.

„Weißt du, wie spät es ist?“

Niedlich. Was für eine Frage. Schräg hinter ihr die Turmuhr. Vier Uhr sei es, und ob sie denn öfter hier sei, meinte Matthias. Das Mädchen erwiderte, es käme immer dann hierher, wenn es sich einsam fühle. Ja, die Stadt. Immer voll Leben, pulsierend, tobend. Nie ist man alleine, doch oft genug einsam. Als Single in der Großstadt. Irgendwie hatte Matthias sich das anders vorgestellt. Nun kam er oft hierher, immer dann, wenn er sich einsam fühlte. Der Park war mit der U-Bahn nur ein paar Stationen von seiner Wohnung entfernt. Neubausiedlung. Dennoch erschwinglich, weil etwas abseits. Nicht groß, aber ausreichend. Nicht charmant, aber schick. Matthias war bemüht, das Beste aus dem kleinen Apartment zu machen und es gelang ihm, wie er fand, ganz gut. Wie er fand. Denn viele andere Meinungen hatte er noch nicht gehört. Ein bisschen mehr Leben könnte sie vertragen, die Wohnung. So hübsche Mädels wie jenes dort drüben würden ihr ab und zu ganz gut tun.

Matthias drehte den Kopf zur der Seite, wo der Junge lag. Unverändert. Das Mädchen dahinter. Sie einfach mitnehmen, das wär was. Auf einen Kaffee einladen, sie kennenlernen, wenn sie nett ist, sie gleich zum Abendessen dabehalten. Bohnen. Schnitzel. Kartoffeln. Vorhin frisch eingekauft. Genug für zwei Mahlzeiten, das ist praktischer. Oder für eine zu zweit. Danach quatschen bis tief in die Nacht, philosophieren über Gott und die Welt. Oder vielleicht noch einen Film schauen. Vielleicht sich langsam näher kommen und ein wenig schmusen oder vielleicht auch nicht heute, sondern erst beim nächsten Treffen. Oder beim übernächsten oder erst in einem halben Jahr. Erstmal sich kennenlernen. Bloß keine Eile, Hauptsache mal ein bisschen was Neues. Ein Abenteuer. Etwas entdecken. Jemanden. Rübergehen? Sie ansprechen? Schwierig. Was, dachte sich Matthias, sollte er denn bitte sagen?

„Weißt du, wie spät es ist?“

Lächerlich. Was für eine Frage. Schräg hinter ihr die Turmuhr. Er blickte in den Himmel. Ein paar kleine Wolken zogen vorüber, sonst war alles blau. Die Frühlingssonne schaffte es, einen in den Glauben zu versetzen, es sei bereits Sommer. Zumindest fast.

Ihm gehe es ähnlich entgegnete Matthias dem Mädchen, das in seinem Traum nun direkt neben ihm saß, er fühle sich auch oft einsam. Die Stadt, erläuterte er dem Mädchen seine Empfindungen, sei immer voll Leben, immer pulsierend, tobend. Man sei nie alleine, doch oft genug einsam. Das Mädchen verstand ihn, sie kamen ins Gespräch, alles ganz einfach. Sie hieß Veronika. Die Kurzform Vroni konnte sie nicht leiden. Matthias erinnerte sich an ihr Bild, das nun verdeckt war. Genau, Veronika. So konnte sie heißen. Das passte doch ganz gut zu ihr. Vielleicht aber auch Johanna. Oder Anna Lena, weil sie findet, dass ihr erster Vorname alleine zu kurz sei. Auf jeden Fall ein langer Name.

Intermezzo

Ein leichter Wind kam auf, unterbrach Martin in seinen Gedanken. Noch nicht störend, nicht so, dass er einen frösteln ließe, nicht in der Lage, den Kampf gegen die erstaunlich starke Frühlingssonne aufzunehmen, aber dennoch spürbar, dennoch genug, einem Träumer die Gedanken zu verwirbeln, ja gar fortzuwehen. Martin sah sich um. Die Wiese, der Bach, der Junge. Liegend, unverändert. Der blaue Himmel. Unverändert. Zumindest fast. Ein paar Wolken waren nun zu sehen. Waren die zuvor auch schon dagewesen? Vielleicht. Egal. Martin wollte zurückkehren in seinen Traum, doch es gelang ihm nicht mehr.

Plötzlich erschien ihm alles so lächerlich. Was machte er hier? Warum saß er auf einer Wiese in einem Park in der Großstadt, neben einem Bach, in der Nähe eines Jungen? Eines süßen Jungen, das war wohl der Grund. Eines unerreichbaren Jungen jedoch, also warum? Er hatte sich das anders vorgestellt. Als Single in der Großstadt. Er dachte zurück an die Zeit in der Schule, als alles so einfach gewesen war, so selbstverständlich. All die Freunde – eine schöne Zeit. Dann die erste wirkliche Liebe – ein Traum, mehr nicht. Vergeblich. Ein langer Traum jedoch und ein ernst gemeinter. Nicht so wie jener, von dem Jungen da drüben, war jener doch eigentlich nur Beschäftigungstherapie. Damals war alles anders gewesen. Beständigkeit.

Nun hingegen war alles schnelllebig und oberflächlich. Bekanntschaften, kaum noch Freundschaften. Jungs im Park, keine große Liebe mehr. Er fragte sich, wohin all das gegangen war, was ihm so lange Zeit so viel bedeutet hatte, wer daran schuld war. Hatte er etwas falsch gemacht? Oder war er einfach nur erwachsen geworden? Was geblieben war, war die Schüchternheit – oder besser Feigheit? Nie hatte er sich getraut in der Schule Klartext zu reden und auch jetzt wussten nur wenige, dass er schwul war. Daran hatte sich also nicht viel geändert, aber musste nicht noch mehr geblieben sein? Unwillkürlich musste er an einen Text denken, den er kürzlich gelesen hatte. Die Zeit sei gnadenlos, hatte da gestanden, sie nehme alles mit, ob Schmerz, ob Freude, ob gute, ob schlechte Erinnerung, ob man wolle oder nicht. Wie doch die Zeit vergehe ... Kindheit, Jugend, Erwachsen sein. Nichts bleibe wie es gewesen sei. Eine einfache Feststellung und doch so richtig. So wahr ... So war es wirklich.

Zurück konnte er nicht mehr. Also nach vorne. Den Blick nach vorne, Flucht nach vorne. Zukunft. Was erwartete er sich von ihr? Klar, Glück. So weit, so gut. Aber konkret? Einen lieben, süßen Freund, auch klar. War das alles? Wohl nicht, aber es war auch nicht nichts. Alles in seinem Leben hatte sich bisher eher zufällig ergeben. Durch Zufall hatte sich sein Studienwunsch entwickelt, durch Zufall war er in dieser Stadt gelandet, durch Zufall hatte er seinen Nebenjob bekommen. Oder durch Schicksal. Er war bereit, darauf zu warten und gespannt, was das Schicksal oder der Zufall für ihn am Ende seines Studiums bereit halten würde.

Aber Privat? Da hatte das Schicksal bisher nichts für ihn bereitgehalten. Oder hatte es das Nichts bereitgehalten? Stopp, ermahnte er sich, nicht schon wieder in Selbstmitleid versinken. Wieder sah er sich um. Sommer, zumindest fast. Überall. Die Wiese, der Bach, der Himmel. Eigentlich konnte er doch zufrieden sein, dort wo er war. Die Stadt. Er mochte sie. Zumindest meistens. Nur eines hielt sie nicht bereit für ihn. Oder nahm er es ihr nur nicht aus der hingestreckten Hand? Doch wenn es denn so sein sollte, wo sollte diese denn dann sein? Hier im Park? In der Uni? Gar in der Szene? Er werde sie suchen, die Hand der Stadt. Bei dem Gedanken musste er kurz lächeln. Die Hand der Stadt. Aber suchte er sie nicht schon seit er hier war? Was sollte sich also ändern?

2. Variation

Sommer. Zumindest fast. Ein Bach, eine Wiese. Ein Mädchen. Kim. Sie saß in der Nähe des Baches, lesend, ab und zu um sich blickend, die Leute beobachtend, Ausschau haltend, träumend, das gerade gelesene vergessend.

Sie versuchte sich zu konzentrieren. Wo war sie nur schon wieder mit ihren Gedanken? Frühlingsgefühle. Doch für wen? Da war niemand in ihrem Leben, dem sie diese Gefühle zu Teil werden lassen hätte können. Niemand? Naja. Da war Marc – unerreichbar. Alex – bestimmt schwul. Patrick – schon ewig nicht mehr gesehen. Der Junge da drüben am Weg – niedlich. Sehr niedlich! Hinschauen. Klar. Hinschauen und abwarten. Der Junge schaute sich um, Leute beobachtend, Ausschau haltend, träumend, stolpernd. Sehr niedlich. Vielleicht setzte er sich in die Nähe? Und was dann? Ansprechen? Aber wie? Schwierig. Was, dachte sich Kim, war eigentlich so schwer daran? Alles. Aber dennoch: Zu ihm hinüber blicken und hoffen, das konnte nicht schaden. Ganz zufällig, es gab ja nur vier verschiedene Himmelrichtungen, warum also nicht in seine schauen. Das konnte doch gar nicht auffällig sein, bestimmt nicht, überhaupt nicht ... Natürlich musste das auffallen, ihr fiel doch auch auf, wie der andere Junge dauernd zu ihr schaute. Aber nicht ihr Typ. Dieser nicht. Jener hingegen schon. Zwischendrin ins Buch blicken, nicht lesen, träumen. Dann wieder hinschauen. Natürlich.

Er kam näher, setzte sich. Nur ein paar Meter entfernt. Ein schönerer Anblick. Schöner als davor, der andere Junge nun von ihm verdeckt. Sie sah verträumt zu ihm hinüber. Er nicht zu ihr, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Klar, angenehmer für ihn, nicht blinzeln zu müssen – die Sonne – verdammt! Hatte er sie überhaupt gesehen? Kim blickte wieder zurück in ihr Buch, das war’s. Schade. Wirklich? War’s das? Sie wollte nicht, dass es das war, malte sich aus wie es wäre, falls es das nicht schon wäre. Ein Traum. Der Junge drehte schließlich doch den Kopf, sah sie, lächelte. Kim auch. Sekunden vergingen. Mehrere, bestimmt zehn. Vielleicht aber auch nur zwei. Zeitgefühl geht schnell verloren, wenn andere Gefühle im Spiel sind. Frühlingsgefühle. Der Junge stand auf, kam auf Kim zu, lächelte etwas unbeholfen, zeigte auf sein leeres Handgelenk.

„Weißt du, wie spät es ist?“

Niedlich. Was für eine Frage. Schräg hinter ihr die Turmuhr. Vier Uhr sei es, und ob er denn öfter hier sei, meinte Kim. Der Junge erwiderte, er käme immer dann hierher, wenn er sich einsam fühle. Ja, die Stadt. Immer voll Leben, pulsierend, tobend. Nie ist man alleine, doch oft genug einsam. Als Single in der Großstadt. Irgendwie hatte Kim sich das anders vorgestellt. Nun kam sie oft hierher, immer dann, wenn sie sich einsam fühlte. Ihre Wohnung lag nur ein paar Blocks von dem Park entfernt. Ideale Lage. Altbauwohnung, Eigentum ihrer Eltern, von einer Großtante geerbt. Nicht gerade klein, eher übertrieben. Nicht gemütlich, aber geräumig. Kim war bemüht, das Beste aus den hohen Räumen zu machen und es gelang ihr, wie sie fand, ganz gut. Wie sie fand. Denn viele andere Meinungen hatte sie noch nicht gehört. Ein bisschen mehr Leben könnte sie vertragen, die Wohnung. So hübsche Jungs wie jener dort drüben würden ihr ab und zu ganz gut tun.

Kim drehte den Kopf zu der Seite, wo der Junge saß. Unverändert. Ihn einfach mitnehmen, das wär was. Auf einen Kaffee einladen, ihn kennenlernen, wenn er nett ist, ihn gleich zum Abendessen dabehalten. Paprika. Schnitzel. Pommes. Vorhin frisch eingekauft. Genug für zwei Mahlzeiten, das ist praktischer. Oder für eine zu zweit. Danach vielleicht noch einen Film schauen. Oder quatschen bis tief in die Nacht, philosophieren über Gott und die Welt. Vielleicht sich langsam näher kommen und ein wenig schmusen oder vielleicht auch nicht heute, sondern erst beim nächsten Treffen. Oder beim übernächsten oder erst in ein paar Monaten. Erstmal sich kennenlernen. Bloß keine Eile, Hauptsache mal ein bisschen was Neues. Ein Abenteuer. Etwas entdecken. Jemanden. Rübergehen? Ihn ansprechen? Schwierig. Was, dachte sich Kim, sollte sie denn bitte sagen?

„Ist da noch frei?“

Lächerlich. Was für eine Frage. Die Wiese war ja schließlich nur ein paar hundert Meter lang. Sie blickte in den Himmel. Ein paar kleine Wolken zogen vorüber, sonst war alles blau. Die Frühlingssonne schaffte es, einen in den Glauben zu versetzen, es sei bereits Sommer. Zumindest fast.

Ihr gehe es ähnlich entgegnete Kim dem Jungen, der in ihrem Traum nun direkt neben ihr saß, sie fühle sich auch oft einsam. Die Stadt, erläuterte sie dem Jungen ihre Empfindungen, sei immer voll Leben, immer pulsierend, tobend. Man sei nie alleine, doch oft genug einsam. Der Junge verstand sie, sie kamen ins Gespräch, alles ganz einfach. Er hieß Arvid. Kim sah hinüber. Genau, Arvid. So konnte er heißen. Das passte doch ganz gut zu ihm. Vielleicht aber auch Zyprian. Oder Florizell, weil seine Eltern fanden, dass Florian zu langweilig sei. Auf jeden Fall ein ausgefallener Name.

Presto furioso

Eine Stadt. Ein Park. Eine Wiese, ein Weg, ein Bach. Wolken. Wind. Stärker werdend. Erste Tropfen. Vereinzelt. Noch. Ein Junge. Martin. Er sah auf. Ein Mädchen. Kim. Es sah auf. Ein Junge. Matthias. Er sah auf. Drei junge Menschen, die aus ihren Träumen geweckt wurden, die beim Versuch gestört wurden, ihre Gefühle zu ordnen. Frühlingsgefühle. Doch für wen?

Gleichzeitig standen sie auf. Lieber nach Hause, bevor es richtig anfängt. Gleichzeitig waren sie aufgestanden und das bemerkten sie auch. Sie lächelten sich an, alle drei, mussten grinsen, ob ihres identischen Verhaltens. Etwas sagen? Es war schon lustig, dass sie synchron reagiert hatten. Lustig? Vielleicht auch nicht, hatte doch der Regen wie ein Dirigent ihnen den Einsatz gegeben. Also doch nichts sagen. Was auch?

„Habt ihr auch Tropfen gespürt?“

Lächerlich. Was für eine Frage. Drei Jugendliche, dirigiert vom Wetter, von der Stadt, von den Gefühlen. Frühlingsgefühle. Ein jeder spielte seine eigene Stimme, sie spielten synchron, aber doch nicht zusammen, konsonant, aber doch nicht im Einklang.

Kleine Trommelschläge. Prasselnder Regen. Eine Melodie. Heulender Wind. Nichts war mehr zu sehen von der Frühlingssonne, die versucht hatte den Eindruck zu erwecken, dass sie bereits die Sommersonne sei. Wolken. Regen. Er versuchte nicht zu verbergen, dass er noch kein Sommerregen war. Kalt war er. Noch. Frühlingsregen. Frühlingssturm. Rennende Menschen. Darunter drei Jugendliche und noch viele mehr. Die Jugend der Großstadt, dirigiert vom Wetter, von der Stadt, von den Gefühlen. Ein schräges Konzert. Schnelle Schritte auf den Gehsteigen hallten wie Donnerschläge wider. Sintflutartig ergossen sich die Menschen in die U-Bahn-Stationen, stiegen in ihre Autos, rannten zu ihren Häusern.

Kim, Matthias und Martin. Drei junge Menschen, die auseinanderstoben, vom stürmischen Wind in verschiedene Richtungen verstreut wurden. Drei Lächeln, kein Wort. Drei Träume, keine Tat. Drei lächelten, drei träumten. Und keiner sprach oder handelte. Wolken, Wind und Regen. Drei Gründe zu rennen, zu fliehen. Alleine. Nein, nicht alleine. Zusammen mit den Massen der Großstädter. Doch einsam.

Trio sognante

Stampfend schlugen die dicken Tropfen auf den Boden, bildeten kleine Bäche und rannen die Treppen zur U-Bahn herunter, als wollten auch sie mit einsteigen. Wie Matthias. Froh war er. Froh, darüber, dass er nun im Trockenen war und nach Hause fahren konnte. Traurig war er. Traurig darüber, dass auch dieser Nachmittag nichts verändert hatte. Weil er einfach gegangen war und Veronika auch. Weil sie einfach gegangen waren, nichts gesagt hatten, nicht gemeinsam geflohen waren. Veronika, unter dem Namen würde er sie in Erinnerung behalten, weil er zu feige gewesen war, ihren wirklichen zu erfahren. Wieder wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als der Wind der einfahrenden U-Bahn ihm ins Gesicht blies. Ja, Veronika. Wo sie wohl gerade war? Auch schon im Trockenen?

Kim. Der kühle Regen ließ sie kaum einen klaren Gedanken fassen, als der noch stärker werdende Wind ihn ihr ins Gesicht blies. Nur ein unklares, fahles Gefühl machte sich in ihr breit. Sie hatte Arvid gehen lassen. War selbst einfach gegangen, hatte nichts gesagt, war nicht mit ihm gemeinsam geflohen vor dem Wolkenbruch. Arvid, unter dem Namen würde sie ihn in Erinnerung behalten, weil sie zu feige gewesen war, seinen wirklichen zu erfahren. Sie ahnte, dass es Trauer war. Dieses unklare, fahle Gefühl. Trauer darüber, dass auch dieser Nachmittag nichts verändert hatte. Doch nun war sie auch froh. Froh darüber, endlich die Haustür zu öffnen und ins Trockene zu kommen. Ja, Arvid. War er auch schon im Trockenen? Wo war er wohl?

Martin. Er versuchte die Tropfen abzuschütteln, froh darüber, dass er mit dem Öffnen der Tür ins Trockene trat. Doch kaum war er dem Unwetter entflohen, setzte der Frühlingssturm in seinem Kopf wieder ein. Härter als zuvor. Ungnädiger. Frühlingsgefühle. Doch für wen? Auch dieser Nachmittag hatte nichts verändert. Er hatte Jan nicht angesprochen, nicht eingeladen, mit ihm zu kommen, mit ihm zu fliehen vor dem Regen. So feige war er gewesen, zu feige um zu erfahren, ob sein Jan wirklich ein Jan war, wer er war, wie er war und was er hätte werden können. Ein Freund vielleicht, oder gar mehr? Die Erfüllung seiner Träume, oder zumindest eine engere Bekanntschaft zwischen all den flüchtigen in dieser Stadt? Oder einfach gar nichts? Natürlich war auch das möglich. Doch nun würde er nicht mehr herausfinden können, was hätte werden können. Hätte, wäre, wenn. Vorbei ist vorbei. Was blieb, war ein Traum. Von Jan. Wo er wohl jetzt war? Ob er auch gerade die Treppe hochstieg, die Tür öffnete, an sein Abendessen dachte? Ob er auch alleine essen musste, ein Essen, das auch gut für zwei hätte reichen können?

Quodlibet

Frühling. Noch. Regen. Eine Stadt, ein Park. Abenddämmerung. Töpfe, Pfannen, ein Backblech. Der Wind trieb die Wolken über die Stadt, so wie der plötzliche Regen die Menschen in die Häuser getrieben hatte. Durch ein kleines Loch zwischen den Wolken erinnerte ein goldener Schimmer der untergehenden Sonne an den vergangenen Nachmittag. Warm, trocken. Wie im Sommer. Zumindest fast.

Nun alles trist, nicht nur das Wetter. Drei junge Menschen hingen ihren Erinnerungen nach, an einen frühlingshaften Nachmittag, der es nicht geschafft hatte, zum Sommertag zu werden. Nur fast. An Frühlingsgefühle, die es nicht geschafft hatten, zu leuchtendem sommerlichen Glanz zu kommen. Nicht einmal fast.

Drei Wohnungen. Zwei näher, eine ferner. Abend. Dämmerung. Bohnen, Reis. Zweimal Paprika. Kartoffeln. Zwei Schnitzel. Hackfleisch und Pommes. Genug für sechs Mahlzeiten, das ist praktischer. Oder für drei zu zweit. Doch mit wem?

Sie wollten nicht verstehen, warum es immer so sein musste, wie es war. Sie versuchten zur Ruhe zu kommen und weinten sich in den Schlaf. Stille, feuchte Tränen. Die Tränen der Großstadt.

Reprise nocturne

Sommer. Zumindest fast. Ein Bach, eine Wiese. Ein Park. Träumend. Die Wolken hatten sich verzogen, der Regen aufgehört. Eine sternklare Nacht, von irgendwoher wehte ein warmer Wind. Nur die feuchte Wiese erinnerte noch an den Wolkenbruch des vergangenen Abends.

Nun war sie still, die Stadt. Sonst immer voll Leben, pulsierend, tobend. Im Park waren immer noch ein paar Leute unterwegs, vermutlich fühlten sie sich einsam. Warum sollten sie sonst hierher kommen? Hierher kam man nicht aus Liebe zur Natur, zum Bach, zur Wiese. Hierher kam man nur aus Einsamkeit. Das wusste die Wiese und auch der Bach wusste es. Schade. Ja, die Stadt. Nie ist man alleine, doch oft genug einsam. Als Park in der Großstadt. Irgendwie hatten sie sich das anders vorgestellt. Ein paar Tropfen kullerten von der Wiese in den Bach. Tränen.

Der Park wollte nicht verstehen, warum es immer so sein musste, wie es war. Er versuchte zur Ruhe zu kommen und weinte sich in den Schlaf. Stille, feuchte Tränen. Die Tränen der Großstadt.

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