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Verbotene Liebe

Weihnachtschallenge 2011 - Sieger Uservoting

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Inhaltsverzeichnis

Miguel

„Das machst du nicht, du Sau“, brülle ich und schiebe erbost meine blonde Lockenperücke ein Stück nach hinten, weil die mir beim Wütendsein eben ins Gesicht rutschte.

„Süß“, behauptet mein teuflisches Gegenüber. „Was willst du denn dagegen tun?“

„Ich polier dir die Visage“, drohe ich gefährlich.

„Das darfst du gar nicht.“

„Um dich davon abzuhalten, darf ich ALLES!“

Die schaulustige Menschenmenge, die sich um uns herum gebildet hat, kann ich getrost ignorieren, während ich meine Hände zu Fäusten balle. Menschen glauben nämlich eh nur, was sie sehen… und meistens nicht mal das. Da muss man sich schon einen Heiligenschein aus Pappe an die falschen Locken tackern, sich in einen weißen Kaftan hüllen, zwei Flügel an den Rücken schnallen und die Menschen meinen immer noch, man trüge bloß ein Kostüm. Okay, ich trage momentan natürlich ein Kostüm und wäre ich ein Mensch, würde ich auch nicht glauben, dass ich echt bin. Genauso wenig begreifen die Leute, dass der teuflisch kostümierte Kerl mir gegenüber echt ist. Wenn sie das täten, wäre aber mal ganz schön was los hier. Also, noch mehr als ohnehin.

Weil ein Kind plötzlich anfängt zu weinen, bin ich für einen Augenblick abgelenkt, was mein Gegenüber leider sofort ausnutzt, um mir einen kräftigen Schubs zu versetzen. Zum Glück kriege ich ihn früh genug zu fassen, dass er mit mir zu Boden geht. Wir wälzen uns ein bisschen herum, prügeln aufeinander ein, bis wir eine Polizeisirene hören.

„Verdammter Fuck“, schreit der Teufel, rappelt sich hoch und rennt wie angestochen davon.

Genau das mache ich zwei Sekunden später ebenfalls… allerdings ohne zu fluchen.

Normalerweise würde ich nicht vor der Polizei weglaufen, denn schließlich habe ich nichts verbrochen. Aber man müsste sehr wahrscheinlich unangenehme Fragen beantworten und sich hinterher in der Irrenanstalt wieder finden. Erwähnte ich bereits, dass Menschen einem wie mir auf gar keinen Fall glauben würden?!

„Renn mir nicht hinterher“, hechelt mein Prügelkumpan, den ich soeben eingeholt habe.

„Renn du doch woanders hin“, hechele ich zurück.

„Magst dich wohl von mir nicht trennen, was?“

„Traumtänzer. Was soll das denn jetzt?“, frage ich entgeistert, weil er mich unsanft in eine unübersichtliche Einfahrt drängt und gegen die Hauswand presst.

„Verstecken“, hustet er. „Macht man so, wenn man auf der Flucht ist.“

„Nimm deine satanischen Griffel von mir!“

„Zwing mich“, zwinkert er bescheuert.

Er ist jetzt so nah, dass mir sein Geruch in die Nase steigt. Das ist auch wieder so eine Sache… man denkt, dass Höllenbewohner schweflig-ekelhaft stinken und einem ihren Pestatem ins Gesicht hauchen. Diesem Höllenbewohner haftet ein unglaublich betörender Geruch an. So betörend, dass mir fast schwindlig wird. Langsam zieht er mir die Perücke mitsamt dem arg verbeulten Pappheiligenschein vom Kopf und lächelt.

„Du siehst so viel besser aus, Engel.“

„War das eine Art Annäherungsversuch?“, will ich fassungslos wissen. „Wie kannst du es wagen?“

„Im Gegensatz zu dir darf ich tatsächlich alles“, flüstert er und… küsst mich auf den Mund?!


Es fing damit an, dass Gabriel mich zu sich rief. Das heißt, eigentlich fing es damit an, dass

ich im Alter von einundzwanzig Jahren gestorben bin. Die Gründe werde ich nicht erläutern, weil ich finde, dass das Sterben eine sehr persönliche Angelegenheit ist, die fremde Leute überhaupt nichts angeht. Okay, ich war also tot und meine Seele stieg in den Himmel hinauf, wo sie auf ewig und erfüllt von totaler Glückseligkeit beim lieben Gott herumschweben durfte. Das dachte ich wenigstens. Die Wirklichkeit sah leider etwas anders aus. An der Schwelle zu dem, was die Menschen gerne als Jenseits oder Himmelreich bezeichnen, nahm mich erstmal ein Engel in Empfang. Und zwar einer, der Flügel hatte. Riesige, flauschige, spektakulär anmutende, weiße Schwingen. Na gut, ich will ehrlich sein: Der silberne Brustharnisch, das Schwert und sein finsterer Blick wirkten etwas verstörend auf mich. Außerdem war ich vor Kurzem gestorben und hatte ja keine Ahnung, was jetzt mit mir geschehen würde. Vielleicht schickte mich der himmlische Schwertkämpfer geradewegs in die Hölle?!

Nebenbei, es ist ein Irrglaube, dass man nach dem Tod einfach irgendwohin geschickt wird. So was passiert bloß in Ausnahmefällen. Normalerweise wird man vor die Wahl gestellt, dann wird das Leben überprüft, das man als Sterblicher geführt hat, und noch tausend andere Dinge… es ist insgesamt ein recht komplizierter Vorgang, den kein menschliches Gehirn begreifen kann.

Jedenfalls kam ich schon mal nicht in die Hölle. In den Himmel auch nicht. Ich meine, in den richtigen. Da gibt’s nämlich eine Menge… äh… himmlische Vororte, in denen man zu verbleiben hat, bis man nach ganz oben darf.

Der Engel, es war der Erzengel Michael höchstpersönlich, wie ich später erfuhr, entschied augenblicklich, dass ich für die Himmelsarmee nicht zu gebrauchen war und ließ mich im ersten Vorort zurück. Ich lief ein bisschen planlos herum und traf verschiedene Leute, die ebenfalls nicht so genau wussten, was zu tun war. Im Himmel ist alles furchtbar geheim. Die Verstorbenen erfahren fast nix. Die können nur das tun, was ihnen gesagt wird… wenn sich ein Engel dazu herablässt, ihnen was zu sagen. Michael war, wie schon erwähnt, nicht besonders auskunftsfreudig gewesen.

Ich schlenderte weiter und stellte fest, dass es nicht großartig anders aussah als auf der Erde. Es gab Häuser, Straßen, Parks, Bäume, Spaziergänger, keine Autos. Wahrscheinlich wollte man die frisch verstorbenen Neuankömmlinge nicht sogleich völlig um den Verstand bringen und schuf für sie etwas Bekanntes, dachte ich. Jedenfalls suchte ich mir eine freie Wohnung und lebte einige Zeit unbehelligt vor mich hin. Wie lange genau, kann ich nicht sagen, denn im Himmel gehen die Uhren ziemlich anders. Wie auch immer.

Eines Tages bekam ich Besuch von Gabriel. Das war etwas außergewöhnlich Besonderes, denn der Cheferzengel gibt sich normalerweise eher selten mit Vorortbewohnern ab. Vielleicht war ich in meinem Leben so tugendhaft gewesen, dass ich durch ihn schneller aufstieg?! Die anderen Verstorbenen tuschelten hinter meinem Rücken von Vetternwirtschaft und so, aber das kümmerte mich nicht. Alles war besser, als mich noch weitere hundert Jahre in einem Vorort zu langweilen. Ich wurde in ein kleines Haus am Rande des Himmels einquartiert, in dem mich Gabriel oft besuchte und in viele himmlische Geheimnisse einweihte. Er plauderte über Gott, nahm mich sogar einige Male mit in den Himmel… Gott hab ich aber leider nie getroffen.

Um dauerhaft im Himmel leben zu dürfen, als richtiger Engel mit Flügeln und so weiter, muss man natürlich eine Aufgabe erfüllen. Und deswegen rief mich Gabriel eines Tages zu sich.

„Es ist soweit“, behauptete er.

„Okay. Und was genau?“

Gabriel schlug lässig die Beine übereinander und nahm einen dezenten Schluck Wein aus seinem Kristallglas.

„Ich werde dich hinunter schicken.“

Mir wurde total flau, was mehrere Gründe hatte. Erstens fürchtete ich mich davor, zur Erde zurückzukehren, denn sicher hatte sich während meiner Abwesenheit alles verändert. Zweitens schickte mich Gabriel wohl kaum aus Jux da runter. Und drittens… Gabriel sah unglaublich schön aus. Logisch, Engel sind bekanntlich von Natur aus wunderschön. Gabriel ist noch einen Ticken schöner, so wahnsinnig atemberaubend, dass man als unbedeutender Himmelsbotenanwärter den Verstand verlieren will. Lange, honigblonde Locken, Haut wie feinstes Porzellan, perfekt geschwungene Brauen, veilchenblaue Augen, eine ebenmäßige Nase und volle, blassrote Lippen. Dazu noch seine Flügel, in die man sich sofort kuscheln möchte.

„Es gibt da jemanden, der deine Hilfe braucht“, erläuterte der Erzengel. „Das wäre eigentlich eine relativ leichte Aufgabe, wenn… der verdammte Luzifer nicht schon einen seiner kleinen Diener auf die Seele angesetzt hätte.“

Ich bekam auf der Stelle Magenschmerzen. Mit dem verdammten Luzifer war nicht zu spaßen, mit seinen Dienern vermutlich ebenfalls nicht.

„Und du denkst, dass ich das schaffen kann?“, fragte ich unsicher.

Gabriel lächelte. „Ich vertraue dir, Miguel. Du bist mein bester Schüler. Natürlich wirst du es schaffen.“

Ich bekam einen Zettel, auf dem die wichtigsten Infos über den Sterblichen, den es zu retten galt, aufgeschrieben waren und sollte mich bald auf den Weg machen.

„Vergiss nicht“, mahnte Gabriel, „der Teufel wird dich auf jede erdenkliche Art in Versuchung führen. Fall auf seine Tricks nicht herein, sonst schmorst du in der Hölle.“

Na, das waren doch mal schöne Aussichten!

Sidney

Der Kuss eines Engels ist unwahrscheinlich süß. Süßer als kandierte Äpfel… süßer als ein Vanilleshake… und auch noch viel süßer als der Bountydrink, den es momentan überall zu kaufen gibt. Der Kuss mit diesem Engel endet nach einer halben Sekunde, weil er mir schmerzhaft in die Unterlippe beißt.

„Verdammte Scheiße“, zische ich.

„Fluche nicht in meiner Gegenwart.“

„Die da oben haben dir wohl keine Manieren beigebracht, was? Man beißt nicht die Lippen, die einen küssen.“

„Und die da unten haben wohl vergessen, dir zu sagen, dass man nicht einfach einen Engel küsst“, erklärt er lässig.

„Ich hasse dich“, entgegne ich angepisst und entferne die puscheligen Teufelshörner von meinem Kopf.

„Was anderes hätte mich auch gewundert.“

„Ich gehe jetzt nach Hause. Und du… kannst von mir aus in den Himmel zurückfliegen, du Arsch“, fauche ich.

„Nimm du doch lieber den Fahrstuhl zur Hölle“, brüllt er hinter mir her.


Es fing alles damit an, dass Jonah uns dazu verdonnerte, in dem Stück mitzuspielen, das er für die Eröffnung des Weihnachtsmarktes, geschrieben hatte. Es sollte eine Art Jesus-Biographie sein und ich einen auf Teufel machen. Die Vorstellung, vor einem Haufen von Glühweinbesoffenen den rotgesichtigen, gehörnten Fürsten der Finsternis zu geben, hatte mich nicht besonders gereizt, aber ich konnte Jonah nur schwer etwas abschlagen. Na ja und eigentlich fing alles auch schon viel früher an. Und zwar als ich um eine Audienz bei meinem Chef bat, die er mir sogar nach hunderttausend Jahren gnädigerweise gewährte.

„6387-2… was gibt’s?“

„Du weißt, wie ich heiße, verdammt“, stöhnte ich genervt. „Würde es dich umbringen, mich mit meinem Namen anzusprechen?“

„Keine bevorzugte Behandlung“, erklärte er knapp.

Ich blickte mich um. „Wir sind hier total unter uns, ja?“

„Meinetwegen. Sid, was willst du?“

„Einen neuen Job.“

Luzifer schüttelte seine lange, schwarze Mähne. „Kann ich nicht tun. Keine bevorzugte…“

„Hör schon auf mit dem Scheiß“, unterbrach ich ihn. „Denkst du vielleicht, deine speichelleckenden Höllenhunde zetteln sofort eine Revolte an, wenn ich einen anderen Job kriege?“

„Es gibt hier Regeln, an die sich alle zu halten haben. Auch ein kleiner Querkopf, den ich zufälligerweise ganz süß finde.“

„Ich hab jedenfalls keinen Bock mehr“, ignorierte ich seinen lahmarschigen Flirtversuch, „also lass dir irgendwas einfallen, sonst…“

„Sonst was?“, fragte er mit hochgezogener Braue.

„Sonst gehe ich nach oben. Nach ganz oben, wenn du verstehst, was ich meine.“

„In dem Langweilerschuppen würdest du es nicht einen Tag aushalten“, behauptete er amüsiert. „Aber in Ordnung. Ich hätte da eine kleine Aufgabe für dich. Wenn du die zu meiner Zufriedenheit erledigst, gebe ich dir eine Arbeit, die dir besser gefallen wird.“

„Was für eine Arbeit?“

„Das wirst du dann sehen.“

„Ich kaufe doch nicht die Katze im Sack“, ließ ich nicht locker.

„Du… darfst die richtig Bösen quälen“, behauptete Luzifer fröhlich, als hätte er mir den absoluten Traumjob in Aussicht gestellt.

„Supi“, log ich.

Mal ehrlich, die richtig Bösen auf den Grill zu schnallen und schlimm piesacken und foltern zu dürfen… das war ein mächtiger Sprung auf der Karriereleiter. Andererseits hatte ich von der Hölle insgesamt dermaßen die Schnauze voll, dass mich diese Art von Aufstieg nur mäßig erfreute. Als der Chef mir allerdings eröffnete, dass er mich, zwecks Erledigung seines Auftrags, auf die Erde zurückschickte, war ich Feuer und Flamme. Wieder als Mensch unterwegs sein zu können, das war doch mal was!

Ich sag’s jetzt in aller Deutlichkeit: Mein Abgang hatte echt null Stil! Sex und Drogen und Rock’n’Roll ist eine verdammt gute Maxime… wenn man weiß, wie weit man gehen kann. Ich wusste es nicht, weshalb mich eine Überdosis dahinraffte. Also liebe angehende Rockstars, lasst euch gesagt sein: Ein Leben auf der Überholspur ist nur super, wenn man clever genug ist, rechtzeitig auf die Bremse zu latschen! Nichts ist unglamouröser und unerstrebenswerter, als allein in seiner Bude zu verrecken, weil man dachte, man könnte sich Dope, das locker für ’ne Woche gereicht hätte, auf einmal in die Vene jagen. Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer, bloß nützt einem das in solch einem Fall dann auch nix mehr, weil man bei Luzifer landet, wo man auf ewig das beschissene Höllenfeuer anzufachen hat. Nichts gegen den Chef, der ist in Wirklichkeit nicht ganz so schlecht wie sein Ruf, aber die Hölle ist halt kein Zuckerschlecken und ein Ponyhof erst recht nicht. Wobei nicht jeder Mensch mit ausschweifendem Lebenswandel automatisch in der Hölle landet. Man hat ja ein gewisses Mitspracherecht. Ich wollte schlicht und ergreifend nicht in den Himmel. Vielleicht war ich aber auch noch zu sehr drauf, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Na ja, das spielt jetzt eh alles keine Rolle mehr.

Ich sollte also auf Seelenfang gehen. Was war da günstiger, als mich sofort bei dem Typen einzuquartieren, oder? Jonah suchte einen neuen Mitbewohner, mir gefiel die Wohnung in dem hübschen, hellblauen Jugendstilhaus und ich hatte Geld für die Miete. Außerdem gefiel mir auch Jonah auf Anhieb. Ehrlich gesagt, verstanden wir uns nach drei Wochen so gut, dass ich meinen Auftrag nicht mehr besonders ernst nahm. Ich verfolgte meine eigenen Interessen. Nahm einen Job in einem freakigen Klamottenladen an, lernte eine Band kennen, die grad dringend einen Sänger brauchte, und ich verführte jeden Kerl, den ich haben wollte. Und jede Frau. Wisst ihr, ich sehe das generell so: Wenn ich etwas schön finde, dann nehme ich es mit nach Hause! Wie auch immer. Ich knüpfte dort an, wo ich unfreiwillig aufgehört hatte… Rock’n’Roll, Sex und… okay, bei den Drogen hielt ich mich kolossal zurück, was eigentlich völliger Quatsch war, denn ich war ja bereits tot. Trotzdem. Ein paar Pillen reichten mir. Es musste dazu nicht auch noch eine Line gezogen werden. Von den ganz heftigen Sachen ließ ich sowieso die Finger. Außerdem traf ich Becky, die nach einer kurzen Affäre meine absolut beste Lieblingsfreundin wurde. Yeah, ich war wieder zurück und Luzifer konnte mich am Arsch lecken!

Miguel

„Das ist das Bad, das du alle drei Tage putzen müsstest, wenn du hier einziehen willst. Männer-WG hin oder her, ich hasse Dreck und Unordnung.“

Das kleine, lagunenartig gestrichene Badezimmer mit den lustigen Abziehbildfischen auf den Fliesen war in der Tat fast porentief rein und bemerkenswert aufgeräumt.

„Okay, dann zeig ich dir noch die Küche“, sagte Jonah freundlich.

Der Raum war ziemlich groß und in Wohn- und Küchenbereich getrennt. Die Küche war hellgelb gestrichen, der Wohnbereich rosa. Ein Sofa mit kuscheliger Sternchendecke stand dort unterm Fenster, ein niedriger Glastisch davor, zwei Sessel drumherum, ein Fernseher an der Wand. Es wirkte gemütlich.

„Du kannst natürlich dein eigenes Fach im Kühlschrank haben… Sid und ich sehen das aber nicht so eng. Bei uns läuft das mit dem Essen so: Wer hat, bezahlt. Klappt ganz gut.“

„Sid?“, fragte ich.

„Mein Mitbewohner. Der hat das Zimmer gegenüber von dir… falls du dich entschließen solltest…“

„Das hab ich“, unterbrach ich ihn. „Ich nehme das Zimmer.“

„Nicht so voreilig“, lächelte Jonah. „Erstmal kommt noch der Härtetest.“

Er zeigte mir ein Zimmer, das kleiner war als die anderen und hauptsächlich aus einer Art Gehege mit allerlei Kram drin und einem riesigen Käfig bestand.

„Hier leben die Untermieter. Die pennen natürlich jetzt. Ratten sind nachtaktiv“, klärte Jonah mich auf. „Hast du was dagegen?“

„Äh…?“

„Ich meine… Ratten als Haustiere?“

„Nein“, schüttelte ich den Kopf, schaute angestrengt und konnte nun doch arg versteckt zusammengekuscheltes Fell und diverse Füßchen in einem der Holzhäuser entdecken.

„Das sind… Renate, Holger und George Bush“, sagte Jonah. „Die anderen wirst du auch noch zu Gesicht kriegen und Sid spätestens heute Abend kennen lernen… keine Sorge, er bellt zwar, beißt aber nicht. Es sei denn, du stehst drauf.“

Keinen Schimmer, was er mir damit sagen wollte.

Ich bezog auf der Stelle mein Zimmer und war einigermaßen froh, dass mein Vorgänger seine Möbel einfach dagelassen hatte und ich mich mit so etwas nicht zu befassen brauchte. Schließlich war mein Aufenthalt nicht von Dauer, weswegen es keinen Grund gab, mich wer weiß wie häuslich einzurichten.

Irgendwann am frühen Abend rief Jonah meinen Namen. Vorsichtig schlich ich in die Wohnküche. Jonah saß mit einem fremden Mädchen am Tisch.

„Das ist Becky, eine gute Freundin. Becky, das ist Miguel.“

Das Mädchen war schwarz gekleidet, hatte pechschwarzes, halblanges Haar und sah insgesamt wie eine Teufelsanbeterin aus, lächelte allerdings freundlich.

„Hallo“, grüßte ich neutral.

„Setz dich, magst du Kaffee?“, fragte Jonah.

Grad als ich mich setzen wollte, betrat ein junger Mann den Raum. Auch er trug schwarze Kleidung, hatte einen schwarzen Strubbelschopf, sehr viele Tätowierungen auf dem linken Arm, einen Ring in der Braue und giftgrüne Augen. Ich wusste augenblicklich, wen ich vor mir hatte. Der Geruch, der von ihm ausging, war eindeutig. Süßlich und betörend. Dunkel und verdorben. Gabriel hatte ihn mir beschrieben. Es war der Geruch der Hölle!

Der Satanische stellte sich dicht vor mich hin und musterte mich.

„Das ist der Neue, mh? Hi, ich bin Sidney.“

„Miguel“, antwortete ich, um nicht unangenehm aufzufallen, ignorierte jedoch seine Hand, die er mir entgegenstreckte.

„Bist du so einer, der ständig Angst vor Bakterien und Keimen hat? Keine Angst, ich wasche mir nach’m Pinkeln immer die Hände.“

Ich entschied, dass es besser war, keinen Streit anzufangen und drückte kurz seine Hand.

„Geht doch“, zwinkerte er, setze sich und schlürfte seinen Kaffee.

Nachdem auch ich Platz genommen hatte, beobachtete ich still, während sich die anderen angeregt unterhielten. Dabei fielen mir einige Dinge auf. Die Teufelsanbeterin schmachtete Sidney an, versuchte allerdings, es zu verbergen. Jonah schmachtete die Teufelsanbeterin an und versuchte, es zu verbergen. Sidney tat so, als ginge ihn das alles überhaupt nichts an, dabei wusste er genau, was los war. Jonah wusste das wohl ebenfalls, denn immer wenn Becky Sidney anlächelte oder ihn kurz berührte, wurde Jonahs Blick ein wenig… traurig, hoffnungslos. Es gab also offensichtlich viel Arbeit für einen Engel, der endlich in den Himmel wollte.

Zuerst freundete ich mich natürlich mit Jonah an. Das ging am Leichtesten, indem ich mich für sein Hobby interessierte: Ratten. Außer Renate (die eigentlich ein Junge war), Holger und George Bush gab es noch Käpt’n Kidd und Sgt. Pepper. Wurden Ratten nicht allgemein mit Hölle und Teufel in Verbindung gebracht? Diese Tierchen verhielten sich nicht wie Höllenkreaturen, sie waren sehr zahm und sehr niedlich. Niedlich war bestimmt auch Jonah… also für die Damenwelt… ich begriff wirklich nicht, warum Becky ausgerechnet für den anderen Mitbewohner schwärmte. Der tat nämlich nichts weiter als herumzugammeln, abends auszugehen und sich betrunken nach Hause fahren zu lassen… wahlweise von Jonah oder wildfremden Leuten, die dann über Nacht blieben. Seine Verderbtheit ging so weit, dass er mit Frauen UND Männern Unzucht trieb!! Jedenfalls war Jonah doch zweifellos die bessere Partie. Er arbeitete in einer katholischen Kindertagesstätte, kümmerte sich um seine Freunde, trank keinen Tropfen Alkohol, hurte nicht herum und ertrug tapfer die Flirtereien zwischen seiner Traumfrau und dem Diener des Teufels. Wenn Jonah eines Tages starb, kam er sicher in Nullkommanix in den Himmel… den richtigen, endgültigen Himmel.

Sidney ging ich zunächst aus dem Weg, ich wollte mit Höllenbewohnern nichts zu schaffen haben. Bis mir einfiel, dass es wahrscheinlich von Vorteil war, wenn man seinen Feind kannte. Das machte es leichter, ihn auszuschalten. Logisch. Ich musste unbedingt herausfinden, was er vorhatte, wie genau er Jonah in die ewige Verdammnis schicken wollte. Denn, wie gesagt, tat er eigentlich nichts Teuflisches in Bezug auf ihn… außer mit Becky zu flirten. Er verfolgte aber mit Sicherheit irgendeinen geheimen Plan, immerhin war er ja aus einem ähnlichen Grund hier wie ich.

Sidney

Der Neue war echt seltsam. Erst hatte er mir beim Kennenlernkaffeetrinken nicht die Hand geben wollen und jetzt schmiss er sich an Jonah ran. Ekelhaft wie er auf best friend machte, obwohl er ihn grad mal drei Sekunden kannte. Ständig lief er ihm hinterher, verbrachte stundenlang mit ihm im Rattenzimmer und mich ignorierte er völlig. Letzteres war mir ja schnuppe, aber der sollte seine Griffel von Jo lassen. Hatte der Typ keine eigenen Freunde, oder was?

„Der Neue ist seltsam“, bemerkte ich und angelte eine Lakritzschnecke aus der Tüte mit Gemischtem, die Becky vom Kiosk gegenüber mitgebracht hatte.

„Ach ja?“

„Ja.“

Sie nuckelte nachdenklich an einer Schaumzuckererdbeere. „Weil er sich nach… äh… vier Wochen noch nicht von dir hat flachlegen lassen?“

Na, die hatte ja eine tolle Meinung von mir.

„Nee. Erstens stehe ich nicht auf Mauerblümchen, zweitens sind Mitbewohner sowieso tabu und drittens…“

„Hast du Angst, dass er Jonah vor dir rumkriegen könnte.“

„Völliger Blödsinn“, regte ich mich auf und wirbelte die Lakritzschnecke wie ein Lasso um meinen Finger. Andererseits hatte ich es tatsächlich bereits mehrfach bei Jo versucht, wenn ich betrunken genug war, und er hatte mich jedes Mal aber so was von abblitzen lassen.

„Was wirst’n gleich so böse?“, amüsierte sich meine beste Freundin.

„Na… weil der Neue die ganze Atmosphäre hier verpestet.“

„Miguel.“

„Hä?“

„Er heißt Miguel. Solltest du dir vielleicht mal merken, immerhin wohnt ihr zusammen. Wenn du mich beispielsweise bloß Alte nennen würdest, hätte ich auch keinen Bock, mich mit dir abzugeben.“

„Ich nenne den Neuen doch nicht so, wenn er dabei ist“, erklärte ich genervt.

„Okay, also was stört dich denn so furchtbar an ihm? Außer dass er sich gut mit Jonah versteht.“

„Dass er so auf geheimnisvoll macht und überhaupt nichts über sich erzählt.“

„Woher willst du das wissen?“, lächelte sie. „Er redet doch kaum mit dir.“

„Genau.“

Seufzend legte sie sich auf die Seite und stützte ihren Kopf mit der Hand. „Manchmal reicht es nicht, einfach nur da zu sein, Sid. Man muss sich… einbringen.“

„Wie einbringen?“

„Interesse zeigen.“

„Zeigt er an mir doch auch nicht.“

Becky atmete angestrengt aus. „Ich weiß, du bist es nicht gewohnt, dass jemand nicht sofort den Boden küsst, auf dem du wandelst, was dich logischerweise total verunsichert. Aber, hey… that’s life. Komm damit klar und hör auf, rumzujaulen. Miguel ist ein netter Kerl und verpestet hier rein gar nichts.“

„Hat er dich auch schon eingewickelt? Wieso gehst du nicht rüber zu ihm und Jo?“, fragte ich angepisst.

„Weil ich meine Zeit lieber bei dir verschwende.“

Wahrscheinlich spekulierte sie auf Sex, denn sie war eindeutig noch verknallt in mich. Das konnte sie allerdings vergessen.

Nichts ist kälter als eine tote Liebe!

Und mal ehrlich, ich war nie in Becky verliebt gewesen. Wir hatten einen One-Night-Stand gehabt und daraus war dann eine Freundschaft entstanden. Wenn sie dachte, ich würde irgendwann noch einmal schwach werden, irrte sie.

Nachdem sich Becky verabschiedet hatte, gesellte ich mich zu Jo und dem Neuen, der grad George Bush über seine Flossen laufen ließ.

„Dein Groupie schon weg?“, wollte er wissen.

Geil, oder? Der erste Satz, den ich heute von ihm hörte und dann gleich so was Dämliches.

Und da sollte ich Interesse an ihm zeigen?!

„Hättest du auch gern eins? Kein Problem, ich leih dir Becky gern mal aus.“

„Kein Wunder, dass so etwas von einem wie dir kommt.“

„Einem wie mir?“, fragte ich gereizt. „Was bin ich denn deiner Meinung nach?“

„Vergiss es“, schüttelte er den Kopf.

„Nee, ich möchte das echt wissen. Ich meine, du sprichst seit vier Wochen nicht mit mir und denkst aber, du kennst mich so gut, dass du abfällige Bemerkungen über mich machen kannst?“

„Ja. Denn, was ich gesehen habe, reicht mir.“

Ey, so ein altes Sackgesicht!

„Könnt ihr euch bitte einigermaßen anständig benehmen?“, mischte sich Jonah ein. „Sonst muss ich demnächst einen von euch beiden rausschmeißen und ich hab eigentlich keine Lust, schon wieder einen neuen Mitbewohner zu suchen.“

„Was heißt hier einen von euch beiden?“, krakeelte ich. „Wenn einer rausgeschmissen wird, dann ja wohl der da.“

„Brüll hier nicht so rum, du erschreckst die Ratten.“

„Entschuldigung, Käpt’n“, entschuldigte ich mich leise beim Käpt’n, den ich inzwischen aus dem Gehege genommen hatte und mit einem Stückchen Paprika besänftigen konnte. Um Jonah zu besänftigen, tat ich etwas, das mir total widerstrebte. Ich lud den Neuen zu meinem Auftritt ein, der übernächsten Samstag stattfand. Wenn er jetzt ablehnte, war er das Arschloch in der Runde. HAHA.

Er wandte sich an Jo. „Bist du auch da?“

„Becky und ich verpassen keinen Auftritt von Sids Band.“

„Dann komme ich gerne“, erklärte er scheißfreundlich.

Verdammt!

„Und ihr“, fügte er hinzu, „geht am Sonntag mit zur Kirche. Wenn wir uns schon kennen lernen, dann auch richtig.“

Ach du Scheiße!!

„Katholisch oder evangelisch?“, fragte Jo, weil ich vor Entsetzen sprachlos war.

„Es gibt nur eine Kirche“, behauptete der Neue.

Ein katholischer Mitbewohner. Ich hielt’s im Kopf nicht aus!

„In Ordnung“, nickte Jo.

„Und was ist mit dir, Sidney?“

„Bin dabei“, lächelte ich horrorartig und hasste den Neuen abgrundtief.


Mal ganz unter uns… ich verabscheue die katholische Kirche. Und zwar nicht, weil man das als Diener des Teufels eben so macht, sondern weil ich die Institution für zum Kotzen halte. Das hat auch gar nichts mit an Gott glauben oder nicht zu tun… hey, ich muss mich doch, was das angeht, überhaupt nicht aufs Glauben verlassen, weil ich ja aus zuverlässiger Quelle weiß, dass Gott ebenso existiert wie mein Chef. Aber ich finde es absurd und anmaßend, dass Menschen sich als Stellvertreter Gottes bezeichnen. Woher wollen denn Kirchenmänner wissen, ob Gott damit einverstanden ist, dass die in seinem Namen, zuweilen höchst gefährlichen, Unfug von sich geben und bestimmte Tatsachen verdrehen?! Luzifer hat mir beispielsweise mal erzählt, dass er nicht aus dem Himmel geflogen ist, weil er Gottes Macht haben wollte oder sich irgendwie gegen ihn aufgelehnt hätte. Sein Weggang hatte andere Gründe. Welche genau… keine Ahnung. Ich hab ihn gefragt, aber er meinte nur, dass mich das nichts angeht. Na ja, und wenn der Katholenverein in dem Punkt schon nicht die Wahrheit sagt… kann man sich ja wohl denken, dass da auch noch an anderen Stellen gelogen wird.

Jedenfalls war ich mir absolut nicht sicher, ob man als… äh… quasi Untoter aus der Hölle ein Gotteshaus betreten konnte, ohne dass einen eventuell sofort der Blitz traf oder man anderweitig Aufsehen erregte. Dann erinnerte ich mich an einen Ausflug mit Becky, der mir bereits gezeigt hatte, dass mich ein von Menschen gebautes und gesegnetes Gemäuer keineswegs dahinraffen konnte. Trotzdem war ich nicht unbedingt scharf drauf, an einem Sonntagmorgen bestialisch früh aufzustehen, um mir irgendeinen Schmarrn anzuhören. Aber der Neue hatte die ganze Woche über so ekelhaft siegessicher gewirkt, dass ich ihm einfach einen Strich durch die Rechnung machen wollte, also ging ich mit.

Es wurde relativ peinlich. Weil die Kirche nur mäßig besucht war, fiel es immer gleich voll auf, wenn ich mal wieder nicht wusste, ob ich nun aufzustehen, zu knien, zu beten, zu singen hatte. Okay, einen Punkt konnte ich doch landen. Als nämlich der Neue irgendwann fragte, ob ich nicht zur Kommunion gehen wollte, erklärte ich, dass ich nicht gebeichtet hatte und deshalb den Leib Christi nicht empfangen dürfte. Er hatte selbstverständlich vorher ordentlich seine Sünden bereut und holte sich ehrfürchtig eine Hostie ab. Nebenbei… Jo benahm sich während der Messe auch nicht sehr viel souveräner als ich.

Miguel

Es war ein genialer Schachzug gewesen, Sidney zu einem Kirchenbesuch einzuladen und ich war gespannt, wie sich der Teuflische da wohl rausreden würde. Leider tat er das nicht. Im Gegenteil. Er besaß die ungeheuerliche Unverfrorenheit, seine satanischen Hufe auf geheiligten Boden zu setzen. Ich war fassungslos. Und ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet, dass ihn sofort der Blitz oder so etwas treffen würde. Dass er sich beim Geruch von Weihrauch schlimm winden und von Krämpfen geschüttelt übergeben musste. Dass seine Haut verbrannte, sobald sie mit Weihwasser in Berührung kam. Dass er spätestens beim Schuldbekenntnis anfing, aus den Ohren zu bluten… oder beim Credo… beim Vater Unser… Agnus Dei… oder wenigstens beim abschließenden Segen. Nichts von all dem geschah, was mich völlig entsetzte. Eine Ausgeburt der Hölle konnte unbehelligt einer gesamten Messe beiwohnen, ohne Qualen zu erleiden… über einen derartigen Skandal musste ich unbedingt mit Gabriel sprechen, wenn ich wieder zuhause war!  

Ungünstig war natürlich, dass ich jetzt auch keinen Rückzieher machen konnte. Und so befand ich mich am Samstagabend in einer stickigen, überfüllten, düsteren Diskothek und wusste nicht, wie ich den penetranten Mief der dicht gedrängten Leute aushalten sollte. Es roch nach Zigarettenrauch, Alkohol, Schweiß und… Patchouli, wie mir Jonah freundlicherweise erklärte, als ich ihn nach diesem bestialischen Höllengestank fragte.

Als die Band anfing zu musizieren, hatte ich Angst, dass ich aus den Ohren bluten würde. Es war wahnsinnig laut und die Bässe rumpelten durch meinen ganzen Körper. Sidney sang auch nicht, er brüllte. Na gut, einige Male klang seine Stimme einigermaßen… melodisch. Aber das hielt nie lange an. Den Besuchern gefiel diese Art von Musik offenbar, denn sie amüsierten sich prächtig und grölten aus Leibeskräften mit. Zwischendurch kippte Sidney Bier in die Menge und ich glaube, er war ziemlich betrunken, jedenfalls stolperte er über die Bühne und einmal sah es so aus, als würde er fallen, konnte sich jedoch noch rechtzeitig wieder aufrappeln. Mir wurde es irgendwann zu viel, weshalb ich aus dem Menschenpulk heraus trat und mich in eine ruhige Ecke verzog. Jonah brachte mir ein Glas Wasser mit Zitrone.

„Anstrengend, wenn man so was nicht gewohnt ist, mh?“, lächelte er und setzte sich zu mir.

„Mir ist schlecht“, gab ich zu.

„Magst du ein bisschen an die Luft gehen?“

„Danke, nicht nötig. Ich bleib einfach eine Weile hier sitzen. Aber geh du ruhig zu Becky zurück.“

Jonah lächelte gequält. „Wenn Sid Rockstar spielt, existiert für Becky niemand mehr. Sie hat sicher nicht mal gemerkt, dass ich nicht mehr neben ihr stehe.“

„Er weiß das, oder?“

„Na, klar. Und er findet’s irre toll, angehimmelt zu werden und sie am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. So macht er das mit allen, die ihn anschmachten. Egal, ob er mit ihnen im Bett war oder nicht. Er war vermutlich mit den meisten seiner Verehrer im Bett.“

„Trotzdem magst du ihn. Ich verstehe das nicht.“

„Man muss Sid halt so nehmen, wie er ist“, zuckte er die Schultern.

„Auch wenn er mit den Gefühlen der Frau spielt, die du liebst?“

Einen Moment lang sah er mich erschrocken an, dann wurde sein Blick traurig.

„Was kann ich schon dagegen machen?“

Ihm einen Arschtritt zurück in die Hölle verpassen, dachte ich, sagte es allerdings nicht.

„Na ja, ich werd mich mal wieder unters Volk mischen, okay?“

Ich trank mein Zitronenwasser und hoffte, dass der Abend bald vorbei sein würde.

Reichlich nach Mitternacht, ich hockte immer noch allein am Tisch in der Ecke, war der Auftritt längst zu ende und ich hatte Jonah, Becky und Sidney komplett aus den Augen verloren. Ich wollte nach Hause, machte mich auf die Suche nach ihnen, war allerdings nicht erfolgreich. Bis ich mich plötzlich Backstage befand… jedenfalls hatte das an der Tür gestanden, durch die ich gegangen war. Auch hier war es voll und süßlich riechende Rauchschwaden hingen in der abgestandenen Luft, die kurz durchgewirbelt wurde, wenn jemand an mir vorbeiging oder sich anderweitig bewegte. Leute standen oder saßen herum und unterhielten sich. Tranken. Lachten. Einige küssten und befummelten sich widerlich. Ich drängelte mich durch den Raum und… sah Sidney auf einer zerschlissenen Couch. Halb sitzend, halb liegend. Vor ihm kauerte ein Junge und… oh mein Gott! Ich wollte nicht glauben, was sich da vor meinen Augen, vor aller Augen abspielte. Der Junge beschäftigte sich in einer Art und Weise mit Sidney… es war ekelhaft. Und das Schlimmste war: Niemand schien es zu stören! Sodom und Gomorra!! Wieso Gott diesen Sündenpfuhl nicht augenblicklich durch eine kleine Sintflut zerstörte? Ich wusste es nicht. Und wieso ich nicht wegschauen konnte, wusste ich ebenfalls nicht. Wahrscheinlich stand ich einfach unter Schock. Während sich der Kopf des Jungen unaufhörlich bewegte, vergruben sich Sidneys Finger in dessen Haare. Er hatte die Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet, dann bis er sich auf die Lippe, blieb sekundenlang regungslos liegen, knöpfte seine Hose zu, gab dem Jungen einen flüchtigen Kuss, erhob sich und torkelte direkt auf mich zu.

„Hey, Sid… auf Verführung Minderjähriger steht Knast“, lachte ein Typ mit bunten Haaren und zerrissenem Netzhemd am schmächtigen Leib.

„Mein Name ist Sidney, du Arsch“, rülpste er eklig und kotzte dem Bunthaarigen auf die Schuhe.

„Wichser“, fauchte der und sprang zur Seite, worauf Sidney nur grinste, weitertorkelte und der Länge nach hinfiel.

„Ey, Jo“, rief irgendjemand, „Sidney ist total fertig, schaff ihn lieber nach Hause.“

Eine Hand legte sich auf meine Schulter.

„Hilf mir mal bitte, ja?“

Nur, um meinem Mitbewohner einen Gefallen zu tun, fasste ich mit an.

„Genug für heute?“, fragte Jonah und tätschelte Sidneys Wange, als der wieder aufrecht stand.

„Mehr als genug“, lallte er.

Zusammen schleppten wir den betrunkenen Widerling zum Auto, schoben ihn auf den Rücksitz und fuhren los.

„Wo ist Becky?“, fragte ich.

„Weg. Die haut immer ab, bevor er seine Live-Sex-Shows abzieht.“

„Du meinst, er macht so etwas öfter?“

„Ungefähr jedes Wochenende.“

Du meine Güte… diesem Teufel musste auf jeden Fall schleunigst das Handwerk gelegt werden!

Am nächsten Morgen (es war genau genommen bereits Mittag) kam Sidney in die Küche geschlichen, wo Jonah und ich am Tisch saßen und Kakao tranken. Er nahm eine Tablette, spülte sie mit einem Liter Mineralwasser hinunter und ließ sich auf den Stuhl fallen.

„Was war’n gestern?“

Jonah sah ihn an. „Du warst wie üblich beim Saufen und Kiffen der Gierigste, hast dir in der Öffentlichkeit einen blasen lassen, Dennis auf die Schuhe gekotzt und bist ein paar Mal umgefallen… also nichts Wildes.“

„Hab ich mir von Dennis einen blasen lassen?“

„Nee.“

„Oh, gut“, seufzte er. „Ich kann den Typen nicht ab.“

„Was du ihm eindrucksvoll gezeigt hast.“

„Und“, wandte er sich an mich, „hat dir der Abend gefallen?“

„Darauf erwartest du doch hoffentlich keine Antwort“, entgegnete ich.

„Ich kann mich zwar nicht an alles erinnern, aber mein Auftritt war super, oder?“

Hilfe suchend schaute ich zu Jonah rüber, der den Kopf schüttelte.

„Sag ihm einfach, dass er toll war, sonst hört er nie auf.“

„Du bist so ein blöder Penner, Jo“, schmollte Sidney und schlurfte davon.

Nachmittags, Jonah war irgendwo unterwegs, ging ich ohne anzuklopfen in Sidneys Zimmer. Er lümmelte auf seinem Bett und rauchte eine Zigarette.

„Du findest dein nutzloses Dasein in Ordnung?“

„Wie bitte?“, fragte er.

„Hör zu, ich weiß genau, was du vorhast.“

Sein Kopf hob sich vom Kissen. „Äh…?“

„Glaub bloß nicht, dass ich dabei tatenlos zuschaue.“

Damit war alles gesagt und ich verließ sein Zimmer.

Sidney

Es war Montagnachmittag und ich hockte mit mega Kopfschmerzen an meinem Arbeitsplatz in der Teufelsküche. Zwei Teeniemädchen hatten sich grad mit einem Töpfchen Directions Neon Blue vom Acker gemacht… nachdem sie gefühlte drei Stunden zum Aussuchen gebraucht hatten. Mein Kaffee war inzwischen kalt. Müde starrte ich vor mich hin, bis alles vor meinen Augen zu verschwimmen begann. Die Regale, die Klamotten, die Wände, alles wurde zu einem grenzenlosen Blau. Der dunkle Holzfußboden wich einer grünen Wiese und der Hocker, auf dem ich saß, schmolz unter mir und wurde zu einer samtig weichen Fläche, in die ich tiefer und tiefer sank. Durch meinen Körper strömte ein angenehm warmes Kribbeln, ich war unglaublich entspannt. Und ein bisschen fühlte es sich an, als würde ich schweben. Aber plötzlich stieß mich etwas in einen Abgrund und ich fiel. Etwas zerrte an mir, wollte mich in Stücke reißen. Mächtige weiße Schwingen schlugen mich, Blut schoss aus meiner Nase, meinem Mund und klatschte dickflüssig auf das makellose Weiß. Grauenhaftes Keuchen, Brüllen und Fauchen bohrte sich in meinen Gehörgang. Ich presste meine Hände auf die Ohren, feuchtklebrige Flüssigkeit quoll zwischen meinen Fingern hervor. Der Schmerz war unbeschreiblich. Ich schrie und wurde durch die Luft gewirbelt, ein heftiger Schlag traf meine Magengrube, gleich darauf schlug etwas gegen meinen Kehlkopf, dass ich fast erstickte. Ich hustete, spuckte Blut, schrie… dann war auf einmal alles still.

„Hey, Kleiner.“

Langsam kam ich wieder in die Realität zurück.

„Musste das sein?“, murmelte ich völlig fertig.

Luzifer grinste zufrieden und lehnte sich gegen die Ladentheke. „Ich wollte mich nur kurz ankündigen.“

„Ein Anruf hätte es auch getan“, entgegnete ich.

„Jaaaa“, sagte er gedehnt, „hätte aber nicht so viel Spaß gemacht.“

„Du findest es spaßig, mich zu vermöbeln?“

„Ist doch gar nichts passiert, Sid. Du bist vollkommen unversehrt.“

„Und was willst du hier?“

Er nahm einen Schluck aus meiner Tasse und verzog angewidert das Gesicht. „Dich daran erinnern, dass du eine Aufgabe hast. Du scheinst es vergessen zu haben.“

Allerdings.

„Es dauert halt. Aber immerhin ist Jonah schon ohne Führerschein gefahren.“

„Oh, wie böse“, behauptete Luzifer spöttisch, „ich bin wahnsinnig beeindruckt. Ehrlich.“

„Wenn du ihn unbedingt haben willst und ich nicht schnell genug bin, dann mach’s doch selbst.“

„Ach, vergiss den sterblichen Freund. Dein teuflischer Charme prallt doch sowieso total an ihm ab. Außerdem gibt es Wichtigeres.“

„Soll das heißen, ich muss wieder ans Höllenfeuer?“

„Nicht unbedingt. Das lodert auch ganz gut ohne dich. Ihr habt einen neuen Mitbewohner, ja?“

„Und?“

„Ein außergewöhnlicher junger Mann.“

„Du hast ihn noch nicht kennen gelernt.“

Luzifer zog eine Braue hoch, was ziemlich gut aussah.  „Dir ist nichts an ihm aufgefallen?“

„Nee. Außer dass er katholisch ist und jeden Sonntag in die Kirche rennt. Übrigens… ich war auch da.“

Seufzend schüttelte er den Kopf. „Hab ich dir denn gar nichts beigebracht, Kleiner?“

Mann, ich verstand echt nicht, was er von mir wollte.

„Er riecht nach Schnee.“

„Du meinst, er kokst heimlich?“, fragte ich blöde und bekam von Luzifer einen leichten Schlag gegen die Stirn.

„Er riecht nach Schnee“, wiederholte er. „Und was haben wir in der Höllensonntagsschule gelernt?“

„Keine Ahnung, ich hab nie aufgepasst.“

„Miguel ist ein Engel, du Flachwichser“, verlor der Chef jetzt offenbar die Geduld. „Oder so was in der Art. Gabriel hat ihn geschickt.“

„Wieso?“

„Weiß der Teufel“, lachte er heiser. „Verflucht, ich bin der Teufel, also… Seine Hochwohlgeborene Erzengeligkeit gönnt mir nicht mal eine läppische Seele, Miguel soll Jonah retten. Vor dir.“

„Verdammt.“

„Du sagst es.“

„Und jetzt?“

„Ich will, dass du Miguel verführst. Kriegst du das hin?“

„Logisch.“

„Sidney“, bollerte er los, „das ist eine ernste Sache, verstanden?! Ich weiß, dich kümmert das alles einen Scheiß. Du hast nur einen Weg gesucht, um wieder auf der Erde dein Unwesen treiben zu können. Ab jetzt wirst du dich zusammenreißen und diese Aufgabe erledigen, sonst werde ich richtig sauer. Und das Höllenfeuer wird das geringste sein, das du zu befürchten hast.“

Au je, er klang wirklich angepisst. In diesem Zustand war er zu allem fähig.

„In Ordnung“, nickte ich eingeschüchtert.

Lächelnd beugte er sich über die Theke. „Und wenn du den Engel verdorben hast…“, sein Finger strich über meine Wange, „kommst du zu mir und ich verderbe dich noch ein bisschen mehr.“ Seine Lippen legten sich auf meinen Mund und ich bekam von Luzifer einen Zungenkuss, dass bunte Sterne vor meinen Augen tanzten. „Wir sehen uns“, sagte er. „Ach so… sei bei dem Engel in Teufels Namen ein bisschen raffiniert, ja? Miguel war im Leben wahnsinnig brav, hat sich niemals etwas zu Schulden kommen lassen und immer mit den Händen über der Bettdecke geschlafen, wenn du verstehst, was ich meine. Der liegt bei plumpen Anmachversuchen, auf die deine minderbemittelten Groupies sofort anspringen, sicher nicht gleich auf dem Rücken.“

„Ähem, warte mal… wenn er geschickt wurde, dann weiß er, wer ich bin?“

„Ja, aber er hat keine Ahnung, dass du jetzt auch weißt, wer er ist“, zwinkerte Luzifer und schlenderte davon.

Ah, deshalb die Ansprache gestern. So ein kleines Miststück. Na warte, dachte ich, dir werde ich es zeigen!


Der Neue verstand überhaupt keine Signale. Weder subtile, noch direkte. Er schaute nicht einmal hin, wenn ich halbnackt durch die Wohnung spazierte. Ich musste die Sache also völlig anders anpacken. Nur wie? Er war ja nun nicht gerade eine Schönheit, obwohl… ein halbwegs niedliches Gesicht hatte er schon und hübsche, honigfarbene Haare sowieso. Okay, die Frisur war grenzwertig und klamottentechnisch hatte er die Geschmacksgrenze vollkommen überschritten, aber im Bett spielten Klamotten und Haare keine große Rolle. Allerdings hatte ich ihn noch lange nicht im Bett und wenn er wusste, dass ich sein Feind war, würde es noch viel schwieriger werden, ihn flachzulegen. Flachlegen stand jedoch mitnichten an oberster Stelle… das konnte man sozusagen als Gimmick betrachten… ich wollte ihn dazu bringen, sich nach mir zu verzehren. Wollte ihn leiden lassen unter unkeuschen Gedanken, wollte, dass er sich quälte, bis er es nicht mehr aushielt und sich mir freiwillig hingab… mit dem Wissen, dass er dafür in der Hölle landen würde. Kurz gesagt, ich wollte, dass er sich in mich verliebte. Mit allem Drum und Dran. Deshalb war ich in den nächsten zwei Wochen ekelerregend freundlich zu ihm. Um ihn zu verwirren, denn er glaubte ja sehr wahrscheinlich, dass ein Diener des Teufels die Schlechtigkeit und Boshaftigkeit mit Löffeln gefressen hatte. Außerdem half ich Jo dabei, bescheuerte Laternen für den jährlichen Sankt Martinszug zu basteln, weil die Kita-Gören so was natürlich noch nicht drauf hatten, und ich ging sogar höchstpersönlich mit einem Gör an der Hand hinter dem falschen Heiligen her und sang kackdämliche Laternensongs… aber nur, weil unser heiliger Mitbewohner mit von der Partie war und ich ihm beweisen wollte, dass ich total nett und engagiert sein konnte. Miguel fand es nämlich irre toll, dass Jo mit Kindern arbeitete, also eine super mega wichtige Aufgabe erfüllte… darüber hinaus war die Kita eine Einrichtung der katholischen Bonifatius-Gemeinde, allein deshalb fand Miguel Jos Arbeit sicher doppelt und dreifach toll. Na ja, für die leckeren Martinsbrezel, die es zum Schluss gab, hatte es sich wenigstens ein bisschen gelohnt. Auch wenn ich die ganze Zeit über fürchtete, dass das Ross, auf dem Sankt Martin durch Schnee und Wind ritt, auskeilen und mich grün und blau treten würde. Das Gör an meiner Hand wollte leider direkt hinterm Gaul und noch vor der mickrigen Musikkapelle gehen. Damit hatte sich das Gör meiner Meinung nach ein Eigentor geschossen, denn es war noch klein und hatte, wenn es hoch schaute, lediglich die schöne Aussicht auf einen riesigen Pferdearsch. Apropos schön… der falsche Sankt Martin sah bezaubernd aus. Ich gab ihm am Ende vorsichtshalber mal meine Telefonnummer.

Miguel

„Hey.“

„Was willst du?“, fragte ich überrascht, weil Sidney normalerweise nicht in mein Zimmer kam.

„Weiß nicht“, zuckte er die Schultern. „Ich dachte, du hättest vielleicht Lust auf Gesellschaft.“

Ja, klar. Mit einem Diener der Hölle Zeit zu verbringen, war ganz nach meinem Geschmack.

„Hab ich nicht.“

„Okay, pass auf… Jo will, dass wir… Freunde sind.“

„Wozu? Wir wohnen doch nur zusammen. Das heißt nicht, dass wir…“

„Sag ihm das“, unterbrach er mich. „Jonah ist halt harmoniesüchtig. Und wir können doch wenigstens halbwegs freundlich miteinander umgehen, oder? Ich meine, warum sollen wir uns gegenseitig das Leben schwer machen?“, fragte er und setzte sich auf mein Bett, obwohl ich ihn nicht dazu eingeladen hatte. „Ist doch Quatsch.“

Ich wollte wissen, was er vorhatte, also spielte ich mit.

„Genau.“

„Frieden?“

„Meinetwegen“, nickte ich und drückte seine Hand.

„Cool“, freute er sich, stand auf, ging kurz raus und kam mit einem Tablett zurück. Es war beladen mit zwei Tassen Kakao und ein paar Blaubeermuffins.

Ich war misstrauisch. Vielleicht hatte er Gift oder so was in meine Tasse getan. Haha… ich konnte nicht tot umfallen, auch wenn er das möglicherweise bezweckte. Der Kakao schmeckte allerdings nur ein wenig nach Zimt.

„Und… woher kommst du?“, fragte Sidney und biss in einen Muffin.

„Warum interessiert dich das?“

„Einfach so. Ich weiß überhaupt nichts von dir.“

„Ich von dir auch nicht.“

„Was willst du wissen?“

Wie dein Plan aussieht, Teufel! Alles andere war mir eigentlich schnuppe.

„Wieso flirtest du vor Jonah mit Becky, obwohl dein angeblicher Freund in sie verliebt ist?“

„Wow… sehr fortgeschritten, oder? Ich dachte, wir erzählen uns vielleicht erstmal wie und wo wir aufgewachsen sind.“

Na, du bist in der Hölle aufgewachsen, dachte ich.

„Ich hab dir eine Frage gestellt.“

„Und ich bin nicht Amor. In irgendwelche Liebesgeschichten mische ich mich grundsätzlich nicht ein.“

Logisch nicht. Was wusste ein Teufel denn von Liebe?!

„Und von Freundschaft hältst du auch nicht viel. Sonst würdest du Jonah nicht so weh tun.“

„Das stimmt leider“, tat er zerknirscht. „Also, dass ich Jo weh getan habe. Aber ich kann halt auch nichts dafür, dass Becky mich liebt und nicht ihn. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, erzähle ich ihr, wie wunderbar Jo ist. Und sie rafft es einfach nicht.“

Er lügt, schoss es mir durch den Kopf, Teufelsdiener lügen immer!

„Hast du eine Freundin?“

„Nein, ich bin katholisch.“

„Katholiken dürfen keine Freundinnen haben?“, grinste er blöde.

„Nicht, wenn sie Priester werden wollen“, dachte ich mir spontan aus und hatte nicht mal gelogen, denn vor meinem Tod hatte ich mich tatsächlich berufen gefühlt.

„Au je“, presste Sidney betroffen hervor. „Das willst du aber doch nicht, oder? Ich meine, ach du Scheiße… schon alleine der Zölibat… das zwanghafte Niederknüppeln von sexuellen Empfindungen kann nicht gesund sein.“

„Das muss man spirituell sehen“, setzte ich zu einer Erklärung an, wurde allerdings schnell gestoppt.

„Zwanghafte Enthaltsamkeit ist nicht spirituell, sondern unnatürlich.“

„Mich zwingt niemand. Ich entscheide mich ja freiwillig dafür, mich an gewisse Regeln zu halten, wenn ich Priester werde.“

Sidney überlegte einen Moment. „Ich glaube nicht, dass Gott Enthaltsamkeit verlangt.“

„Was weißt du denn bitte von Gott?“, regte ich mich auf.

„Auch nicht mehr oder weniger als du. Oder hat er dir höchstpersönlich bei einem Tässchen Tee gesagt, dass katholische Priester keinen Sex haben dürfen?“

„Wenn du das ins Lächerliche ziehen willst, bitte. Aber dann rede ich nicht mehr mit dir“, entgegnete ich.

„Okay, also Themenwechsel.“

Ich wartete. Sidney sah mich irritiert an.

„Äh… stehst du auf Musik? Filme, Bücher?“

„Eigentlich nicht. Jedenfalls nicht so sehr, dass sich ein Gespräch darüber lohnen würde.“

„Du musst doch irgendwelche Hobbys haben… ich meine außer beten.“

„Beten ist doch kein Hobby“, sagte ich fassungslos.

„Na ja, lassen wir es für heute gut sein“, murmelte er und verabschiedete sich.


… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel…

Die Versuchung lauerte beinahe an jeder Ecke und das Übel wohnte direkt gegenüber. Es war grauenhaft. Ich hatte gedacht, dass ich als fast ausgebildeter Engel nicht mehr würde kämpfen müssen, dass die vielen Prüfungen endlich aufhören würden. Schließlich war ich nicht mehr sterblich. Wieso schien das mein Körper noch nicht begriffen zu haben? Und warum hatte Gabriel mit keinem Wort erwähnt, dass man als Engel auf Erden eben doch wieder sehr menschlich wurde und sich… gewisse Regungen bemerkbar machten, die nur für kurze Zeit und nur durch exzessives Beten unter Kontrolle zu halten waren. Richtige, echte Engel hatten es bestimmt leichter. Echte Engel waren ätherische Wesen, die niemals unreine Gedanken hatten. Ich war leider kein bisschen ätherisch. Das musste ich manchmal nach dem Aufwachen feststellen, wenn ich… äh… besonders intensiv geträumt hatte. Und manchmal, wenn ich einen hübschen jungen Mann sah. Und sogar manchmal, wenn Sidney oben ohne durch die Wohnung stolzierte und mit anzüglichem Grinsen an mir vorbei ging. Und ganz besonders heute Morgen. Ich war ahnungslos ins Badezimmer gegangen und… da hatte Sidney gestanden. Nur mit einem Handtuch um die Hüften und Wassertropfen auf der Haut. Es war ekelhaft gewesen. Ich hatte ihn gefühlte zwanzig Minuten wie hypnotisiert angestarrt und mein Mund war ganz trocken geworden. Ein paar Wassertropfen waren auf seiner Brust hinab geflossen, wurden unterhalb seines Bauchnabels vom Handtuch aufgefangen und ich hatte auf einmal bemerkt, dass ich mir idiotischerweise die Lippen leckte. Daraufhin hatte ich schnell das Weite gesucht. Dass er solche Situationen provozierte, lag auf der Hand, denn es war sein Job, unschuldige Leute in Versuchung zu führen. Gabriel hatte mich wenigstens diesbezüglich gewarnt und das Letzte, was ich anstrebte, war, in der Hölle zu schmoren, wenn ich auf teuflische Tricks hereinfiel. Ich vertraute auf Gott, der ja wusste, dass ich mit aller Kraft widerstehen wollte und mir sicher dabei half.

Sidney wurde mir unheimlich. Erst dieses Gerede von wegen Freunde sein und dann hockte er plötzlich auch noch mit Jonah und mir zusammen am Küchentisch und bastelte eifrig Laternen für Kinder, mit denen er überhaupt nichts zu schaffen hatte. Aber es kam noch viel besser. Er marschierte doch tatsächlich beim Martinszug mit und ich verstand seinen Plan immer weniger. Na ja, Teufel, der er war, machte er hinterher, während die Kinder ihre Brezel verspeisten, Sankt Martin schöne Augen. Tief in meinem Inneren, wo sündige Dämonen hausten, die es zu bezwingen galt, konnte ich Sidney leider verstehen… der Sankt-Martin-Darsteller sah unglaublich bezaubernd aus. Er hatte auch wahnsinnig schöne Hände, die vermutlich sehr gut anfassen konnten. Ich musste abends in meinem Zimmer sofort beten und Gott versprechen, dass mir so etwas niemals wieder auffallen würde.


In der Nacht bekam ich Besuch von Gabriel. Er stand plötzlich vor meinem Bett, die Flügel hinter seinem Rücken gefaltet. Ich war sofort ergriffen von seiner überirdischen Schönheit, aber gleichzeitig machte mir sein Erscheinen Angst.

„Hab ich’s vermasselt?“, wisperte ich mit klopfendem Herzen.

„Nein, mein Engel“, lächelte er. „Im Gegenteil. Du hast einen Diener der Hölle dazu gebracht, in die Kirche zu gehen. Das soll dir erstmal einer nachmachen.“

„Oh…“

Gabriels Gesicht wurde ernst.  „Bleib da unbedingt dran, hörst du?“

„Äh… okay. Und was ist mit Jonah?“

„Du hast jetzt eine neue, wichtigere Aufgabe. Gott wünscht, dass du den Verdammten auf den rechten Pfad führst.“

„Du meinst… Sidney soll in den Himmel?“

„Natürlich. Gott möchte jeder verirrten Seele die Chance geben, den Weg in seine Arme zu finden. Sidney ist so eine Seele. Luzifer hat seine Schwäche ausgenutzt und ihn zu einem Diener des Bösen gemacht, aber es besteht Hoffnung. Bring ihn dazu, dem Teufel zu entsagen, dann wird Gott euch im Himmel Willkommen heißen und euch auf ewig seine grenzenlose Liebe schenken.“

„Und wenn ich versage?“

Der Erzengel schüttelte den Kopf. „Du darfst nicht zweifeln, Miguel. Vergiss nicht, zu zweifeln bedeutet, dass man sich von Gott abwendet.“

„Das würde ich nie tun. Aber ich bin manchmal… ich habe manchmal…“

„Ich weiß“, unterbrach er mich. „Und hat Gott dir bis jetzt nicht immer die Kraft gegeben zu widerstehen? Du musst ihm nur vertrauen, bedingungslos, genauso wie er dir vertraut. Willst du das, mein Engel?“

„Ja“, nickte ich und heulte wie ein Schlosshund, worauf Gabriel  sich vorsichtig auf mein Bett setzte und mich in seine Arme nahm.

„Schlaf jetzt“, sagte er nach einer Weile und ich schlief friedlich bis zum nächsten Morgen.

 

Gipfeltreffen

Luzifer musterte den Engel, der vor ihm stand. Die honigblonden Locken umrahmten sein schönes, ebenmäßiges Gesicht mit den großen Veilchenaugen und den blassrosa Lippen. Ein rötlicher Hauch lag auf seinen milchweißen Wangen. Angetan war der Engel mit einem silbrig glänzenden Gewand, das seinen perfekten Körper umschmeichelte. Die Federn seiner mächtigen Schwingen bewegten sich leicht im Abendwind.

Verfluchter Scheißkerl, dachte Luzifer ärgerlich, entzog sich dem Bann des Engels und setzte seinen üblichen Fürst-der-Finsternis-Blick auf.

„Ich glaub’s einfach nicht, Gabriel.“

Der Erzengel sah ihn geringschätzig an. „Ich spiele nur das Spiel mit“, entgegnete er kühl, „das du begonnen hast.“

„Und schreckst nicht einmal davor zurück, ihn anzulügen? Gott möchte, mh?“

„Gott möchte immer, dass verirrte Seelen…“

„Ach hör doch auf mit dem Scheiß“, zischte Luzifer, „die Geschichte von der armen, verirrten Seele kannst du deinen Engelsschülern erzählen.“ Ein boshaftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Du musst ganz schön verzweifelt sein, wenn du es nötig hast, meine Ideen zu klauen.“

„Du willst meinen Engel verderben, also ist es nur fair, dass ich deinen Teufel bekomme.“

„Du willst beide und Jonah dazu, das war nicht abgemacht.“

„Abgemacht war eine sterbliche Seele, aber du hast wie immer angefangen zu bescheißen, Luzifer. Sollte ich da etwa tatenlos zusehen?“

„Wenn du dich einfach mal rausgehalten hättest, wäre es gar nicht erst so weit gekommen. Im Prinzip ist mir dein Engel nämlich genauso scheißegal wie der Sterbliche, allerdings kann ich es nicht leiden, wenn du deine himmlische Nase in Dinge steckst, die dich nichts angehen. Wieso musstest du dich verdammt noch mal einmischen?“

„Weil du einen unschuldigen Jungen…“

„Das war eine rhetorische Frage“, unterbrach ihn Luzifer. „Als ob es dir jemals darum gegangen wäre, auch nur eine einzige Seele zu retten. Du wolltest mir mal wieder eins auswischen, ist es nicht so?“

„Du neigtest schon immer zum Größenwahn.“

„Hör zu, du kleiner Vollidiot… dass ich Sidney raufgeschickt habe, hatte zwar einen Grund, allerdings nicht den, mir eine unbedeutende, uninteressante Seele zu beschaffen.“

„Sondern?“

„Das würdest du nicht mal ansatzweise verstehen.“

„Meinst du intellektuell?“, fragte Gabriel spöttisch.

„Nein, emotional“, antwortete Luzifer ernst. „Hat was mit Liebe zu tun. Nicht gerade dein Fachgebiet, was?“

„Mit jedem Kerl, der in der Hölle rumläuft, Unzucht zu treiben nennst du Liebe?“

„Wie gesagt, du verstehst es nicht mal ansatzweise. Was soll’s?!  Du willst spielen, also spielen wir“, beschloss Luzifer. „Was ist dein Einsatz?“

Sidney

Ha! So katholisch und keusch, dass der Neue beim Anblick meines nackten Körpers keine Latte bekam, war er gar nicht. Dem kleinen Schleicher hatte fast die Zunge aus dem Hals gehangen, als er mich letztens im Bad beobachtet hatte… vielleicht würde es doch sehr viel einfacher werden, ihn zu verführen. Okay, er fand mich also schon mal geil, das war ein guter Anfang. Jetzt musste ich das mit der Verlieberei in Angriff nehmen. Und da wusste ich genau, was zu tun war. Samstag hatte ich meinen freien Tag, draußen war sonniger Herbst, perfekt für einen romantischen Ausflug. Ich klopfte an Miguels Tür und ging rein.

„Kannst du nicht mal warten, bis ich dich herein bitte? Was hattest du denn für eine Kinderstube?“

„Keine gute. Lass uns darüber später reden.“

„Meinetwegen. Also… was möchtest du?“

„Dich entführen.“

„Wieder in die Disko, wo du dich bis zur Besinnungslosigkeit betrinkst und schamlose Dinge treibst?“

„Äh… nein.“

„Wann hast du eigentlich das letzte Mal gebeichtet?“

„In der dritten Klasse“, antwortete ich etwas genervt.

„Dann solltest du…“

„Klar, mache ich auch, aber nicht jetzt. Zieh deine Jacke an. Schuhe wären auch nicht schlecht.“

„Wohin gehen wir?“, fragte er misstrauisch, während er sich einen geringelten Schal, den ich ihm nicht zugetraut hatte, um den Hals wickelte.

„Ich zeig dir die Sterne“, klärte ich ihn auf, nahm seine Hand und zog ihn hinter mir her.

„Was?“, rief er. „Warte… was meinst du? Es ist helllichter Tag.“

„Na und?“, grinste ich und scheuchte ihn ins Auto.

Die Fahrt dauerte knapp zwei Stunden. Musik wollte der Neue nicht hören, sich unterhalten auch nicht. Er stierte knapp zwei Stunden aus dem Fenster. Toller Ausflug, oder? Na ja, ich hatte nicht erwartet, dass er während der Fahrt seine Entertainerqualitäten entdeckte. Wir parkten in einer Seitenstraße und gingen durch die Fußgängerzone, wo sich ein Devotionalienladen an den nächsten reihte. Miguel sah irgendwie sehr süß verwirrt aus, als er sich ausgiebig die Schaufenster mit dem religiösen Kram anschaute. Mich gruselten die Kerzen und Bilder mit unheimlich grinsender Papst-Ratzinger-Visage ganz gewaltig.

Am Ende der Fußgängerzone befand sich die Gnadenkapelle, die wie eine Art Pavillon wirkte und von einigen Kirchen eingerahmt wurde.

„Was wollen wir hier?“, fragte Miguel überrascht.

„Hab ich dir doch gesagt… Sterne kucken“, lächelte ich, griff nach seiner Hand und führte ihn in die Marienbasilika. Das Innere war sehr bunt gehalten und erinnerte mit den blaurotgoldgestreiften Säulen eher an einen orientalischen Palast. Dass ich noch immer seine Hand hielt, hatte der Engel offenbar spontan vergessen… sogar noch, als wir uns in eine Bank setzten.

„Und wo sind nun deine Sterne?“, wisperte er.

„Direkt über uns.“

Die Decke des Kirchenschiffes war nämlich blau gestrichen und übersäht mit unzähligen Sternen. Ich fand das absolut großartig und hatte wahrscheinlich einen ähnlichen Blick draufgehabt wie Miguel, als mich Becky hierher geschleppt hatte.

„Cool, oder?“, flüsterte ich ihm ins Ohr und war fast geneigt, seine Ohrmuschel mit meinen Lippen zu berühren, beschloss dann aber, dass es dafür noch zu früh war.

„Das ist ein Wallfahrtsort“, stellte er fest. „Wieso kennst du Wallfahrtsorte?“

„Wieso nicht? Ist es so erstaunlich, dass ich einmal im Jahr hier bin, um…“

„Ja?“, unterbrach er mich.

„Einfach so. Ich mag das Ambiente.“

„Das ist wunderschön“, behauptete er ehrfürchtig und merkte wohl gerade, dass wir Händchen haltend in einem Gotteshaus saßen, denn er ließ meine Hand plötzlich ratzfatz los.

„Okay, lass uns weiter.“

Die Gnadenkapelle beherbergte logischerweise das winzig kleine Gnadenbild hinter Glas, das mit allerlei Ketten, Ringen, Perlen und so weiter geschmückt war. Ein schmaler Gang führte einmal rundum durch das sechseckige Häuschen, wobei in der Mitte ein üppig verzierter Altar-Schrein-Tabernakel-was-auch-immer mit einer Bank zum Niederknien davor herumstand. Miguel ließ es sich natürlich nicht nehmen, kurz zu beten.

Unsere nächste Station war die Kerzenkapelle und so langsam schien Miguel sich wohl zu fühlen, trotz meiner teuflischen Gegenwart. Er zündete einige Kerzen an und hielt für eine kurze, stille Zwiesprache mit Gott inne. Anschließend nahmen wir mittig in einer Bank Platz und glotzen schweigend nach vorne zum Altar. Unauffällig rückte ich ein Stückchen näher an ihn heran. Komisch, dachte ich, denn der Engel roch neben Jos Cocos-Shampoo, dass er offensichtlich gern heimlich benutzte, tatsächlich nach Schnee. Ich hatte immer angenommen, dass Engel nach Weihrauch riechen würden. Dass sie eben so’n heiliger Duft umgab. Na ja, Miguel roch auf jeden Fall unwahrscheinlich gut. Lange konnte ich aber nicht genießen, denn er rückte etwas auffälliger als ich eben von mir weg.

„Gefällt’s dir?“

„Was?“

„Das alles.“

„Natürlich“, nickte er, ohne mich anzusehen. „Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass einem… wie dir… ich meine, du bist ja nun wirklich kein bisschen religiös.“

„Wollen wir nicht aufhören, um den heißen Brei zu reden? Miguel, ich weiß, was du bist. Und du weißt, was ich bin.“

Sein Kopf drehte sich ruckartig in meine Richtung.

„Luzifer hat mir gesagt, dass Gabriel dich geschickt hat… wegen Jo.“

„Du wagst es“, zischte er, „diesen Namen auszusprechen? HIER?“

„Wenn das nicht der richtige Ort ist, um über Himmel und Hölle zu sprechen…“, zuckte ich die Schultern.

„Ich will nichts hören“, entgegnete er und tat was sehr Niedliches: Er hielt sich die Ohren zu.

„Miguel“, sagte ich sanft und nahm eine Hand von seinem Ohr, „ich hatte nie vor, Jo irgendetwas Böses anzutun. Ich wollte doch bloß weg aus der Hölle.“

„Einem… wie dir glaube ich nicht ein Wort.“ Damit stand er auf und ging.

Supi, wollte der jetzt seine Flügel rausholen und nach Hause fliegen, oder wie?! Ich ging ihm nach und hatte ihn schnell eingeholt.

„Würdest du mir bitte einen Moment zuhören?“

„Nein“, antwortete er knapp und fing an zu rennen.

„Miguel, bleib stehen, verdammt!“, schrie ich, worauf er abrupt stehen blieb.

„Fluche nie wieder in meiner Gegenwart.“

„Entschuldige.“

„Fahr mich sofort nach Hause.“

Damit hatte er meinen tollen Plan durchkreuzt. Eigentlich hatte ich noch vorgehabt, mit ihm einen romantischen Spaziergang durch raschelndes Herbstlaub zu machen und ihn anschließend zu einem heißen Kakao einzuladen. Tja, Pustekuchen!

Die Rückfahrt war genauso schweigsam wie die Hinfahrt und als wir zuhause waren, verschwand er augenblicklich in sein Zimmer.

„Was ist mit dem denn los?“, wollte Jo wissen und deutete auf die soeben zugeknallte Tür.

„Keine Ahnung.“

„Sid…“, verdreht er die Augen.

„Ehrlich, keine Ahnung.“

„Kriegt das auf die Reihe, ich hab keinen Bock auf Stress.“

„Ja, ich doch auch nicht.“

„Und sag deiner Freundin das nächste Mal, wo du bist, okay? Ein Anruf mehr von Becky und ich hätte das fucking Telefon kaputt gehauen.“

Und eine weitere Tür knallte zu.


Zwischen dem Neuen und mir herrschte wieder die totale Eiszeit. Kam ich in die Küche, verließ er sie. Kam ich ins Rattenzimmer, suchte er panikartig das Weite. Klopfte ich an seine Tür, musste ich feststellen, das er sie neuerdings abschloss. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen… also einen Teil davon. Fuck, ey, wenn Luzifer erfuhr, dass ich den blöden Engel durch meine eigene Dusseligkeit wahrscheinlich niemals rumkriegen würde… dann würde er mich höchstpersönlich mit dem Arsch auf den Höllengrill schnallen. Der Chef hatte zuweilen einen sehr dünnen, sehr kurzen Geduldsfaden und tolerierte keinerlei Versagen.

Sonntagnachmittag klopfte überraschenderweise ein Engel an meine Tür.

„In Ordnung“, begann er unfreundlich, „lass uns reden.“

„Aber nicht hier. Wie wäre es mit einem Spaziergang?“

„Ich möchte mir keinen schönen Tag mit dir machen, Teufel.“

„Jo ist aber da.“

„Ah, verstehe. Hast wohl Angst, dass er mitkriegt, wen er sich ins Haus geholt hat, was?“

„Genau“, seufzte ich. „Gehen wir in den Park.“

„Hier oder nirgendwo“, beharrte Miguel und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also?“

Ich klärte ihn kurz darüber auf, warum ich Luzifers Auftrag angenommen hatte… den, in dem es um Jonah ging… und dass ich im Traum nicht daran dachte, diesen Auftrag auszuführen, weil ich Jo nämlich gern hatte.

„Als ob der Teufel jemanden gern haben könnte“, lautete seine Antwort.

„Erstens bin ich nicht DER Teufel, sondern nur so was wie ein unbedeutender Angestellter und zweitens war ich das nicht immer. Ich bin auch mal ein ganz normaler Mensch gewesen, vor meinem Tod.“

„Dann warst du entweder ein sehr schlechter Mensch oder du hast dich freiwillig für die Hölle entschieden. Beides nicht besonders sympathisch.“

„Ich habe mich so entschieden. War vielleicht ein Fehler. Warum wolltest du unbedingt in den Himmel?“

Au je… ich hatte selten einen fassungsloseren Blick gesehen.

„Weil da ja wohl jeder vernünftige Mensch hin möchte. Ein Diener des Teufels versteht das natürlich nicht.“

„Hast du Gott gesehen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Hm.“

Dann klärte er mich kurz darüber auf, dass man irgendwelche Aufgaben zu erfüllen hatte, um in den endgültigen Himmel und zu Gott zu gelangen. Verdammt, ich hatte mich doch richtig entschieden. Wenn man in die Hölle ging, war man wenigstens gleich da. Nix Vororte oder so’n Käse. Außerdem hatte ich meinen Chef sofort zu Gesicht bekommen… Mann, und er hatte mir noch sehr viel mehr gezeigt als sein Gesicht. Ehrlich, besseren Sex als mit Luzifer hatte ich nie gehabt.

Miguel stand immer noch am Fenster und als die Herbstsonne, die herein schien, seinen Kopf fast wie einen Heiligenschein umgab… okay, der miesepetrige Gesichtsausdruck versaute das hübsche Bild ein wenig. Weiß der Fuchs warum ich aufstand, mich ganz dicht vor ihn stellte und sagte, was ich dann sagte. Nämlich: „Ich würd dich so irre gerne flachlegen, Miguelito.“

Miguelito trat mir daraufhin irre unengelhaft gegen mein Schienbein und verpisste sich.

Super. Wirklich ganz großes Kino, Sid!

Miguel

Der Satanische wusste es. Wusste, wer ich war und weshalb ich hier war. Und ich? Ich glaubte ihm, dass er Jonah nicht in die ewige Verdammnis schicken, sondern einfach nur wieder auf der Erde sein wollte. Wieso? Weil ich Sidney seit Wochen erlebte… er schien wirklich Spaß an seinem nutzlosen Dasein zu haben. Und mal ehrlich… wer würde nicht aus der Hölle flüchten wollen?! Dann der Tag, an dem er mir die Sterne gezeigt hatte, er war so nett gewesen. Zu nett. Und viel zu hübsch. Er hatte meine Hand gehalten und seine Finger waren so weich gewesen, dass mir ganz kribblig geworden war. Und wenn er mich ansah… oh, du meine Güte! Ich musste aufpassen, durfte mich nicht diesen schrecklichen Gefühlen hingeben. Ich hatte einen Auftrag zu erledigen. Aber wie sollte ich ihn zu Gott führen, wenn er mir sagte, dass er mich… flachlegen wollte? Blöder Penner! Ich hatte mein ganzes Leben lang allen Versuchungen widerstanden, da brauchte der nicht zu glauben, dass ich damit jetzt aufhörte, nur weil er mir plötzlich so einen Satz sagte. Wie konnte er glauben, dass ich… mit ihm… ich war katholisch, herrgottnochmal! Und ich sollte seinem verruchten Treiben ein Ende bereiten.

„Wie schön, dass ihr beide da seid“, begann Jonah und ordnete ein paar Blatt Papier am Küchentisch, „ich hab einen Anschlag auf euch vor.“

Sidney musterte ihn argwöhnisch. „Das ist doch sicher wieder irgendwas total Peinliches. Wie der Laternenzug.“

„Da hast du dich aber angeboten, oder?“

„Kann sein. Okay, spuck’s aus, sonst piss ich mir vor Aufregung in die Hose.“

„Also… die Gemeinde wird dieses Jahr zur Eröffnung des Weihnachtsmarkts ein Stück aufführen. Das heißt, die Erzieher der Kita und ein paar Messdiener. Ich führe Regie.“

„Und wir sollen dann mit dem Hut rumgehen?“, schlug Sidney vor.

„Nein. Du und Miguel, ihr sollt mitspielen.“

„Auf keinen Fall.“

„Es sind aber nicht genug Leute da und mit der Umzieherei für die verschiedenen Rollen und so würde es zu lange dauern.“

„Ich mache mit“, erklärte ich mich sofort bereit. „Worum geht es in dem Stück?“

„Um das Leben Jesu. Ich brauche noch einen Engel, der den Hirten die frohe Botschaft verkündet und…“

„Den spiel ich“, krakeelte Sidney los und fuchtelte mit den Armen herum. „Hakuna Matata… der Heiland ist da.“

„Genau deshalb ist Miguel der Engel“, schüttelte Jonah den Kopf. „Du gibst den Teufel, der Jesus in der Wüste in Versuchung führt.“

„Klasse“, schmollte Sidney. „Hab ich keine Lust zu. Außerdem… Jesus Leben von Anfang bis Ende… ist das nicht eine Nummer zu groß? Ich meine, wie lange soll’n das Stück dauern? Sechs Stunden?“

„Es wird natürlich stark gerafft.“

„Ich mache mit“, sagte ich noch einmal.

„Sid?“

„Du kennst die Antwort.“

„Und du schuldest mir noch was.“

„Ach ja? Wofür denn?“

„Dafür, dass ich dich ungefähr jedes Wochenende nach Hause bringe und deine Groupies nicht mehr in die Wohnung lasse, wenn du mit ihnen fertig bist.“

„In Ordnung. Aber das ist der allerletzte Gefallen.“

„Danke, Sid“, lächelte Jonah und gab ihm einen Kuss auf den Mund.

Äh… wieso küsste er ihn auf den Mund??

„Hey“, grinste Sid, „so etwas tut man vor einem Engel nicht.“

„Upsi“, lachte Jonah vergnügt und reichte uns die Blätter. „Dann lernt mal fleißig eure Texte.“


Mir war die frohe Botschaft des Engels selbstverständlich geläufig, deshalb brauchte ich keinen Text auswendig zu lernen. Sidney dagegen… ich hoffte inständig, dass er, wenn es drauf ankam, die richtigen Worte sprach und nicht etwa dem Jesus-Darsteller anbot, ihn flach zu legen. Einem Teufel war bekanntlich alles zuzutrauen. Und Sidney sowieso. Dass er sich bei den Proben vorschriftsmäßig benahm, hieß ja nichts. Sidney hing übrigens neuerdings andauernd ungefragt in meinem Zimmer herum. Um mit mir für seine Rolle zu lernen, wie er behauptete. Das war allerdings gelogen. Denn er lümmelte dafür auf meinem Bett. So was stand sicher nicht im Drehbuch.

„Das ist doch total unglaubwürdig. Luzifer würde niemals so plump versuchen, jemanden zu… äh… versuchen“, faselte er, legte sich bequem auf den Rücken und verschränkte die Arme hinterm Kopf. „Schon gar nicht einen Jesus Christus.“

Ich wollte auf gar keinen Fall solch eine schwachsinnige Diskussion mit ihm führen, weshalb ich lieber nicht antwortete. Stattdessen fragte ich mich, ob er nicht bemerkt hatte, dass sein enger, schwarzer Wollpullover hoch gerutscht war und man seinen Bauch mit der tätowierten Eidechse, die sich auf der rechten Seite herumschlängelte, sehen konnte?!

„Ist doch klar, dass der auf so was Lahmarschiges wie Steine in Brot verwandeln und den Teufel anbeten nicht reinfällt. Immerhin ist er ja der Sohn Gottes. Luzifer verlangt übrigens absolut nicht, dass man ihn anbetet, sondern nur, dass man seine Regeln befolgt, damit es in der Hölle nicht drunter und drüber geht.“

„Bist du fertig?“, brummelte ich genervt.

„Erzählen die dir im Himmel etwa auch, dass Luzifer ein alter Versucher ist, der will, dass man ihn anbetet?“

„Hättest du dich nach deinem Tod richtig entschieden, wüsstest du das.“

„Ich stand unter enormem Stress damals.“

„Darunter steht wohl jeder, der gerade gestorben ist.“

„Okay, ich hatte mir eine Ladung Heroin reingeknallt und war nicht klar im Kopf.“

„Die Wirkung wird irgendwann nachgelassen haben. Du hättest Gott bitten können, deine drogenumnebelte Entscheidung rückgängig zu machen“, antwortete ich angeekelt.

„Wie denn? Der redet doch nicht mit Normalsterblichen.“

„Nicht so, wie wir reden, das ist logisch.“

„Aha?“

„Du hörst Gottes Wort in deinem Herzen.“

„Lass doch mal dein katholisches Gewäsch, Miguel. Wir beide wissen, dass es im Himmel wahrscheinlich auch nicht so viel anders ist als in der Hölle. Man muss sich offenbar überall hocharbeiten.“

Da hatte er ausnahmsweise leider Recht. Ich erinnerte mich spontan an Michael, der mich total verwirrt einfach im Vorort zurückgelassen hatte. Und die anderen Engel kuckten

ziemlich auf die Verstorbenen herab. Trotzdem wollte ich deshalb noch lange nicht zu dem verdammten Luzifer. Ich wollte endlich ein richtiger Engel werden.

„Wie kann man sich denn in der Hölle schon hocharbeiten?“

„Na ja, ich stand bis jetzt am Höllenfeuer. Das ist echt übel, ein totaler Scheißjob, das absolut Letzte. Aber wenn ich meine Aufgabe hier erfülle, darf ich die Fiesen quälen.“

„Supi. Ich denke, du willst deine Aufgabe gar nicht erfüllen.“

„Will ich ja auch nicht. Ich versuche einfach so lange hier zu bleiben, wie es geht.“

„Aber du bist tot. Du gehörst nicht mehr hierher.“

„Eben. Deswegen hab ich so viel Spaß wie möglich, weil… es jederzeit zu ende sein könnte.“

„Hattest du im Leben noch nicht genug Spaß?“

„Das ist sehr persönlich. Darüber möchte ich erst mit dir sprechen, wenn wir uns besser kennen“, erklärte er.

„Ich glaube kaum, dass es dazu kommen wird.“

„Schade“, säuselte er und bekam plötzlich so einen glänzenden Blick. „Ich würde dich gerne kennen lernen.“

„Bevor oder nachdem du mich flachgelegt hast?“

Äh… wie bitte?? Warum sagte ich denn so was?

„Ganz wie du möchtest“, grinste er unverschämt.

„Ich möchte nicht“, stellte ich fest und scheuchte ihn aus meinem Zimmer.

Sidney

Der Engel war fällig! Auch wenn er sich dagegen sträubte, er wollte es. Und er hatte es meiner Meinung nach dringend nötig. Offenbar schien er plumpe Anmachen doch nicht so doof zu finden wie Luzifer behauptet hatte, denn seit ich ihm gesagt hatte, dass ich ihn gerne flachlegen würde, war er super nervös in meiner Gegenwart und schielte verstohlen zu mir rüber, wenn ich mich auf seinem Bett räkelte und meine Klamotten hoch rutschen ließ. Miguels Blicke waren eindeutig.

Eindeutig war auch die Dekoration in der Wohnung, die signalisierte, dass Weihnachten vor der Tür stand. Meine Mutter liebte Weihnachten, aber ich hatte vor langer Zeit aufgehört, meine Mutter zu lieben, weswegen ich Weihnachten hasste. Jo hatte einen Adventskranz aus echten Tannenzweigen auf den Tisch gestellt und kleine Engelfigürchen drumrum drapiert, garniert mit einer Stille-Nacht-Engelschneekugelspieldose. An den Fenstern pappten goldene, glitzernde Sterne und Eiskristalle. Auf dem Kühlschrank stand eine Lebkuchendose, die „O du fröhliche“ leierte, wenn man den Deckel öffnete und auf den Spülkasten vom Klo hatte er kleine Weihnachtsbärchen gestellt. Weihnachtsbärchen!! Es war nicht auszuhalten und Jonah zweifellos der kitschigste Mensch, den ich kannte. Das Einzige, was ich an Weihnachten mochte, waren Zimtsterne und Spekulatius. Ah, eine Krippe durfte natürlich auch nicht fehlen. Die thronte auf dem kleinen Tisch vor der Couch. Miguel fand Weihnachten sicher aus religiösen Gründen toll und lungerte Heilig Abend in der Kirche rum, um die Geburt des Heilands gebührend zu feiern. Als ich noch lebte, hatte ich mich am Heiligen Abend wahlweise voll laufen lassen, mir Dope reingezogen oder einen geilen Typen aufgerissen… meistens alles zusammen. Das fiel wohl dieses Jahr aus.

Pünktlich zum ersten Advent ging der Weihnachtsmarkt los und auf dem Platz vor der Kirche sollte Jonahs Stück aufgeführt werden. Zuerst spielte allerdings eine höllisch schlechte Blaskapelle ein paar Weihnachtslieder. Bei den vielen schiefen Tönen taten mir die Ohren weh, an denen bereits Eiszapfen hingen. Es war nämlich arschkalt. Becky hatte sich angeboten, bei den Kostümen und dem Make-up zu helfen. Wir durften uns netterweise in der Kirche umziehen.

„Schmier mir diesen roten Scheiß in die Fresse und du bist die längste Zeit meine beste Lieblingsfreundin gewesen“, zischte ich.

„Willst du echt aussehen oder nicht?“

Ich fand, dass der beknackte Haarreifen mit den umpuschelten Teufelshörnern, den Becky von ihrem sexy Halloweenkostüm übrig hatte, völlig ausreichend war. Zusammen mit meinem langen, schwarzen Mantel sah ich jedenfalls teuflisch genug aus. Luzifer hätte sich kaputtgelacht. Es amüsierte ihn immer, wie sich die Menschen ihn vorstellten.

„Geh weg mit dem Zeug“, forderte ich, weil Becky beharrlich mit der Schminke hantierte.

Miguel hatte es allerdings noch schlimmer getroffen. Der Ärmste wurde in einen weißen Kaftan mit goldenen Sternen drauf gehüllt, bekam eine blonde Lockenperücke aufgesetzt, an der ein Pappheiligenschein befestigt war, und trug Flügel auf dem Rücken, die nicht einmal ansatzweise groß genug waren, dass sie ihn durch die Luft hätten tragen können. Er sah zum Niederknien lachhaft aus! Aber sein Text saß. Er verkündete die frohe Botschaft dermaßen innbrünstig, dass der echte Jesus Christus bestimmt gerne noch einmal geboren worden wäre. Die Hirten taten, was sie sollten… sie fürchteten sich nicht. Danach wurden SEHR kurz ein paar wichtige Stationen aus des Heilands Leben dargestellt und dann hatte der Teufel seinen großen Auftritt. Ich versuchte Jesus wie bekloppt, aber der ließ sich logischerweise auf nichts ein. Schluss, aus, das war’s… wenigstens für mich. Die anderen „Schauspieler“ mussten sich wieder mal für das letzte Abendmahl umziehen und danach war tatsächlich Schluss. Einer Kreuzigungsszene hatte der Pfarrer nicht zugestimmt, deswegen laberte sich ein Erzähler den Mund darüber fusselig. Die umherstehenden Leute klatschten höflich, sofern sie keine Glühweintassen in den Händen hielten. Der Applaus hielt sich also stark in Grenzen. Ich konnte mir vorstellen, dass die Besucher wahrscheinlich viel zu überfordert mit einem derart trashigen Bullshit waren und deshalb nicht wussten, ob sie Beifall spenden oder die Darsteller mit Glühweinbechern bewerfen sollten.

„Das war mit Abstand das Blödeste, was ich jemals gemacht habe“, lautete mein Resümee.

„Na ja, zugegeben“, nickte Jo, „Hollywood wird nicht unbedingt morgen an unsere Tür klopfen.“

„Wo ist denn der Engel abgeblieben?“

„Der ist draußen und lässt sich mit einigen Kindern fotografieren.“

„Ach du Scheiße… hält der sich für einen Rockstar?“

„Frag ihn doch“, zuckte er die Schultern.

„Wenn hier einer Rockstar spielt und fotografiert wird, dann ja wohl ich.“

„Lass aber deine Hörner auf“, empfahl Jo, „die stehen dir echt gut.“

Als ich nach draußen kam, hatte sich der Kirchplatz noch etwas mehr gefüllt. Ringsherum glitzerten die mit bunten Lichterketten versehenen Buden um die Wette und überall dudelten Weihnachtslieder. Es roch penetrant nach Mandeln, Zuckerwatte, Backfisch und gewürztem Fusel. Miguel wirkte in seinem weißen Kleidchen in der Dunkelheit nicht mehr wie ein Engel, sondern eher wie ein Nachtgespenst. Gerade hatte er ein Kind seiner Mutter übergeben, da schlich ich an ihn heran.

„Hey, Engelchen“, hauchte ich ihm ins Ohr.

„Geh weg, ich möchte nicht mit einem Teufel in der Öffentlichkeit gesehen werden.“

Charmant wie eh und je.

„Wieso hast du nicht deine eigene Flügel rausgeholt? Oder hast du noch keine?“

„Nicht so laut, Blödmann.“

„Stell dir mal vor, was hier los wäre, wenn der Teufel mit dem Engel knutschen würde.“

„Hast du vielleicht vom Glühwein genascht?“

„Den verkommenen Fusel würde ich nicht mal saufen, wenn es der letzte Alkohol auf Erden wäre“, entgegnete ich angewidert. „Und… was machen wir noch mit dem angebrochenen Abend?“

„WIR machen gar nichts.“

„Darf ich dich bitte küssen?“, fiel ich mit der Tür ins Haus.

„Nein. Bist du jetzt völlig durchgedreht?“, fauchte der Engel fassungslos und laut genug, dass einige Leute irritiert zu uns rüber schauten.

„Ich möchte aber.“

Er wollte gehen, doch ich hielt ihn am Arm fest.

„Lass mich sofort los!“

„Würde es dich stören, wenn du wüsstest, dass ich in meiner Freizeit oft an dich denke“, säuselte ich verführerisch, „und es mir dabei selbst besorge?“

„Das machst du nicht, du Sau“, brüllte Miguel auf einmal los.

„Süß“, grinste ich. „Was willst du denn dagegen tun?“

„Ich polier dir die Visage.“

„Das darfst du gar nicht“, lachte ich ihn ein bisschen aus.

„Um dich davon abzuhalten, darf ich ALLES.“

Inzwischen hatte sich die Menschenmenge um uns verdichtet. Sensationsgeil belauerte man den lautstarken Streit, den Engel und Teufel austrugen. Ein Gör plärrte ohrenbetäubend los und Miguel hatte seine Hände zu Fäusten geballt, offenbar tatsächlich bereit, mich zu schlagen. Also schubste ich ihn provozierend, aber leider griff er an meinen Mantel und wir gingen beide zu Boden. Der erste Hieb kam von ihm und traf meine Wange, der zweite Schlag traf sein Auge. Dann ging alles drunter und drüber und bevor ich einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte, hörte ich eine Polizeisirene, ließ den prügelwütigen Engel liegen und rannte fluchend los.

Sekunden später lief der Engel neben mir.

„Renn mir nicht hinterher“, hechelte ich.

„Renn du doch woanders hin“, hechelte er zurück.

„Magst dich wohl von mir nicht trennen, was?“

„Traumtänzer.“

Die dunkle Einfahrt kam gerade recht. Ich packte Miguel und drückte ihn blitzschnell gegen die Hauswand.

Was soll das denn jetzt?“, fragte er entgeistert.

„Verstecken“, hustete ich und drängelte mich ein bisschen an ihn. „Macht man so, wenn man auf der Flucht ist.“

„Nimm deine satanischen Griffel von mir!“

„Zwing mich.“

Mal ehrlich, wenn er wirklich gewollt hätte, wäre es einfach für ihn gewesen, sich von mir zu befreien. Er tat es nicht, was mich sofort ermutigte. Langsam zog ich ihm die dämliche Perücke vom Kopf und sein honigblonder Schopf kam zum Vorschein. Total süß verstrubbelt.

„Du siehst so viel besser aus, Engel“, lächelte ich.

„War das eine Art Annäherungsversuch? Wie kannst du es wagen?“, regt er sich auf, aber der machte mir nichts mehr vor. Seine Lippen waren leicht geöffnet. Er wollte es. Jetzt und hier.

„Im Gegensatz zu dir darf ich tatsächlich alles“, flüsterte ich und küsste ihn auf den Mund.

Tja, der Rest ist bekannt.


Am nächsten Morgen schlurfe ich müde in die Küche. Es riecht nach Kaffee und Jo sitzt Zeitung lesend am Tisch.

„Herzlichen Glückwunsch, ihr habt es fast auf die Titelseite geschafft.“

„Toll“, murmele ich, gieße mir Kaffee ein, knalle fünf Löffel Zucker und einen halben Liter Milch rein und setze mich zu ihm.

„Heilige Schlacht auf dem Weihnachtsmarkt“, liest er, „der diesjährige Weihnachtsmarkt sorgte für allgemeine Aufregung. Nicht nur war der Glühwein am ersten Abend nach nur drei Stunden ausverkauft, den Besuchern bot sich zudem ein Anblick epischen Ausmaßes. Zwischen bunten Lichterketten, köstlich duftenden Leckereien und fröhlich beschwingten Weihnachtsmelodien, kam es gegen 20 Uhr zu einem Schauspiel, das wohl niemand erwartet hatte. Engel und Teufel standen sich gegenüber. Zunächst nur in einem hitzigen Wortgefecht, doch dann geschah das Unglaubliche: die beiden verkleideten Jungen gingen mit erhobenen Fäusten aufeinander los. Kindern wurden die Hände vor die Augen gehalten und jemand informierte die Polizei. Als die eintraf, war jedoch weder vom Engel noch vom Teufel eine Spur zu finden.“

„So hitzig war das Wortgefecht gar nicht. Der Schreiber hat das total aufgebauscht. Klingt ja auch nach was… heilige Schlacht… so’n Scheiß. Wir haben uns ein bisschen gekloppt, das war alles.“

„Nachdem du die gesamten Glühweinbestände weggesoffen hattest“, mutmaßt Jo.

„Du weißt, dass ich das Ekelzeug nicht anrühre.“

„Und während ihr euch aus dem Staub gemacht habt, durfte ich der Polizei erklären, dass ich euch nicht kenne, weil ich euch auf der Straße angesprochen habe, ob ihr mitspielen wollt.“

„Dann ist doch alles im Lack“, zucke ich die Schultern. „Miguel noch nicht wach?“

„Der hat ein Veilchen.“

„Und?“

„Was zum Arsch ist gestern passiert?“, brüllt er. „Ich dachte, ihr hättet euch inzwischen zusammengerauft… ich meine… du weißt, was ich meine.“

„Hab was Doofes gesagt, das hat ihm nicht gepasst und irgendwie… uferte das dann plötzlich aus.“

Jo schüttelt den Kopf. „Mann, Sid…“

„Hey, es war nicht nur meine Schuld. Warum machst du Miguel nicht zur Schnecke?“

„Der hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und betet wahrscheinlich zwanzig Rosenkränze. Vertragt euch wieder, in Ordnung? Wenn ich nachher nach Hause komme, will ich zwei friedliche Mitbewohner haben.“

„Geht klar.“

Miguel

Oh, lieber Gott, das kann doch alles nicht wahr sein. Ich möchte das bitte nur geträumt haben. Ich kann mich unmöglich geprügelt haben… in der Öffentlichkeit. Ich bin katholisch, ich mache so was nicht. Gott, du verstehst das, oder? Als Sidney diese Dinge gesagt hat, hab ich einfach rot gesehen. Es waren sehr abscheuliche Dinge. Dass er an mich denkt, wenn er… das ist doch ekelhaft. Da hätte jeder die Fassung verloren. Und als wäre das nicht schlimm genug, hat er mich auch noch geküsst. Gegen meinen Willen selbstverständlich, denn ich würde niemals, NIEMALS einen Mann küssen. Einen Diener der Hölle. Um ihm zu zeigen, was ich davon halte, hab ich ihm ja auch gleich in die Lippe gebissen. Bitte, Gott… hilf mir, dass ich diesen Kuss vergesse! Diese weichen, warmen Lippen. Das Kribbeln im Bauch. Das Herzklopfen. Ich bin tot, verfl… ixt, wie kann mein Herz klopfen? Und warum tut mein Auge weh??

Das laute Bollern an meiner Tür, lässt mich vor Angst zittern. So bollert nur einer. Glücklicherweise hab ich abgeschlossen.

„Mach schon auf“, fordert Sindey.

„Verschwinde.“

„Miguel, mach die verdammte Tür auf!“

„Nein. Hörst du schlecht? Und… fluch mich nicht an!“

„Es tut mir leid, okay? Aber du hast angefangen und ich bin nicht so katholisch, dass ich die andere Wange auch noch hinhalte, wenn einer draufhaut.“

„Du spinnst wohl“, schreie ich die Tür an. „Du hast angefangen mit deinem Gefasel von Küssen und… so.“

„Kann ich was dafür, dass ich scharf auf dich bin? Hab ich mir bestimmt nicht ausgesucht.“

„Sag so was nie wieder zu mir.“

„Leck mich doch“, brüllt er. „Ich gehe jetzt arbeiten.“

Als wenig später die Haustür zuknallt, fühle ich mich erleichtert… jedenfalls ein wenig. Ich wünschte, Gabriel würde auftauchen und mir sagen, was ich tun soll. Aber der lässt sich nicht blicken. Ist vermutlich zu beschäftigt.

Am frühen Abend ruft mich Jonah ins Rattenzimmer.

„Kannst du mir kurz helfen? Ich muss Pepper Augentropfen geben, der hat ’ne Entzündung.“

Ich angle nach dem braunweißen Tierchen und versuche, es einigermaßen ruhig zu halten, damit Jonah ohne Verletzungsgefahr für die kleinen Rattenaugen träufeln kann.

„Und wo wir grad so nett plaudern… ich hätte gerne deine Version der gestrigen Ereignisse gehört.“

„Sidney hat mich wütend gemacht und… irgendwie uferte das dann aus. Es tut mir leid, dass ich mich dermaßen hab hinreißen lassen. Ich prügle mich nie.“

„Okay“, nickt Jonah und verschraubt die Flasche, „kannst ihn runtersetzen. Was um alles in der Welt hat er denn Furchtbares gesagt, dass du so ausgerastet bist?“

„Äh?“

„Sid sagt, er hätte etwas Doofes zu dir gesagt.“

Stammelnd und vermutlich sehr rotgesichtig erzähle ich es ihm.

„Verstehe. Weißt du, Sid ist halt sehr direkt und schießt gelegentlich übers Ziel hinaus. Lass ihn ein paar Mal abblitzen, dann hört er auf mit dem Quatsch. War bei mir auch so.“

„Du meinst, er hat… er wollte…“

„Schon. Allerdings war er bei mir immer betrunken und hat’s sicher nicht ernst gemeint. Wenn Sid einen im Tee hat, ist er nicht mehr wählerisch.“

„Das klingt, als würdest du glauben, dass man sich nur im Vollrausch für dich interessieren könnte.“

„Hey, fängst du jetzt auch noch an, mit mir zu flirten?“, grinst er.

„Nein“, kreische ich eine Spur zu schrill. „Ich meine… nein. Ich bin…“

„Katholisch, ich weiß“, unterbricht er mich und spendiert den Ratten ein paar Erdnüsse, über die sie sich neugierig hermachen. „Für dich ist das, was Sid tut, eine schlimme Sünde, oder?“

„Allerdings. Und zwar alles. Insgesamt. Nicht nur das mit den Männern.“

„Na ja, dieses totale Ich-will-Spaß-Prinzip geht mir auch oft auf den Sack. Aber es ist sein Leben. Und dummerweise kann ich ihm nie lange böse sein.“

„Und was ist mit Becky?“

„Reden wir nicht drüber.“

„Aber…“

„Es ist nicht Sids Schuld, dass sie immer noch in ihn verknallt ist. Sie weiß genau, was Sache ist.“

„Ich hoffe, sie merkt bald, dass es jemanden in ihrer Nähe gibt, der viel besser zu ihr passt.“

„Würd ich mich nicht drauf verlassen“, lächelt er traurig.


Also gut, ich kann Sidney nicht ewig aus dem Weg gehen. Erstens wohnen wir zusammen und zweitens hab ich einen Auftrag zu erledigen. Zum Glück verschont er mich mit weiteren Widerwärtigkeitsaussagen und tut so, als sei überhaupt nichts passiert. Dabei sieht man doch deutlich, dass etwas passiert ist, weil mein Auge nämlich immer noch bunt ist. Allerdings schmerzt es nicht mehr so doll.

Am Freitagabend lasse ich mich bequatschen und stehe zum zweiten Mal in der verrauchten Disko inmitten einer schwitzigen Menschenmenge. Sidney lungert mit seiner Band auf der Bühne und grölt seine Lieder. Und was der trägt… du meine Güte. Eine sehr enge, schwarze Hose mir Reißverschlüssen an den Beinen und einen schwarz-roten Wollpulli, der so große Löcher hat, dass er obenrum auch gar nichts hätte anziehen müssen. Man sieht jedenfalls viel Haut und das tätowierte Echsenvieh am Bauch ist auch ziemlich deutlich zu erkennen. Das ist… also wenn ich nicht katholisch wäre und er kein Höllendiener, würde ich ihn wahrscheinlich so was wie sexy finden. Allerdings bin ich katholisch und er ist nun mal ein Diener der Hölle, also ist es mir vollkommen egal, was der für Klamotten trägt. Hm, er scheint auch gar nicht betrunken zu sein. Und eigentlich grölt er nicht, er singt und seine Stimme klingt wirklich gut. Die Menschen um mich herum hängen total gebannt an seinen Lippen. Wahrscheinlich würden sie ihm genauso verzückt folgen wie die Ratten dem berühmten Rattenfänger… es ist nicht auszuhalten! Becky sitzt übrigens mit Jonah zusammen, was mir relativ komisch erscheint. Aber vielleicht ist sie endlich dabei, einzusehen, dass Sidney ein Teufel ist, in den man besser nicht verliebt sein sollte.

Nach dem Auftritt steht der Teufel plötzlich mit einem Glas Wasser neben mir.

„Und?“

„Was?“

„War ich gut?“

„Du hast was Schweinisches gesungen“, bemerke ich.

Er überlegt kurz und grinst dämlich. „Can I sleep with you ist nicht schweinisch. Wenn ich schweinisch gewollt hätte, dann hätte ich I wanna fuck you gesungen. Und selbst das wäre nicht wirklich schweinisch. Hast du dir den Text mal insgesamt angehört?“

„Na ja.“

„Dann wäre dir nämlich aufgefallen, dass Luscious Lips ein Liebeslied ist… beziehungsweise  eine Liebeserklärung. An einen Engel.“

Mir wird auf einmal seltsam warm. Liegt wohl an der unglaublichen Hitze hier in dem Schuppen.

„Fängst du jetzt schon wieder an?“

„Hä?“

„Ich dachte, ich hätte dir auf dem Weihnachtsmarkt klar gemacht, dass ich…“

„Wer sagt, dass DU der Engel bist, mit dem ich schlafen will?“, unterbricht er mich.

So ein Blödmann.

„Wie viele Engel kennst du denn?“

Auf einmal tut er etwas Ungeheuerliches. Er legt seine Hand auf meine Hüfte, streichelt da herum und sieht mich an. Erwähnte ich, dass seine Augen grün sind? Und seine schönen, weichen Lippen sind so nah.

„Du weißt genau, dass es in dem Lied um dich geht, Miguel.“

Oh, wie er meinen Namen ausspricht, verursacht eine Gänsehaut. Wenn er mich jetzt küssen würde… ich befürchte, dass ich mich grad nicht dagegen wehren könnte.

„Schönen Abend noch“, zwinkert er und verschwindet im künstlichen Nebel.

Meine Beine sind wie Pudding, glücklicherweise schaffe ich es auf die Toilette, wo ich erstmal meine heißen Wangen mit Wasser kühle.

Fall nicht auf seine Tricks herein… höre ich Gabriels Stimme in meinem Kopf. Genau! Tricks. Er ist ein Teufel. Er lügt und betrügt und würde mich ohne mit der Wimper zu zucken ins Höllenfeuer schicken. Oh, mir schwirrt der Schädel.

„Fall bloß nicht auf den Penner rein“, sagt jemand neben mir. Ich kenne ihn. Das ist der bunthaarige Typ, dem Sidney auf die Schuhe gekotzt hat.

„Wie bitte?“

„Er nutzt dich aus. Er nutzt jeden aus. Geht mit dir ins Bett und schmeißt dich danach weg wie einen alten Lappen.“

„Mit mir geht niemand ins Bett“, rege ich mich auf. „Sidney ist mein Mitbewohner, sonst nichts.“

„Mein herzliches Beileid, dass du den Wichser jeden Tag ertragen musst“, entgegnet er, kramt einen Stift aus seiner Tasche und umrandet seine Augen schwarz. „Natürlich kann ich verstehen, dass er scharf auf dich ist“, brabbelt er bescheuert in den Spiegel.

Ihm zu erklären, dass ich katholisch bin, würde vermutlich nichts bringen, weil der Typ ein Spatzenhirn ist, also halte ich lieber den Mund.

„Verrätst du mir deinen Namen?“

„Miguel.“

„Miguel, mh? Klingt schön. Ich bin Dennis.“

„Aha.“

Was ist denn heute los, dass jeder meint, an mir rumfummeln zu müssen? Dennis hat sich nämlich dicht vor mich gestellt, zupft an meinem Pullover und fährt anschließend mit dem Zeigefinger über meine Brust.

„Wie sieht’s aus? Hast du vielleicht Lust…“

„Nimm deine Griffel da weg, du Arsch!“

„Verpiss dich“, zischt Dennis.

Sidney kommt näher und mustert ihn. „Leg dich nicht mit mir an, Kleiner.“

„Wow, ich hab total Angst.“

Dann greift Sidney einfach nach meiner Hand und zieht mich mit sich hinaus.

„Der Typ ist das Letzte. Lass dich nicht mit dem ein, okay?“

„Das hatte ich überhaupt nicht vor“, antworte ich ärgerlich.

„Cool“, lächelt er, dass meine Beine sofort wieder diese Puddingkonsistenz bekommen. Vielleicht liegt es aber auch an seiner Hand, die noch immer meine hält.

„Oh, du warst so toll, Sid!“

Wie aus dem Nichts taucht Becky auf, glotzt kurz auf unsere Hände, umarmt Sidney stürmisch und er lässt mich los. Irgendwie… stört mich das. Natürlich nur, weil sie Jonah offensichtlich hat sitzen lassen.

„Wo ist denn Jo?“, will Sidney wissen.

„Der sitzt da irgendwo. Los, trink was mit mir.“

Hab ich’s nicht gesagt?!

„Ich bin nicht durstig.“

„Was’n los?“

„Nichts. Hab bloß keinen Bock, mich voll laufen zu lassen.“

„Hab ich das verlangt? Hab ich plötzlich Ausschlag?“, brüllt sie. „Oder warum treffen wir uns überhaupt nie mehr?“

„Becky“, verdreht er die Augen, „wir treffen uns andauernd.“

„Okay, wenn du hier weiterhin Aufpasser für deinen neuen Freund spielen willst…“

„Ja?“

„Vergiss es. Ich fahr nach Hause. Soll ich dich mitnehmen?“

Puh, das war deutlich, oder? Sie hasst mich. Sie… ist eifersüchtig.

„Nee, ich bin mit’m Auto da. Frag doch Jo.“

„Den kannst du ja wohl kutschieren.“ Sie wirft einen kurzen Blick auf mich, dann legt sie ihren Arm um Sidney. „Schlaf gut“, säuselt sie und küsst ihn auf den Mund.

„Weiber“, zuckt er die Schultern, als Becky weg ist.

Tja, und weg ist nach ein paar Minuten auch Sidney. Jonah und ich nehmen schließlich ein Taxi nach Hause, weil der Teufel verschollen bleibt.

Am nächsten Morgen kommt ein junger Mann aus Sidneys Zimmer… es ist der Sankt- Martin-Darsteller vom Laternenzug… und geht grußlos an mir vorbei Richtung Wohnungstür.

Sidney

Der Engel ist fast soweit, das hab ich im Gefühl. Klar, er wehrt sich noch dagegen und er verhält sich auch meistens eher abweisend… aber seine Augen sagen halt etwas völlig anderes. So, und weil er ja doch ziemlich süß ist, wäre es irgendwie nett, ihm ein paar Sachen beizubringen, denn sexuelle Erfahrungen sind bei ihm wohl total auszuschließen. Andererseits, wenn ich ihn erstmal flachgelegt hab, steht mit Sicherheit Luzifer fünf Minuten später auf der Matte. Ich hab keine Lust, zurückzugehen. Nicht nur, weil ich im letzten Jahr ungefähr tausendmal mehr Spaß hatte, als in meinem gesamten, armseligen Leben, sondern weil ich Jo tierisch vermissen würde. Und Becky. Mann, das ist doch der absolute Fuck. Verführe ich den Engel, muss ich mich von meinen Freunden trennen. Verführe ich ihn nicht, krieg ich Stress mit Luzifer. Möchte vielleicht jemand gerne in meiner Haut stecken?! Nee? Ich nämlich auch nicht.

„Hey… magst du Kakao trinken?“

Der Engel schüttelt seinen hübschen Kopf, was mich jedoch nicht davon abhält, mit zwei Tassen und einer Packung Zimtsterne in sein Zimmer zu latschen.

„Musst du eigentlich alles ignorieren, was ich sage?“

„Du hast nichts gesagt.“

Rabiat grapscht er nach der Tasse und…

„Vorsicht, der ist heiß.“

… verbrennt sich prompt seine luscious lips.

„Au“, presst er hervor und befühlt vorsichtig seinen Mund.

Mann, das ist so einfach. Ich rücke auf dem Bett an ihn heran, krame ein Tübchen Blistex aus meiner Hosentasche, nehme etwas auf meinen Finger und nähere mich seinen Lippen, worauf er zurückweicht.

„Was hast du vor?“

„Deine schmerzende Schnute einschmieren.“

„Danke, nicht nötig.“

„Doch, doch“, versichere ich ihm.

„Lass das.“

„Ich will dir helfen, Miguelito, also stell dich nicht so an.“

Ganz sanft tupfe ich das Zeug auf seine Lippen, die ein bisschen zittern. Haha, mit ollem Labello hätte das nicht funktioniert, den gibt’s bloß als Stift. Außerdem ist Blistex eh cooler als Labello.

„Das ist kühl“, wispert er.

„Na klar.“

Mmhhh… ich könnte ihn jetzt küssen. Wäre doch ein guter Zeitpunkt. Aber wenn ich ihn überfalle, beißt er am Ende wieder zu, also lieber nichts überstürzen. Der Plan war ja ohnehin, dass er sich freiwillig hingibt.

„Zimtstern?“, frage ich deshalb und halte ihm die Packung hin.

„Hast du… geschlafen mit Dennis?“, ignoriert er das leckere Weihnachtsgebäck.

„Wie kommst du darauf?“

„Also ja.“

„Na und?“

„Du kannst ihn doch nicht mal leiden.“

„Ich war voll auf… irgendeiner Pille, die mir irgendwer gegeben hat. Nüchtern hätte ich das Spatzenhirn niemals rangelassen.“

„Das ist ekelhaft. Wenn du schon sündigen musst… solltest du wenigstens…“

„Was?“

„Ich weiß nicht. Geschlechtsverkehr sollte man nur haben, wenn man verliebt ist. Und verheiratet. Und…“

„Um Kinder zu machen, mh?“, unterbreche ich ihn.

„Das ist der Sinn einer Ehe“, nickt er.

„Schwule dürfen aber nicht heiraten wie Heteros und Kinder kriegen ist auch eher schwierig.“

„Eben. Deswegen ist es eine Sünde.“

„Behauptet die Kirche.“

„Steht in der Bibel.“

„Ich glaube nicht an die Bibel“, erkläre ich.

„Das ist mir klar.“

„Okay, wenn Gott mir sagen würde, dass er Homosexualität verabscheut, dann würde ich eventuell mal ernsthaft drüber nachdenken. Das heißt, ich würde ihn zuerst fragen, warum?! Hey, wenn du wieder im Himmel rumschwirrst, frag ihn doch bitte für mich, ja?“

„Frag ihn doch selbst“, schlägt er vor.

„Meinst du, er würde einen Diener des Teufels in den Himmel lassen?“

„Wenn du dem Bösen für immer entsagst…“

„Ich finde, die da oben haben ein sehr falsches Bild von der Hölle. Wir sind nicht alle böse. Einige natürlich schon, die kriegen dann das, was sie verdienen. Und Luzifer ist auch nicht der machtgeile Abtrünnige, der in der Bibel beschrieben wird. Alles Bullshit.“

Miguels blaue Augen blitzen gefährlich.

„Ach ja? Wieso ist er dann in der Hölle gelandet, hä?“

„Einer muss den Job halt machen“, zucke ich die Schultern. „Wahrscheinlich haben sich seine Engelkumpanen nicht gerade darum gerissen.“

„Hat er das behauptet? Ich meine, ist doch logisch, er ist der Teufel, er lügt.“

„Das kannst du nicht wissen, weil du ihn gar nicht kennst.“

„Aber Gabriel. Und er sagt, dass der verdammte Luzifer immer lügt.“

Okay, hier kommen wir schon mal nicht weiter.

„Ich hasse Weihnachten.“

„Und wundert uns das?“, seufzt er.

„Ey, ich hab meine Gründe, okay? Und komm mir jetzt nicht wieder mit Hölle und Teufel und Religion. Gegen Ostern hab ich beispielsweise rein gar nichts und das ist für Katholen doch ein super wichtiges Fest. Auferstehung und so.“

„Du musst mir nicht erklären, warum man Ostern feiert.“

Meine Fresse, frag mich schon!

„Was gefällt dir an Weihnachten nicht?“, fragt er, klingt allerdings ein bisschen gelangweilt.

„Meine Mutter“, antworte ich und setze einen traurigen Blick auf, „steht auf Weihnachten und eigentlich war es bei uns auch immer total schön, aber seit… dieser Sache…“

„Welche Sache?“

Bedröppelt knibble ich mit dem Fingernagel an meiner Tasse und lasse den Kopf hängen.

„Mein Vater ist abgehauen als ich… keine Ahnung… elf oder so war. Ich hab das eigentlich ganz gut weggesteckt, aber meine Mutter war völlig am Boden. Weil sie nachts oft geweint hat, bin ich dann zu ihr und hab bei ihr geschlafen. Bis… vergiss es, ich kann nicht darüber reden.“

„Versuch’s“, fordert Miguel sanft.

„Also… zuerst war es nur harmloses Streicheln, aber dann… sie muss wirklich sehr einsam und verzweifelt gewesen sein.“ Und ich muss sehr überzeugend sein, denn seine Hand legt sich auf einmal mitfühlend auf meine. „Sie hat irgendwann angefangen… mich anzufassen, verstehst du? Hat immer gesagt, dass es in Ordnung ist, weil sie mich doch liebt und so. Aber es war nicht in Ordnung.“

„Sid“, wispert er bestürzt, „hast du… ich meine, warum hast du das nicht jemandem gesagt?“

„Frauen machen so was nicht… Mütter schon überhaupt nicht. Niemals. Denkst du, mir hat jemand geglaubt?“

„Es tut mir so leid.“

„Sie wollte dann, dass ich sie auch… am nächsten Tag bin ich abgehauen. Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen. Vielleicht kannst du jetzt verstehen, warum ich nach meinem Tod nicht zu Gott wollte. Wie konnte er zulassen, dass sie mir so etwas Schreckliches antut?“

„Gott ist nicht dafür verantwortlich, was Menschen tun.“

„Erzähl das einem, der als Dreizehnjähriger von seiner Mutter missbraucht wurde. Das Einzige, was mich halbwegs tröstet ist, dass Luzifer einen schönen Platz für sie freihält.“

Miguels Finger streicheln kaum merklich meinen Handrücken, während ich mir ein paar Tränchen aus den Augen quetsche.

„Kannst… ich…“

„Schon gut“, flüstert er und umarmt mich.

Mmhhh… sein engeliger Geruch umweht meine Nase und die Haut an seinem Hals ist ultra weich. Okay, Sid, reiß dich zusammen, an seinem Hals rumzuküssen würde alles verderben!

Nach einer Weile lässt er mich los.

„Danke“, schniefe ich.

„Wofür denn?“

„Dass du mir glaubst.“


Bevor ihr jetzt denkt, der Teufel versucht’s doch echt mit allen widerwärtigen Mitteln… die Geschichte stimmt. Allerdings gehe ich damit normalerweise nicht hausieren. Außer Miguel hab ich’s bloß Luzifer erzählt und damals einem Lehrer, der nichts unternommen hat, weil es unvorstellbar für ihn war, dass es Mütter gibt, die Sex mit ihren Kindern haben. Aber, hey, nur weil man so was nicht täglich in der Zeitung liest, bedeutet das nicht, dass es nicht stattfinden kann. Und genau deshalb lasse ich auf Luzifer nichts kommen. Er hat sofort gewusst, dass ich die Wahrheit sage.

In der Küche ist Jo grad dabei, Vanillekipferl zu backen. Das bringt mich voll Karacho in die Vergangenheit zurück, weil meine Mutter selbstverständlich in der Weihnachtszeit auch gebacken hat… jedenfalls als wir noch eine richtige Familie waren.

„Ich hoffe, Becky weiß, dass sie mit dir eine perfekte, kleine Hausfrau bekommt“, murmle ich und schlinge von hinten meine Arme um ihn.

„Kannst du bitte damit aufhören? Danke“, entgegnet er grimmig, wischt sich gedankenlos mit der Hand über die Wange, worauf etwas Mehl daran haften bleibt. Ich finde Jo wahnsinnig süß. Ehrlich, er ist vom Aussehen her so’n bisschen… Jared Leto in My So-Called Life. Allerdings kleidet er sich besser. Wäre ich Becky, würde ich ihn augenblicklich heiraten! Ein Jammer, dass er mich einfach nicht ranlässt.

„Was bist’n heute so anhänglich?“

Meine Hände wandern seinen Körper hinab, schlängeln sich über seine Seiten nach vorne und streicheln seinen Bauch, während ich mein Kinn auf seine Schulter stütze.

„Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch, Sid. Trotzdem gehe ich nicht mit dir ins Bett.“

„Du solltest von dem Zeug lieber nichts essen.“

„Wieso nicht? Meine Plätzchen schmecken immer gut.“

„Ja, klar, aber… Becky steht vielleicht nicht auf Speckröllchen“, erkläre ich und kneife ihm in die Seiten.

„Dann such ich mir halt ein Mädel, das drauf steht.“

„Na ja, noch hast du ja keine.“

„Und wenn ich welche habe… who cares?“

„Mich nicht. Ich würde auf jeden Fall mit dir…“, weiter komme ich nicht, weil er mir den Mund mit rohem Teig stopft.

„Höchste Zeit, an deinen Speckröllchen zu arbeiten, mh?“, kichert er. „Vielleicht steht Miguel da drauf.“

„Wo ist’n der?“, frage ich kauend, entferne das Mehl von seiner Wange und setze mich an den Tisch.

„Die Frage ist… was hast du mit ihm vor?“

„Du wolltest doch, dass wir Freunde sind.“

„Hm-hm, von anbaggern war allerdings nicht die Rede.“

„Kein Grund, es nicht zu tun.“

„Den kriegst du im Leben nicht rum. Er ist katholisch“, verdreht Jo die Augen.

„Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

„Hauptsache, ihm entfällt es endlich mal. Mann, der ist wie ’ne kaputte Schallplatte. Wie du mit deinem Ich-hasse-Weihnachten.“

„Es ist eben nicht jeder so versessen darauf wie du.“

„Soll ich dir mal drei Geister vorbeischicken, Ebenezer?“

„Nee, deine Weihnachtsbärchen sind gruselig genug.“

„Logisch“, zwinkert er, „deswegen hab ich die ja auch aufs Klo gestellt und nicht hierhin.“

Als die Kipferl im Ofen backen, wird mir der Geruch zu penetrant, weshalb ich aus der Küche flüchte.


„Oh… entschuldige, ich wusste nicht, dass du… äh…“, brabbelt Miguel und glotzt mich von oben bis unten an.

„Is okay“, sage ich und versuche, mich einigermaßen langsam weiter anzuziehen. Schließlich soll der Engel was davon haben, oder?!

„Ich wollte nur…“

„Ja?“

„Sehen, wie es dir geht.“

„Bisschen müde. In der Teufelsküche war sozusagen die Hölle los.“

„Hast du noch was vor?“

„Nee, wieso?“

„Weil du angezogen bist, als würdest du noch ausgehen wollen.“

„Ich kann ja schlecht nackt rumlaufen“, zwinkere ich und strubble meine nassen Haare.

Haha, so rot wie Miguel gerade wird, hätte er das vermutlich sehr gerne.

„Jonah hat Plätzchen gebacken.“

„Und?“

„Gar nichts“, murmelt er.

„Willst du die ganze Zeit an der Tür stehen bleiben? Komm her“, fordere ich und setze mich aufs Bett.

Nach gefühlten zehn Minuten folgt er endlich meiner Einladung, allerdings relativ zögerlich.

Nervös stiert er überall hin, nur nicht in meine Richtung. Okay, heute ist der Engel dran, beschließe ich und sorge erstmal für eine kuschelige Atmosphäre, indem ich die Lichterkette anknipse und den kitschigen Billigkronleuchter unter der Decke ausschalte. Ein paar Zimtteelichter anzuzünden, kann auch nicht verkehrt sein. Danach sitzen wir uns auf dem Bett gegenüber und Miguel hat immer noch Schwierigkeiten, mich anzusehen, was eindeutig nicht an der schummrigen Beleuchtung liegt. Er schluckt angestrengt und atmet noch angestrengter. Hauptsache, der fällt vor lauter Anstrengung nicht gleich ins Koma.

„Was ist los, Miguel? Du benimmst dich irgendwie… seltsam.“

„Ach ja?“

„Na ja, du benimmst dich eigentlich immer seltsam, aber heute ganz besonders.“

„Darf ich dich was fragen?“, fragt er plötzlich hektisch und ein wenig laut.

„Klar, mach mal.“

„Die Jungs, mit denen du… ich meine… letztens, als Sankt Martin morgens aus deinem Zimmer kam… den hast du… geküsst, oder?“

„Unter anderem“, nicke ich und muss kurz überlegen, wen er meint. Au… Sankt Martin, wow, der war alles andere als heilig und ich hab ihn auch mehr als nur geküsst. „Worauf willst du hinaus?“

„Dann fandest du den… süß?“

„Wahrscheinlich. Hab ich damit deine katholischen Gefühle verletzt?“

„Hm?“

„Weil ich ihn gevögelt habe, was für dich eine der schlimmsten Sünden überhaupt ist“, helfe ich ihm auf die Sprünge.

„Sid!“

Ahhhh… seit wann nennen wir mich denn so vertraulich Sid, mh?

„Was?“

Seufzend schüttelt er den Kopf, schaut mich an, kuckt wieder weg und zupft an seinem Hosenbein herum.

„Warum küsst du mich nicht?“, wispert er so leise, dass ich mich auch verhört haben könnte.

„Findest du mich nicht süß genug?“, fügt er hinzu und schenkt mir einen spektakulär verschüchterten, unsicheren Blick.

Hm, ich bin mir sicher, er hat keinen Schimmer, was er damit grad bei mir anrichtet.

„Ich hab dich geküsst“, bemerke ich, „und du hast mich gebissen.“

„Das war ja auch nicht unbedingt die richtige Situation dafür. Außerdem war das nicht… ernst gemeint. Du wolltest mich bloß ärgern.“

„Genau. Das hatte nichts weiter zu bedeuten.“

„Verstehe“, behauptet er.

„Miguel, du denkst doch nicht, dass der Kuss nichts weiter zu bedeuten hatte?!“

„Nein?“

Seine Augen glitzern und ich muss verflucht aufpassen, dass ich mich nicht auf einmal Hals über Kopf verliebe. In meinem Bauch kribbelt es bereits gefährlich. Langsam rücke ich näher, streiche ihm eine honigblonde Haarsträhne hinters Ohr und lege meine Hand in seinen Nacken.

„Beiß mich nicht, okay?“

„Okay“, nickt er.

Als sich unsere Lippen berühren, schlägt bei mir total der Blitz ein. Ernsthaft, als wäre sein Mund elektrisch geladen und hunderttausend Volt jagen durch meinen Körper. Das überrascht mich dermaßen, dass ich meinen Mund sofort von seinem entferne. Ey, irgendwas stimmt hier nicht. Wie kann mich ein ippeliger Kuss so aus den Socken schießen??

Miguel wirkt mindestens genauso verschreckt wie ich mich fühle. Irritiert leckt er sich die Lippen. Ich muss ihn noch mal küssen. Und diesmal vorsichtig meine Zunge ins Spiel bringen. Miguels Zunge ist aufreizend zurückhaltend und mein Hirn völlig lahm gelegt. Fuck, das ist besser als jede Pille… jede Line… jeder Schuss, den ich mir gesetzt habe. Besser als… Luzifer zu küssen. Und der hat nun wirklich supersüße Honiglippen. Nach Honig schmeckt Miguel übrigens ebenfalls. Muss irgendwie so eine Engelsache sein. Jedenfalls bin ich nicht nur angefixt, ich bin nach einigen Sekunden süchtig. Und ich will mehr! Leider schubst Miguel mich plötzlich weg und rennt hinaus.

Miguel

Mein Herz rast. In meinem Kopf rauscht es lautstark. Mir ist schwindlig, ich kann nicht richtig atmen und wenn ich nicht schon tot wäre, hätte ich gerade sehr große Angst zu sterben.

Findest du mich nicht süß genug… warum küsst du mich nicht… Ich habe ja wohl komplett den Verstand verloren. Gott, du weißt, dass dieser betörende Höllengeruch meine Sinne vernebelt hat, ja? Das werde ich niemals wieder zulassen. Auch wenn Sid mich so geküsst hat, dass ich seine Lippen immer noch spüre. Auch wenn die sündigen Dämonen tief in meinem Inneren schreien: Tu es! Ich werde nicht auf sie hören. Ich bereue. Und ich bitte dich, mir die Kraft zu geben… oh, seine weichen Lippen haben Blitze durch meinen Körper geschossen… du bist verdorben, Miguel, durch und durch verdorben. So kommst du nie in den Himmel! Ha, aber ich habe nur ganz kurz gesündigt und bloß, weil der Teufel mich eingelullt hat. Ja, sicher, er hat mich dazu gebracht, ihn zu fragen, warum er mich nicht küssen will. Logisch. Ich würde doch von selbst nicht auf so etwas kommen. Okay, einen schwachen Moment hat jeder mal, richtig? Das ist nichts, wofür man sich bis zur Ohnmacht geißeln muss. Hauptsache, es geschieht kein zweites Mal.

Nach einer unruhigen Nacht, in der ich mich wenigstens gedanklich gezüchtigt habe, schlurfe ich in die Küche. Na, fein… der kleine Teufel sitzt am Tisch und liest. Seine Beine hat er bequem auf den Stuhl gelegt und mir wird schon wieder flau. Wo ist Jonah? Warum lässt er mich mit dieser Höllenkreatur alleine?

„Hey“, begrüßt er mich, ohne von seinem Buch aufzublicken, „der Kaffee ist noch heiß, wenn du magst.“

„Danke, mir geht’s nicht so gut.“

Langsam hebt er seinen Kopf. „Mir auch nicht, Miguel.“

Meine Beine bewegen sich nicht, obwohl ich eigentlich in mein Zimmer zurück will. Sids Beine funktionieren, denn er steht auf und kommt auf mich zu. Ich spüre die Wand an meinem Rücken und bemerke, dass es keine Möglichkeit zur Flucht gibt.

„Darf ich bitte vorbei?“, frage ich höflich.

„Nein.“

Seine Hände legen sich auf meine Hüften, die Dämonen brüllen so laut, dass mein Körper anfängt zu zittern. Sids Augen glitzern gefährlich.

„Du kannst nicht einfach in mein Zimmer stiefeln, mich küssen, mich völlig verrückt machen und dann abhauen.“

Er hat ja keine Ahnung, was für einen Kampf ich gerade mit den schrecklichen Dämonen führe.

„Du musst mich loslassen, Sid. Bitte“, flehe ich.

„Sonst was?“

Ich verliere den Kampf und küsse ihn. Das ist wie eine Art Befreiung. Oder… Spannung, die sich löst, aber gleichzeitig wieder aufbaut. Es ist schwer zu beschreiben.

„Fuck“, sagt er plötzlich, „ich muss arbeiten.“

Völlig verwirrt bleibe ich zurück und sehne mich nach Gabriels schützender Umarmung.


So langsam gewöhne ich mich an die düstere Lokalität. An die vielen Leute, an die Hitze, den Rauch. Nicht, dass ich hier auf einmal Stammgast werden möchte, aber ich verspüre auch nicht den Drang, sofort weglaufen zu wollen. Es ist was anderes, das mir zu schaffen macht. Sid hat nach dem Kuss in der Küche kein Wort mehr darüber verloren, was ich natürlich sehr begrüße. Weil ich leider ständig daran denken muss und die fiesen Dämonen mich permanent überreden wollen, ihn wieder zu küssen. Dass Sid sich die letzten Tage zurückgezogen hat, ist auf alle Fälle von Vorteil, weil ich mir momentan selbst nicht über den Weg traue. Dass er heute Abend permanent mit irgendwelchen Jungs flirtet, ärgert mich allerdings. Becky sieht auch nicht unbedingt fröhlich aus. Die will, dass er mit ihr flirtet. Ich will, dass er sein schamloses Treiben aufgibt und mit mir in den Himmel kommt. Deswegen bin ich sauer.

Oh nein, dieser komische Dennis-Typ glotzt mich schon wieder so dämlich an. Besser, ich versuche, ihm aus dem Weg zu gehen.

Weil es mir irgendwann doch zu laut und zu stickig wird, schnappe ich draußen eine Weile frische Luft, obwohl ich erbärmlich friere.

„Bist du irre, ohne Jacke rauszugehen?“, fragt Sid vorwurfsvoll. „Willst du dir ’ne Lungenentzündung holen?“

„Das kann dir doch egal sein.“

Ist es ihm anscheinend nicht, denn er hat meine Jacke mitgebracht und hängt sie mir über die Schultern. Danach zündet er sich eine Zigarette an, zieht ein paar Mal dran, wirft sie weg und… umarmt mich.

„Was tust du da?“

„Dich wärmen, Miguel“, stöhnt er genervt.

„Mach das lieber bei den Jungs da drin“, rutscht mir aus Versehen raus.

„Denen ist warm genug.“

„Mir auch“, entgegne ich und schubse ihn weg.

„Bleib doch hier draußen, bis dir Eiszapfen wachsen“, zischt er und lässt mich stehen.

Nee, solange bestimmt nicht.

Angenehmerweise gibt’s in der Diskospelunke nicht bloß alkoholische Getränke, sondern auch Tee. Billigen Teebeutelhagebutte, aber immerhin. Meine Zähne hören auf zu klappern, als ich das heiße Gesöff hinunterkippe. Jonah hat offenbar Bekannte getroffen, mit denen er sich unterhält. Sid macht den Jungs schöne Augen und Becky belauert eifersüchtig das Geschehen. Ich gehe aufs Klo und danach sehr wahrscheinlich nach Hause.

Leider wartet dort eine böse Überraschung. Dennis zupft vorm Spiegel seine Frisur zurecht.

„Hi, Miguel“, lächelt er.

„Hallo“, murmle ich und finde meinen Harndrang nicht mehr so wichtig. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass er Schändliches im Sinn hat, denn ich werde schneller gegen die Wand gedrückt, als ich kucken kann. Ich habe für diese eigenartige Sitte, dass Jungs andere Jungs gegen Wände drücken, wirklich nichts übrig, das möchte ich mal sagen!

„Wir sind beim letzten Mal unterbrochen worden“, behauptet er.

Ja, zum Glück!

„Äh… Sid und Jonah warten auf mich, also…“

„Sid und Jonah sind mit anderen Dingen beschäftigt.“

„Sidney“, sage ich, worauf Dennis blöde lacht.

„Voll kaputt der Typ. Sollte sich nicht so viele Pillen reinziehen. Mmmhh… ich bin echt scharf auf dich, Miguel.“

Seine Hände gehen auf Entdeckungsreise. Sie streichen über meinen Bauch und wandern schließlich unter meinen Pullover.

„Ich will das nicht“, erkläre ich bestimmt und halte seine gierigen Flossen fest.

„Klar, willst du“, wispert er mir ins Ohr, wedelt eine Hand frei und schiebt sie zwischen meine Beine, was mich dermaßen entsetzt, dass ich geräuschvoll nach Luft japse. Dennis versteht das allerdings völlig falsch und fühlt sich animiert, seine Hand da unten zu bewegen.

Mein Körper gehorcht mir dummerweise kein bisschen mehr. Diese Berührung… ich muss kurz meine Augen schließen.

„Ich hoffe, ihr habt Spaß.“

Erschrocken reiße ich die Augen auf. Sid lehnt am Waschbecken.

„Verpiss dich, du störst“, zischt Dennis.

„Ist irgendwas mit meinem Gedächtnis nicht in Ordnung? Hatte ich dir nicht gesagt, dass du deine Finger von ihm lassen sollst?“

„Ja, und dann hast du mir gedroht und wahnsinnige Angst eingejagt, Wichser.“

„Miguel, wir gehen“, kommandiert Sid.

„Er geht nirgendwohin. Kümmer dich um deinen Scheiß“, sagt Dennis gelangweilt und versucht, mich zu küssen.

Als ich mein Gesicht wegdrehe, fasst Sid an Dennis’ Schulter und schubst ihn heftig zur Seite.

„Ey, ich hau dir eine rein“, brüllt er und geht auf Sid los.

Gegen das, was die beiden grad abziehen, ist unsere Weihnachtsmarktrangelei wohl unter dem Begriff „Kinkerlitzchen“ einzuordnen. Dennis schlägt so hart mit der Faust zu, dass Sids Lippe aufplatzt und er taumelt. Nach einem Tritt, geht er zu Boden, nimmt Dennis aber mit, wirbelt ihn herum, sitzt auf ihm, schlägt ihm ins Gesicht und seinen Hinterkopf ein paar Mal auf den Boden.

Endlich erwache ich aus meiner Schockstarre.

„Sid, du bringst ihn um“, schreie ich verzweifelt und zerre ihn von Dennis runter. Aber er hat immer noch nicht genug und tritt ihm in die Seite. „SIDNEY… du hörst jetzt auf, hast du verstanden?! Was ist verdammt noch mal los mit dir?“

Hey, in so einer Situation darf man fluchen. Zumal es hilft. Sid beruhigt sich, kraucht an die Wand und bleibt da erstmal sitzen. Ich sehe derweil nach, ob Dennis noch lebt.

„Fuck“, stöhnt er, rappelt sich ein wenig hoch, schafft es mit meiner Hilfe aufzustehen und sich das Blut aus den Haaren zu waschen.

Als Sid laut die Tür hinter sich zuknallt, lächelt Dennis lädiert.

„Ich hab dir gesagt, der Typ ist voll krank.“

Na ja, weit kann er nicht sein. Ich suche ihn und finde Sid schließlich im Backstageraum, wo er von Jonah und Becky verarztet wird.

„Ich mache das“, erkläre ich und nehme ihr das feuchte Tuch aus der Hand, mit dem sie seine Lippe betupfte.

„Verschwinde zu deinem Stecher“, faucht Sid.

„Hast es gehört“, triumphiert sie, will den Lappen zurückerobern, wird jedoch von Jonah davon abgehalten.

„Was hast du denn für Probleme?“

„Miguel kümmert sich schon um ihn.“

„Er ist doch Schuld, dass…“

Ich blende die beiden für einen Moment aus und setze mich neben Sid, der seinen Kopf an meine Schulter lehnt.

„Fick dich, Jonah!“, kreischt Becky schrill.

„Sie sollte endlich mit ihm ficken“, bemerkt Sid leise, worauf ich das schmutzige Wort ignoriere und zustimmend nicke.

Schließlich gelingt es Jonah, die Kratzbürste hinaus zu bugsieren.

„Erklärst du mir jetzt, was das eben sollte?“

„Warum erklärst du mir das nicht? Seit wann lässt sich ein katholischer Junge von einem Vollspacken aufm Klo befummeln?“

„Ich hab ihm gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll.“

„Hat ja bestens funktioniert“, lacht er schnaufend. „Es sah echt nicht so aus, als hättest du ihm irgendetwas entgegenzusetzen gehabt. Ich wollte einfach nicht, dass du einen Fehler machst. Seine Unschuld auf einem dreckigen Klo zu verlieren, ist auf jeden Fall total stillos. Engel hin oder her.“

„Ich hätte niemals mit ihm…“

„Miguel, der Typ ist ein Arschloch, okay? Der landet mit Sicherheit mal in der Hölle. Und er hätte nicht aufgehört, also musste ich doch was unternehmen.“

Wow… ein Teufel, der die Unschuld eines Engels verteidigt. Ich bin leider sehr einfach gestrickt und hab eine Schwäche für ritterliches Verhalten. Dass er sich geprügelt hat, um mich zu beschützen, lässt Schmetterlinge in meinem Magen umherflattern.

„Wir sollten nach Hause… du solltest dich hinlegen. Kannst du fahren?“

„Klar. So schlimm hat der Penner mich nicht erwischt.“

Als ich ihn später ins Bett verfrachtet habe, stellt sich heraus, dass Dennis ihn doch schlimm erwischt hat. Sid klagt über heftige Kopfschmerzen und dass die Tablette, die Jonah ihm gegeben hat, nicht hilft.

„Würdest du… also unter den Umständen… macht es dir was aus, bei mir zu bleiben? Vielleicht hab ich eine Gehirnerschütterung, muss mich im Schlaf übergeben und könnte an meinem Erbrochenen ersticken.“

„Sid, du lebst doch eh nicht mehr.“

„Na und? Wie oft bist du schon auf die Erde zurückgeschickt worden, dass du so genau weißt, was da mit einem passieren kann und was nicht?“

Tja, der Punkt geht an ihn.

„In Ordnung“, willige ich ein.

„Dann zieh dich aus und leg dich zu mir ins Bett.“

Jaaa, das kann man machen, wenn es jemandem schlecht geht. Da ist nichts Verwerfliches dran.

„Versuch aber bitte, dich im Schlaf nicht zu übergeben.“

„Okay“, murmelt er und kuschelt sich in meine Arme.

Sidney

Dennis, das kleine Spatzenhirn, hat mir total in die Hände gespielt. Ich glaube, Miguel steht heimlich drauf, beschützt zu werden… auch wenn man sich dafür prügelt… oder gerade deswegen. Na ja, und Dennis hat’s verdient. Was muss der MEINEN Engel begrapschen? Wenn Miguel verdorben wird, dann ja wohl durch mich! Luzifer hätte für alles andere kein Verständnis. Jedenfalls ist Miguel seit der Kloschlägerei wie ausgewechselt. Also ein bisschen. So langsam scheint er mir zu vertrauen. Sehr gut. Alles läuft planmäßig.

„Hilf mir doch mal“, japst Jo angestrengt und zerrt eine ungefähr zwei Meter hohe Nordmanntanne hinter sich her.

„Wo willst’n das Ungetüm hinstellen?“, frage ich und bewege mich keinen Millimeter.

„In die Ecke neben das Sofa.“

Da er das riesige Teil offenbar bereits allein sechs Treppen heraufgeschleppt hat, erbarme ich mich doch und fasse mit an. Als der Baum endlich in der Küche liegt, verrückt Jo Sofa und Tischchen, packt einen uralten Christbaumständer aus und hantiert an den Schrauben herum.

„Der Stamm ist viel zu dick“, fällt mir auf den ersten Blick auf, „der passt da nicht rein.“

„Dann müssen wir den… anspitzen oder so.“

„Cool. Wo war noch gleich der Christbaumanspitzer?“

Jo schnauft vernehmlich und wischt sich verschwitzte Haare aus der Stirn. „Ein Messer tut’s auch“, beschließt er, kramt in der Küchenschublade und schabt mit einem Minischneidemesser etwas Baumrinde ab.

„Ey, dafür brauchst du Tage. Dann steht der Baum vielleicht zu Silvester“, lache ich ihn aus.

„Hast du eine bessere Idee?“

„Hast du eine Axt oder ’ne Säge?“

„Klar, gleich neben den Leichen, die ich damit immer zerteile, Blödmann.“

Miguel, der in diesem Augenblick in die Küche kommt, checkt sofort, was Sache ist, schnappt sich ebenfalls ein Messer und schabt fröhlich mit.

„Bekommen die Ratten was davon?“, fragt er.

„Nee“, schüttelt Jonah den Kopf. „Ratten vertragen ätherische Öle nicht.“

„Bieber essen Baumrinde“, erkläre ich, werde allerdings von beiden ignoriert.

„Das reicht“, findet Miguel, „lass uns versuchen, ob er reingeht.“

Mir schießen ein bis zwei wirklich sehr schmutzige Gedanken durch den Schädel.

„Würdest du aufhören zu grinsen und mal anpacken?“

Das hilft total nicht. Miguel gewährt mir dabei nämlich einen hübschen Blick auf seinen perfekten Arsch.

„Sid!“

Ein Teufel, ein Engel, ein Mitbewohner und die Nordmanntanne… super Titel für den nächsten Sat1-Film, oder? Während Miguel und ich den Baum halten, stellt Jo die Schrauben fest und schließlich… Hallelujah… steht der Baum in der Ecke neben dem Sofa. Das Netz wird entfernt und die Äste ragen ausladend in den Raum hinein… nachdem Engel und Mitbewohner sie runtergedrückt haben.

„Der ist schief.“

„Halt’s Maul“, zischt Jo und befüllt den Baumständerbottich mit Wasser.

„Von hier aus ist der schief“, behaupte ich.

„Wo du grad schon in der Tür stehst… hol die Kugeln ausm Keller, Scrooge.“

„Wo sind’n die?“

„Links im Regal. Bring die ganze Kiste mit.“

„Bestimmt ist das Licht wieder kaputt.“

„Und?“

„Ich hab Angst im Dunkeln.“

„Los jetzt, fauler Sack.“

Jos Weihnachtskiste wiegt Tonnen. Ich hab Affenarme, als ich wieder oben bin.

„Wofür brauchen wir den Scheiß überhaupt? Du bist doch Heilig Abend eh bei deinen Eltern.“

„Ja, aber Weihnachten bin ich hier.“

Miguel hat total glänzende Augen gekriegt und schmückt mit Jo um die Wette. Hier noch eine Kugel mit glitzernder Schneelandschaft drauf und da noch ein Glöckchen und die kitschigen, kleinen Fliegenpilze, die Jos Omma ihm vererbt hat, unten an die Äste geklemmt, ein paar Strohsterne dürfen auch nicht fehlen und dann sind beide hoffnungslos mit der kilometerlangen Lichterkette überfordert. Die zwei sehen dermaßen süß aus, dass ich sie sofort wegschlabbern will wie Karamelleis.

„Wir haben in der Ecke keine Steckdose“, gebe ich zu bedenken.

„Dann geh in den Keller und hol die Versicherungsschnur“, entgegnet Jo irritiert, „ich meine Verlängerung.“

„Du machst das extra, oder?“

Okay, der geschmückte Baum ist… ganz nett. Dank der Versicherungsschnur leuchten jetzt die Lämpchen. Allerdings nur kurz, um zu überprüfen, ob auch tatsächlich alle funktionieren. Denn richtig leuchten darf’s erst Heilig Abend, bis dahin bleibt die Nordmanntanne dunkel. Ich bin übrigens sehr froh, dass Miguel da ist, weil Jo mich sonst zu seinen Eltern geschleppt hätte, weil er findet, dass Heilig Abend niemand allein sein sollte. Ich hab seine Eltern kennen gelernt… die sind hardcore herzlich und lieb, was eh schon schwer auszuhalten ist. Aber Weihnachten sind die sicher noch eine Ecke schlimmer und das muss ich echt nicht haben.


„Hast du Lust, übern Weihnachtsmarkt zu gehen?“

Miguel starrt mich an, als hätte er den Leibhaftigen vor sich… also den richtigen.

„Erstens… du hasst Weihnachten. Zweitens… hast du vergessen, was da passiert ist? Und drittens… du hasst Weihnachten.“

„Ich hab ja auch nicht gefragt, ob du Lust hast, dich noch mal mit mir auf dem Weihnachtsmarkt zu kloppen. Denkst du, dass heute ausgerechnet alle Leute da sind, die vor Wochen da waren, uns erkennen und nachträglich die Bullen rufen?“

„Du hasst Weihnachten und ich nehme an, alles, was damit zusammenhängt.“

„Bist du in letzter Zeit mal in der Küche gewesen? Da sieht’s aus, als hätten wir das Fest der Liebe erfunden.“

„Ah, und du willst dahin flüchten, wo’s noch zehnmal mehr so aussieht?“

„Nee. Ich hab nur begriffen… was meine Mutter getan hat, war schrecklich, aber dafür kann Weihnachten nichts. Du stehst drauf und ich… möchte deine Augen glänzen sehen.“

Mmhh, er wird rot. Sehr niedlich.

Eine halbe Stunde später latschen wir durch die Kälte. Vorbei an Glühweinständen, Schmuck- und Krimskramsbuden, Bonbon- und Teeverkäufern, ekelhaft stinkenden Überbackene- Champignons-Hütten. Überhaupt, diese vielen Gerüche, die sich miteinander vermischen, bringen meine Nase fast zum Kollabieren. Zimt, gebrannte Mandeln, Käse, Backfisch, Zuckerwatte, Alkohol… mir ist speiübel. Der Engel an meiner Seite hingegen lächelt selig und das ist ja die Hauptsache. Ein altes Karussell mit bunten Holzpferden hat’s ihm angetan, aber ich finde, mit ihm hier rumzulaufen ist romantisch genug. Auf den Gäulen sitzen eh nur Gören.

„Willst du irgendwas haben? Zuckerwatte oder so’n Scheiß?“

Miguels Miene vereist.

„Ich meine… komm schon, ich möchte dir wirklich gerne eine Tüte Mandeln kaufen.“

„Danke für den Versuch.“

„Hä?“

„Lieb zu sein“, lächelt er. „Muss dich unglaublich viel Überwindung kosten.“

„Da, wo ich herkomme, verlernt man so was.“

„Dann solltest du mit mir gehen, wenn Gabriel…“

„Ich rede nicht von der Hölle, sondern von meinem Leben“, unterbreche ich ihn. „als dreizehn, vierzehnjähriger Ausreißer bist du Freiwild für miese Typen aller Art.“

„Was für Typen?“

Das Karussell dudelt irgendeine schmissige Zirkusorgelmelodie, die Gören strullern sich fast in die Buxen vor Vergnügen. Ich fand Zirkusorgelmelodien immer schon unangenehm. „Being For The Benefit Of Mr. Kite“ ist beispielsweise eines der unheimlichsten Lieder überhaupt.

„Na ja, solche, die dich beklauen, auf Droge bringen und… solche, die dir nach sexuellen Gefälligkeiten aufs Maul hauen und gehen, ohne zu bezahlen.“

Miguel starrt mich entsetzt an. „Du hast dich prostituiert?“

„Wenn die Kerle gezahlt haben, ja.“

„Das ist widerwärtig.“

„Ich musste schließlich essen.“

„Nein, ich meine… dass Männer mit… du warst doch noch ein Kind.“

„Das war ein unglaublicher Vorteil. Die Kerle waren total geil auf meinen dürren, knabenhaften…“

„Sid“, zischt er angeekelt.

„Glaubst du vielleicht, ich bin stolz darauf? Es war ekelhaft und jedes verdammte Mal ist ein Stückchen mehr in mir kaputt gegangen. Also entschuldige bitte, dass ich lieb sein nicht mehr draufhabe. Lieb sein kann dir Schmerzen einbringen, die du nie wieder vergisst. Darf ich dir jetzt endlich die verfluchten Mandeln kaufen?“

Vermutlich hat ihn meine Geschichte so sehr gerührt, dass er seine katholische Vergangenheit vergessen hat, denn er umarmt mich plötzlich. In der Öffentlichkeit. Und das ist nicht nur  eine freundschaftliche Umarmung mit auf-die-Schulter-klopfen und so. Seine Lippen berühren hauchzart mein Ohr.

„Ich werde dir niemals weh tun, Sid“, wispert er.

Später, als es aufgrund der Kälte reichlich ungemütlich wird, beschließen wir, den heißen Kakao zuhause zu trinken. Natürlich vergesse ich nicht, für Jo Glühweinbonbons zu kaufen. Der ist süchtig nach den Dingern.

„Du kennst jetzt die unschönen Momente meines Lebens und ich weiß von dir eigentlich gar nichts.“

Miguel pustet in seine Tasse und nimmt einen vorsichtigen Schluck. „Ich hatte ein totales Bilderbuchleben.“

„Hab ich mir gedacht.“

„Das war ein Scherz. Meinen Vater kenne ich überhaupt nicht und meine Mutter war eine Schlampe. Ist sie vermutlich immer noch.“

Ich verschlucke mich spontan an meinem Getränk. „Gibt es nicht ein Gebot, das verlangt, Vater und Mutter zu ehren?“

„Wie gesagt, meinen Vater habe ich nie gesehen. Meiner Mutter waren Männergeschichten wichtiger als ihr Kind“, zuckt er die Schultern.

„Wenigstens hat sie sich nicht an dir vergriffen. Komisch, ich hätte gewettet, dass deine Eltern streng gläubige Christen sind.“

„Nee, aber ich bin hauptsächlich bei meinen Großeltern aufgewachsen, in einem kleinen Dorf… da waren halt alle katholisch.“

„Verstehe“, nicke ich.

„Deswegen ist dir doch klar, dass… so etwas nie wieder passieren darf.“

„So etwas?“

„Dass wir uns küssen.“

„Logisch. Ähem… ich hatte aber eh gar nicht mehr vor, dich zu küssen.“

„Oh“, sagt er verschämt, „ach so.“

Mal ehrlich, es ist nicht besonders schwer, ihn zu durchschauen.

„Schließlich will ich nicht Schuld daran sein, dass du vielleicht nicht mehr in den Himmel zurück darfst. Du… möchtest doch irgendwann zurück, oder?“

„Ja, natürlich.“

„Gut, dann wäre ja alles geklärt.“

„Hm…“

„Miguel?“

„Ja?“

„Küss mich.“

Rrrrrrrrrrrr… ich kann gar nicht so schnell kucken, wie er die Tasse wegstellt und an meinen Lippen hängt.

Miguel

Es ist schändlich, ich weiß. Ich hab kein bisschen Disziplin mehr, keine Selbstbeherrschung. Irgendwann sind die fiesen Dämonen einfach zu mächtig geworden. Wenn Sid mir so hübsch gegenüber sitzt und mich auffordert, ihn zu küssen… Mann, ich hab’s doch versucht, mein Leben lang, aber ich kann meine Gefühle nicht mehr ignorieren. Mmhhh… und Sid küsst so unglaublich gut. Nicht, dass ich besonders viel Erfahrung hab, eigentlich keine, allerdings kribbelt es von den Haarspitzen bis zu den Zehen, wenn Sids Lippen meine berühren. Ich glaube, dann ist ein Kuss durchaus als gut zu bewerten, oder?! Andererseits… ich habe einen Auftrag und wenn ich den nicht nur vermassle, sondern auch noch zusätzlich auf einen Teufel hereinfalle, dann ist mir der Weg in den Himmel vielleicht wirklich versperrt und Gabriel redet nie wieder ein Wort mit mir.

„Sid, ich kann das nicht“, sage ich bestimmt und schiebe ihn weg.

„Okay“, sagt er und widmet sich seinem Kakao, der inzwischen vermutlich eiskalt ist.

Hm, also ein itzibitzi Hauch von Enttäuschung hätte mir schon gefallen, das muss ich zugeben. Na ja, keine Ahnung, ob ihm das Küssen so viel bedeutet wie mir. Wahrscheinlich nicht, denn er küsst andauernd irgendwelche Jungs oder Mädchen… na, hauptsächlich doch Jungs. Ich dagegen bin katholisch und ein Engel, Sid ist der Erste, den ich geküsst habe und der mich geküsst hat. Abgesehen von Gabriel, aber das war bloß ein Kuss auf die Stirn.

„Ich sollte gehen“, überlege ich.

„Nee, bleib hier, ich mag jetzt nicht allein sein. Ich könnte grad… Nähe gebrauchen.“

Das ist total nachvollziehbar. Ich glaube, dass er selten über sein Leben redet. Und ich glaube weiterhin, dass er verletzter ist, als er nach außen hin tut. Er spricht über die schrecklichen Dinge, die ihm passiert sind so, als sei das die Geschichte von jemand anderem. Das ist logischerweise ein Schutzmechanismus. Ich kann sogar verstehen, dass er sich von Gott abgewendet hat, weil der diese Dinge zugelassen hat. Mich hat schon immer die Frage beschäftigt, warum Gott sehr oft so untätig ist und Unheil einfach geschehen lässt. Meine Antwort war, dass der Teufel seine Hände im Spiel hat. Das würde allerdings bedeuten, dass Luzifer mehr Macht als Gott hat und das kann ich mir auch irgendwie nicht vorstellen. Niemand ist mächtiger als Gott. Und wenn es stimmt, was Sid gesagt hat… dass Luzifer in der Hölle einen Job macht, den kein anderer wollte, dann kann es nicht stimmen, was Gabriel darüber sagt. Nur, aus welchem Grund sollte Gabriel mich anlügen? Ist es nicht plausibler, dass Höllenkreaturen lügen? Oh nein, sind das die Tricks? Sid bringt mich dazu, Gott infrage zu stellen. Warum? Aus Spaß? Ziemlich dürftiger Grund.

„He, was ist los?“, reißt mich der Teufel neben mir aus meinen Gedanken.

„Mir tut der Kopf weh.“

„Dann leg dich hin… hier hin.“

Und schon hat er mich in seine Arme gezogen und streicht sehr sanft über meine Stirn.

Ich bin wohl irgendwann eingeschlafen, denn als ich meine Augen öffne, ist es stockduster im Zimmer und Sid liegt schlafend neben mir. An mich gekuschelt. Es ist eigentlich ganz angenehm, aufzuwachen und einen warmen Körper zu spüren. Ungewohnt, aber… schön.

Nicht nur im romantischen Sinne. Überhaupt, sind meine Gefühle für Sid nicht ausschließlich körperlicher Natur. Nach allem, was er mir erzählt hat, erscheint er mir so… beschützenswert.

Also beschütze ich ihn eben die Nacht hindurch. Wenn ich ihm Gott näher bringen will, muss ich ihm doch zeigen, dass Liebe nicht immer mit Schmerz verbunden ist, richtig?!


„Hab ich was verpasst?“, grinst Jonah, als ich mich am nächsten Morgen aus Sids Zimmer schleiche.

„Nichts. Ich hatte Kopfschmerzen und bin eingeschlafen. Das ist alles, wirklich.“

„Hey, ich bin nicht der Papst oder dein Priester. Wenn du Sid gern hast, ist das völlig in Ordnung für mich.“

„Ich hab ihn gern. Aber nicht so… auf die Art.“

„Wie gesagt, mir macht weder die eine noch die andere Art etwas aus. Sei halt vorsichtig. Sid neigt eher nicht dazu, sich zu verlieben und wenn du jetzt was mit ihm anfängst und dann irgendwann Schluss ist, kann es reichlich ungemütlich werden, wenn man zusammen wohnt.“

„Ich will doch gar nichts mit ihm anfangen“, erkläre ich verzweifelt.

„Okay, ich muss los. Heute ist Weihnachtsfeier in der Kita und dann… endlich Urlaub.“

„Viel Spaß“, wünsche ich, nehme eine Dusche und versuche vergeblich, meine Sünden abzuwaschen.

Ich traue mich noch nicht einmal, zur Beichte zu gehen. Und eigentlich warte ich darauf, dass Gabriel jede Sekunde auftaucht, um mir zu sagen, dass ich in die Hölle gehöre, weil ich einen Teufel geküsst habe. Aber wenn er weiß, was ich getan habe, wovon ich überzeugt bin, weil man im Himmel ALLES weiß, dann weiß er halt auch, dass ich bei Sid einen schwachen Moment hatte… äh… mehrere Momente. Dass ich allerdings weiterhin versuche, ihm zu widerstehen. Obwohl mein Körper heftiger reagiert als jemals zuvor. Mein Herz übrigens auch. Aber mein Körper manchmal mehr.

„Wieso bist’n schon aufgestanden?“, murmelt Sid zerknittert und gießt sich Kaffee ein. „Ich hab frei, wir hätten ausschlafen können.“

„Ich hätte gar nicht bei dir einschlafen sollen.“

„Ist doch nix passiert“, beruhigt er mich und streckt sich, dass sein Shirt ein wenig hoch rutscht.

Meine Kehle ist ganz trocken, meine Gedanken und Gefühle fahren Achterbahn. Ich WILL, dass etwas passiert. Oh Gott, was denke ich denn da?? Ablenken. Ich muss mich ablenken. Ich darf ihn nicht anstarren. Mir fällt nichts ein, um mich abzulenken. Warum sagt er denn nichts… Ungefährliches?

„Obwohl ich mich nicht gewehrt hätte, wenn sich etwas ergeben hätte.“

Danke, Sid!

Er öffnet das Nutellaglas und verzieht sein Gesicht. „Leer.“

„Ich schreib’s auf die Liste“, verkünde ich, stürme hektisch zur Einkaufsliste, die am Kühlschrank pappt, und kritzle es drauf.

Sid greift nach der Keksdose und beginnt, sich über Jonahs Vanillekipferl herzumachen. Ey, wie kann der dermaßen lässig sein, wenn ich hier gerade völlig durchdrehe?

„Wer ist’n dran mit einkaufen?“

„Jonah.“

Er überlegt kurz, steht auf und nimmt die Liste von der Kühlschranktür. „Ich übernehm das. Jo hat immer schon genug zu tun. Brauchst du noch was?“

Allerdings. Aber das gibt’s in keinem Supermarkt. MIGUEL, ES REICHT!!

„Nee.“

„Cool. Also bis später.“

Was macht ein guter, katholischer Junge, wenn er mit verschiedenen Dingen nicht zurecht kommt? Richtig… er geht in die Kirche. Nicht, um zu beichten, der Pfarrer würde mir eh nur erzählen, dass ich Versuchungen jeglicher Art nicht nachgeben soll und das weiß ich selbst. Ich zünde der Jungfrau Maria eine Kerze an und wende mich im Gebet an sie, weil Gott… na ja, der hat höchstwahrscheinlich sehr viel wichtigere Dinge zu tun, als mir in jeder Sekunde Kraft zu schenken. Die Jungfrau Maria ist vielleicht nicht ganz so beschäftigt.

Als ich nach Hause komme, fühle ich mich jedenfalls total gestärkt und die abscheulichen Gefühle sind ganz tief vergraben.

Gipfeltreffen

„Was willst du denn hier?“, fragt der Erzengel unfreundlich. „Nur weil wir eine Wette laufen haben, heißt das nicht, dass du mich ständig mit deiner verdammten Anwesenheit belästigen müsstest.“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Gabriel“, lächelt Luzifer.

„Verschwinde. Du hast hier nichts mehr zu suchen.“

„Dein Schüler ist… reichlich verwirrt, mh?“

„Und wenn schon, das bedeutet gar nichts. Ich vertraue Miguel.“

Luzifer legt den Kopf schief und blinzelt leicht. „Ob das so klug ist?“

„Überlass das ruhig mir.“

„Gabriel“, sagt Luzifer sanft und legt ihm seine Hand auf die Schulter, „wollen wir nicht einfach sagen, dass ich gewonnen habe?“

„Hast du zu viel am Schwefel geschnüffelt?“, entgegnet Gabriel und schüttelt die teuflische Hand ab.

„Die beiden haben sich geküsst. Mehrmals.“

„Ein bisschen Schwund ist immer.“

„Ich möchte dir nur die Demütigung ersparen.“

„Erspar mir doch lieber deinen Mundgeruch“, schlägt der Erzengel vor.

„Na gut, Komiker, wenn du das unbedingt bis zum bitteren Ende durchziehen willst… aber vergiss nicht, dass du automatisch verlierst, wenn du auf die Idee kommst, dich einzumischen.“

„Das wird gar nicht nötig sein. Miguel weiß, was richtig und was falsch ist. Schließlich habe ich ihn ausgebildet.“

„Mal ehrlich, der Junge war schon vorher echt gaga, aber du hast es geschafft, ihn vollkommen zu versauen.“

„Ansichtssache. Dass dir Keuschheit ein Dorn im Auge ist, kann ich mir denken.“

„Miguel ist doch nicht aus tiefster Überzeugung keusch“, schüttelt Luzifer lachend den Kopf, „sondern weil ihm andauernd mit Hölle, Fegefeuer und ewiger Verdammnis gedroht wurde. Erst waren es die Pfaffen und dann hast du ihm diesen Schwachsinn eingeredet. Den Kirchenmännern kann man keinen Vorwurf machen, die glauben den Scheiß, den sie erzählen, wahrscheinlich tatsächlich, aber du, Gabriel, solltest es echt besser wissen.“

„Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“

„Ich werde wiederkommen“, verkündet Luzifer, „und deinen Einsatz fordern.“

„Deine Überheblichkeit ist genauso unerträglich wie ein Blick in deine Visage“, erwidert Gabriel gelangweilt.

„Möglicherweise bin ich das nächste Mal gut aufgelegt, dann machen wir es so, dass du meine Visage nicht sehen musst“, lächelt der Teufel und geht.

Sidney

So langsam nervt es, dass Miguel sich nicht endlich hinlegt und mich machen lässt, sondern grad lieber bei den Ratten hockt, weil die ja Auslauf brauchen und Jo nicht da ist, weil der sich mit irgendwelchen Leuten trifft. Wir sind heute Nachmittag spazieren gegangen. Durch den Park. Die Wintersonne schien warm durch die kahlen Bäume, ein paar Eichhörnchen tobten durchs Geäst und weit entfernt hörte man Kirchenglocken bimmeln. Es war relativ romantisch und ein Kuss hätte mindestens drin sein müssen, finde ich. Der Engel war da wohl anderer Meinung. Ehrlich, ich hab keinen Schimmer, was ich noch machen soll?!

Irgendwann, um tausend Uhr, klopft es an meiner Tür und Miguel latscht herein.

„Ich hab uns Kakao gemacht“, erklärt er und bietet mir eine Tasse an.

Ich wäre erfreuter, wenn er mir seinen Körper anbieten würde. Na ja, ich nehme einstweilen das Heißgetränk.

„Der Nachmittag war wirklich schön“, lächelt er.

„Ja“, brummle ich.

„Alles in Ordnung?“

„Klar.“

„Ist der Kakao zu stark?“

„Nee, passt schon.“

Die schummrige Lichterkettenbeleuchtung und Matt Bellamy, der leise im Hintergrund singt, schlagen mir heute irgendwie aufs Gemüt. Dazu kommt noch, dass Regen an die Fensterscheibe prasselt und der Wind die letzten paar Blätter vom Baum reißt, der vor meinem Fenster steht. Winter eben. Scheiß Jahreszeit. Alles stirbt und man hat so ein ekelhaftes Kuschelbedürfnis, weil man ständig friert.

„Ist dir kalt?“, fragt Miguel.

„Geht so“, entgegne ich und verstecke meine Eisflossen in den Ärmeln meines Strickpullis.

Miguel erhebt sich vom Fußboden, setzt sich zu mir aufs Bett und breitet meine flauschige Decke über uns. Mh, scheint, als hätte er auch diesen winterlichen Kuscheldrang. Keine schlechte Idee. Ich lege mich hin, ziehe den Engel in meine Arme und fange an, ihn zu küssen. Und weil er sofort mitmacht, streichle ich ein bisschen an ihm herum. Erst über den Klamotten, aber da er sich null wehrt, schiebe ich meine Hand unter seinen Pullover und berühre seine weiche Haut. Wow… das ist phantastisch… seine süßen Honigküsse, sein heftiges Atmen, seine Hände, die auch alles andere als untätig sind… mein Hirn verabschiedet sich für eine Weile.

„Sid“, murmelt er plötzlich, „ich möchte…“

„Was?“

Er beißt sich kurz auf die Lippe. „Mit dir schlafen. Zeig mir, wie das geht.“ Es klingt wahnsinnig dringend.

YESSSSSSSSS!!!!!!!!!!!!!!!

„Ich… kann nicht“, höre ich mich sagen. What the Fuck… ich meine, was soll der Blödsinn? Wieso kann ich nicht? Vor ’ner Stunde hab ich noch die Krise gekriegt, weil’s mit dem Engel nicht schnell genug geht und jetzt kann ich auf einmal nicht?? Sid, Junge, reiß dich zusammen!

Miguel sieht einigermaßen irritiert aus. Und verunsichert. Cool, da sind wir schon zu zweit.

„Es geht nicht“, fasele ich munter weiter und trete mir gedanklich gegen den Kopf.

„Weil ich nicht so erfahren bin wie die anderen Junge, mit denen du zusammen warst“, vermutet er.

„Das hat damit gar nichts zu tun.“

„Womit dann? Du küsst mich und…“

„Ist dir nicht klar, was es bedeutet, wenn wir Sex haben? Frag deine Priester, die sagen dir, was das für eine Sünde ist, falls du es vergessen haben solltest.“

Seine Finger streicheln verstohlen meine Hand und er lächelt verzweifelt.

„Ich hab mich mein Leben lang gewehrt gegen… solche Gefühle. Aber bei dir… mir fehlt einfach… ich will mich nicht mehr gegen dich wehren, Sid.“

„Und ich will nicht Schuld sein, dass du aus dem Himmel verbannt wirst… oder was die da oben mit einem Engel machen, der’s mit ’nem Teufel treibt.“

„Das ist mir egal“, behauptet er und fügt noch ein sehr leises „Bitte“ hinzu.

„Mir aber nicht“, stelle ich fest und springe aus dem Bett.

Ey, sein bedröppelter Blick geht mir total an die Substanz. Ich muss mich umdrehen, wenn ich ihn nämlich ansehe, ändere ich meine Meinung.

„Sid?“

Ich schließe die Augen und konzentriere mich darauf, nicht schwach zu werden. Ein paar Sekunden später höre ich, wie er das Zimmer verlässt.

Sidney, du bist eine Flasche, echt!


Ich würde gerne behaupten, dass die gestrige Angelegenheit zu meinem Plan gehörte. Dass ich Miguel bloß noch mehr und noch länger leiden lassen wollte. Die Wahrheit ist das nicht.

„Du kümmerst dich um die Rattis, ja?“, labert Jo, während er seine Tasche packt.

„Logisch.“

„Ernsthaft, Sid, wenn ich nach Hause komme und einer der Kleinen auch nur traurig kuckt…“

„Jonah“, unterbreche ich ihn genervt.

„Ist ja schon gut. Ich vertraue dir und Miguel.“

„Er wollte gestern, dass ich ihn ficke“, sage ich.

„Herzlichen Glückwunsch. Wie war’s denn?“, fragt er grinsend und zieht den Reißverschluss seiner Tasche zu.

„Ich… ließ ihn gehen.“

Jo verdreht die Augen. „Wer seid ihr? John Malkovich und Michelle Pfeiffer?“

„So ungefähr.“

„Also hast du mit ihm nicht geschlafen, weil… äh… wieso nicht?“

„Das ist zu kompliziert“, seufze ich und lasse mich auf sein Bett fallen.

„Okay?“

„Du würdest das nicht verstehen.“

Jo stellt seine blöde Tasche auf den Boden und setzt sich neben mich. „Du bist verliebt, mh?“

„Volle Kanne“, gebe ich zu.

„Das ist bestimmt ein ziemlicher Schock für dich.“

„Allerdings.“

„Ich bin mir sicher, Miguel ist auch in dich verliebt. Wo ist das Problem?“

„Er ist… katholisch.“

„Mann“, schnauft er, „fang du nicht auch noch mit dem Quatsch an.“

„Das ist kein Quatsch. Wie kann ich denn… wenn er denkt, dass es eine Sünde ist?“

„Offensichtlich scheint er es sich anders überlegt zu haben.“

Es bringt leider nichts, mit ihm darüber zu reden, weil er die Wahrheit nicht kennt. Er würde sie wohl auch kaum glauben.

„Du musst los, sonst verpasst du den Zug. Grüß deine Eltern von mir.“

„Mach ich. Ach so, ich hab euch was in den Küchenschrank gestellt.“

„Hä?“

„Morgen ist Heilig Abend.“

„Jo…“, schüttle ich den Kopf.

„Nur ’ne Kleinigkeit“, lächelt er und umarmt mich. „Bis zum zweiten Weihnachtstag.“

Miguel hockt seit gestern Abend in seinem Zimmer. Der ist nicht mal rausgekommen, um sich von Jo zu verabschieden. Jo musste zu ihm ins Zimmer gehen. Ich kann mir vorstellen… nee, ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, wie er sich grad fühlt. Da hat er so lange gebraucht, um sich zu trauen, mit jemandem ins Bett zu gehen und dann sagt dieser Jemand nein. Obwohl dieser Jemand so sehr will, dass er fast den Verstand verliert. Scheißbeschissene fuck Liebe! Warum ausgerechnet jetzt? Und warum ausgerechnet er? Das ist doch lachhaft! Aber anders sind meine Skrupel nicht zu erklären, oder? Ich liebe Miguel. Verflucht, wenn Luzifer das mitkriegt… der macht mich ungefähr drei Köpfe kürzer. „Tut mir leid, Chef, ich konnte deinen Auftrag nicht ausführen, weil ich mich in den Engel verknallt habe.“ Der wird sich aus lauter Wut in den gehörnten Höllenfürsten verwandeln und mit den Hufen scharren. Und wenn er mich langsam und genüsslich gefoltert hat, schmeißt er mich ein bisschen in den Pfuhl aus Schwefel. Ich war schon mal dabei, als er das mit einem wirklich, wirklich bösen Zeitgenossen gemacht hat. Das sah nicht schön aus und hat sicher erbärmlich weh getan.

Ich sollte noch mal mit Miguel reden. Ihm sagen, dass ich ihn liebe und deshalb nicht mit ihm schlafen möchte. Keine Ahnung, ob er das gestern richtig begriffen hat. Er soll nicht denken, dass ich nicht scharf auf ihn bin oder so was. Vielleicht hat er ja auch inzwischen drüber nachgedacht und weiß, dass es ein Fehler wäre, den er spätestens bereuen würde, wenn er im Himmel vor verschlossener Türe steht und ein Engel ihm den Weg Richtung Hölle weist.

Als ich sein Zimmer betrete und er mich ansieht, hab ich alles vergessen. Außer, dass ich ein Kondom in meiner Hosentasche habe. Ja, logisch benutze ich Kondome. Erstens aus Gewohnheit, zweitens schlafe ich nur mit Leuten, die sich wahrscheinlich ansonsten nicht drauf einlassen würden… ich kann denen ja schlecht sagen, dass ich eigentlich tot bin und weder Krankheiten übertrage, noch welche bekomme. Und drittens… Sperma muss nicht unbedingt in sämtlichen Körperöffnungen herumglibbern, alles klar?!

„Sid…“

„Okay, Himmel und Hölle sind mir scheißegal. Ich liebe dich und ich bin verrückt nach dir. Und das hier“, ich halte ihm das Kondom unter die Nase, „werden wir auf jeden Fall gleich brauchen. Es sei denn, du hast es dir anders überlegt.“

Hat er nicht, denn er küsst mich, zieht mich aufs Bett und…äh… geht ganz schön ran, muss ich sagen. Allerdings nur ein paar Minuten, dann macht sich seine Unerfahrenheit breit, aber damit komme ich klar. Es ist total aufregend zu erleben, wie er sich mehr und mehr fallen lässt, genießt, seine Zurückhaltung aufgibt, um etwas später wieder unsicher abzuwarten. Ich bin übrigens nicht nur langsam, zärtlich, geduldig und vorsichtig, weil es sein erstes Mal ist, sondern weil ich Lust dazu habe. Schnell und heftig hatte ich oft genug. Das hier ist absolut… na ja, Liebe halt. Miguel ist atemberaubend.

„War es wie mit den anderen Jungs?“, fragt er hinterher.

„Nein.“

„Was hab ich falsch gemacht?“

Ich drehe meinen Kopf, dass ich ihn ansehen kann. „Es war perfekt. Weil ich in dich verliebt bin.“

„Oh“, lächelt er und wird rot.

„Das ist doch echt ein Witz. Mein ganzes armseliges Leben hab ich das nicht geschafft, ich musste erst sterben, um mich zu verlieben.“

„Ich verstehe genau, was du meinst.“

„Bei dir ist das was anderes. Du hast dich dagegen gesträubt. Es gab bestimmt einige Jungs, die gerne mit dir zusammen gewesen wären.“

„Hast du dich nicht auch dagegen gesträubt? Nur aus anderen Gründen?“

„Weiß nicht. Ja, kann sein. Mann, warum konnten wir uns nicht eher über den Weg laufen?“

„Du hättest mich wahrscheinlich überhaupt nicht bemerkt“, antwortet er.

„Ich war ziemlich kaputt und hab die meiste Zeit über nicht viel mitgekriegt.“

„Ich liebe dich, Sid.“

Wow! Gut, dass ich liege, meine Knie werden nämlich total weich.

„Da gibt’s bloß ein klitzekleines Problem.“

„Lass uns nicht darüber nachdenken, ja? Noch nicht.“

Aufreizend küsst er meinen Bauch, gleitet tiefer und… mmmhhhh, also für’n katholischen Jungen, der noch lernt, bläst er echt verdammt gut!

Miguel

Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich nehme an, dass ich darauf lange warten kann. Nicht nur, dass ich Abscheuliches getan habe, nein, ich möchte es dringend wieder tun. Dabei war ich nach meinem Gespräch mit der Jungfrau Maria so gestärkt. Ich fühlte mich wunderbar und hatte nur positive Gedanken. Bis ich nach Hause kam, zu Sid ging und auf einmal mit ihm schlafen wollte. Dass er mich abgewiesen hat, war im ersten Moment natürlich wie ein Hammerschlag ins Gesicht. Dann dachte ich nach und kam zu einem sensationellen Ergebnis: Sid wollte mich schützen! So etwas tut kein böser Teufel. Tja, und seitdem liebe ich ihn. Das heißt, eigentlich liebe ich ihn vermutlich schon eine ganze Weile, aber wie hätte ich mir das eingestehen können?! Na ja, und als er gestern plötzlich doch wollte… es war unglaublich. Ich suche irgendwie noch nach passenden Wörtern dafür, allerdings finde ich keine. Weil jedes Wort total unzulänglich ist. Es war nicht einfach bloß schön, es war so viel mehr und mit nichts zu vergleichen. Es hat sich nicht schändlich und falsch angefühlt, es hat sich dermaßen richtig angefühlt, wie überhaupt noch nie etwas in meinem Leben. Vielleicht war es ein Versehen, dass ich in den Himmel gekommen bin. Vielleicht gehöre ich in die Hölle, keine Ahnung.

Heute ist Heilig Abend, Jo bei seinen Eltern, Sid und ich sind allein. Schon komisch, dass der vierundzwanzigste Dezember dieses Jahr eigentlich ein Tag wie jeder andere ist. Als Kind fand ich Weihnachten toll. Heilig Abend sind wir in die Kirche gegangen, was sehr schön war… der geschmückte Baum, die Krippe… alles wirkte so friedlich und festlich glänzend. Zuhause wurden dann Weihnachtslieder gesungen und danach durften die Geschenke, die unterm Baum lagen, geöffnet werden. Natürlich gab es nie viel und nichts super Teures, trotzdem war Weihnachten immer ein Highlight. Und obwohl meine Großeltern ziemlich streng waren, fühlte ich mich bei ihnen gut aufgehoben. Meine Mutter dagegen fühlte sich bestimmt sehr eingeengt und kontrolliert. Ich meine, im Dorf kannte jeder jeden und alles wurde weitergetratscht. Sie konnte nicht einfach heimlich Jungs treffen, rauchen, Alkohol trinken… das kam immer sofort raus und dann gab’s ein Donnerwetter. Gleich als sie achtzehn wurde, ist sie in die Stadt gezogen. Und schwanger geworden. Es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie mich überhaupt bekommen hat, denn offenbar hatte sie ja wohl keinerlei Lust auf ein Kind.

Wenn ich jetzt drüber nachdenke, fehlt mir mein Leben schon. Im Himmel spürt man das nicht, weil… irgendwie vergisst man schnell, was vorher war und deshalb hat man auch keine Sehnsucht. Eigentlich eine gute Sache, solange man nicht aus verschiedenen Gründen auf die Erde zurückgeschickt wird. Es hat vor einer Stunde angefangen zu schneien und draußen ist schon alles weiß… auch das erinnert mich an früher. An Schneeballschlachten mit den Kindern aus dem Dorf, Schlittschuhlaufen auf dem gefrorenen Teich… ja, okay, das durfte ich nicht, weil’s zu gefährlich war, aber getan hätte ich’s gerne.

Da hocke ich nun also hier am Fenster, tot, die Hölle erwartend und mit einem süßen Teufel nebenan, der sich nichts aus Weihnachten macht. Na ja, immerhin hab ich einen Tannenbaum.

„Scheiß Wetter“, schimpft Sid, der eben das Zimmer betritt und einen Blick aus dem Fenster wirft. „Zieh deine Jacke an.“

„Wieso?“

„Weil’s schneit.“

„Nein, ich meine…“

„Wir gehen in die Kirche und hören uns die Weihnachtsgeschichte an“, verkündet er.

„Das geht nicht.“

„Aha. Und warum nicht?“

„Ich kann nicht einfach in die Kirche gehen, nachdem ich… mit dir geschlafen habe.“

„Meinst du, das wüsste da einer? Komm endlich, bevor ich es mir anders überlege.“

Draußen ist es bereits dunkel, als wir nach der Kirche heimgehen. Die parkenden Autos in den Straßen, die Dächer der Häuser, die Bäume, die Tannengirlanden an den Geschäften… alles sieht aus wie mit glitzerndem Puderzucker überzogen. Auf Sids schwarzem Mantel, seinem Schal und der Strickmütze landen unaufhörlich Schneeflocken. Seine behandschuhten Finger sind mit meinen verschlungen.

„Mir ist total duselig“, nuschelt er in seinen Schal. „Überdosis Weihrauch würde ich sagen. Kein Wunder, dass du ein Leben lang ohne Drogen ausgekommen bist, du hattest deine Kicks ausm Weihrauchbottich, ganz legal. Ey, diese beschissenen Nikoläuse, die sich Leute unters Fenster hängen… ich hab das nie verstanden. Die sehen doch voll creepy aus.“

„Danke, Sid“, lächele ich.

„Hm?“

„Dass du mich überredet hast, mitzukommen.“

„Ja“, brummelt er, „der Pfarrer hätte sich auch ein bisschen kürzer fassen können. Wenn wir zuhause sind, will ich sofort was Heißes trinken. Am besten literweise, mir ist schweinekalt.“

Zwanzig Minuten später leuchtet Jonahs Weihnachtsbaum und Sid kramt im Küchenschrank. Grinsend stellt er zwei üppig beladene Süßigkeitenteller auf den Glastisch.

„Kuck mich nicht so an, die sind von Jo.“

„Und wir haben gar nichts für ihn“, stelle ich fest.

„Doch, haben wir. Glaubst du echt, ich würde meinem allerbesten Freund nichts schenken, nur weil ich Weihnachten hasse? Ich hab ihm was in seine Tasche geschmuggelt und deinen Namen auf das Kärtchen zu schreiben auch nicht vergessen. Du darfst ein bisschen beeindruckt sein.“

„Das wäre ich total, wenn du Becky in seine Tasche gesteckt hättest.“

„Au, das hätte ich beinahe vergessen.“ Er angelt nach seinem Handy und tippt auf den Tasten herum. „So, erledigt. Hast du Hunger?“

Das ist mein diesjähriger Heilige Abend. Ich sitze mit Sid auf der Couch, esse Tiefkühlpizza und schaue mir ’Ist das Leben nicht schön?’ an.

„Hey, ist es wirklich so, dass man als Engel was super Rührseliges tun muss, damit man Flügel kriegt?“, fragt er.

Ich werde nie Flügel kriegen. Niemals.

„Können wir bitte nicht über Engel sprechen?!“

„Fuck. Irgendwie ziemlich taktlos, dir solch einen Film zu zeigen. Aber… das ist nun mal ein Klassiker.“

„Ja, der Film ist toll, ich möchte nur nicht über Engel sprechen.“

Sid stellt die Reste der Pizza zur Seite, rückt näher, kuschelt sich unter der Decke in meine Arme und steckt mir eine Marzipankartoffel in den Mund, während George Bailey dem Kino, der Building and Loan und Bedford Falls frohe Weihnachten wünscht.

„Weißt du was, Miguel“, flüstert er mir ins Ohr, „grad jetzt, in diesem Moment, liebe ich Weihnachten.“

Seine Lippen kitzeln mich, ich sehe ihn an und muss ihn küssen.

„Mmhhhh… du schmeckst süß“, lächelt er.

Sidney

Okay, ich überdenke meine Abneigung gegen Weihnachten wahrscheinlich noch mal. Wenn man Heilig Abend mit einem Engel kuschelig vorm Fernseher sitzt, der Tannenbaum im Hintergrund leuchtet und es draußen schneit… das hat schon was. Besonders wenn man später mit dem Engel ins Bett gehen kann. Leider erklärte der Engel soeben, dass er doch besser in sein eigenes Bett gehen sollte.

„Ich will dich“, wispere ich ihm ins Ohr, „bei mir haben heute Nacht.“

Miguel schüttelt den Kopf.

„Mir ist kalt, du musst mich wärmen.“

„Sonst nichts?“, fragt er skeptisch.

„Doch… aber ich werde nichts tun, was du nicht möchtest“, seufze ich.

„In Ordnung“, nickt er, worauf ich mich gleich in seine Arme schmuse.

Zwei Minuten schaffe ich es, meine Hände bei mir zu behalten, dann verliere ich die Kontrolle und eine Hand schiebt sich wie von selbst unter sein Shirt.

„Sid!“

„Es wäre günstiger, wenn du das hier“, ich zupfe kurz an seinem T-Shirt, „ausziehen würdest.“

„Auf keinen Fall.“

Ey, was zickt der denn jetzt? Letzte Nacht hat’s ihm noch Spaß gemacht, verflucht.

„Doch, auf jeden Fall“, grinse ich und fange an, seinen Hals zu küssen.

HAHA… zwei Minuten später kann er seine Hände nicht bei sich behalten!

„Entschuldige, dass ich dir das sagen muss“, japse ich völlig fertig, „aber aus dir wäre nie ein guter Priester geworden.“

„Danke schön“, murmelt er beleidigt.

„Du stehst viel zu sehr auf Sex“, lächele ich und drücke ihm einen Kuss auf die heiße Wange.

„Das hätte ich als Priester doch gar nicht rausfinden können.“

„Eben.“

„Also hätte es mir auch nicht gefehlt.“

„Nein? Hattest du niemals unkeusche Gedanken, Miguel? Sei ehrlich.“

„Doch“, stöhnt er, „andauernd. Aber ich hab sie immer erfolgreich verdrängt.“

„Verdrängen ist keine gute Angewohnheit. Besonders sexuelle Gefühle zu verdrängen. Wir sprachen bereits darüber.“

„Es ist ja nicht nur das. Wenn ich von Mädchen geträumt hätte… da, wo ich herkomme, schlafen Männer nicht mit Männern. Wenn ich im Dorf einen Jungen geküsst hätte… meine Großeltern hätte augenblicklich der Schlag getroffen. Das wäre noch unverzeihlicher gewesen, als die Schwangerschaft meiner unverheirateten Mutter.“

„Die Kirche arbeitet hauptsächlich mit Angst, Druck und Schuldgefühlen, das finde ich schändlicher, als schwul zu sein oder Sex vor der Ehe zu haben. Und Luzifer sagt, dass Gott nicht so ist, wie die Kirche ihn interpretiert.“

„Luzifer ist der Fürst der Hölle“, stellt er klar, „also würde ich mich nicht unbedingt darauf verlassen, was er über Gott sagt.“

„Er kennt ihn aber persönlich. Wie viele Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Priester können das wohl behaupten?“

„Gabriel sagt halt was anderes. Auch darüber sprachen wir bereits.“

„Im Prinzip ist mir egal, was irgendwer sagt. Alles, was ich will, ist mit dir zusammen zu sein.“

„Fragt sich nur, wie lange man uns lässt. Und was danach passiert“, antwortet er düster.

„Dann sollten wir die Zeit nutzen, oder?“

Seine Augen verfolgen meine Hand, die unter die Bettdecke wandert.

„Schon wieder?“

„Offensichtlich“, stelle ich fest. „Hey, das muss dir nicht peinlich sein. Hast schließlich eine Menge nachzuholen. Außerdem, wenn man sich liebt, ist es okay. Ich meine… wie könnte das dann etwas Schlechtes sein?“


Den ersten Weihnachtsfeiertag verbringen wir mit knutschen, Süßigkeiten essen, kuscheln, Süßigkeiten essen, Sex, Jos Rattis beschäftigen, schmusen, einem kurzen Spaziergang durch den Schnee, danach sofort kuscheln, weil’s draußen irre kalt war… und Süßigkeiten essen. Miguel liebt Zuckersterne und Blätterkrokantkugeln. Die Rattis bekommen Kürbiskerne und ein paar Haselnüsse als Leckerchen und sind damit voll zufrieden.

Am zweiten Weihnachtstag kommt Jo zurück und trägt die Drop-Dead-Kapuzenjacke, die Miguel und ich ihm zusammen mit einem Drop-Dead-T-Shirt geschenkt haben.

„Du bist unglaublich“, mault er, lächelt jedoch dabei.

„Hast du Zimtsterne und Spekulatius mitgebracht?“

Jos Papa ist nämlich Bäcker!

„Wie geht’s meinen Untermietern?“

„Supi. Wo ist mein Gebäck?“

„Ich überzeuge mich lieber selbst“, erklärt er, marschiert ins Rattenzimmer, ist offenbar total überzeugt und überreicht mir endlich die Plätzchen.

„Und… irgendwas Aufregendes…“

„Miguel und ich“, unterbreche ich ihn kauend.

„Ja?“

„Wir lieben uns.“

„Hoffentlich seid ihr dabei nicht so laut, ich schlafe nur zwei Türen weiter.“

„Sidney“, krakeelt Miguel plötzlich, „musst du jedem erzählen, dass wir…“

„Jo ist doch nicht jeder.“

„Das wird ein harter Schlag für Becky“, bemerkt Jonah.

Was mich etwas stutzig macht, ist sein seltsamer Gesichtsausdruck, den ich überhaupt nicht deuten kann. Möglicherweise ist er endlich über sie hinweg? Das wär ja mal was.

Am frühen Abend stattet uns Becky einen Besuch ab und so, wie Jo sie anglotzt, ist er wohl doch noch verknallt in sie. Mir ist etwas unangenehm, weil sie noch nicht weiß, dass Miguel und ich zusammen sind. Ich wollte ihr das eigentlich schonend beibringen, nicht grad an Weihnachten… und als ich ihren Blick sehe… wird mir noch sehr viel unangenehmer.

„Warum strahlt ihr zwei so?“, fragt sie.

Miguel ist keine große Hilfe, der wird sofort rot. Jo kramt wichtig in der Plätzchendose herum. Na ja, was soll es bringen, lange um den heißen Brei zu reden?

„Seid ihr im Bett gewesen, oder was?“

Ich verschlucke mich spontan, worauf Miguel mir leicht den Rücken klopft.

„Also ja“, beschließt sie. „Wen wundert’s? Ich meine, logisch, dass du für mich keine Zeit mehr hast.“

„Becky, es hat sich zwischen uns nichts geändert“, huste ich.

„Ach nein?“, lächelt sie bitter und deutet auf Miguels Hand, die demonstrativ nach meiner greift und sie festhält.

„Bloß weil Miguel und ich verliebt sind, heißt das nicht…“

„Ah, verliebt seid ihr. Entschuldige, aber seit wann verliebst du dich in deine Aufrisse?“

„Seit ich den Richtigen gefunden habe“, zucke ich die Schultern, weil mir ihr Getue ehrlich gesagt ein bisschen auf den Sack geht. Es ist ja nicht so, dass ich sie betrogen hätte oder so’n Scheiß. Ich werde mich ja wohl noch verlieben dürfen, in wen ich will. Tut mir leid, dass sie es halt nicht ist.

„Und nur weil du auf einmal verliebt bist, muss ich dein Desinteresse jetzt entschuldigen, oder was? Sid, du warst die letzten Wochen mir gegenüber eine gedankenlose Arschgeige.“

Na, wenn die meine Probleme hätte oder von ihnen wüsste, würde sie nicht derart die Klappe aufreißen. Ich stehe mit einem Bein im Schwefelbottich, weil ich einen Engel liebe, den ich verdorben habe und wahrscheinlich deshalb mit mir in die Hölle nehme. Sorry, Schätzchen, dass ich mich nicht stündlich bei dir gemeldet habe, um nach deiner Befindlichkeit zu fragen.

„Hör schon auf“, fordert Jo beschwichtigend.

„Ich wollte grad erst anfangen“, grinst sie.

Äh… hä? Wieso grinst sie plötzlich? Vielleicht hat sie spontan den Verstand verloren?! Als sie dann auch noch aufsteht, sich neben Jo setzt und anfängt, sich an ihn zu kuscheln, will ich den Verstand verlieren.

„Wie ist es denn jetzt dazu gekommen?“

„Hättest du dich nicht so ausgeklinkt, wüsstest du das“, entgegnet sie.

„Und du hast mir nichts gesagt“, wende ich mich vorwurfsvoll an meinen so genannten besten Freund.

„Es hat sich irgendwie ergeben“, versucht sich Jo an so etwas wie eine Erklärung. „Und wir waren uns auch erst nicht sicher und so.“

„Warte mal“, überlege ich, „wenn du dich angeblich mit irgendwelchen Leuten getroffen hast…“

„Hat er sich mit mir getroffen“, nickt Becky. „Und nach und nach haben sich… Gefühle eingeschlichen.“

„Das wurde auch langsam mal Zeit“, ist alles, was mir noch einfällt.

Als die beiden fünf Minuten später in der Küche mit Milch und Kakao rumhantieren, rücke ich etwas näher an meinen Engel.

„Wir sind Versager“, flüstere ich ihm zu, worauf er nickt.

In einem günstigen Moment, Jo und Miguel spielen mit den Untermietern, schnappe ich mir Becky.

„Bist du wirklich verliebt?“, will ich wissen.

„Und du?“

„Allerdings. Aber wenn du Jonah bloß als eine Art Ersatz…“

„Weil ich dich nicht haben kann, oder was? Sid, du bist zwar toll, aber nicht so sagenhaft, dass ich dich bis an mein Lebensende anschmachten muss.“

„Okay. Ich möchte halt nicht, dass er verletzt wird.“

„Das möchte ich auch nicht. Als ich gemerkt hab, was los ist, war ich mindestens genauso überrascht wie du vorhin. Deshalb lassen wir es auch langsam angehen.“

„Habt ihr…?“

„Geht dich das was an? Ja“, grummelt sie. „Na und?“

„Langsam, mh?“

„Du bist doch nur sauer, weil ich jetzt weiß, wie er sich im Bett anstellt.“

„Und… wie stellt er sich an?“

„Eine Lady genießt und schweigt“, lächelt sie verträumt.


Eigentlich könnte man glücklich sein. Jo hat seine Traumfrau, ich hab meinen Engel, alles ist super. Leider macht mich diese Ungewissheit fertig. Wie lange noch? Wann kommt Luzifer und was wird aus Miguel?

Na ja, erstmal ist aber Silvester und Jo, Becky, Miguel und ich feiern in unser Stammdisko. Wobei Miguel nicht wirklich feiert, der hockt irgendwie schon den ganzen Abend mit Finsterblick am Tisch, während alle anderen sich prächtig amüsieren. Mh, wahrscheinlich hat ihm niemand beigebracht, Spaß zu haben. Okay, da kann ich grad keine Rücksicht drauf nehmen, weil ich tanzen muss. Allerdings sollte ich Miguel ein bisschen im Auge behalten, weil Dennis, das Spatzenhirn, hier rumläuft. Letzteres ist gar nicht so einfach, weil mich ständig fremde Jungs sehr charmant ablenken. Komischerweise scheinen jetzt, wo ich quasi vergeben bin, besonders hübsche Typen da zu sein. Einer von denen tanzt reichlich aufreizend an mich heran. Zugegeben, sein dezenter Jasmingeruch betört mich etwas. Sein enge Lackhose, das schwarze, ausgeschnittene Shirt und sein umwerfendes Lächeln ebenfalls. Flirten ist erlaubt, beschließe ich, und nach dem Lied kann sich der unbekannte Schöne einen anderen Kerl suchen.

Als das Lied zu ende ist, gehe ich kurz pinkeln. Überrascht stelle ich fest, dass der Schöne mir gefolgt ist.

„Wie sieht’s aus?“, fragt er ohne Umschweife. „Bist du mit dem kleinen Blondschopf zusammen?“

„Yep.“

„Dann ist Spaß haben mit Anderen bei euch erlaubt“, behauptete er und kommt ein paar Schritte näher. „Ich meine… so wie du mich angemacht hast…“

Ach du meine Güte! Der fühlt sich wohl auch schon angemacht, wenn jemand ihn nach der Uhrzeit fragt.

„Hab ich das?“

„Es war eindeutig.“

„Eindeutig wäre gewesen, wenn ich dich zu ’nem Fick aufs Klo eingeladen hätte.“

„Mit den Augen hast du das.“

„Vielleicht bin ich augenkrank und blinzele immer so rum.“

Plötzlich, ohne Vorwarnung, küsst er mich auf den Mund. Aus Versehen küsse ich ihn zurück… seine Lippen schmecken nach Kirschgloss. Und seine Hände verirren sich unter mein Shirt.

„Ey, ich bin ja normalerweise schon schnell, aber wenigstens frag ich vorher noch nach dem Namen“, grinse ich.

„Alex“, antwortet er und küsst mich erneut, aber dieses Mal schiebe ich ihn weg. „Was? Du hast doch Lust drauf, oder?“

Es wäre so einfach. Und Miguel würde es nicht erfahren. Miguel. Verdammt, was zum Arsch mache ich hier??

„Ich hätte total Lust auf dich, wenn mein Freund nicht wäre.“

„Es gibt hier viele Leute, die behaupten, dass du nie nein sagst.“

„Du solltest nicht alles glauben, was in der Zeitung steht, im Fernsehen läuft oder was irgendwelche Leute hier behaupten.“

„Aber geknutscht hast du gerne mit mir.“

Geknutscht? Also bitte. Fünf Sekunden Lippenkontakt trifft’s wohl eher. Übrigens trifft mich die Erkenntnis, dass der schöne Alex mir mittlerweile tierisch auf die Nerven geht. Weil ich nämlich Miguel küssen will. Nur ihn!

„Würdest du mir freundlicherweise erklären, was du verdammt noch mal treibst?“, bölkt eine böse Stimme, die sich nach Jo anhört.

„Ich unterhalte mich mit… Alex.“

„Heißt das, ihr seid schon fertig oder noch mittendrin?“

„Jo“, verdrehe ich die Augen, „sieht das aus, als wären wir mittendrin?“

„Keine Ahnung. Für Miguel sah es vor ein paar Minuten offensichtlich so aus. Der ist übrigens abgehauen.“

FUCK!!

„Wieso sagst du mir das nicht gleich, Blödmann?“, schreie ich und stürme nach draußen.

Weit ist Miguel nicht gekommen, ich hole ihn zum Glück sehr schnell ein.

„Wo willst du denn hin?“

„Nach Hause.“

„Ohne mich?“

„Soll ich etwa warten, bis du mit dem Typen fertig bist?“

„Es ist doch überhaupt nichts mit ihm passiert.“

„Dann hast du ihn also nicht geküsst?“

„Doch, aber… das hatte nichts zu bedeuten.“

„Ach so“, lacht er gequält, „und wenn du mit ihm schläfst, hat das wohl auch nichts zu bedeuten? Und wenn du mit mir schläfst, bedeutete das wahrscheinlich noch weniger.“

„Pass mal auf, der Typ hat mich geküsst, okay? Hätte ich ihm dafür sofort aufs Maul hauen sollen?“

„Ist mir völlig egal, was du tust.“

„Das ist es nicht, sonst wärst du nicht so angepisst. Wenn ich dich betrügen wollen würde, dann sicher nicht direkt vor deiner Nase. Also schieb deinen süßen Hintern wieder da rein, mir ist nämlich kalt.“

„Lass mich“, zischt er, als ich nach seiner Hand greife. „Jetzt ist mir auch klar, warum du so dringend ausgehen wolltest.“

„Bei dir piept’s wohl“, lächele ich und ziehe ihn in meine Arme, obwohl er sich heftig wehrt. „Hör mir zu, verdammt!“

„Fluch mich nicht an!“

„Dann hör mir zu! Der Typ… jeder Typ ist mir doch scheißegal. Ich liebe dich.“

„Du hast eine komische Art, das zu zeigen.“

„Ja, weil’s für mich neu ist, treu zu sein. Der Kuss war blöd, aber Alex hat mich überrumpelt. Und ich hab ihm gesagt, dass du mein Freund bist. Ich wollte ihm noch was anderes sagen, wurde allerdings von Jo unterbrochen.“

„Was?“

„Hm?“

„Was wolltest du ihm sagen?“

„Dass er zwar süß ist, aber gegen meinen Engel nicht den Hauch einer Chance hat.“

„Du bist ein Teufel“, zuckt er, immer noch beleidigt, die Schultern, „es ist deine Natur zu verführen und mit netten Worten einzulullen.“

„Glaub, was du willst. Ich find’s cool, Jungs wie Alex zu sagen, dass mein Freund auf mich wartet und nicht begeistert wäre, wenn ich fremdficken würde. Ich stehe auch drauf, dass du eifersüchtig bist, Miguel, aber du musst mir ein bisschen vertrauen, ja?“

„Ich hab gesehen, was dabei rauskommt.“

„Deinetwegen riskiere ich eine Lungenentzündung. Was soll ich denn noch machen? Mich von einer Brücke stürzen?“

„Es würde reichen, keine fremden Jungs mehr zu küs…“

Entschuldigung, ich muss ihn mal eben mit einem ultra leidenschaftlichen Kuss zum Schweigen bringen.

„Alles klar?“, frage ich.

„Hm-hm.“

„Dann lass uns reingehen.“

„Ich hab schon gedacht, du wolltest dich vor Mitternacht aus dem Staub machen“, begrüßt uns Becky. „Das hätte ich dir sehr übel genommen, Sidney.“

„Wäre mir im Traum nicht eingefallen.“

„Und wenn du weiterhin durch die Gegend vögelst und dabei behauptest, verliebt zu sein, hau ich dir eigenhändig eine rein. Ich werde es nicht zulassen, dass Miguel sich so fühlen muss, wie ich mich monatelang gefühlt habe“, raunt sie mir zu und reicht mir ein Sektglas. „Irgendwelche Vorsätze fürs neue Jahr?“

„Ja“, entgegne ich, „mir eine neue beste Lieblingsfreundin suchen.“

„Ich bezweifle, dass du eine finden wirst, die es mit dir aushält.“

Um genau zwölf Uhr stoßen wir aufs neue Jahr an. Ich umarme meinen Engel, küsse ihn und würde am liebsten losheulen, weil ich weiß, dass wir keine Zukunft haben, und spüre, dass Miguel in diesem Augenblick exakt dasselbe denkt.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals so früh eine Silvesterparty verlassen habe und das auch noch nüchtern. Der Engel hat definitiv einen schlechten Einfluss auf mich! Jo pennt heute bei Becky, was mir ziemlich gelegen kommt, weil… keine Ahnung, der Gedanke, dass die beiden quasi im Nebenzimmer was auch immer veranstalten, ist merkwürdig. Vielleicht muss ich mich erst dran gewöhnen. Vielleicht ist aber auch doch mein Ego angekratzt, weil ich regelmäßig bei Jo abgeblitzt bin. Prinzipiell find ich’s gut, dass sie endlich zusammen sind. Trotzdem. Jo ist nun mal süß.

„Du solltest das lassen“, erklärt Miguel und nimmt mir die Zigarette weg, die ich anzünden wollte. „Ist eine ungesunde, überflüssige Angelegenheit.“

„Mann, ich sauf schon nicht mehr, nehme seit Wochen keine Drogen… wenn ich das jetzt auch nicht mehr darf, hab ich ja überhaupt keine Laster mehr. Außer einem“, grinse ich und schmiege mich in relativ deutlicher Absicht an ihn.

„Sid… nicht“, schüttelt er den Kopf.

„Gib zu, dass du gerne mit mir schläfst.“

„Ich… kann mich nicht dagegen wehren.“

Meine Hand gleitet über seinen nackigen Bauch. „Du hast keinen Spaß und dir gefällt es kein bisschen? Du magst es nicht, wenn ich dich ficke?“

„SID!“

„Was?“, lache ich ihn aus. „Das ist kein schlimmes Wort.“

„Aber es klingt so… rüde.“

„Es ist halt direkt. Außerdem, warum schläfst du mit mir, wenn es dir keinen Spaß macht?“

„Weil ich mich nicht wehren kann, ich sagte es bereits.“

„Äh… Schätzchen, es ist nicht so, dass ich dich jedes Mal verführt habe. Bei dir klingt das, als würde ich dich andauernd zwingen. Das verletzt total meine Gefühle.“

„Hör schon auf“, verdreht er die Augen. „Dir muss doch klar sein, dass ich mit dem Thema nicht so locker umgehen kann wie du.“

„Du traust dich nicht, zuzugeben…“

„Halt die Klappe und küss mich“, seufzt er.

Na, das lass ich mir nicht zweimal sagen!

Eine Weile knutschen wir herum. Ziemlich heftig. Auch wenn er es sich nicht eingestehen will, Miguel hat sehr großen Spaß an sexuellen Aktivitäten mit mir. Glücklicherweise spricht sein Körper eine unglaublich deutliche Sprache. Na ja, und wie er an mir rumfasst, ist eh nicht jugendfrei!

„Fick mich“, wispere ich ihm ins Ohr.

„Nein“, entgegnet er schrill und ein wenig entsetzt.

„Doch, Miguel. Ich finde, es ist Zeit.“

„Aber… ich weiß gar nicht…“

Ich krame nach einem Kondom und drücke es ihm in die Hand.

„… wie das geht.“

„Warte, ich helf dir“, lächele ich, küsse ihn und friemle ihm das Kondom über.

Au weia, ihm steht die nackte Panik ins Gesicht geschrieben. Aber da muss er jetzt durch.

Wow… er ist echt vorsichtig und… äh… dann irgendwie auch schon fertig. Das ist zwar schade, allerdings war ich beim ersten Mal sicher auch nicht viel ausdauernder.

Miguel

„Es tut mir leid“, murmle ich peinlich berührt.

„Alles okay“, behauptet Sid, aber ich weiß, dass er lügt.

Ich bin ein lausiger Liebhaber, machen wir uns nichts vor. Mit den anderen Jungs ist er bestimmt immer auf seine Kosten gekommen.

„Ich hab… es war…“, stottere ich dämlich und würde mich gerne mal kurz in Luft auflösen.

„Hat sich gut angefühlt, mh?“

„Zu gut.“

Also Sid hatte ja wohl offensichtlich keinen… ähem… Höhepunkt, weshalb ich ihm jetzt einen verschaffen muss. Das wäre doch sonst unhöflich oder so was. Da ich mich nicht dazu überwinden kann, Sids Vokabular zu benutzen, frage ich ihn lieber nicht, sondern küsse mich seinen Bauch hinab und… tue das Unaussprechliche. Wenigstens das scheine ich hinzukriegen.

„Du bläst irre gut, Miguel“, schnauft er, als ich wieder bei ihm oben bin.

Ich schäme mich daraufhin, so sehr es geht, obwohl er es vermutlich als Kompliment gemeint hat. Langsam rollt er sich auf die Seite, streichelt über meine Wange und küsst mich.

„Sag mal, imprägniert man Engelschnuten mit Honig?“

„Wie bitte?“

„Engel schmecken immer nach Honig.“

„Ja? Du hast doch bisher erst einen geküsst und ich bin noch gar kein richtiger.“

„Luzifers Lippen…“

Fassungslos rücke ich von ihm weg. „Du… du hast den Verdammten geküsst? Oh nein, du hast mit ihm geschlafen.“

„Ähem…“

„Du hast wirklich mit Luzifer geschlafen“, wiederhole ich geschockt.

„Das kannst du mir aber echt nicht vorwerfen. Ich meine… du kennst ihn nicht. Luzifer ist wahnsinnig charmant, wenn er Lust dazu hat, und atemberaubend schön.“

„Na fein, dann geh doch zu ihm zurück, wenn er so toll ist.“

„Nein“, sagt er gedehnt und kuschelt sich an mich, „ich lieb doch jetzt dich. Ich… lieb dich so sehr, Miguel.“

Drei Minuten später ist er eingeschlafen.

Wahrscheinlich bin ich ebenfalls eingeschlafen… oder schlafgewandelt, denn als ich wieder bei Bewusstsein bin, liege ich nicht mehr in Sids Bett. Ich gehe durch einen dunklen Tunnel. Allerdings ist da nirgendwo ein helles Licht. Na ja, das hab ich natürlich auch nicht erwartet, weil ich erstens bereits tot bin und zweitens geht man, wenn man stirbt, niemals durch einen Tunnel ins Licht. Leute mit Nahtod-Erfahrung haben alle keine Ahnung. Ich wüsste aber gerne, wo ich mich befinde. Und vor allem, warum?! Wie komme ich in diesen höhlenartigen Tunnel? Nach gefühlten hundert Stunden sehe ich endlich ein Ende… und da ist’s tatsächlich hell. Angenehmes Kerzenlicht. Mit zittrigen Beinen wanke ich weiter vorwärts, bis ich in einen Raum gelange. Übrigens trage ich meine übliche Kleidung. Ich bin demnach kein klassischer Schlafwandler im weißen Nachthemd. Schön, dass mir diese Peinlichkeit erspart bleibt. Vorsichtig blicke ich mich um. Ein Tisch mit Kerzen, ein Glas Wein und zwei Stühle. Auf einem sitzt ein Mann. Seine schwarzen, glatten Haare reichen bis über seine Oberarme und umrahmen ein blasses, unbeschreiblich schönes Gesicht.

„Komm näher, Engel“, fordert er mit tiefer, samtiger Stimme.

„Du bist…“

„Ja?“, fragt er und zieht eine Braue hoch.

„Luzifer“, presse ich hervor und schlottere vor Angst mit den Knien, als er nickt. „Willst du… mich holen?“

Der Verdammte lacht laut auf. „Ist das die übliche Ausdrucksweise zwei Etagen höher? Ich bin der Chef der Hölle, kein Buhmann, der jemanden holt.“

„Dann träume ich.“

„Ich fürchte nicht. Dir ist schwindlig, setzt dich lieber hin.“

Fix und fertig lasse ich mich auf den Stuhl fallen. Mir gegenüber sitzt tatsächlich der satanische, verdammte Fürst der Hölle… oh, lieber Gott, hilf mir!

„Du fragst dich sicher, warum du hier bist“, beginnt er und nimmt einen Schluck Wein aus dem Kristallglas, „also kommen wir gleich zur Sache. Du liebst meinen Teufel.“

Völlig klar, dass er das weiß.

„Mir entgeht eigentlich kaum etwas“, lächelt er.

„Liest du meine Gedanken?“

„Entschuldige, das ist eine verflucht unhöfliche Angewohnheit. Ich lasse es, wenn es dich stört.“

„Ja, bitte.“

„In Ordnung. Also du liebst Sid. Die Frage ist… liebst du ihn genug?“

„Ähem… genug wofür?“

„Um bei ihm zu bleiben. Okay, du hast vielleicht ein paar hübsche Flügel sausen lassen und die Angst vor dem Höllenfeuer konnte dich auch nicht davon abhalten, mit ihm zu schlafen. Aber wenn ich dir jetzt sage, dass das alles geplant war? Dass Sid in meinem Auftrag gehandelt hat…“

Mir wird übel. Und heiß und kalt und kotzschlecht.

„… könntest du ihm das verzeihen? Oder würdest du gleich heulend zu Gabriel laufen und ihn auf Knien um Vergebung bitten?“

Sid hat mich getäuscht. Seine Liebe… eine einzige, teuflische Lüge. Schade, dass ich nicht noch mal sterben kann.

„Warum?“

„Warum er dich verderben sollte? Er wollte einen besseren Job. Das Höllenfeuer anzufachen ist nicht jedermanns Sache.“

„Er wollte… einen besseren Job? Deswegen hat er mich auf ewig verdammt?“

„Was erwartest du? Er ist mein Diener.“

„Gabriel hatte Recht“, zische ich.

„Natürlich. Gabriel hat immer Recht, oder? Schließlich ist er ein Erzengel und kommt quasi direkt nach Gott… seit ich hier unten bin.“

„Ihr lügt und betrügt und… aber wieso erzählst du mir das, wenn du mich angeblich gar nicht holen willst?“

Er scheint einen Moment zu überlegen. „Um… es ein bisschen interessanter zu machen, vielleicht.“

„Ich verstehe kein Wort.“

„Das ist auch nicht nötig. Ich vertraue darauf, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst, Miguel.“

Ich erwache in Sids Armen, befreie mich aus seiner Umklammerung und renne ins Bad, um mich zu übergeben.


Es war kein Traum, da bin ich mir sicher. Der Teufel hat leibhaftig mit mir gesprochen. Und Sidney tut so, als sei überhaupt nichts geschehen. Er hat sich nur darüber gewundert, dass ich heute Morgen nicht neben ihm lag und er mich seitdem nicht mehr anfassen darf. Meine Enttäuschung ist so groß, dass ich ihn noch nicht einmal mit meinem Wissen konfrontieren konnte. Ich hocke in meinem Zimmer und suche vergeblich nach einem Hauch von Wahrheit in diesem ganzen Chaos. Und ich möchte so unendlich gerne glauben, dass Sidney mich doch liebt. Dass Luzifer gelogen hat, weil… keine Ahnung, weil er eben der Oberteufel ist. Überhaupt, sein kryptisches Gefasel, was sollte das? Warum hat er mich nicht sofort ins Feuer geworfen? Er weiß doch, dass ich mich hab verderben lassen. Warum ist Sidney immer noch hier, obwohl er Luzifers Auftrag erledigt hat? In meinem Kopf herrscht ein Durcheinander, das ich nicht geordnet bekomme.

„Miguel“, höre ich Sidneys Stimme hinter der Tür, „mach auf und sag mir, was los ist.“

„Geh weg!“

„Wenn es wegen letzter Nacht ist… ey, das muss dir total nicht peinlich sein, okay?“

Pah, der hat Sorgen!

„Wirklich“, plaudert er munter weiter, „ich fand’s echt schön. Ich meine, ist doch nicht schlimm, dass du…“

Fast wahnsinnig vor Wut reiße ich die Tür auf.

„Du fandst es schön, ja?“, schreie ich ihm ins Gesicht. „Was denn genau? Mich zu verführen? Mich zu verdammen? Mich dazu zu bringen, die schlimmste Sünde zu begehen? Mich zu quälen mit all diesen abscheulichen Gefühlen? Mich anzulügen? Mir Liebe vorzugaukeln? Und wofür? FÜR EINEN BESSEREN JOB IN DER HÖLLE?!“

„Äh…“

„Dein satanischer Chef hat mir alles gesagt, du brauchst dir also keine weiteren Lügen auszudenken.“

„Luzifer? Was hat er…“

„Du hast von ihm den Auftrag bekommen. Willst du das abstreiten?“

„Nein, aber…“

Ich knalle reflexartig die Tür zu. Tränen ringen über meine Wangen. Zornige, verletzte, heiße, schmerzhafte Tränen.

„Miguel.“

Seine Hand berührt sanft meine Schulter. Offenbar hab ich es versäumt, die verdammte Tür abzuschließen.

„Fass mich nicht an“, sage ich leise. „Nie wieder.“

„Luzifer hat mir gesagt, dass ich dich verführen soll. Und es war auch mein Plan, dass du freiwillig… aber dann hab ich gemerkt, dass ich in dich verliebt bin und konnte nicht…“

„Das hat dir doch bestimmt Spaß gemacht. Der Engel bietet sich an, da quäle ich ihn einfach noch ein bisschen mehr“, entgegne ich. „Vielleicht steige ich dann in der höllischen Hierarchie noch schneller auf.“

„So war das nicht.“

„Ich glaube dir kein Wort mehr. Geh weg und lass mich in Ruhe.“

„Ich liebe dich“, behauptet er und verlässt das Zimmer.

Gipfeltreffen

„Du bist dämlicher als es die Polizei erlaubt“, lächelt der Erzengel spöttisch. „Und wie immer hältst du dich nicht mal an deine eigenen Regeln. Allerdings verstehe ich nicht, warum du mir derart in die Hände spielst? Dir ist doch klar, dass ich damit gewonnen habe.“

„Du verstehst erschreckend wenig“, schüttelt Luzifer den Kopf. „Und was Dämlichkeit angeht, solltest du dich lieber nicht so weit aus dem Fenster lehnen. Und was unsere Wette betrifft… die hatte ich in dem Augenblick gewonnen, als dein Engel mit meinem Teufel ins Bett gegangen ist.“

„Das kann man so sehen… muss man aber nicht. Immerhin hat Miguel es geschafft, dass dein Teufel seinen widerwärtigen Lebenswandel aufgibt.“

„Ja, das stimmt. Er treibt die Widerwärtigkeiten nur noch mit deinem Engel.“

„Unentschieden, würde ich sagen.“

„Ach so plötzlich? Vor zwei Minuten warst du noch der strahlende Sieger.“

„Im Gegensatz zu dir bin ich für Gerechtigkeit. Mein Engel hat sich hinreißen lassen, das ist leider wahr. Aber dein Teufel hat sich aus Liebe…“

„Gabriel, du nervst“, unterbricht ihn Luzifer, „also warum tust du mir nicht einen Gefallen und verpisst dich?“

Der Erzengel überlegt einen Moment, dann reißt er überrascht seine Augen auf. „Deshalb also.“

„Weshalb also?“

„Weil er meinen Engel mehr liebt als dich“, triumphiert Gabriel. „Deswegen hast du Miguel die Wahrheit gesagt. Eifersucht war schon immer dein Problem, Luzifer.“

„Wenn ich jetzt anfange, deine ganzen Probleme aufzuzählen, sitzen wir in drei Jahren noch hier.“

„Also spielen wir eine weitere Runde und warten ab, was passiert?“

„Sieht wohl so aus“, seufzt der Höllenfürst.

Sidney

Ey, Luzifer, der alte Penner! Ich hab ja wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er hinter meinem Rücken mit Miguel redet. Keine Ahnung, was er damit bezwecken wollte. Warum hat er mich nicht einfach in die Hölle zurückgeschickt? Immerhin habe ich inzwischen seinen verfluchten Auftrag mehrmals erledigt. Mann, ich begreife den Typen echt nicht. Aber, gut, da ich noch hier bin, muss ich Miguel zurückgewinnen. Leider spricht er nicht mit mir, dabei hab ich alles zugegeben und ihm gesagt, dass ich ihn liebe. Allerdings würde ich mir wahrscheinlich an seiner Stelle auch nicht glauben. So ein Fuck!

„Was hast du angestellt?“, will Jonah wissen.

„Was meinst du?“, stelle ich mich blöd.

„Du läufst seit Tagen mit Zombiefresse umher und Miguel hockt seit Tagen in seinem Zimmer. Hast du mit dem Typen Silvester doch mehr gemacht?“

„Nein.“

„Was dann?“

„Und warum muss ich schon wieder Schuld sein, hä? Wieso kann Miguel nicht irgendwas getan haben?“

„Hat er?“

„Nein.“

„Sid, du gehst mir allmählich auf den Sack.“

„Ich kann es dir nicht sagen. Das ist eine Sache zwischen Miguel und mir.“

„In Ordnung. Ich bin bei Becky, wenn irgendwas ist. Kümmerst du dich um die Ratten?“

„Klar. Drück mir doch einfach deine fucking Viecher aufs Auge und treib es ein bisschen mit meiner besten Freundin, während ich hier…“

Jos Augen verengen sich wütend.

„Es tut mir leid“, murmle ich bedröppelt.

„Schon gut“, lächelt er mitleidig.

Als wäre alles nicht ätzend genug, ist mein Urlaub auch noch vorbei und ich muss mich in der Teufelsküche mit tausend Leuten, die tausend Sachen kaufen wollen, rumschlagen. Fahrt doch alle zur Hölle, verfluchtes Dreckspack! Ah, wie günstig. Kaum denkt man an die Hölle, steht der Chef im Laden.

„Du bereitest mir Kopfschmerzen, Kleiner“, behauptet er.

„Dann nimm eine Tablette.“

„Wie wäre es mit etwas mehr Respekt?“

„Wie wäre es, wenn du mich in deine abartigen Pläne einweihen würdest?“

Luzifer latscht durch den Laden, der plötzlich erschreckend leer geworden ist, und schaut sich ein paar schwarze Samtgehröcke an.

„Stehen wir uns so nah, dass ich dich in alles einweihen müsste?“, fragt er beiläufig.

„Wir standen uns mal sehr nah.“

„Findest du? Ja, vielleicht, aber das ist lange her“, antwortet er und schlendert an die Theke zurück. „Jedenfalls… kommst du jetzt mit mir nach Hause.“

„Nicht bevor ich die Sache mit Miguel geklärt habe.“

„Sidney“, lächelt er streng, „das war keine Bitte, die du ablehnen kannst.“

„Ich gehe nirgendwohin“, stelle ich klar.

„Du lehnst dich also gegen deinen Chef auf?“

„Das machen Teufel doch für gewöhnlich.“

„Kleiner, du weißt, dass ich dich nicht hier lassen kann. Du gehörst nicht mehr in die Welt der Sterblichen.“

„Fein, dann gehe ich mit Miguel nach oben.“

„Du hast dafür gesorgt, dass er eben nicht mehr nach oben kann. Außerdem… denkst du, ihr könntet im Himmel eure kleine Romanze fortsetzen? Gabriel würde das niemals zulassen.“

„Hauptsache, ich bin in seiner Nähe.“

Luzifers Gesichtsausdruck verändert sich auf einmal. Er wirkt… traurig?

„Also gut. Ich gebe dir noch ein wenig Zeit.“


Keinen Schimmer, wie viel Zeit mir Luzifer geben will, aber es wird höchstwahrscheinlich zu wenig sein. Miguel lässt mich jetzt bereits seit zwei Wochen links liegen. Mann, und ich dachte, es wäre in der Hölle fies. Tür an Tür mit ihm zu wohnen und ignoriert zu werden, ist auf alle Fälle hundertmal gemeiner. Jo sagt, er mischt sich nicht ein… na, warum sollte er auch? Mit ihm redet Miguel ja. Wenn er mich wenigstens anschreien würde, beschimpfen, irgendwas, darauf könnte ich reagieren. Aber er tut einfach gar nichts. Dabei finde ich nicht, dass ich so etwas Schlimmes verbrochen habe. Schließlich war es seine Entscheidung, mit mir zu schlafen, oder? Er wollte es. Ich wollte es genauso. Wo ist das scheißverdammte Problem?

Wieso glaubt er mir nicht? Er muss doch spüren, dass ich ihn wirklich liebe.

Während ich apathisch auf meinem Bett liege und mich selbst zum Heulen zu schlecht fühle, klopft es leise an die Tür. Gleich darauf betritt Miguel mein Zimmer. Oh, er hat offenbar geheult, seine Augen sind rot verquollen. Langsam kommt er auf mich zu und… legt sich zu mir. Sein Arm schlängelt sich über meine Hüfte und sein Gesicht ist so nah, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Mein Herz beginnt, eine Ecke schneller zu klopfen.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, wispert er. „Und eigentlich spielt es gar keine Rolle. Selbst wenn du mich liebst und ich dich liebe… es gibt für uns doch eh keine Chance. Es gab nie eine.“

Ich hasse es, wenn Leute so vernünftig sind! Ich hasse es, dass ich ihn nicht früher getroffen habe. Und ich hasse es, wie weh es tut, neben ihm zu liegen.

„Das ist nicht fair. Wir hatten so wenig Zeit, uns kennen zu lernen, verliebt zu sein… und glücklich. Es reicht einfach nicht.“

„Sid“, lächelt er traurig und streichelt meine Wange, „allein dafür, jetzt mit dir hier zu liegen, dich zu spüren, hat es sich gelohnt zu sterben und den Himmel zu riskieren. Ganz egal, ob du die Wahrheit sagst oder lügst.“

„Du weißt genau, dass ich dich liebe.“

„Ich liebe dich auch. Ich… will dich“, flüstert er zittrig und küsst mich.

Oh…wow…dieses Mal dauert es länger. Und ich bin seinen Händen, seinen Lippen völlig ausgeliefert. Aber das Gefühl, dass es ein Abschied ist, verschwindet nicht. Selbst als er in mir ist und mich fast in den Wahnsinn treibt, muss ich daran denken, dass ich ihn verlieren werde. Er hat Recht. Wir haben keine Möglichkeit, zusammen zu bleiben. Weder im Himmel, noch in der Hölle, noch sonst wo. Und weil ich die Ausweglosigkeit unserer Situation anscheinend gerade erst so richtig begreife, fange ich peinlicherweise an zu heulen. Fuck! Das ist mir seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr passiert.

„Hab ich dir weh getan?“, fragt Miguel entsetzt.

„Nein“, schluchze ich und umschlinge ihn, so fest ich kann.

„Wenn ich in die Hölle komme…“, beginnt er.

„Denk nicht mal dran.“

„Ich glaube nicht, dass ich es mir noch aussuchen kann.“

„Dann bitte deinen Gabriel um Vergebung oder so was. Sag ihm, der Teufel hätte dich auf ekelhafte Weise verführt und dass du’s zutiefst bereust.“

„Und was ist mir dir?“

„Ich bin die Hölle gewohnt“, erkläre ich, „du nicht.“

„Dann werde ich dich vergessen. Im Himmel…“

„Ich weiß“, unterbreche ich ihn. „Ist doch gut so.“

„Ist es nicht“, widerspricht er trotzig und befreit sich aus meinen Armen. „Ich will verdammt noch mal nicht vergessen, dass ich dich liebe.“

„Hör auf zu fluchen, Engel, das passt nicht zu dir.“

„Ist mir scheißegal.“

„Hast du nicht eben noch gesagt, dass wir keine Chance haben? Nie eine hatten?“

„Na und?“

„Ich werde dir in der Hölle keine Träne nachweinen, Miguel“, lüge ich.

„Wieso hast du dann gerade geweint?“

„Wir können noch so lange herumreden, das wird nichts ändern.“

„Nein. Aber solange wir reden, sind wir noch zusammen“, erwidert er und kuschelt sich an mich.

Die ganze Nacht halten wir uns fest. Und als ich am nächsten Morgen aufwache, ist Miguel weg.

Miguel

Seltsamerweise war Gabriel nicht wütend oder enttäuscht. Als ich ihn um Verzeihung bat, hat er bloß gelächelt und behauptet, dass der Auftrag vielleicht eine Nummer zu groß für mich gewesen sei, dass ich allerdings die Prüfung bestanden hätte. Ich hätte mich aus den Klauen der Hölle, der Sünde, des Bösen befreit und der Himmel würde auf mich warten. Dabei hatte ich mich eigentlich entschieden, als ich Sid das letzte Mal im Arm gehalten habe. Ich wollte mit ihm gehen. Allerdings… in der Hölle gibt es bekanntlich keine Liebe, also hätten Sid und ich dort auch nicht zusammen sein können. Außerdem hätte er es nicht zugelassen, dass ich seinetwegen in die Hölle gehe. Hätte, könnte, wollte… ist doch alles völlig egal. Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Unsere „Beziehung“ war von Anfang an falsch und zum Scheitern verurteilt!

Meine Flügel muss ich mir übrigens einstweilen auch abschminken. Da werde ich wohl irgendwann noch mal eine Aufgabe bekommen und hoffentlich nicht so schrecklich versagen. Immerhin darf ich mich inzwischen um die verstorbenen Neuankömmlinge kümmern. Darf sie an der Grenze abholen, in den ersten Vorort bringen und ihnen erzählen, wie das alles so läuft im Himmel. Das ist eine vernünftige Sache, denn natürlich sind die Verstorbenen ebenso verwirrt und ängstlich, wie ich es bei meiner Ankunft gewesen bin. Ich wirke wahrscheinlich auch sehr viel netter als der finstere Michael mit seinem blöden Flammenschwert. Gabriel ist jedenfalls zufrieden mit meiner Arbeit. Leider ertappe ich mich dabei, wie ich in jeder freien Minute an Sid denke, was mich umbringen würde, wenn ich nicht schon tot wäre, weil es so unglaublich schmerzhaft ist. Möglicherweise ist das eine Art Strafe, weil ich gesündigt habe. Und weil ich es schön fand. Aber es ist nicht nur das. Ich vermisse Jonah. Mir wird erst jetzt klar, dass ich mich viel zu sehr an dieses „Leben“ gewöhnt hatte. An ganz banale Dinge wie… morgens mit Jo Kaffee zu trinken und abends mit ihm im Rattenzimmer zu sitzen und die niedlichen Untermieter zu beschäftigen. Ich frage mich, was er davon hält, dass ich so Hals über Kopf verschwunden bin? Aber wie ich Gabriel kenne, hat er sicher dafür gesorgt, dass ich aus Jonahs und Beckys Erinnerungen gelöscht werde. Und mein süßer, kleiner Teufel… erwähnte ich, dass er mir in jeder Sekunde fehlt?! Sogar, wenn ich den Verstorbenen erkläre, wo sie sind und dergleichen, denke ich nur an ihn. An seine weichen Lippen, seinen betörenden Duft, seine leicht raue Stimme, die mir ins Ohr flüstert, sein Lächeln, seine grünen Augen… es wird einfach nicht besser.

Weil ich es irgendwann nicht mehr aushalte, bitte ich Gabriel um eine Unterredung.

„Kannst du mir sagen… ich… kann ihn nicht vergessen“, murmle ich.

„Das ist Teufelswerk“, antwortet er. „Du musst dich dagegen wehren.“

„Wieso?“, wage ich zu fragen. „Wieso ist es eine Sünde, wenn zwei Männer sich lieben?“

„Weil es geschrieben steht.“

„Wir haben doch niemandem weh getan.“

„Ihr habt Gott weh getan. Er hat dir vergeben, Miguel, das war sehr gütig von ihm. Du möchtest ihm doch nicht noch mehr Kummer bereiten, oder?“

„Nein“, entgegne ich mit gesenktem Blick. „Aber ich…“, seine strenge Miene lässt mich verstummen.

„Dann hör auf damit, dem Verdammten hinterher zu trauern. Glaub mir… er hat dich längst vergessen. Denn alles, was er dir gesagt hat, war gelogen.“

„Woher weißt du das?“

„Es ist verständlich, die Wahrheit nicht erkennen zu wollen, wenn die Lüge so charmant auftritt“, lächelt er mitleidig. „Umgarnen, verführen, schöne Worte ohne Bedeutung sprechen, das ist die uralte Masche des Teufels. Sidney ist ein Diener der Hölle… wie könnte er also echte Empfindungen für jemanden haben?“

„Ist er…“

„Genug davon“, sagt er bestimmt. „Geh jetzt zurück an deine Arbeit.“


Ich finde Gabriels Antworten reichlich unbefriedigend. Weil es geschrieben steht, darf ich Sid nicht lieben? Wo genau steht’n das geschrieben? Und wer hat sich das ausgedacht? Gott oder die Kirche? Da Gott immer noch nicht von Angesicht zu Angesicht mit mir gesprochen hat, muss ich mich darauf verlassen, was mein Herz mir sagt, oder? Und mein Herz sagt mittlerweile ganz deutlich, dass es keine Sünde ist. Solange man niemandem schadet. Damit brauche ich Gabriel logischerweise gar nicht kommen, weil er bloß wieder vom bösen Einfluss des Teufels faseln würde und dass ich mich dagegen wehren soll. Mann, wie lange muss ich mich denn noch gegen alles Mögliche wehren? Wann ist es endlich mal genug? Wird einem nicht versprochen, dass einem im Himmel ewige Glückseligkeit widerfährt? Von diesem Zustand bin ich meilenweit entfernt. Jeder Tag ist anstrengend, schmerzhaft und quälend. Wenn man selbst im Himmel immer noch für irgendwelche Sünden bestraft wird… wofür gibt es dann überhaupt eine Hölle? Schlimmer als hier, kann es da unten auch nicht sein.

Ich frage mich, ob es Sid ähnlich geht? Denkt er an mich? Fehle ich ihm auch so sehr? Tief in mir drin, weiß ich es. Aber wahrscheinlich redet mir das ja auch der Teufel ein. Es ist einfach, alles, was einem nicht in den Kram passt, als Teufelswerk abzutun, oder?! Ich meine, die Kirche arbeitet seit Jahrhunderten so, und zwar relativ erfolgreich. Langsam beginne ich zu begreifen, dass die Kirche vielleicht nicht in erster Linie für Gott steht, sondern ihre eigenen Interessen und Ziele verfolgt. Machtspiele innerhalb einer Institution, nichts weiter. Wie könnte sich sonst ein einfacher Mann als Stellvertreter Gottes präsentieren? Ein einfacher Mann, der von anderen einfachen Männern gewählt wird. Genau genommen müsste jeder Mensch, der Gottes Stimme in sich spürt und danach handelt, sein Stellvertreter sein. Also, jeder, der selbstlos ist und Anderen Gutes tut. Nicht die irren Spinner, die herumlaufen und behaupten, Gott hätte ihnen befohlen, Leute umzubringen oder so was in der Art. Nicht die irren Spinner, die lauthals verkünden, dass zwei Männer, die miteinander schlafen, in der Hölle landen. Ich glaube, solche Idioten haben Gottes Stimme niemals wirklich gespürt. Ich glaube, dass ich sie auch erst jetzt wirklich spüre. Sie sagt, dass es gut und richtig ist, jemanden zu lieben. Egal ob Mann oder Frau… oder einen Angestellten Luzifers. Was, wenn das meine wahre Prüfung gewesen ist? Und ich habe Sid verlassen…


„Erfüllt dich deine Aufgabe nicht genug, dass du Zeit findest, sündigen Gedanken nachzugehen?“

Oha, Gabriel ist recht erbost, möchte ich meinen.

„Nein… ich meine… doch, das tut sie“, lüge ich und hoffe, dass mich nicht gleich auch noch Gottes Zorn trifft.

„Und warum zweifelst du dann noch?“

„Vielleicht weil ich kein gebürtiger Engel bin“, rutscht mir aus Versehen heraus.

„Du wirst nie ein richtiger Engel werden, wenn du nicht lernst, Gott zu vertrauen.“

„Ich habe Gott immer vertraut“, stelle ich fest. „Das ist überhaupt nicht das Problem.“

„Soso… und was ist das Problem?“, fragt Gabriel, klingt allerdings, als würde es ihn nicht wirklich interessieren.

„Dass ich Sid immer noch liebe.“

„Du willst Unzucht treiben, Miguel. Das ist keine Liebe, die sich gehört. Schon gar nicht für einen Engel, der eines Tages Flügel haben möchte.“

„Wieso kannst du mir nicht sagen, weshalb es falsch ist?“

„Engeln ist es nicht bestimmt…“

„Als Mensch war es aber auch schon falsch“, unterbreche ich ihn.

„Es ist widernatürlich, es auf diese Art zu tun.“

Hm, dafür macht es leider ziemlich viel Spaß.

„Miguel!“, schnauzt Gabriel mich an.

„Darf ich nicht einmal meine Gedanken für mich haben?“, stöhne ich genervt.

„Genauso hat der Verdammte auch angefangen“, bemerkt Gabriel. „Du schlägst gerade einen sehr gefährlichen Weg ein. Wenn du weiterhin…“

„Gabriel, es reicht“, ertönt eine wütende Stimme. „Hör endlich auf, diesen Schwachsinn zu verbreiten.“

„Ah, wenn man vom Teufel spricht… was willst du hier?“

„Deinen Schüler auf dem gefährlichen Weg in die Hölle begleiten. Was dachtest du?“, entgegnet Luzifer spöttisch und schüttelt beruhigend seinen Kopf, als er mich ansieht.

Ich glaube, das ist meine Chance. Und mein Herz klopft mir bis zum Hals.

„Du hast mich gefragt, ob ich Sid genug liebe, um bei ihm zu bleiben…“

„Ja“, zuckt er die Schultern, „und du hast bewiesen, dass das wohl nicht der Fall ist.“

„Ich will bei ihm sein“, erkläre ich schnell.

„Miguel, sei still“, zischt Gabriel.

„Halt dich raus“, zischt Luzifer.

„Du sagst mir im Himmel nicht, was ich tun soll!“ Dann wendet Gabriel sich an mich. „Dein Herzblatt treibt es längst wieder mit Anderen. So, als hätte es dich nie gegeben. Bist du sicher, dass du dafür den Himmel aufgeben möchtest?“

Unsicher suche ich in Luzifers Augen nach der Wahrheit.

„Ohne Sid ist es schlimmer als in der Hölle.“

„Woher weißt du das?“, fragt der Teufel. „Du bist doch nie dort gewesen.“

Ähem, was ist denn jetzt los? War der nicht eben noch ein bisschen auf meiner Seite?!

„Mal ehrlich, würdest du mir deine Seele verkaufen, um einen Tag bei ihm sein zu können?“

„Ja“, sage ich, ohne nachzudenken.

„Du bist wohl nicht bei Trost“, bollert Gabriel. „Verschwinde, Luzifer. Geh woanders auf Seelenfang.“

„Sieh’s ein“, seufzt der Höllenfürst, „die beiden sind füreinander bestimmt.“

„Nur über meine Leiche.“

„Meinetwegen. Ich leihe mir kurz Michaels Schwert und die Angelegenheit ist geklärt“, grinst Luzifer.

Shit! Hab ich etwa grad meine Seele an den Teufel verkauft??

Sidney

„Wir… ähem… machen uns Sorgen um dich“, faselt Jo. „Du hast die Band verlassen, du gehst am Wochenende nicht mehr weg, du…“

„Vögelst nicht mehr rum“, mischt sich Becky ein.

„Okaaaay…“, entgegne ich irritiert, in der Hoffnung, dass die beiden nicht spontan verrückt geworden sind.

„Sid, du musst endlich wieder normal werden“, fleht meine beste Freundin.

„Für euch ist jemand, der nicht jede Nacht irgendeinen fremden Typen bumst, sich besäuft und mit Pillen abschießt, also unnormal? Wow… gesunde Einstellung.“

„Miguel ist weg, komm damit klar.“

„Du hast das M-Wort gesagt“, bemerkt Jo erschrocken.

In der Tat, ich verspüre sofort einen heftigen Stich. Genau dort, wo mal mein Herz gewesen ist. Es ist nämlich nicht mehr da, weil der Engel es offenbar mitgenommen hat, als er sich ohne ein verdammtes Wort zu sagen aus dem Staub gemacht hat. Obwohl… ich hätte damit rechnen müssen, schließlich hatten wir in unserer letzten Nacht festgestellt, dass eine gemeinsame Zukunft wohl eher nicht zur Debatte steht. Na ja, und ich hab ihn ja quasi aufgefordert, in den Himmel zurückzugehen. So gesehen war es also besser, dass es keine Endlos-Verabschiedung gegeben hat.

„Mir war der Typ eh von Anfang an suspekt“, behauptet Becky. „Taucht hier wie aus dem Nichts auf und verschwindet plötzlich über Nacht. Was’n das für eine Art? Lässt euch auf seinem Mietanteil sitzen, kümmert sich einen Dreck um eure Freundschaft und…“

„Rebekka“, zischt Jo, worauf sie verstummt.

„Gibt es sonst noch was, worüber ihr euch Sorgen macht? Wenn nicht, gehe ich nämlich ins Bett. Ich muss morgen früh raus“, erkläre ich und lasse die zwei in der Küche hocken, wo sie sicherlich noch stundenlang überlegen, was aus einem werden soll, der bereits um zehn Uhr abends ins Bett geht. Na und? Es ist ja nicht so, dass ich irgendwelche spannenden Dinge verpassen würde.


Gerade hab ich einem Mädel erfolgreich ein schwarzes Spitzenkleid verkauft und freue mich, dass die Tussi sich endlich verpisst, da betritt die nächste Nervensäge den Laden.

„Hey, Kleiner.“

„Luzifer“, grüße ich schlecht gelaunt, „möchtest du etwas Bestimmtes? Ein Paar Doc’s oder eine chice Bondagehose?“

„Die Hölle erwartet dich, mein Liebling“, kommt er ohne Umschweife zur Sache.

„Danke, ich hab hier Hölle genug.“

„Eben. Ich war doch sehr großzügig, nicht war? Hab dir Zeit gegeben, deine Angelegenheit zu regeln und… der Engel ist ja nun auch schon seit einer Weile wieder glücklich oben bei unseren gefiederten Freunden. Ich sehe keinen Grund, dich noch länger hier zu lassen. Zumal es dir keinen Spaß mehr macht.“

„Und du glaubst, dass ich am Höllenfeuer den totalen Spaß hätte?“

„Wenn du mit mir kommst, werde ich dafür sorgen, dass du Miguel vergisst.“

„Alter Angeber.“

„Nein“, schüttelt er grinsend den Kopf. „Sex mit mir müsstest du dir eh erst verdienen. Ich meinte, dass ich deine Gedanken an ihn auslösche.“

Der hat wohl einen Sprung in der Schüssel!

„Wie kannst du denken, dass ich so ein Angebot annehme? Ich will das Beste, was mir jemals passiert ist, doch nicht vergessen“, rege ich mich auf.

„Oh je, du hoffst, dass er irgendwann zurück kommt“, stellt Luzifer fest. „Wird er nicht.“

„Trotzdem will ich nicht, dass du meine Liebe zu ihm auslöschst. Lösch doch lieber ein paar fiese Seelen aus.“

„Du ziehst es vor, hier zu bleiben und vor Sehnsucht…“

„Allerdings“, unterbreche ich ihn.

„So sehr liebst du den katholischen Bengel? Kleiner, das verletzt mich, weißt du das?“

„Ich kann doch nichts dafür“, murmle ich.

„Na gut. Aber was gedenkst du zu tun? Dich bis an dein Lebensende… oh, Moment, dein Lebensende hast du bereits hinter dir. Du bist tot, verflucht noch mal. Tut mir leid, aber es gibt nun mal keine zweite Chance.“

„Warum kommst du dann her und tust so scheißfreundlich als hätte ich eine Wahl?“

„Das wirst du sehr bald begreifen“, lächelt er geheimnisvoll. „Bis demnächst.“

Hm, ich kann nicht behaupten, dass ich Luzifers Handeln begreife, aber wenn dabei jedes Mal ein Aufschub herauskommt… ist mir sein Handeln doch kackegal. Hauptsache, mir bleibt noch ein paar Tage das fucking Höllenfeuer erspart.

Nicht erspart bleibt mir das Aufheiterungsprogramm meiner Freunde. Die lungern immer noch ständig um mich rum, es ist nicht auszuhalten. Au weia, die haben wohl Angst, dass ich mir was antun könnte. Haha, ein Toter, der versucht sich umzubringen… was für eine Lachnummer! Der totale Brüller! Jedenfalls, heute ist Freitag und sie schleppen mich in meine ehemalige Auftrittskaschemme. Mir geht sofort alles auf den Sack. Die vielen Leute, die laute Musik, der Patchouligestank und Dennis, das Spatzenhirn. Anscheinend hat er vergessen, dass ich ihm die Fresse poliert habe, denn er glotzt andauernd flirtig in meine Richtung. Hat der Junge überhaupt keine Selbstachtung, oder was?! Sowieso… die ganzen Typen, die mich sabbernd anstarren… ekelhaft. Ich bin bestimmt nicht scharf drauf, mit einem von denen zu ficken. Allein der Gedanke daran, mit jemandem Sex zu haben, der nicht Miguel ist, ist völlig absurd. Ich hab’s vor Wochen mal versucht, es ging nicht. Dabei war der Junge echt niedlich und so, aber als er mich geküsst hat und nicht nach Honig schmeckte, sondern nach Bier… hab ich’s dann sein lassen. Die Band ließ ich ebenfalls sein. Na ja, genau genommen wurde ich rausgeschmissen, weil ich nicht mehr zum Proben kam. Es stimmt schon, was Luzifer sagt: Es macht alles keinen Spaß mehr! Und ich hoffe tatsächlich auf… eine Art Wunder. Natürlich wird Miguel nicht zurück kommen, das weiß ich. Aber vielleicht tut es irgendwann nicht mehr ganz so doll weh.


Der Sommer ist übrigens komplett an mir vorbei gegangen. War eh irre verregnet, glaub ich. Jo und Becky haben sich getraut, mich zwei Wochen allein zu lassen, um nach irgendwohin zu fahren und ihre Liebe zu genießen. Wenn die beiden in meiner Nähe sind, benehmen sie sich dermaßen rücksichtsvoll, als würde ich mir sofort die Pulsadern öffnen, wenn ich Zeuge eines Kusses werde. Als müsste ich ein Liebespaar sehen, um an Miguel zu denken und mich schlecht zu fühlen. Nebenbei, ich gönne Jo und Becky die Verliebtheit. Wieso auch nicht? Sie können schließlich nichts dafür, dass die Dinge sind wie sie sind. Jedenfalls waren die zwei Wochen sehr erholsam, weil mich ihre ständige Fürsorge und die Ablenkungsversuche super anstrengen. Ich hab die Liebe meines Lebens verloren, verdammt, da kann ich doch nicht einfach wieder sofort zur Tagesordnung übergehen und als Spaßgranate durch die Gegend laufen.

An einen herbstlichen Spätnachmittag hocke ich mit einer Tasse Kakao in meinem Zimmer und schaue den Blättern beim Verfärben und vom Baum fallen zu, da höre ich plötzlich Beckys wütende Kreisch-Stimme.

„Du hast Nerven, hier einfach aufzutauchen, Arschloch.“

Nee, das kann nicht sein!

„Verschwinde bloß. Ich lass nicht zu, dass du ihm noch mal…“

Vielleicht doch?!

„Hör auf zu brüllen“, brüllt Jo.

„Hast du vergessen, was Sid die letzten Monate durchgemacht hat? Alles seinetwegen.“

Ich stürme in den Flur. Da steht tatsächlich mein Engel auf der Matte. Ey, die zwei Arschgeigen haben ihn noch nicht einmal reingelassen. Becky hat die Hände in die Hüften gestemmt, Jo sieht aus, als wüsste er nicht, was zu tun ist.

„Sid“, lächelt Miguel unsicher.

Mein Herz klopft total laut und schnell. Meine Beine sind Gummi. Tausend Gedanken rasen mir durch den Schädel. Warum ist er hier? Geht er wieder weg? Liebt er mich noch? Ist er aus dem Himmel verbannt? Muss er in die Hölle? Ist er überhaupt meinetwegen hier? Da ich auf all die Fragen grad keine Antworten finde, mache ich das einzig Richtige. Ich dränge mich an Becky vorbei und schlinge meine Arme um Miguel.

„Na toll“, zischt sie, „dem ist wohl nicht mehr zu helfen.“

Miguel ist so warm und weich wie immer. Und es ist so unglaublich, ihn wieder zu spüren.

„Ich krieg keine Luft“, flüstert er, umarmt mich allerdings ebenso fest, wie ich ihn umklammere. „Es tut mir leid, dass ich dir so weh getan hab.“

„Was für ein rührendes Happy End“, behauptet Becky spöttisch.

„Hast du auf ein anderes gehofft?“, fragt Jo. „Vielleicht mit dir in der Hauptrolle?“

Okay, sollen die sich doch von mir aus streiten, ich nehme meinen Engel mit in mein Zimmer.

„Was zum Geier machst du hier?“

„Ich konnte dich einfach nicht vergessen“, zuckt er die Schultern. „Du hast mir gefehlt, Sid.“

„Du hast mir auch gefehlt“, grinse ich dümmlich. „Wieso kommst du so spät?“

„Das erzähle ich dir nachher“, wispert er und wird fürchterlich rot. „Ich meine… ich… ähem… willst du mich nicht endlich küssen?“

Ich küsse ihn augenblicklich. Und höre die nächsten hundert Stunden auch nicht mehr damit auf. Ehrlich gesagt falle ich wie ein Raubtier über ihn her. Das liegt an der sehr langen Enthaltsamkeit, denke ich. Na ja, Miguel beschwert sich kein bisschen. Im Gegenteil. Er scheint es mindestens genauso dringend und unromantisch zu brauchen.

Gipfeltreffen

„Bist du gekommen, um deinen Sieg zu feiern?“

„Gabriel, du hast es immer noch nicht verstanden, oder?“, entgegnet Luzifer resigniert.

„Was gibt’s da zu verstehen? Du hast deinen Teufel, meinen Engel und jetzt willst du mich. In Ordnung“, nickt er und lässt sein Gewand zu Boden fallen, „tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich werde dir trotzdem niemals gehören.“

Einen Moment lang nimmt die Schönheit des Erzengels Luzifer gefangen. Sanft streicht er über seine Brust, seinen Bauch… dann hebt er langsam das Gewand auf und bedeckt Gabriels nackten Körper.

„Hab ich dich jemals gegen deinen Willen genommen?“, flüstert er und berührt die Wange des Engels. „Wann wirst du endlich vergessen, was passiert ist?“

„Sprich nicht davon. Nie wieder“, faucht Gabriel.

„Gott hat sie alle unter Feuer und Schwefel begraben.“

„Ja, nachdem sie mich…“

„Beinahe vergewaltigt hätten, ich weiß.“

„Gar nichts weißt du. Du bist nicht dort gewesen und musstest dieses ekelhafte, schmutzige, gewalttätige Treiben mit ansehen. Ihre Hände abwehren, die mich festhielten und überall anfassen wollten.“

„Hätte er mich mit dir gehen lassen, hätte dich niemand angefasst, mein Engel.“

„Willst du mich etwa nicht auf diese Art?“

„Ich will dich, weil ich dich liebe, Gabriel. Sodom und Gomorra war etwas völlig anderes.“

„Hat Gott die widerlichen Kerle bestraft oder nicht?“

„Für die Vergewaltigungen.“

„Und hat er dich nicht in die Hölle geschickt, weil…“

„Ich bin gegangen, weil ich deine ständige Zurückweisung nicht mehr ausgehalten habe“, stellt Luzifer fest. „Wie oft haben wir das schon durchgekaut? Und wann hast du angefangen, nur noch auf deine heiß geliebte Kirche zu hören anstatt auf Gott? Er hat nie gesagt, dass wir nicht zusammen sein dürfen.“

„Du bist doch bloß gegangen, weil du von mir nicht mehr das gekriegt hast, was du wolltest. Aber dafür hast du dich ja in deiner Hölle prächtig amüsiert.“

„Wenigstens bist du noch eifersüchtig“, lächelt der Teufel. „Vielleicht fällt dir ja auch irgendwann wieder ein, dass du mich noch liebst… und dass dir der Sex mit mir immer sehr gefallen hat.“

„Hat er nicht“, antwortet Gabriel beleidigt.

„Niemals?“

„Und wenn schon. Du hast ungefähr mit all deinen Angestellten geschlafen und behauptest, mich zu lieben.“

„Mit all meinen Angestellten, mh? Wo haste das denn her?“

Die Augen des Erzengels blitzen wütend. „Du bist in Sidney verknallt.“

„Nur ein bisschen. Und nicht so, dass dein Platz jemals in Gefahr gewesen wäre.“

„Kannst mir ja viel erzählen.“

„Immerhin habe ich eingesehen, dass er bei mir nicht glücklich ist. Deswegen hab ich ihn überhaupt erst raufgeschickt. Weil ich ihn gern habe und mir sein Wohlergehen am Herzen liegt. Du hättest deinen Engel bis in alle Ewigkeit leiden lassen und ihm eine Lüge nach der anderen aufgetischt. Das ist wirklich böse.“

„Wenn du deinem Teufel nicht den Auftrag erteilt hättest…“

„Ich hatte dir gesagt, dass du dich besser rausgehalten hättest, ja?“, unterbricht ihn Luzifer. „Andererseits… Sid und Miguel waren doch nur zu dämlich, sich im Leben zu begegnen und haben inzwischen oft genug bewiesen, dass sie zusammen gehören. Meinst du nicht?“

„Menschen sind so elendig schwach“, erwidert Gabriel verächtlich.

„Und aus dir ist ein kleiner Racheengel geworden. Bloß weil du dir verbietest, mich zu begehren.“

„Es dreht sich gar nicht alles nur um dich, Luzifer.“

„Ach nein? Wenn du mich nicht haben kannst, musst du mich bekämpfen, um wenigstens ab und zu in meiner Nähe sein zu können. So und nicht anders läuft es seit Jahrhunderten. Findest du nicht, es reicht langsam? Wie viele ahnungslose Seelen willst du noch in unsere Sache hineinziehen?“

Gabriel starrt auf den Boden. „Es wird nicht funktionieren“, sagt er leise. „Es hat damals schon nicht funktioniert. Hast du vergessen, dass wir andauernd gestritten haben?“

„Das war doch Kinderkram. Außerdem waren unsere Versöhnungen dafür unglaublich gut.“

„Geht so“, grinst der Erzengel verhalten.

„Ich helfe deinem Gedächtnis gerne etwas auf die Sprünge“, bietet Luzifer an, legt seine Hand in Gabriels Nacken und küsst ihn.

Miguel

Du meine Güte, ich hatte wirklich Herzklopfen bis unter die Schädeldecke, als ich nach fast acht Monaten wieder vor Sids Tür stand. Aber während Becky mich anbrüllte und Jonah kaum ein Wort herausbekam, hat Sid mich einfach umarmt und alles war gut. Ich hatte so Angst, dass er mich doch nicht mehr liebt oder einen Anderen hat oder mir gleich wieder die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Vor allem, als Becky mir vorwarf, was Sid alles durchgemacht hat… meinetwegen. Wie ich meine Abwesenheit einigermaßen einleuchtend erklären soll, weiß ich noch nicht, aber das wird sich irgendwie finden. Hauptsache, ich liege in Sids Armen.

„He, bei dir stimmt was nicht“, murmelt er irritiert und schnüffelt an meinem Hals. „Wieso riechst du nicht mehr nach Schnee?“

„Luzifer war bei mir.“

„Was wollte der denn schon wieder?“

„Hauptsächlich mit Gabriel streiten, glaub ich. Allerdings hat er mir auch angeboten, meine Seele zu kaufen, damit ich…“

„ER HAT WAS?“, krakelt Sid los.

„Angeboten meine Seele zu kaufen. Keine Angst, das war bloß einer von seinen nicht besonders lustigen Scherzen. Du kennst ihn ja.“

„Ja. Ich frag mich nur gerade, wie gut du ihn inzwischen kennst“, entgegnet er düster.

„Nicht SO gut, Sid. Nicht im biblischen Sinne, Blödmann. Denkst du, ich hab nichts Besseres zu tun, als im Himmel mit dem Teufel zu schlafen?“

„Ich traue Luzifer alles zu.“

„Und mir auch, oder wie?“

„Keine Ahnung. Du warst so lange weg…“

„Und jetzt bin ich wieder hier. Bei dir. Und dass ich nicht mehr nach Schnee rieche, liegt wohl daran, dass ich kein Engel mehr bin.“

„Wie bitte?“

„Ich bin wieder sterblich. Und Luzifer sagt, dass er dir dein Leben zurückgibt, wenn wir…“

„Ich will“, strahlt er umwerfend süß.

„Versprechen, dass wir aufeinander aufpassen und du nicht noch einmal so fahrlässig mit deinem Leben umgehst.“

„Dich heiraten.“

„Was?“, fragen wir gleichzeitig.

„Heißt das, ich muss irgendwann noch mal sterben?“, stöhnt er.

„Tut mir leid, aber für immer jung und schön wie ein Twilight-Vampir war nicht drin.“

„Ich hasse Twilight-Vampire. Wir können also wieder total normal vor uns hin leben?“, fragt er skeptisch.

„Hm-hm.“

„Ohne zu wissen, wann…“

„Dein Ex-Chef erklärte, dass wir sehr viele Jahre haben werden.“

„Cool. Wo ist der Haken?“

„Es gibt keinen.“

„Es gibt immer einen.“

„Ähem… wir müssen für immer und ewig zusammen bleiben?“, schlage ich vor.

„Verdammt!“, grinst er und küsst mich stürmisch. „Oh, danke, Gott.“

„Hä?“

Sid leckt sich die Lippen. „Du schmeckst immer noch nach Honig.“

Am nächsten Morgen bleibt mir ein unangenehmes Gespräch mit Jonah am Frühstückstisch nicht erspart.

„Okay“, beginnt er, „ich will mich gar nicht in eure Angelegenheiten mischen, aber ich wüsste gerne, was aus deinem Zimmer werden soll. Ich meine, Sid hat mir verboten, es zu vermieten und… also, wenn du jetzt für länger…“

„Es tut mir leid, dass ich einfach abgehauen bin. Das ist eigentlich nicht meine Art…“

„Weil du katholisch bist, mh?“, zwinkert er.

„Nee, weil das unhöflich ist. Ich kann’s dir auch nicht erklären, aber, glaub mir, ich hatte sehr, sehr wichtige Gründe. Es ging nicht anders. Und das Zimmer bezahle ich natürlich wieder.“

Ich hab zwar noch keine Ahnung, von welchem Geld, weil der Himmel für meinen Lebensunterhalt ja jetzt nicht mehr aufkommt… na ja, muss ich mir halt einen Job suchen. So wie jeder normale Mensch.

„Miguel, es geht nicht ums Geld, sondern darum, dass du plötzlich verschwunden warst und keiner wusste, was verdammt noch mal passiert ist. Aus Sid war auch nichts rauszukriegen.“

„Wie gesagt, es ging nicht anders.“

„Ich glaube nicht, dass du bei Becky damit durchkommst. Die hasst dich grad leidenschaftlich, was ich ein bisschen verstehen kann. Sid war in der ganzen Zeit echt ein Wrack.“

„Das war ich genauso.“ Außerdem glaube ich nicht, dass Becky mich hasst, weil ich weggegangen, sondern weil ich zurückgekommen bin, aber das sage ich ihm natürlich nicht.

„Okay, also… äh… willkommen zurück.“

„Danke, Jonah.“

Er nickt lächelnd und verabschiedet sich einstweilen, weil er zur Kita muss.

Sidney

Miguel ist wieder da. Ich kann’s immer noch kaum glauben. Genauso wenig wie die Tatsache, dass ich kein untoter Höllenangestellter mehr bin. Komischerweise fühle ich mich überhaupt nicht anders, deswegen suche ich heimlich doch nach einem Haken. Warte darauf, dass Luzifer erscheint, fies grinst und „April, April“ ruft.

„Hab ich dich jemals belogen, Kleiner?“

„ARGH“, kreische ich erschrocken.

„Ist mein Anblick dermaßen entsetzlich?“, lächelt der Ex-Chef.

„Kommt drauf an“, japse ich.

Luzifer lehnt sich lässig gegen die Ladentheke. „Der allgemeine Anstand gebietet es wohl, dass ich mich persönlich von meinem Lieblingsteufel verabschiede.“

„Dann ist es wirklich wahr?“

„Ich war so frei, euch dieses einmalige Geschenk zu bereiten.“

„Warum?“

„Kleiner“, seufzt er kopfschüttelnd, „kannst du dich nicht einfach nur freuen und bedanken? Du warst am Höllenfeuer nie gut aufgehoben. Ich hatte immer Angst, dass du es aus Versehen ausgehen lässt“, zwinkert er. „Übrigens habe ich mir des weiteren erlaubt, dir und Miguel ein Konto mit etwas… Startkapital einzurichten.“

„Äh…“

„Was? Wenn ich was mache, dann richtig. Allerdings… wenn du vorhast, die Kohle für Drogen, Alkohol und Partys auf den Kopf zu hauen, hole ich dich schneller in die Hölle zurück als du ’Bob ist mein Onkel’ sagen kannst. Das Leben ist etwas Kostbares, ich hoffe, du hast das inzwischen gelernt.“

„Hab ich“, versichere ich ihm.

„Tja, das war’s dann wohl.“

Mein Hals ist plötzlich wie zugeschnürt und meine Augen werden feucht. Ich hasse Abschiede!

„Werden wir…“

„Uns wieder sehen? Keine Ahnung. Vielleicht wenn du alt und gebrechlich an meiner Tür kratzt und ich dich nach oben schicke, weil ich weder auf alt noch auf gebrechlich stehe“, lacht er.

„Luzifer“, schluchze ich.

„Lass das! Deine Heulerei ist nicht angebracht, Kleiner. Du hast deine Freunde und deinen Ex-Engel. Das wolltest du doch, oder?“

Logisch. Ich muss mich aber trotzdem in seine Arme werfen. Ein letztes Mal seine Wärme spüren, seine weichen Haare durch meine Finger gleiten lassen.

„Du wirst mir fehlen, Sid“, flüstert er und gibt mir einen wahnsinnig zärtlichen Kuss. „Mach ihn glücklich, okay?!“ Er löst sich von mir… und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen.


„Wow… so will ich ab jetzt jeden Morgen geweckt werden“, erkläre ich ein bisschen außer Atem, aber irre entspannt.

„Davon träumst du wohl“, entgegnet Miguel, wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen und kuschelt sich an mich.

Na ja, Träume sind nicht verboten, oder? Ich kann mich allerdings, was Sex angeht, total nicht beschweren. Miguel ist seit seiner Rückkehr quasi… dauergeil. Er sagt, dass er im Himmel Zeit zum Nachdenken hatte und das lange Gespräch mit Luzifer ihm endgültig die Augen geöffnet hat. Er geht zwar immer noch in die Kirche, aber nicht mehr zur Beichte, weil er jetzt ganz sicher weiß, dass die Liebe zwischen zwei Männern eben keine Sünde ist, für die man irgendwann in der Hölle schmoren muss. Die Kirche hätte da wohl einiges falsch verstanden… Gott hat nämlich absolut nichts gegen Homosexualität. Hab ich das nicht schon immer gesagt?! Außerdem hat er trotzdem noch eine Menge zu lernen. Herbstfilme kennt er beispielsweise nicht. Charlie und die Schokoladenfabrik, Sleepy Hollow, Edward mit den Scherenhänden, From Hell… alles Filme, die man sich nur im Herbst und im Winter anschauen kann und, ja, ich habe eine Schwäche für Johnny Depp! Der absolute Herbstfilm ist logischerweise The Crow, aber ich hab mich noch nicht getraut, ihm den zu zeigen. Ich denke, Miguel ist noch nicht so weit, dass er Brandon Lee, der als Rächer aus dem Totenreich die Bösen um die Ecke bringt, toll finden wird. Ausgehen macht ihm auch noch nicht so total viel Spaß, aber wenigstens hab ich ihn schon dazu gebracht, mit mir zu tanzen. Tja, und ansonsten überlegt er jetzt erstmal, was er studieren will. Priester zu werden, hat sich ja nun völlig erledigt. Ich bin mit meinem Job in der Teufelsküche zufrieden. Hab auch wieder angefangen, Songs zu schreiben und, wer weiß, vielleicht suche ich mir demnächst eine neue Band… aber das eilt nicht. Luzifers Startkapital ist in Wahrheit ein kleines Vermögen, also brauchen wir uns finanziell die nächste Zeit keine Sorgen zu machen.

„Vermisst du ihn?“

„Hm?“

„Du denkst grad an Luzifer“, stellt Miguel fest.

„Hat er dir etwa beigebracht, Gedanken zu lesen?“

„Nein, aber du hast manchmal so einen bestimmten Gesichtsausdruck, wenn du an ihn denkst.“

„Vermisst du den Himmel?“

„Ich hab nicht mit dem Himmel geschlafen“, bemerkt er. „Und ich war nie in den Himmel verknallt.“

„Es ist gut, so wie es ist“, seufze ich glücklich. „Oder?“

„Absolut“, lächelt er und gibt mir einen ultra süßen Honigkuss.

Mal ehrlich… auch wenn Miguel keine Flügel hat, ein Engel ist er auf jeden Fall. Mein Engel!

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