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Schmuddelkind

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Inhaltsverzeichnis

 

„Spiel nicht mit den Waisenjungs,“ hat meine Mutter immer gesagt, „die stehlen, sind schmutzig und haben Läuse.“

Kein Wunder also, dass aus mir ein Arschloch geworden ist, oder? Ich meine, wenn man von Kindheit an eingetrichtert bekommt, dass Leute, die weniger Geld verdienen, auch weniger wert sind... Meine Schwester hat das nie geglaubt, sie war schon immer eine kleine Rebellin, wofür ich sie bewundere. Sie war es schließlich auch, die ihn sozusagen in mein Leben brachte. Und jetzt schlafen wir zusammen in einen fast abbruchreifen Haus. Nicht unbedingt der romantischste Ort auf Erden... aber, oh Mann, mit ihm ist es überall schön!

Generation Porno

Madita Roxana stand vor dem Spiegel im Bad und bürstete sorgfältig ihre schulterlangen, schwarz gefärbten Haare. Ihr Gesicht war bereits perfekt gothic-like geschminkt und sie trug ein enges Lackfähnchen.

„Wenn Mama und Papa dich so sehen könnten...“

Sie drehte sich zu mir um. „Ein Abziehbild der Erzeugerfront reicht doch völlig. Wenn ich nicht so aus der Art geschlagen wäre, wären wir ein Bilderbuch und keine Familie“, grinste sie. „Wann kommen deine… Freunde?“

„Seit wann interessierst du dich für meine Freunde?“

„Tu ich nicht. Will’s nur wissen, damit ich früh genug verschwinden kann.“

„Hast noch ein paar Minuten.“

„Okay, ich bleib heute bei Toni.“ Sie gab mir einen angedeuteten Kuss auf die Wange. „Treib’s nicht zu wild, Kleiner.“

Unsere Eltern waren günstigerweise übers Wochenende verreist und die geplante Party lief später am Abend auf Hochtouren. Ungefähr die Hälfte der Gäste war bereits ziemlich voll und wer noch stehen konnte, versuchte, irgendwen abzuschleppen.

„He, Rosenberg“, grinste Armin breit und legte kameradschaftlich seinen Arm um meine Schulter, „wie sieht’s aus? Noch keine flachgelegt oder was?“

„Arschloch“, säuselte ich.

Er deutete auf ein hübsches Mädchen mit roten Locken. „Zoe wartet auf dich, falls dir das entgangen sein sollte.“

„Zoe ist ’ne Klassefrau, die lässt sich nicht mal eben auf einer Party rumkriegen, wie die anderen Schlampen hier.“

„Ja, da is was dran. Aber weißte... ich danke Gott dafür, dass er ein paar Schlampen erschaffen hat. Übrigens solltest du dein Bett neu beziehen, bevor du dich reinlegst, mh?“

Etwas angeekelt schob ich seinen Arm weg. „Wer war’s denn?“

„Sandra. Damit bin ich um drei besser als du, Rosenberg. Was’n los... du schwächelst.“

Armin und ich hatten irgendwann mal diese blöde Wette aufgestellt, wer die meisten Weiber flachlegt. Eigentlich war es seine Idee gewesen. Armin dachte sich immer so’n Scheiß aus.

„Brauchte halt mal eine kleine Pause“, erklärte ich lahm.

„Quatsch. Du bist verschossen. Ist ja okay, ich meine, Zoe IST eine Klassefrau, aber darüber darf man doch die anderen Mädels nicht vernachlässigen.“ Er klopfte mir noch kurz auf den Rücken, dann stürzte er sich wieder ins Partygetümmel.

Ich ging nach oben, um das Ausmaß seiner kleinen Orgie mit Sandra zu begutachten. Armin war in der Beziehung ein echtes Schwein.

Als ich die Zimmertür öffnete, traf mich fast der Schlag. Da lümmelte jemand auf dem zerwühlten Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Das hätte mich nicht weiter gestört... wenn der Typ zur Party gehört hätte. Er sah allerdings nicht so aus, wie ein Mensch, den ich in mein Haus einladen würde.

„Ey, du Freak... geht’s noch?“, brüllte ich.

Der Typ schaute von seiner Lektüre auf und ich bemerkte jetzt, dass er sich eines meiner Pornomagazine geschnappt hatte.

„Stehst du auf den Muschi-Kram?“

„Hast du den Arsch auf?“

Er legte das Heft zur Seite. „Nee, wieso?“

„Wie zum Teufel bist du hier rein gekommen?“

„Durch die Tür.“

So langsam wurde ich sauer. Wollte der mich verarschen? Jetzt steckte der sich auch noch in aller Ruhe eine Zigarette an.

„Dita ist wohl nicht da“, bemerkte er.

„Welcher Dieter?“, fragte ich genervt.

„Madita.“

Logisch. Der passte hervorragend in den Freundeskreis meiner Schwester.

„Offensichtlich nicht.“

„Willst du dich nicht setzen? Aber Vorsicht, da sind Wichsflecken auf dem Laken. Nicht von mir.“

„Nein“, lächelte ich horrorartig, „ich will mich nicht setzen. Ich will, dass du verschwindest, Freak.“

„Ich heiße Schaaf, nicht Freak. Manche Leute nennen mich auch Chili. Allerdings erst, wenn ich es ihnen gestatte“, faselte er. „Und... ich gestatte es nur sehr wenigen Leuten.“

„Interessiert mich einen Scheiß, FREAK.“

„Ihr seid Zwillinge, sieht man euch nicht an. Dita ist eine Schönheit.“

Wollte er damit sagen, ich sei hässlich wie Sau?! Der sollte sich mal lieber selber anschauen. Schon die rattigen Haare... kurz geschnitten und zwischendrin filzige, kinnlange rote Strähnen. Der Friseur musste unter Drogen gestanden haben. Mann, und die Klamotten erst... enge schwarze Jeans mit gebleichten Flecken, die orangerot leuchteten, dunkler Wollpulli mit Löchern drin, hohe Doc’s bis zum Arsch und ein breiter Silbergürtel.

„Was glotzt’n?“

Ich erschrak ein wenig, weil ich ihn tatsächlich angeglotzt hatte. Aber bloß, weil ich so fassungslos über dieses dreiste Miststück war. Plötzlich erhob er sich geschmeidig.

„Tja, ich werd dann mal. Dita soll mich anrufen.“

„Ich bin nicht deine Scheiß-Sekretärin!“, schrie ich ihm wütend hinterher. Für mich war die Party gelaufen, besonders als Armin meinte, Zoe sei nach Hause gegangen.


„Hier stinkt’s wie im Pumakäfig,“ rümpfte Madita die Nase und ließ sich in meinen Hängekorbsessel plumpsen, „hast du’s gestern mit wem getrieben?“ Ihr Blick fiel auf das Pornoheft. „Nein, wie ich sehe, musstest du es dir mal wieder selber besorgen“, kicherte sie.

„Schieb gefälligst deinen Arsch aus meinem Zimmer“, grummelte ich. „Und lade deine Mutanten nicht hierher ein, wenn ich Freunde zu Besuch hab.“

„Hä?“

„Gestern saß so’n abgeranzter Freak auf meinem Bett. Der kann nur zu dir gehören.“

„Wie hat er denn ausgesehen?“, fragte sie und biss in eine Banane.

„Weiß ich doch nicht. Wie deine Schmuddelkinder aus’m Heim halt aussehen. Rotes Zeug auf dem Kopf... sollten vermutlich Haare darstellen.“

„Chili!“, kreischte sie, dass meine Ohren weh taten. „Oh... wow... der war hier? Ist ja geil.“

„Mach dir nicht ins Höschen, Roxy.“

„Blödarsch. Hat er was gesagt? Sollst du mir was ausrichten?“

„Er findet, du bist eine alte Nebelkrähe“, seufzte ich müde. Die völlig unangebrachten Schwärmereien meiner Schwester gingen mir gewaltig auf den Sack.

„Lass deine miese Laune nicht an mir aus, wenn du keine zum Bumsen findest“, fauchte sie und verließ das Zimmer.

Ich hatte in der Tat schon länger nicht mehr gebumst. Nicht, dass es an willigen Weibern mangelte, der Grund war ein anderer. Die Weiber langweilten mich, weil sie viel zu schnell auf dem Rücken lagen. Im Gegensatz zu Armin, der alles nagelte, war ich wählerisch. Und ich war wirklich ein bisschen in Zoe verliebt. Sie war schwer zu bekommen, das machte es interessant. Außerdem verstand ich mich ziemlich gut mit ihr, mochte ihre Lustigkeit und ihre Ansichten. Vielleicht war ich bereit für eine feste Beziehung?! Mit ihr konnte ich mir das durchaus vorstellen. Allerdings wusste ich nicht, wie Zoe darüber dachte. Sie mochte mich, kein Zweifel, sie flirtete auch mit mir, aber wir hatten uns noch nicht einmal geküsst. Jedenfalls nicht richtig. Darüber weiter nachzudenken konnte ich mir nicht erlauben. Ich musste schleunigst die Spuren des vergangenen Abends beseitigen. Logischerweise wussten meine Eltern, dass ich feierte, wenn sie weg waren, nur standen sie absolut nicht auf Unordnung. Also stellte ich mich kurz unter die Dusche, zog mich an und begann, in der unteren Etage allerhand Zeug weg zu räumen. Es dauerte bis zum Nachmittag und Mama und Papa hätten nicht eine Sekunde früher hereinkommen dürfen.

Ich persönlich fand meine Eltern immer total pflegeleicht. Wenn man vorgab, ihrer Meinung zu sein, schön tat, was sie sagten und sich in der Schule anstrengte, dann hatte man keine Probleme. Denn eines wollten sie sicher nicht: sich zu viel mit ihren Kindern befassen müssen. Madita hingegen war prinzipiell anderer Meinung, tat nur, was sie wollte, liebte Schulfächer, die, laut Elternfront, nutzlos für ihr späteres Leben waren (Kunst und Musik) und ihr Freundeskreis bestand aus Heimkindern, schwer Erziehbaren, Chaoten, Freaks.

Zuerst hatten sich die Eltern gezwungen gesehen, ihre fehlgeleitete Tochter auf den rechten Weg zurück zu bringen. Jedoch war ihnen das bald zu mühsam und sie ließen Madita gewähren. Madita fand auch das zum Kotzen. Ich glaube, sie sehnte sich nach ehrlich gemeinter Aufmerksamkeit und Interesse. Leider bekam sie beides nicht. Na ja, von mir schon, denn trotz unserer Gegensätze mochten wir uns total. Als Armin beispielsweise mal auf unschöne Art und Weise bei meiner Schwester landen wollte, polierte ich ihm danach die Fresse. Gewalt ist eigentlich nicht mein Ding, aber Madita musste schließlich beschützt werden. Und Armin hat mir seine blutige Visage nicht übel genommen... er hätte es genauso gemacht, sagte er hinterher. Allerdings hatte er bloß einen Bruder und dem wollte ich garantiert nicht an die Wäsche... nicht mal im Suff.

„Rosenberg”, begrüßte mich Armin an der Tür und ging voran in das geräumige Wohnzimmer. Anscheinend war seine Mutter nicht daheim, denn er trug lediglich Boxershorts und T-Shirt unter seinem offenen Bademantel und bediente sich an der Hausbar.

„Jim oder Jack?“

„Jack“, antwortete ich, und ließ mich auf der schwarzen Ledercouch nieder.

Armin gab mir das Glas und lümmelte sich gegenüber in den Sessel.

„Und, wie läuft’s?“

Ich zuckte die Schultern. Sein Handy klingelte. Er nahm es, verdrehte kurz die Augen und schaltete es aus. „Sandra“, erklärte er, „die Kleine denkt offenbar, ich gehe mit ihr oder so’n Scheiß. Bloß weil ich sie mal gevögelt hab. Ey, dass Weiber immer so anhänglich werden.“

„Ist doch klar, die sehen dich als potentiellen Versorger.“

Armin machte eine Kotzgeste. „Glaubst du, ich würde meine Kohle irgendeiner Bitch in den Rachen schieben?“

„Noch ist es nicht deine Kohle.“

„Noch einen Drink?“, grinste er und füllte mein Glas erneut.

Danach schaltete er den Fernseher ein. Zwei dicktittige Blondinen, die gemeinschaftlich einen Schwanz lutschten... ich hätte gar nicht hinsehen brauchen, Armin glotzte andauernd Pornos mit dicktittigen Blondinen. Eine Weile vertieften wir uns schweigend in den nicht besonders anspruchsvollen Streifen. Bis Armin plötzlich zu lachen anfing.

„Rosenberg, du hast ’ne Latte.“

„Das ist der Sinn beim Porno gucken“, entgegnete ich lässig und kippte den Jack Daniel’s auf Ex runter.

„Soll ich Zoe anrufen, damit sie sich darum kümmert?“, kicherte er.

„Warum kümmerst du dich nicht darum?“

Einen Augenblick starrte er mich irritiert an. „Lass stecken, Süßer, ich stehe nicht auf schwul. Aber möchtest du vielleicht über etwas reden? Hast dich heimlich in mich verknallt, was?“

Er spreizte unanständig die Beine und rieb seine Erektion.

„Spar dir deine Verführungskünste. Die Blondinen sind geiler als du.“

„Halt’s Maul, ich muss mich konzentrieren.“

Seine Hand bewegte sich mit bemerkenswerter Geschwindigkeit. Irgendwie regte mich das auf. Nicht, dass es mich scharf machte, schließlich war ich keine Schwuchtel, aber... na ja, es war wohl mehr so was wie sexueller Notstand, der mich dazu veranlasste, mir ebenfalls einen runterzuholen. Armin hatte noch nie Hemmungen gehabt, vor meinen Augen zu wichsen, ich dagegen war eher nicht ganz so gerne derart freizügig. Heute war mir das egal. Ich kam unglaublich heftig.

„Rosenberg, du brauchst dringend eine Frau“, schüttelte Armin den Kopf und schlenderte zur Hausbar. „Übrigens, wisch den Scheiß da weg, okay?!“

Oversexed, but underfucked

Seit knapp zwei Wochen ging mir Madita auf den Geist. Seit knapp zwei Wochen gab es nur noch ein Thema: Chili! Ich kannte den Freak inzwischen wahrscheinlich besser als mich selber. Seine Mutter war eine alkoholabhängige Pillenschnepfe, der man das Sorgerecht entzogen hatte, seinen Vater kannte niemand. Chili war abwechselnd in Heimen und Pflegefamilien aufgewachsen und nachdem es in der letzten nicht geklappt hatte, wohnte er seit einiger Zeit wieder im Heim.

„Der hat’s echt schwer gehabt“, sagte Madita traurig. „Aber ist er nicht unheimlich süß?“

„Wenn man Mutanten geil findet“, grummelte ich.

„Du versnobtes Arschgesicht“, brüllte sie und trat leicht nach mir.

„Nebelkrähe.“

„Ich mag ihn zufällig, ja? Sehr sogar.“

„Und er?“, tat ich interessiert.

„Keine Ahnung,“ zuckte sie die Schultern und knibbelte am Verschluss ihrer Wasserflasche, „glaub schon. Nur, ob er sich in mich verlieben könnte...“

„Er bezeichnete dich als Schönheit.“

Ihre Augen strahlten und ihre Wangen wurden ein bisschen rot. „Hm...“

„Und jetzt verschwinde, ich muss Mathe machen.“

„Streber“, lächelte sie und ging.

Nach ungefähr einer Stunde Lernerei verspürte ich ein dringendes Hungergefühl und ging in die Küche runter. Und wer glotzte da wohl grad in unseren Kühlschrank?!

„Geben sie dir im Heim nichts zu essen, Freak?“

Er nahm sich einen Karamellpudding und setzte sich an den Tisch. „Bloß Wasser und Brot.“

„Aha“, sagte ich und setzte mich mit meinem Vanillepudding ebenfalls.

„Das war ein Scherz.“

„Sehr lustig.“

„Bist du immer so steif?“

Wie bitte?? Reflexartig warf ich einen verstohlenen Blick auf meinen Schritt. „Hä?“

„Na, deine ganze Haltung... dieses fast schon zwanghafte gerade Sitzen, als hättest du einen Stock verschluckt. Tut das nicht weh?“

„Sieht das so aus?“

„Absolut“, lachte er. „Ich wette, du warst in deinem ganzen Leben noch nicht einmal richtig entspannt.“

„Meine Entspannung geht dich doch einen Dreck an“, zischte ich wütend und stand auf.

„Hast du nachher schon was vor?“

Ich musste mich verhört haben.

„Ich gehe ins Kino. Lust, mitzukommen?“

„Entschuldige, aber hab ich was nicht mitgekriegt? Sind wir befreundet? Gebe ich mich plötzlich mit Freaks ab? Kino..“, schnaufte ich, „bist du irgendwie schwul oder brauchst du nur jemanden, der den Eintritt zahlt?“

„Ein einfaches Ja oder Nein hätte genügt.“

„Nein, du Penner. Warum fragst du nicht meine Schwester? Die hat ein Herz für Straßenköter.“

„Das schon, allerdings glaube ich nicht, dass sie... äh... diese Art von Filmen mag.“

Er kritzelte etwas auf die Einkaufsliste, die am Kühlschrank hing. „Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst.“

Der Typ war irre. Völlig durchgeknallt. Ich dachte nicht im Traum daran, den anzurufen.

Ich rief Zoe an, zwecks Abendgestaltung. Die traf sich jedoch mit ihren Freundinnen. Armin bumste eine Schnalle. Ein paar Freunde wollten sich bei Micha zum x-ten Mal „Blade“ anschauen. Und Madita war zu ihrer Busenfreundin Toni gegangen. Großartig!! Also entweder allein zu Hause bleiben oder... nein, das würde ich nicht tun. Ich würde mir nicht die Blöße geben, aus lauter Verzweiflung und Langeweile meine Zeit mit einem Freak zu vergeuden. Ich riss seine Telefonnummer von der Liste und warf sie in den Mülleimer.

Eine halbe Stunde später stand Chili vor der Tür. Ich war fassungslos.

„Wollte mal sehen, ob du deine Meinung geändert hast.“

„Hab ich dich angerufen?“

Er strubbelte sich kurz durch die Haare. „Weiß nicht. Hast du?“

„Nein“, antwortete ich finster.

„Kommst du trotzdem mit, Valentin Konstantin?“

„Also schön“, gab ich mich geschlagen. Warum, war mir schleierhaft. Zumal ich jeden hasste, der mich mit vollständigen Namen anredete.

„Das ist nicht der Weg zum Kino“, fiel mir unterwegs auf. Wir hatten beschlossen zu laufen, obwohl es mir unangenehm war, mit ihm auf der Straße gesehen zu werden.

„Vielleicht nicht zu den Kinos, die du kennst“, entgegnete er geheimnisvoll.

Aus der Tasche seiner Lederjacke lugte ein Popcornschlauch. Ich bereute, mich auf das hier eingelassen zu haben.

Die Gegend wurde dreckiger und mieser. Vereinzelt standen Weiber an der Straße, die offensichtlich auf Freier warteten. Chili steuerte ein Schaufenster an.

„Geile Schlampen – durchgefickt und mit Sperma abgefüllt. Klingt doch gut, oder?“

Der schleppte mich in ein verdammtes Pornokino... ich hielt’s im Kopf nicht aus.

„Vergiss es. Wenn ich so was sehen will, kann ich auch zu Hause bleiben.“ Oder Armin besuchen, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Das hier ist lustiger“, behauptete der Wahnsinnige und bevor ich wusste, wie mir geschah, hatten wir bezahlt und suchten in der Dunkelheit zwei Plätze.

Besonders voll war es nicht, ein paar arme Säue, die es nötig hatten. Der Film lief bereits, lautes Stöhnen, Schmatzen und Schlecken dröhnte in meinen Ohren. Chili zog seine Jacke aus, lümmelte sich in den Sitz, legte seine Füße auf die Lehne vor ihm und begann, Popcorn in sich reinzustopfen. Schon wieder war ich fassungslos. Und irgendwie fand ich die Aktion bescheuert... und ein kleines bisschen cool.

„Gefällt dir der Film?“

„Hab schon bessere gesehen.“

„Magst du Popcorn?“, fragte er und hielt mir die schmale Tüte hin.

„Okay“, sagte ich und griff hinein. „Machst du das öfter?“

„Ab und zu.“

„Warum?“

„Weil das hier echt ist, verstehste?“

„Nee“, gab ich zu.

„Die nackte, obszöne Wirklichkeit. Ich finde es spannend zu sehen, was für Kerle herkommen.“

„Kommen ist ein gutes Stichwort. Ich glaub, der dahinten hat’s gleich geschafft.“

Ein murmeliges Grunzen war zu vernehmen. Chili klatschte spontan Beifall. Kurz darauf schlich ein Kerl mit gesenktem Kopf hinaus.

„Ganz dicht bist du nicht, oder?“

„Was denkst du, hat der für ein Leben?“

„Jedenfalls kein sehr ausgefülltes. Wahrscheinlich hat er einen Job ohne Verantwortung und eine frigide Frau. Oder er wohnt noch bei Mutti.“

„Gar nicht mal schlecht für den Anfang“, lobte er. „Was, wenn er einfach nur auf ungewöhnliche Orte steht?“

„Dann hätte er nicht allein an sich rumgespielt. Der Typ hat Angst vor Frauen... der traut sich nicht mal zu ’ner Nutte.“

„Und seine Mutter hat ihn bestimmt bis zur Volljährigkeit gebadet“, nickte Chili.

„Ist es das, was dich aufgeilt? Die Armseligkeit anderer Leute?“

Er schüttelte den Kopf. „Nee, mich interessiert mehr der psychologische Aspekt.“

„Aber den kannst du dir bloß zusammenphantasieren. Was hast du davon, wenn du mit den Kerlen nicht redest?“

„Schon, aber die meisten Kerle sind auch leider nicht zum reden hier. Du bist die Ausnahme. Warum macht dich der Film eigentlich nicht scharf? Von einem, der Tittenhefte neben seinem Bett liegen hat, hätte ich was anderes erwartet.“

„Wichsen in der Öffentlichkeit ist nicht so meins.“

„Sieht doch keiner“, zuckte er die Schultern. „Und wegen mir musst du dich nicht zurückhalten.“

„Danke, ich kann mich beherrschen.“

„Lass uns was essen, ich hab Hunger.“

Eine halbe Stunde später hockten wir in einem Fast-Food-Schuppen. Mir war unglaublich peinlich zumute. Normalerweise bestellte ich Essen. Unbehaglich wischte ich mit einem Papiertuch über meine Seite des Tisches, während Chili seine Pommes in den Vanilleshake tunkte, bevor er sie aß.

„Warum guckst du dich andauernd um? Hast Angst, mit mir gesehen zu werden, mh?“

In der Tat! „Meine Freunde verkehren nicht in derartigen Läden.“

„Dita hatte Recht. Du bist ein elitärer Bengel, der auf alles und jeden herabschaut.“

„Stimmt nicht“, log ich. „Immerhin gebe ich mich ja wohl mit dir ab.“

„Dafür soll ich jetzt sicher dankbar sein.“

„Du hast mich gefragt. Was soll also das ätzende Gefasel?“

„Gehen bei euch immer solche Schweinereien ab, wenn Mama und Papa nicht da sind? Ich meine, besteht euer ganzer Lebensinhalt darin, besoffen über irgendwelche Weiber drüber zu rutschen?“

„Wenigstens weiß ich, wer meine Eltern sind.“

Ich an seiner Stelle hätte mir für diesen Satz ins Gesicht gespuckt, Chili hingegen blieb völlig gelassen.

„Ich kenne nur meine Mutter. Sie ist keine besonders verantwortungsvolle Person. Mit sechzehn schwanger von Gott weiß wem, Drogen, Alkohol... was will man da erwarten?!“

Okay, ein bisschen tat er mir schon Leid. „Was war mit den Pflegefamilien?“

„Hab in keine reingepasst. Ein Punk ist nichts, was man stolz vorzeigt, sondern wieder ins Heim zurück bringt.“

„Na ja, dich hat sicher niemand gezwungen, so abgerissen rumzulaufen.“

„Mir gefällt’s aber zufällig. Übrigens finde ich deine Klamotten auch scheiße“, zuckte er grinsend die Schultern.

„Die waren sauteuer.“

„Das glaub ich dir aufs Wort.“


Nach dem tollen Kinoabend war Chili bei uns anscheinend eine Art Dauergast. Also er war selbstverständlich Maditas Gast, nicht meiner. Die Eltern waren mit anderen Dingen beschäftigt, vermutlich bekamen sie gar nicht mit, dass der Freak bei uns rumlungerte. Meine Mutter hatte grad die Neueröffnung ihres Schmuckgeschäfts um die Ohren und mein Vater war eh in erster Linie mit seiner Firma verheiratet. Mir war das alles reichlich egal, denn ein Date mit meiner Traumfrau stand bevor. Und irgendwie wollte ich heute unbedingt bei Zoe landen. Beziehungstechnisch und... sexuell. Was Letzteres betraf war ich echt ausgehungert.

Deshalb hatte ich auch nicht vor, Zoe ins Kino oder zum Essen einzuladen, sondern verschaffte meinem Zimmer eine romantische Atmosphäre. Kerzen, leise Musik und einen angenehmen Räucherstäbchenduft. Keine verstreuten Rosenblüten und kein Alkohol... das wäre zuviel gewesen. Zoe sollte sich wohl und entspannt fühlen, nicht den Eindruck haben, dass ich versuchte, sie rumzukriegen. Die Kondome lagen in der Schränkchenschublade neben dem Bett versteckt, aber griffbereit. Mich selbst hatte ich auf charmanten Herzensbrecher gestylt. Lässige Jeans mit einem edlen Oberteil kombiniert, Haare ordentlich gefönt und mit einem Hauch Wachs zurechtgezupft.

„Wow, was soll denn hier abgehen?“ Madita stand in der Tür und glotzte mich an.

„Gar nichts“, brummelte ich. „Zoe kommt gleich vorbei und es wäre nett, wenn du dann nicht einfach in mein Zimmer platzen würdest. Das gilt übrigens auch für deinen Straßenköter... falls der sich schon wieder hier rumtreiben sollte.“

„Er heißt Chili und, ja, vielleicht kommt er auch gleich noch vorbei. Allerdings haben wir sicher besseres zu tun, als in deine peinliche Verführungsszene zu stolpern“, erklärte sie und knallte die Tür zu.

Kurze Zeit später kam Zoe und sah unbeschreiblich gut aus. Gar nicht mal besonders spektakulär sexy angezogen, das brauchte sie nicht. Zoe war von Natur aus schön und begehrenswert.

„So, was hast du denn mit mir vor?“, lächelte sie.

„Wie... was soll ich denn vorhaben?“

„Na ja, du willst nicht ausgehen, oder?“

„Ach so, nee. Ich dachte, wir könnten einfach mal ein bisschen quatschen.“

Sie setzte sich bequem aufs Bett. „Und dafür brauchen wir Kerzenlicht und schummrige Hintergrundmusik?“

„Ich kann auch das Licht anmachen, wenn dir das lieber ist“, entgegnete ich frostig.

„Nein, nein... ich mag Kerzen. Wirklich, Valentin. Ich dachte nur, als ich grad reinkam, du hättest vor, mich zu verführen oder so was.“

Ich setzte mich neben sie. Aber nicht zu dicht. „Wäre das so schrecklich?“

„Schrecklich ist das falsche Wort.“

„Okay, welches wäre passender?“

„Du und Armin... glaubst du, es wüsste niemand von eurer kleinen Wette?“

Oh, shit!!

„Die hat sich längst erledigt. Armin hat haushoch gewonnen. Nicht, weil es für mich keine Gelegenheiten gegeben hätte, sondern...“

„Sondern?“

„Sex ohne Liebe ist nicht mehr mein Ding“, phantasierte ich mir zusammen und versuchte, nicht in ihren Ausschnitt zu starren.

„Da bin ich aber froh... meins nämlich auch nicht. Und Liebe geht nicht mal eben so schnell.“

Verdammt! Ich sah mich schon wieder unbefriedigt ins Bett gehen.

„Ich mag dich, Zoe. Bei dir hab ich immer das Gefühl, ich könnte dir alles sagen und anvertrauen.“

„Ich mag dich auch, Valentin. Das wirst du hoffentlich gemerkt haben.“

„Möchtest du was trinken?“ Vielleicht war Alkohol doch keine schlechte Idee.

„Gerne.“

„Und was darf ich der Lady bringen?“

„Ein Glas Saft wäre nett.“

„Kommt sofort“, grinste ich tapfer und überlegte, ob ich ihr Getränk heimlich mit Wodka aufpeppen sollte, ließ es jedoch bleiben.

„Sag mal... dieser komische Punk... der mit den roten Haaren...“

„Chili?“

„Keine Ahnung, wie der heißt, aber der hängt immer mit deiner Schwester rum. Sind die beiden zusammen?“

Die Frage sollte vermutlich beiläufig klingen, tat sie allerdings nicht. Das machte mich nervös.

„Kann ich echt nicht sagen. Madita bequatscht ihr Liebesleben selten mit mir“, log ich. „Glaub aber schon, dass da was läuft. Warum?“

Zoe senkte ein wenig den Kopf. „Nur so.“

Leck mich am Arsch, nur so! Sie war offensichtlich scharf auf den Typen und ich begann wirklich, ihn zu hassen. Was hatte so ein versiffter Freak, was ich nicht hatte? Abgerissene Klamotten und eine rattige Frisur? Darauf sollte meine Traumfrau stehen? Ich hätte ihn gerne gekillt.

„Chili ist ein Penner. Total krank im Kopf.“

„Ach ja?“, sagte sie verwundert.

„Geht regelmäßig ins Pornokino und so. Abartig.“

„Warum lässt du so jemanden mit deiner Schwester... ich meine, hast du keine Angst, dass ihr wehgetan wird?“ Ihre Stimme klang fassungslos.

„Madita kann auf sich selber aufpassen“, beruhigte ich sie.

„Na, dann ist ja alles in bester Ordnung.“ Jetzt klang ihre Stimme sogar ein wenig schrill.

„Lass uns doch nicht über so unwichtige Sachen wie Maditas Beziehung zu diesem Schmuddelkind reden“, säuselte ich und rückte näher an sie heran. Vorsichtig ergriff ich Zoes Hand.

Sie schob aggressiv meine Flosse beiseite und stand auf. „Kümmern dich eigentlich noch andere Leute als Valentin Konstantin Rosenberg? Bin ich froh, dass du nicht mein Bruder bist. Gib mir meine Jacke, ich möchte jetzt bitte gehen.“

Äh... hatte ich irgendwas verpasst? Wieso flippte die Tussi dermaßen aus?

„Zoe... komm schon...“

Sie kam nicht. Sie ging. Und ließ mich ziemlich entgeistert, ratlos und frustriert zurück.


In meinem Schädel stürmte es orkanartig. Meine Augen bekam ich erst beim vierten Versuch richtig auf. Ein abgestanden pelziger Geschmack verpestete meinen Mundraum. Nach dem misslungenen Date mit Zoe hatte ich mir die Kante gegeben, was ich momentan sehr bereute.

Unsicheren Schrittes tapste ich ins Bad, um zu pinkeln, und mir war verflucht egal, dass Madita grad unter der Dusche stand. Normalerweise warteten wir brav ab, bis der andere fertig war, heute war mein Drang stärker. Gehässig betätigte ich die Klospülung... ein Schrei brachte meinen Schädel fast zum Zerspringen. Der Schrei hatte nicht nach Madita geklungen. Sollte etwa...? Wütend riss ich die halb durchsichtige Tür auf.

„Morgen“, grinste der Straßenköter.

Der war gar nicht mal so schmächtig gebaut, wie er angezogen wirkte. Keine Ahnung, warum mir das überhaupt auffiel. Möglicherweise das instinktive Abchecken, ob man selber mithalten konnte. Seine Oberarme waren zwar muskulös, aber nicht übertrieben. Der Bauch hatte eine niedliche Wölbung, sah allerdings trotzdem fest aus. Sein Schwanz... na ja, meiner war größer. Ganz sicher.

„Willst du reinkommen?“

„Wie bitte?“

„Du starrst mich so an.“

„Ich hatte mit Madita gerechnet.“

„Aha. Duscht ihr denn für gewöhnlich zusammen?“

„Natürlich nicht, du Vollpfosten“, regte ich mich auf. Warum zum Henker war der eigentlich so freizügig? Er hätte sich doch umdrehen oder irgendwie bedecken können. Besonders seine verdammte Erektion. Ich musste fast kotzen. Wehe, der wichste in meine Dusche. Allein die Vorstellung war ekelhaft bis an die Schmerzgrenze.

„Du entschuldigst?“ Bums, war die Tür zu. „Bin gleich fertig.“

„Super“, murmelte ich und schlich ins Bett zurück. Weiß der Geier, was mich derart geil gemacht hatte, dass ich mir einen runterholte. Zoes Gezicke gestern sicher nicht. Und der nackte Freak nebenan schon gar nicht.


Der erste Schultag nach den Ferien war gleich zum Abgewöhnen. Morgens um sieben aufstehen... wer brauchte das?! Leider waren meine Eltern nicht der Meinung, dass es ausreichte, von Beruf Sohn zu sein. Abi und Studium waren Pflicht. Am besten Jura oder Medizin. Ich hatte auf beides keinen Bock. Wenn die Tochter schon so was Unnützes wie Kunst studieren wollte, sollte wenigstens ich später einen Beruf haben, bei dem ich Kohle scheffeln konnte. Meine Mutter sah mich bereits als Schönheitschirurg mit eigener Klinik.

Ich hingegen sah mich auf einer Insel Schirmchendrinks schlürfen.

An unserer Schule herrschten amerikanische Verhältnisse: Der Pausenhof war strikt in arm und reich getrennt. Kein Freak oder Loser hätte sich gewagt, einen Fuß auf unsere Seite zu setzen. Umgekehrt genauso. Madita war die Ausnahme.

„Rosenberg, deine Schwester zerstört total den guten Ruf der Familie“, bemerkte Armin.

„Du bist doch bloß sauer, weil du bei ihr nicht landen kannst. Sie will dich nicht und ich poliere dir die Fresse, wenn du’s noch mal versuchst.“

„Wie läuft’ mit Zoe?“

Finster blickte ich zur Traumfrau rüber, die mir ihren Freundinnen in der Sonne saß. „Phantastisch.“

„Hat dich nicht rangelassen, mh?“

„Und wenn schon. Gibt genügend andere Weiber.“

„Endlich wirst du wieder normal“, strahlte er. „Der verliebte Romantiker steht dir eh nicht.“

„Ja ja.“ Irgendwie ging mir sein Gelaber heute reichlich auf den Sack.

„Um kurz auf deine Schwester zurückzukommen... dass sie auf Mutanten steht, ist ja nicht neu, aber sich mit Schwuchteln einzulassen geht so mega überhaupt nicht. Solltest mal mit ihr reden.“

Mein Kopf schnellte nach oben. „Was ist los? Wer ist schwul?“

„Na, der Freak, mit dem sie neuerdings rumhängt.“

„Woher weißt du das?“

„Mensch, Rosenberg, bist du blind und kriegst vor lauter Zoe-Verknalltheit nix mit? Der Typ ist ein Schwanzlutscher und lässt sich in den Arsch ficken.“

„Nicht jeder Mutant ist ein Homo.“

„Der schon. Ich hab letztens mit der kleinen Schnalle aus’m Büro gebumst und die hat mir erzählt, warum er hier ist.“

„Ja, und?“

„Ist von der Schule geflogen, weil er’s mit ’nem Lehrer getrieben hat.“

Arme Madita... das wusste sie bestimmt nicht. Ach du Scheiße, und ich war mit ihm ins Kino gegangen! Zum Glück nicht in ein Schwuchtelkino. Widerlich. Ob der heimlich scharf auf mich war, oder warum hatte er sich sonst mit mir verabredet? Mir wurde plötzlich schlecht. Und wenn der mich noch ein einziges Mal ansprach, würde ich ihm aufs Maul hauen.

„So ein perverser Typ geht bei euch ein und aus“, stellte Armin fest. „Ich an deiner Stelle würde sehr auf meinen Arsch aufpassen“, grinste er und schlenderte Richtung Schulgebäude, weil es bereits vor ein paar Minuten geklingelt hatte.

Der Unterricht war leider nicht so günstig aufgeteilt und so kam es, dass Chili in Englisch fast neben mir saß. Ich rückte sicherheitshalber noch drei Plätze weiter weg. Ehrlich gesagt sah man ihm die Schwuchtel nicht an. Er war weder auffallend feminin, noch tuckig, noch sonst was. Die Klamotten waren ätzend, aber nicht schwul. Grinsend überlegte ich, dass Armin gestylt manchmal erheblich schwuchteliger wirkte als der Freak.

Nach der Schule schnappte ich mir Zoe. Sie hatte den ganzen Tag nicht ein Wort mit mir gesprochen und ich wollte gerne den Grund erfahren. Zuerst spielte sie die Zicke, aber als ich ihr versicherte, ein Auge auf Maditas Beziehung zu Chili zu werfen, wurde sie freundlicher.

„Es ist nur,“ sagte sie, „na ja, wenn ich einen Bruder hätte, würde ich mir wünschen, dass er ein bisschen auf mich aufpasst, verstehst du?“

Ich verstand nicht, nickte jedoch und beschloss, dass Mädchen wahrscheinlich wahnsinnig waren.

„Tut mir Leid, dass ich so ausgerastet bin“, entschuldigte sie sich zerknirscht.

„Wollen wir am Samstag was machen?“

„Geht nicht, da bin ich schon verabredet.“

„Okay, wer ist der Kerl?“, scherzte ich.

„Weiberabend“, lächelte sie. „Männer verboten.“

„Und wann sehen wir uns?“

„Wir sehen uns gerade.“

„Komm schon, Zoe, du weißt, was ich meine.“

„Ich ruf dich an“, entgegnete sie und gab mir einen schnellen Kuss auf die Wange. Immerhin etwas!

Am Nachmittag stand Chili auf der Matte.

„Hey, Valentin Konstantin...“

„Was willst du?“

„Zu deiner Schwester. Ist sie da?“

Der Typ hatte Nerven. „Ich rate dir, dich von Madita fern zu halten.“

„Aha. Und warum?“

„Weil du eine verdammte Schwuchtel bist“, brüllte ich ihm ins Gesicht. „Also verpiss dich.“

„Erstens geht es dich einen Dreck an, was ich bin. Und zweitens bin ich mit Madita verabredet. Also spar dir deinen Temperamentausbruch, sonst platzt dir vor Anstrengung noch eine Ader im Kopf.“

„Dann stimmt es wirklich.“

„Was?“

„Du lässt dich von Kerlen ficken.“

„Nee.“ Er kam einen Schritt näher. „Ich ficke die Kerle... das ist viel geiler. Was ist? Haste Bock drauf?“

Entsetzt sprang ich zur Seite. „Du Sau, fass mich nicht an!“

Der Penner lachte sich kaputt, als er an mir vorbei ging. Ich war in Mordlaune und stürmte ihm hinterher in Maditas Zimmer.

„Der Arsch fickt Kerle“, schrie ich.

„Fühlst du dich nicht wohl?“, fragte Madita irritiert.

„Hast du gehört? Der ist’n Homo und wenn er dir schöne Augen macht, dann bloß, um dich zu verarschen.“

„Woher weißt du das überhaupt?“

„Völlig egal“, regte ich mich auf.

Sie wendete sich an Chili. „Hast du ihm das gesagt?“

„Nee“, lachte er.

„Er hat es doch zugegeben“, erklärte ich verzweifelt.

„Valentin.“

„Was?“

„Geh raus und mach die Tür zu“, forderte Madita.

War ich eigentlich hier der einzig Normale?! Bitte, sollte sie von mir aus bei der Schwuchtel auf die Fresse fliegen. Ich würde ihr nicht aufhelfen.

Einen Tag später kam Madita in mein Zimmer gestiefelt.

„Okay, was war das gestern?“, fragte sie, setzte sich aufs Bett, schlug die Beine übereinander und schaute mich erwartungsvoll an.

„Dein Traumboy ist schwul. Er war es gestern, ist es heute und vermutlich wird er morgen nicht damit aufhören.“

„Hast du damit etwa ein Problem?“

„Natürlich hab ich das“, antwortete ich entgeistert. „Erstens ist das ekelhaft und zweitens, warum macht er sich an dich ran? Du bist ein Mädchen.“

Madita rieb sich angestrengt die Schläfen. „Jungs und Mädchen können befreundet sein, stell dir vor, ganz ohne Sex. Und wenn du Homosexualität ekelhaft findest, tust du mir Leid. Ich weiß, dass du intolerant bist, aber für so intolerant hätte ich dich nicht gehalten, Valentin.“

„Entschuldige, dass ich nicht auf Kerle stehe.“

„Darum geht’s überhaupt nicht. Du hast beschissene Vorurteile und nicht die geringste Ahnung. Plapperst einfach nach, was dir deine bekloppten Freunde eintrichtern, ohne mal selber nachzudenken. Hast du keine eigene Meinung?“

„Schwuchteln sind widerlich... das ist meine Meinung“, zuckte ich die Schultern.

Madita bekam rote Flecke im Gesicht. Die bekam sie immer, wenn sie sich über etwas sehr aufregte. „Und was genau ist an Schwulen widerlich, mh?“

„Überleg mal, was die im Bett treiben“, schlug ich vor.

„Hab ich. Mehrfach. Ehrlich gesagt, finde ich das ziemlich heiß“, grinste sie.

„Mir wird gleich schlecht.“

„Kerle ziehen sich doch auch gerne Lesbenpornos rein.“

„Das ist ja wohl was anderes.“

„Ist es nicht“, schüttelte sie den Kopf. „Hast du schon mal zwei Emoboys knutschen sehen?“

Darauf erwartete sie doch hoffentlich keine Antwort!

„Das ist aber schade.“ Damit stand sie auf und ging.

Emoboys... was war das nun wieder? Wieso dachte ich darüber nach? Was hatte ich mit Maditas Abartigkeiten zu schaffen? Da ich gerade am Computer saß und meine Mails eben gecheckt hatte, gab ich einfach mal den Begriff ein und... wurde fast erschlagen mit Ergebnissen. Die erste Seite, die ich anklickte, stieß mich sofort schon ab. Zwei schmächtige Typen mit schwarzen, verstrubbelten Haaren und Pony im Gesicht, Totenkopf/Sternchen-Kapuzenjacken und schwarz lackierten Fingernägeln schleckten einander ab. Gelangweilt klickte ich mich weiter durch die tausend Bilder. Die Typen sahen alle gleich aus, manche waren obenrum nackt, manche lagen aufeinander, einige züngelten bloß, andere knutschten richtig. DAS machte meine Schwester also scharf. Ach du Heimatland. Während ich angewidert die küssenden Arschgeigen betrachtete, passierte plötzlich etwas total Eigenartiges. Ich kriegte, ohne dass ich’s wollte, einen Ständer. Ja, was sollte das denn bitte?! Ich war offensichtlich in ein paar Minuten schwer geisteskrank geworden. Ein paar Minuten traf es allerdings nicht so ganz. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich seit ungefähr einer Stunde... äh... haha, wie doch die Zeit verging. Na gut, ich konnte mir unmöglich auf Knutsch-Typen einen runterholen, deshalb nahm ich eine kalte Dusche und hoffte, dass meine geistige Verwirrung genauso schnell verschwinden würde wie meine völlig unangebrachte Geilheit.


„Ich wusste gar nicht, dass du auf Emojungs stehst“, säuselte es leise in mein Ohr.

Reflexartig klickte ich die beiden Knutschenden weg, bekam ein schlechtes Gewissen, fühlte mich ertappt und fiel vor Schreck beinahe vom Stuhl. Chili, der sich offenbar ziemlich unbemerkt angeschlichen hatte, kicherte blöde.

„Stehe ich nicht“, stellte ich klar. „Wollte nur mal wissen, worauf meine Schwester neuerdings so abfährt. Das ist ja ekelhaft.“

„Sehr richtig“, bestätigte er übertrieben, weswegen ich ihm nicht glaubte.

„Du bist doch schwul“, fiel mir ein.

„Stimmt, das hätte ich glatt vergessen“, lachte er.

Da... er hatte es schon wieder zugegeben. Einfach so. Ungeheuerlich! „Bist du etwa stolz darauf?“

„Stolz ist ein wahnsinnig übertriebenes Wort“, seufzte er und warf sich aufs Bett. „Ich hab mir das nicht ausgesucht, aber ändern würde ich es auch nicht wollen.“

„Schon mal über eine Therapie nachgedacht?“

„Nee, und selbst?“

„Bin ich schwul?“

„Keine Ahnung. Bist du’s?“

„Natürlich nicht“, regte ich mich auf.

„Deine Freunde würden sicher was anderes sagen, wenn sie wüssten, womit du deine Freizeit verbringst.“

Penner. Wollte er mich erpressen, oder so’n Scheiß? „Willst du mich erpressen?“

Er schüttelte den Kopf. „Wie sieht’s aus... gehst du am Wochenende mit mir weg?“

Äh... wie bitte?! „Auf keinen Fall. Und wenn du mich anbaggern willst...“

„Du bist doch überhaupt nicht mein Typ“, unterbrach er mich.

Was sollte das denn heißen? War ich nicht gut aussehend und sexy genug? Dämlicher Sack!

„Wieso dann ausgehen?“

„Weil ich denke, dass es dir gefallen würde.“

„So wie das Pornokino, mh? Warum eigentlich kein Schwuchteliges? Immerhin stehst du auf Schwänze.“

„Du hättest nicht mal den großen Zeh in was Schwuchteliges gesteckt, oder?“

„Allerdings nicht.“

„Also... Samstag? Ich hol dich ab.“

Aus welchem Grund ich bei ihm nicht Nein sagen konnte, war mir extrem schleierhaft.

Als Chili gegangen war, glotze ich mir ein paar Bildchen an, holte mir einen runter und hatte anschließend schlimme Magenschmerzen. Außerdem gab ich mir selber mindestens eine Woche Internet-Verbot. Das sollte reichen, um wieder normal zu werden.

Anarchy in the UK

Chili musterte mich kritisch. „So kannste da aber nicht auflaufen.”

Meine ohnehin schon miese Laune wurde noch mieser. Über eine Stunde hatte mich mein Styling gekostet und ich fand mich großartig. Designerjeans, weißes Hemd, lässige schwarze Anzugjacke. Ich sah aus wie ein verdammter Filmstar.

Beherzt griff er mit beiden Händen an mein Hemd, zog es aus der Hose und öffnete die oberen zwei Knöpfe.

„Was tust du da?“, fragte ich panisch.

Er antwortete nicht, sondern wühlte sich durch meinen Kleiderschrank. Ich bekam eine schwarze Krawatte um den Hals gehängt und einige von seinen Buttons an die Jacke gepappt.

Danach zerzauste er meine Frisur, die ich mühevoll hingezaubert hatte. Zum Schluss schlang er mir noch ein breites, stacheliges Lederband ums Handgelenk.

„Alles andere als perfekt, aber mehr war in der kurzen Zeit nicht drin.“

„So gehe ich nicht auf die Straße“, maulte ich.

„Stell dich nicht an wie ein Mädchen, Valentin Konstantin.“

„Meine Freunde nennen mich Rosenberg.“

„Ich bin nicht dein Freund“, entgegnete er. „Sei froh, dass ich meinen Kajal in der Tasche gelassen hab.“

Darüber war ich in der Tat froh. Er hatte sich nämlich die Augen schwarz umrandet.

Unbehaglich latschte ich neben ihm her und drehte mich alle paar Sekunden um. Eigentlich überflüssig, meine Freunde würden sich niemals in diese Gegend verlaufen. Wir waren zwar noch nicht im absoluten Ghetto, aber doch schon kurz davor. Gefiel mir prima, wo der Freak mich hinschleppte, wirklich.

An einen heruntergekommenen Haus blieb er stehen. Ich war auf das Schlimmste gefasst. Dachte ich.

„Du bist grad dabei, einen absoluten Insidertreff zu betreten“, erklärte Chili.

„Ich hasse Clubs.“

„Das ist kein Club, sondern eine Party.“

„Aha. Und wer wohnt hier?“

„Niemand.“

„Aber jemand muss doch die Party veranstalten.“

Er zuckte die Schultern und ging hinein. Blöderweise folgte ich ihm. Die abbruchreife Hütte bestand in erster Linie aus einen riesigem Raum, in den man wahllos Sperrmüll-Sitzgelegenheiten gestellt hatte. Es war unglaublich voll, unglaublich heiß, stickig, verraucht und laut. Ich war in der Hochburg der Freaks gelandet!! Überall Freaks. Nichts als Freaks. Dicht gedrängte Freaks, die tanzten, in der Gegend rumlungerten und/oder auf den Sofas und Sesseln lümmelten. Besoffene Freaks, die sich anrempelten, Freak-Jungs, die mit Freak-Mädchen knutschten, bunthaarige Punk-Freaks, schwarzhaarige Freaks, die mich unangenehm an meine Internetbilder erinnerten... ich wollte spontan davonlaufen.

„Chili, du kleiner Schwuler“, krakeelte es plötzlich. Gleich darauf kämpfte sich ein schwarzer Strubbelschopf mit Bierflasche in der Hand durch die Freak-Massen.

Chili griff nach Strubbels Flasche, nahm einen Schluck und... küsste ihn auf den Mund.

Mir brach der Schweiß aus.

„Bleib locker,“ wisperte Chili, „das war bloß eine ganz normale Begrüßung. Len ist’n Freund von mir.“

NORMAL?? Ich stellte mir kurz Armins Gesichtsausdruck vor, wenn ich ihn zukünftig mit einem Zungenkuss begrüßen würde.

Der Strubbel-Freak verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, und Chili hatte von irgendwoher zwei Flaschen Bier geholt.

„Komm, da vorne ist was frei geworden“, bölkte er und zog mich auf eine vergammelte Couch.

Eine Weile stierte ich abwechselnd auf die Flasche in meinen Händen und auf die Freaks, die sich wahrscheinlich prächtig amüsierten. Madita würde es hier bestimmt gut gefallen. Oh Gott... was, wenn sie hier war? Total paranoid verrenkte ich mir den Hals. Ein paar Mal glaubte ich, sie zu entdecken, was sich glücklicherweise als Irrtum entpuppte. Trotzdem sank ich immer tiefer ins abgeschmackte Polster und versuchte, unsichtbar zu werden, während Chili andauernd mit den Freaks smalltalkte. Zwei von denen quetschten sich dann neben uns. Das war schon fies genug, allerdings sahen die erstens aus wie Maditas heiß geliebte Emojungs und zweitens fingen die auch noch an, sich die Zungen in ihre Hälse zu schieben.

Völlig ungeniert und hemmungslos. Mir wurde ganz anders.

„Wo... äh... wo ist’n das Klo?“

Chili fuchtelte mit der Hand herum und ich machte, dass ich weg kam. Aufs Klo ging ich nicht, nur in eine etwas ruhigere Ecke. Lehnte mich an die Wand und hätte heulen können. Keine Ahnung, wieso. Die schreckliche Musik tat mir in den Ohren weh, der Zigarettenrauch brannte in den Augen... was zum Geier tat ich hier?! Dann geschah es. Das Unheil nahm sozusagen seinen Lauf.

I am an anti-christ

I am an anarchist

Don’t know what I want

But I know how to get it…

Und ich sah Chili tanzen. Obwohl, tanzen konnte man das nicht nennen, was er mit einigen anderen Typen tat. Es war ein Rempeln und Bespringen, Festhalten und Wegschubsen. Es sah wild aus, ein bisschen brutal und irgendwie interessant. Beim nächsten Lied erkannte ich den Strubbelschopf wieder. Er hatte einen Arm um Chili gelegt, der stieß ihn jedoch von sich.

I got no emotions for anybody else

You better understand I’m in love with myself, myself

My beautiful self

Passend zum Text griffelte Chili an sich rum, strich sich über den Bauch, dass sein Shirt hoch rutschte, und machte Strubbel offensichtlich an. Es rauschte in meinen Ohren, dröhnte in meinem Kopf, mein Herz pochte wie bescheuert. Mir wurde heiß und kalt und wieder heiß. Ich zitterte am ganzen Körper. Möglicherweise hatte mir einer was ins Bier geschüttet. Das erklärte zwar vieles, jedoch nicht meine Erektion. Scheiße, ich musste raus hier. Leider stand Chili auf einmal vor mir. Verschwitzt und noch außer Atem.

„Hey, Valentin.“

Ich spürte die harte Wand an meinem Hinterkopf. „Ich... äh... ich will gehen.“

„Damit?“ Er deutete grinsend auf die mindestens medizinballgroße Beule in meiner schicken Designerjeans.

Konnte es noch peinlicher werden?!

„Mach dir nichts draus. Als ich zum ersten Mal mit Punk in Berührung kam, hab ich auch ’ne Latte gekriegt.“

Es lag nicht am Punk allgemein. Es lag an einem speziellen, das musste ich mir hier und jetzt eingestehen.

„Soll ich dir dabei helfen?“

„Was?“

„Oben gibt es ein paar Zimmer, wo man... na ja... ungestört sein kann. Vielleicht ist grad eins frei.“

Bitte, Gott, hilf mir... flehte ich stumm. „Danke, ich gehe lieber nach Hause“, röchelte ich.

Chili sah mich an. „Schade.“ Dann drehte er sich um.

Mein Herz bollerte bis unter die Schädeldecke. „Warte“, rief ich und hoffte, dass er es nicht gehört hatte. Die Hoffnung zerfiel zu Staub, als Chili meine Hand nahm.

Ein Zimmer war tatsächlich frei. Ein paar Matratzen und Decken lagen auf dem Boden. Sonst gab’s eigentlich nichts. Abgesehen von den Kerzen, die er anzündete. Ich fror erbärmlich, obwohl mir heiß war. Wie ein Stein ließ ich mich auf die Matratze fallen, lehnte mit dem Rücken an der Wand und wartete, dass die Übelkeit und das Zittern verging. Langsam kam Chili zu mir rüber, zog sein Shirt aus und setzte sich auf meinen Schoß. Ich war einer Ohnmacht nah.

„Okay, also... fangen wir mit was Leichtem an.“ Meine Hände legte er auf seine Hüften, bevor er an meine Krawatte griff. „Küssen“, wisperte er und drückte seine Lippen auf meinen Mund.

Seine Zunge spürte ich sehr schnell... und seine Finger, die mein Hemd aufknöpften ebenfalls. Ich dachte in diesem Moment an alles und nichts. Chili küsste wahnsinnig gut. Wahrscheinlich küsste ich ihn zurück. Ganz sicher sogar. Als seine Hände über meine Brust streichelten und Richtung Hose wanderten, hörte ich jedoch auf.

„Ich kann das nicht.“

„Verstehe“, lächelte er und küsste mich.

„Ich meine das ernst. Das ist... schwul... ich will das nicht.“

Chili befreite mich von Jacke und Hemd und öffnete meinen Gürtel. „Was soll’s? Ich hab Lust drauf und du bist neugierig. Wo ist das Problem?“

Die Vorstellung von seinem Schwanz in meinem Hintern oder meinem Mund war mehr als ich im Augenblick ertragen konnte. Andererseits... konnte ich meine Geilheit und das Nichts-dagegen-tun auch nicht länger ertragen. Und es war leider so: Chili machte mich geil. Seine harten Nippel regten mich auf, und dass er sich kaum merklich an mir rieb. Wie selbstverständlich rutschte er ein Stück nach hinten, brachte mich in eine liegende Position, beugte sich über mich und küsste meinen Hals, meine Kehle, leckte meine Nippel. Ich lag da, krallte meine Hände in die siffige Decke und stöhnte unkontrolliert.

„Valentin... hey..“

„Hm?“, machte ich und öffnete die Augen.

„Fass mich an.“

Das musste eine Art Zauberformel, Schlüsselsatz oder was auch immer gewesen sein, weil... ich fasste ihn an. Überall. Zerrte an seinen Gürteln, seinem Reißverschluss, knutschte ihn heftig, schlang Arme und Beine um ihn, presste mich an seinen Körper... alles gleichzeitig.

Viel war nicht mehr nötig. Ein bisschen rubbeln und reiben, zwei, drei Bewegungen und die Decke war um ein paar Flecke reicher. Mein Herz schlug immer noch so furchtbar laut und schnell. Wie in Trance wurschtelte ich meine Hose hoch, angelte nach den restlichen Klamotten, während Chili eine Zigarette rauchte.

„Alles okay, Valentin?“

Nichts war okay. Ich war auf dem besten Weg, schwul zu werden. Meine Freunde würden mich hassen, meine Eltern enterben und eines Tages würde ich mich höchstwahrscheinlich auf öffentlichen Toiletten anbieten. Nein, okay war echt gar nichts.

„Ich muss gehen“, murmelte ich und schlich nach Hause.


„Rosenberg,“ polterte Armin durchs Telefon, „wo bleibst du? Wir warten auf dich.“

„Wir?“, fragte ich matt.

„Allerdings. Tine, Bine... ach, was weiß ich, wie die zwei Schlampen heißen. Aber die sind megaheiß und die brauchen es echt. Also schieb gefälligst deinen Arsch hier rüber, sonst vernasche ich sie allein.“

Ich konnte jetzt keine Tussi vögeln und ich konnte Armin nicht treffen. Ich hatte Schwuchtelsex gehabt... bestimmt sah er es mir sofort an.

„Ich bin krank.“

„Du hast wohl den Arsch auf. Krank... du warst noch nie krank.“

„Heute schon. Muss andauernd kotzen und so. Ist vielleicht ein Virus, irgendwas...“

„Jaja, verschon mich mit deiner Krankengeschichte“, unterbrach er mich genervt. „Ich muss los, man sieht sich.“

Erschöpft legte ich das Handy beiseite und zog mir die Bettdecke bis zum Kinn. Mir war kalt, ich hatte Schüttelfrost. Und zum Speien übel war mir ebenfalls.

„Was hast du denn auch die halbe Nacht getrieben“, wollte Madita wissen, die mir heißen Tee brachte. „Bist wieder mit Mr. Arschloch höchstpersönlich unterwegs gewesen, was?“

Seit seinem Annäherungsversuch konnte Madita Armin noch weniger leiden, was ich durchaus verstand. Er hatte damals versucht, sie mit Alkohol gefügig zu machen und... na ja, war nicht gerade zimperlich mit ihr umgegangen.

„Der Typ ist Abschaum, Valentin, und er zieht dich auf sein Niveau herunter.“

„Er ist zufällig mein bester Freund.“

„Armin ist zu echter Freundschaft doch gar nicht fähig. Redet ihr eigentlich über private Dinge? Abgesehen davon, ob die letzte Muschi rasiert war oder nicht? Abgesehen davon, wie viel Kohle er irgendwann bekommt?“

Der Tee war zu heiß und schmeckte nach krank im Bett liegen. „Nur Mädchen reden ständig über privates Zeug. Männer sind halt anders“, seufzte ich.

„Halte ich für Blödsinn. Chili zum Beispiel erzählt mir total viel und es ist ihm nicht peinlich, Gefühle zu zeigen.“

„Weil er schwul ist“, antwortete ich und merkte, wie mein Gesicht rot anlief.

„Das ist doch schon wieder eine dumme Verallgemeinerung. Schwul sein bedeutet nicht zwangsläufig, dass man ein netter, empfindsamer Mensch ist. Da gibt’s auch oberflächliche Mistviecher, die Armin nicht mal besonders unähnlich sind. Bloß, dass die halt Männer vögeln.“

„Können wir bitte über was anderes reden?“, bat ich. „Ich hab mit Schwulen nichts am Hut und außerdem bin ich krank.“

„Dann trink deinen Tee.“

Das tat ich, leider ging es mir danach nicht besser. Die Erinnerungen an die gestrige Nacht zerrten schwer an meinen Nerven und schlugen mir auf den Magen. Ich hatte dem Freak einen runtergeholt und er mir. Wir hatten uns geküsst, verdammt. Ich... einen Typen... geküsst. War ich nicht mehr bei Verstand?! Chili musste mir unbedingt schwören, dass er meinen Ausrutscher für sich behielt. Es war ein Ausrutscher gewesen. Und es würde niemals wieder passieren. Niemals. Wie Chili gesagt hatte, ich war eben neugierig gewesen. Nichts weiter.

„Besucht dich dein Straßenköter heute noch?“

Madita verzog das Gesicht. „Wieso? Willst du ihm vorjammern, wie krank du bist?“

„Geh weg, ich möchte schlafen.“

„Angenehme Träume.“

Ich musste tatsächlich kurz oder auch etwas länger eingenickt sein, denn als ich die Augen aufklappte, saß Chili neben mir.

„Hey“, lächelte er.

„Hmpf“, grummelte ich.

„Ein bisschen Sexgefummel mit mir und schon wirst du krank. Was soll ich denn davon halten, Valentin Konstantin?“

„Hör bloß auf. Und sprich nicht so laut... wenn das einer mitkriegt, bin ich geliefert.“

Er drehte sich nach allen Seiten um. „Es ist niemand da“, flüsterte er verschwörerisch.

„Wenn du das irgend wem erzählst“, begann ich warnend.

„Wem denn? Deinen Eltern? Deinen Freunden? Kein Interesse. Und Madita würd’s sicher nicht stören.“

„Es war eine einmalige Sache. Ich war neugierig und...“

„Ich finde, du warst sogar unglaublich gierig“, kicherte er.

„Du nicht, oder?“

Chili knabberte nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Mh, aber nur, weil du so tierisch heiß warst. Wie hätte ich mich dagegen wehren sollen?“

Mir wurde langsam ungemütlich. Wir kamen doch gänzlich vom Thema ab. Er sollte schwören, herrgottnochmal.

„Schwör mir, dass du’s keinem sagst“, forderte ich.

„Ernsthaft?“

Ich nickte.

Er bekreuzigte sich. „Zufrieden?“

„Du sollst dich nicht bekreuzigen, sondern schwören, Idiot.“

„Ich weiß aber nicht, wie man schwört“, rief er gespielt verzweifelt.

So genau wusste ich das auch nicht. „Dann... dann lass dir was einfallen.“

Schwupps hopste er auf mich und drückte meine Handgelenke fest aufs Bett. „Ich schwöre“, säuselte er, grinste sexy und küsste mich.

„Geh runter von mir“, zischte ich und strampelte mit den Beinen. „Bist du irre? Lass mich sofort los.“

Er hatte sich kaum wieder hingesetzt, als Madita ins Zimmer kam.

„Chili... was tust du denn hier?“

„Krankenbesuch.“

„Und seit wann seid ihr so dicke miteinander?“

„Sind wir nicht. Wollte mich nur ein bisschen über den sterbenden Schwan lustig machen.“

„Aha. Bist du fertig?“

„Klar“, strahlte er und erhob sich. An der Tür drehte er sich kurz zu mir um und spitzte seine Lippen zu einem Kuss.

Das war doch gut gelaufen, oder? Immerhin hatte er geschworen. Ich trank noch einen Tee und hasste die ganze Welt.


Die nächste Woche ging ich Chili total aus dem Weg. In der Schule redete ich eh nicht mit ihm und zu Hause... ich hielt mich oft bei Armin auf, der mir übrigens nicht ansah, was ich getan hatte. Ich ging mit Zoe Eis essen und sie erlaubte mir gnädig, ihre Hand zu halten. Wir kamen voran, aber bei dem Schneckentempo würden wir erst als Greise zusammen im Bett landen. Seit Tagen hatte ich mir keine knutschenden Jungs mehr angeschaut. Alles bestens.

Bis auf die unbedeutende Kleinigkeit, dass es mich erregte, wenn ich an die Nacht mit Chili dachte. Und leider dachte ich oft daran. Zu oft. Viel zu oft. Wenn er gefragt hätte... ich hätte Ja gesagt. Aber er fragte nicht. Wie auch, wenn ich ständig vor ihm flüchtete?! Es war zum aus der Haut fahren. Und mir blieb nur eine Möglichkeit. Die schob ich jedoch erstmal weit von mir. Und holte sie im Laufe des Abends wieder näher heran. Ich überlegte, versuchte mich abzulenken, schlich wie ein gefangenes Tier durchs Haus... es half nichts, ich kam einfach nicht von dem Gedanken runter. Dabei wusste ich nicht mal, ob er dort sein würde, oder überhaupt jemand. Würde ich reingelassen, wenn ich allein auftauchte? Türsteher, wie vor den schicken Clubs, in die ich manchmal mit Armin ging, gab’s jedenfalls nicht. Wenigstens war mir keiner aufgefallen.

Okay, ich versuchte, mich ungefähr so zu stylen, wie Chili das getan hatte, und machte mich auf den Weg. Je näher ich dem Haus kam, desto nervöser wurde ich. Wie sollte ich es anstellen, wenn er da war? Vor der Tür lungerten ein paar Typen herum, die mich kaum beachteten, als ich hinein ging. Die Hitze erschlug mich fast. Mutig kämpfte ich mich durch die Freaks und entdeckte zuerst Chilis Strubbelfreund. Ob ich den fragen sollte? Brauchte ich gar nicht, während Strubbel nämlich zur Seite hopste, sah ich Chili.

„Hallo“, begrüßte ich ihn unsicher.

„Hey“, antwortete er überrascht. „Was machst’n du hier?“

Strubbel starrte uns beide an, nickte kurz und verschwand.

„Magst’n Bier oder... tanzen?“

„Ich... äh... ich dachte, also... ob vielleicht... ein Zimmer...“, stammelte ich.

„Du willst Sex.“

Es war mir furchtbar peinlich. Ich schämte mich dafür, dass ich ihn so sehr wollte, und dass er das offenbar genau wusste.

„Lass uns raufgehen.“

Die Türen waren alle verschlossen.

„Mist“, zischte Chili und lehnte sich neben mich gegen die Wand. „Warten oder verschieben?“

„Warten“, rief ich hastig.

„Okay“, grinste er.

Die Minuten verstrichen. Betreten glotzte ich auf den Boden, diese ganze Situation kam mir irgendwie billig vor. Darauf zu warten, dass jemand schnell fertig wurde... fehlte nur noch, dass wir für das Zimmer bezahlten. Chilis Arm schlängelte sich um meine Taille, seine Hand strich über meinen Bauch.

„Ich hab gehofft, dass du heute herkommst“, flüsterte er und küsste meinen Hals.

„Nicht... nicht hier.“

„Valentin... wir könnten es gleich auf dem Flur treiben, es würde keinen kümmern.“

„Trotzdem.“ Ich schob ihn von mir.

Chili seufzte enttäuscht und schmiegte sich wieder an mich. „Wenn da nicht in drei Sekunden

eine von den verdammten Türen aufgeht, trete ich sie ein.“

„Alle?“

„Such dir eine aus.“

Zwei Sekunden später drehte sich ein Schlüssel im Schloss.

„Endlich“, stöhnte Chili und zerrte mich ins Zimmer, wo ein Mädchen noch dabei war, die zerrupfte Frisur in Ordnung zu bringen. Der Junge stand bereits im Türrahmen.

„Ey, Kleine, du siehst gut aus“, quatschte Chili das Mädchen an. „Könnt ihr jetzt bitte verschwinden?“

Verlegen stand ich mitten im Raum und wäre am liebsten gestorben. Eine aufgerissene Kondomverpackung lag neben der Matratze und ich wollte mir gar nicht überlegen, wo deren benutzter Inhalt abgeblieben war. Chili schloss die Tür ab und zog sein Shirt aus, während ich mich setzte. Die Decke war noch warm, also stand ich wieder auf.

„Was ist?“

„Ich kann nicht. Die beiden haben grad... das ist so ekelhaft.“

„Heterosex halt“, lachte er, warf die Decke auf den Boden und mich auf die Matratze. „Ich brauch die nicht. Und wenn dir kalt wird, wärm ich dich.“ Seine Nase stupste gegen meine.

Sein niedliches Gerede passte nicht in diese abgefuckte Location. Überhaupt wollte ich nicht, dass er so zärtliche Dinge tat. Es ging doch bloß um Sex, richtig?! Er sollte mich nicht wärmen, sondern es mir besorgen. Knutschen war ebenfalls überflüssig.

„Können... ähem... können wir es ohne Küssen machen?“, fragte ich deshalb vorsichtig, während er mich obenrum auszog.

Er schaute mich an, als hätte ich gefragt, ob wir einen Mord begehen könnten.

„Nein. Wieso?“

„Weil...“

„Denkst du, wenn du keine Typen auf den Mund küsst, bist du auch nicht schwul, oder was?“

Mensch, warum kannte er sich in meinen Gedanken fast besser aus, als ich mich selbst?

„Mir ist scheißegal, was du bist, okay? Ich küsse dich halt gerne.“

Kompromisse waren scheinbar nicht seine Stärke, also gab ich nach. Das Küssen war ja auch nicht wirklich das Problem. Beziehungsweise tauchten danach andere auf. Beispielsweise wusste ich nicht, was mich erwartete. Die Vorstellung, einen Schwanz zu lutschen, erschien mir noch immer völlig absurd. Und als Chili ein Kondom aus seiner Tasche friemelte und lässig neben uns warf, bekam ich sogar Angst. Eine schwammige Angst, die aus Unsicherheit, Nervosität und Ahnungslosigkeit entsteht. Ich fing an zu zittern.

„Ist dir kalt oder... ah, macht dich das Kondom nervös? Ich hab’s nur hingelegt, damit wir, wenn es dazu kommen sollte, nicht erst tausend Stunden suchen müssen.“

„Dazu wird es ganz sicher nicht kommen“, erklärte ich.

„Wer weiß.“

„Ich weiß das. Ich lass mich nicht ficken wie eine Schwuchtel. Und ich lutsche dir auch nicht den Schwanz.“

„Du bist echt wahnsinnig anstrengend, Valentin“, stöhnte er. „Leider aber auch total süß und so aufregend, dass ich jetzt einfach dein Gefasel ignoriere und dir deinen Schwanz lutsche, ja?“

Äh... hatte er das ernst gemeint? Offensichtlich, denn er war schon dabei, meine Hose zu öffnen, ein Stück runterzuziehen und... du lieber Himmel, mein Hirn verabschiedete sich für eine Weile.

„Ich...“, japste ich, „mach das aber trotzdem nicht bei dir.“

„Dann lass es.“

Ich drehte meinen Kopf, dass ich ihn anschauen konnte. „Ist es dir egal?“

„Nein. Aber ich kann dich schließlich nicht zwingen, oder?“

Meine Hand glitt zwischen seine Beine. Vielleicht war die Sache doch nicht so schwierig. Es würde ja niemand außer uns beiden davon erfahren. Ich küsste seinen Hals und arbeitete mich langsam über seine Brust zum Bauch hinunter. Chili atmete heftig und seufzte leise, dafür schlug mein Herz dermaßen laut, dass ich dachte, man müsste es noch zwei Straßen weiter hören. Seine Finger wuselten durch meine Haare, dann tat ich es einfach. Es war erstaunlicherweise nicht so widerwärtig wie ich angenommen hatte. Im Gegenteil. Es war ziemlich interessant, dass Chili mir praktisch vollkommen ausgeliefert war. Ich hätte ihm schlimme Schmerzen zufügen können. Aber ich zog es vor, ein bisschen mit ihm zu spielen, versuchte, seinen Höhepunkt hinaus zu zögern. Ich war so sehr damit beschäftigt, ihm den perfekten Blowjob zu verpassen, dass ich beinahe verpasst hätte, rechtzeitig meine Hand zu nehmen, anstatt meinen Mund. Dazu, sein Sperma zu schlucken, konnte ich mich echt nicht überwinden.

„Spielverderber“, murmelte Chili und grinste mit geschlossenen Augen.

Ich wischte meine Hand an der Matratze ab und legte mich neben ihn.

„Das war sensationell.“

„Natürlich war es das.“

Er schlang seine Arme um mich und drückte seine Lippen gegen meine Schläfe. „Angeber.“


Anarchy in the UK

No Feelings

(Jones/Cook/Matlock/Lydon)

Rotten MusicLTD.

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