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Achterbahn

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Vorwort

Soooo ... nach fast hundertjähriger Schreibblockade hab ich eine neue Muse gefunden, die mich fast um den Verstand inspiriert ;-) Feedback ist wie immer erlaubt und erwünscht!

 

„Und … hast du’s dir überlegt?“

„Ja, nee, bin mir noch nicht ganz sicher. Ich meine, so was ist ja … eine Entscheidung fürs Leben“, erkläre ich.

„Allerdings“, nickt Dante und stellt mir ein Glas Saft hin. „Was glaubst du, wie viele  Arschgeweih-Tussis heute bereuen, dass sie vor Jahren unbedingt hip sein mussten?!“

„Arschgeweihe sind das Letzte“, behaupte ich und starre verstohlen auf Dantes roten Stern, der direkt unter dem verschnörkelten Carpe-Diem-Schriftzug am Handgelenk prangt. „Ich mag Sterne.“

„Sterne sind die neuen Arschgeweihe“, grinst er. „Und Notenschlüssel die neuen Sterne.“

„Okay, also … keine Sterne oder Notenschlüssel.“

„Weiß nicht, wenn du drauf stehst … ich persönlich finde Sterne interessant, weil es wirklich nicht leicht ist, die perfekt hinzukriegen. So symmetrisches Zeugs ist schwierig und da sieht man dann halt, ob einer gut ist oder nicht. Ich meine, wenn ein Tätowierer schon nicht in der Lage ist, einen geraden Stern zu stechen, egal ob ihm das Motiv gefällt oder nicht … keine Ahnung, ob ich mir von dem dann noch was anderes stechen lassen würde.“

Dante ist sechsundzwanzig, Punk mit einem kräftigen Schuss Emo (vielleicht auch umgekehrt) und angehender Tätowierer. Letzteres ist der Grund, weswegen ich über ihn stolperte. Meine beste Freundin Tine hat sich nämlich von Dante ein Gemisch aus Kirschen, Würfeln und Sternchen stechen lassen und mich zum Händchenhalten mitgeschleppt. Irgendein Freund des Cousins ihres Freundes hatte Tine den Tipp gegeben.

„Kostet nicht viel, weil er ja noch lernt.“

Ich hätte mich das an ihrer Stelle im Leben nicht getraut … zumal das Ganze in seiner Küche stattfand. Na ja, das Tattoo ist relativ vernünftig geworden, soweit ich das als totaler Laie beurteilen kann. Jedenfalls braucht sie ihr neues, buntes Wadenbein im Sommer nicht unter langen Hosen oder so zu verstecken.

Wie es der Zufall wollte, traf ich Dante verschiedentlich auf diversen Untergrund-Partys und weil es ja immer irgendwie einen Bekannten gibt, der einen Typen kennt, der eben genau diesen Typen kennt, kenne ich Dante jetzt auch ein bisschen. Dass ich es momentan drauf anlege, ihm zu begegnen, ist logisch, weil der Bekannte mir total unaufgefordert im Vertrauen erzählte, dass ich aufpassen soll, Dante sei ein fieser, mieser Herzensbrecher, der schon sämtliche Jungs in der Gegend durch hätte. Punkiger Tattoo-Lehrling mit zweifelhaftem Ruf, verwegenem Grinsen, braunen Bambi-Augen und einer sexy Stimme, der nebenbei Musik macht und auch noch Dante heißt … wer würde darauf nicht sofort anspringen, oder?!

So, und weil ich ihm beim letzten Mal gesagt hab, dass ich mehr über seine Tätowiererei wissen möchte und vielleicht sogar ein Tattoo haben will, sitze ich heute in seiner Küche.

Mann, und der redet tatsächlich ausschließlich über Motive, Vorlagen, Farben, Old School … als hätte ich von diesem Quatsch Ahnung oder würde gerne Ahnung haben wollen. Ich hätte viel lieber gewusst, wie er obenrum ohne Shirt aussieht und warum zum Teufel er nicht mal ein Fitzelchen mit mir flirtet.

„Hier“, er reicht mir ein Tattoo-Magazin, „da sind Sterne drin. Vielleicht gefallen dir ja welche.“

Pseudo interessiert blättere ich umher.

„Sollten Tattoos nicht individuell sein und eine Bedeutung haben?“

„Ach du Scheiße“, verdreht er die Augen, „wenn ich was geil finde und weiß, dass es für mich zeitlos geil ist, lass ich’s mir halt machen.“

Hm … der lässt es sich bestimmt andauernd machen. Verdammt, ich würde es ihm machen. Und zwar jetzt sofort!

„Also hat dein Stern keine Bedeutung?“

Er wirft einen Blick auf sein Handgelenk. „Doch, hat er.“

„Aha. Und ist das was Privates?“

„Du meinst so was wie … der steht für meine große Liebe oder meine Familie oder meine Katze?“

„Oder für die RAF.“

„Da fehlt dann aber die Maschinenpistole. Nee, der Stern war das allererste, was ich am lebenden Objekt gestochen hab. Und rot, weil ich damals außer schwarz nur noch eine Farbe hatte.“

„Du hast dich selber tätowiert?“

„Ja“, stöhnt er, „ich war jung und risikofreudig. Heutzutage würd ich’s nicht mehr machen. Gibt ja genug Freiwillige, an denen man üben kann.“

„Ist das nicht ein bisschen … verantwortungslos?“

Dante zuckt die Schultern. „Ich hab den Leuten immer ganz ehrlich gesagt, dass ich eigentlich gar keine Ahnung habe und bloß ausprobiere … aber die waren hinterher alle zufrieden. Na ja, und jetzt hab ich zum Glück Crazy. Der passt schon auf, dass ich keine Scheiße baue.“

Crazy ist der Kerl, dem das Studio gehört, wo Dante ab und zu tätowieren darf. Und leider ist Crazy noch mehr, allerdings weiß das kaum einer.

„Deine Freundin findet ihre Würfelkirschen doch gut, oder?“

„Meine beste Freundin“, stelle ich hektisch klar. Vielleicht ein wenig zu hektisch, denn Dante zieht überrascht eine Braue hoch.

„Aha.“

„Äh … ja, die ist super glücklich mit ihrem Wadenbein.“

„Cool.“

„Hm-hm.“

Er starrt mich an. Seine Augen glänzen und mir wird etwas schwindlig. Dann betritt sein beknackter Mitbewohner Torben die Küche.

„Hey, Dicker“, grüßt Dante und hat sich damit fast schon disqualifiziert. Ich kann solche Spitznamen nicht ab. Dicker, Großer, Kurzer, Langer … da muss ich mich sofort fremdschämen. Außerdem ist der Mitbewohner nicht dick, sondern muskulös.

Torben wirft mir einen eigentümlichen Blick zu. Eigentlich glotzt er mich von oben bis unten an.

„Neues Opfer?“, zwinkert er blödsinnig.

Dante scheint einen Moment zu überlegen und zwinkert genauso schwachmatisch zurück. „Möglicherweise.“

Okay, es dürfte allen Beteiligten klar sein, dass es hier nicht ums Tätowieren geht. Ich hasse es, wenn Leute zweideutige Bemerkungen über einen machen, der grad daneben sitzt. Und auch noch in der Form. Warum geben dir mir nicht gleich Punkte für: Visage, Körper, Fickbereitschaft?! Letzteres ist, was Dante angeht, soeben in den Minusbereich gewandert.

„Sterne, mh?“ Torben setzt sich mit seinem Kaffeebecher zu uns an den Tisch. „Bei Männern ein totales No-Go, wenn ihr mich fragt.“

„Wir fragen dich nicht“, entgegnet Dante lässig.

Ich frage mich, warum es sich der blöde Mitbewohner hier so bequem macht. Merkt der überhaupt nicht, dass er stört?

„Sterne sind was für Mädchen. Und für Schwule“, labert Torben ungeniert weiter. „Und echt ausgelutscht … ich kenne hundert Leute, die irgendwo Sterne haben.“

„Ein Totenschädel ist natürlich super originell“, mische ich mich ein, weil unter dem kurzen Ärmel des Mitbewohners so’n hässliches Teil hervorlugt.

„Das nicht“, gibt er zu, „aber auf alle Fälle männlich.“

„Den hab ich übrigens gemacht“, erklärt Dante. „War nicht besonders anspruchsvoll … also genau passend für dich, Dicker“, lacht er und haut Torben auf die Schulter.

Danach plaudern die zwei ungefähr eine Stunde lang über Leute, die ich nicht kenne. Na, großartig!


„Dante spielt Bass.“

Tine schielt ihre Wade entlang. „Ja, und?“

„Nix weiter.“

„Findest du nicht auch, dass die Outlines von dem Würfel hier ein bisschen zittrig sind?“

„Hä?“

„Hier, da sind ein paar Wackler drin. Einem vernünftigen Inker wäre das nicht passiert.“

Seitdem Tine tätowiert ist, treibt sie sich gerne in Tattoo-Foren rum und hat sich leider dieses komische Vokabular zugelegt. Inker, ey, wenn ich das schon höre!

„Na ja, ein vernünftiger Inker hätte dir wahrscheinlich auch zweihundert Euro dafür abgeknöpft.“

Langsam krempelt sie ihr Hosenbein runter.

„Wenn du nicht so ein Sturkopf wärst, Eli, hätte ich einen vernünftigen Inker UND viel Geld gespart.“

„Du redest von Dingen, von denen du keine Ahnung hast“, entgegne ich scharf.

„Vielleicht solltest du mal mit ihm reden.“

„Wozu? Er ist abgehauen, das ist doch eine ziemlich klare Aussage.“

„Ja, und jetzt ist er wieder da.“

„Er ist bestimmt nicht meinetwegen zurückgekommen.“

„Das ist echt lustig, dass ausgerechnet dein heimlicher Schwarm bei dem in die Lehre geht.“

„Ich lach mich tot“, grummle ich.

„Ich find’s witzig. Und eigentlich ziemlich gut für dich. Du könntest Dante ständig besuchen, ohne dass es irgendwie doof auffallen würde. Wenn … du nicht so ein Sturkopf wärst.“

Ein bisschen hat Tine Recht. Seit ich Dante gesagt habe, dass ich doch kein Tattoo will, hat er logischerweise auch keinen Grund mehr, mit mir rumzuhängen. Drei Wochen hab ich ihn schon nicht mehr gesehen … außer mal kurz am Wochenende in ’nem Club, aber da war er beschäftigt. Mit einem Typen, den er sicher später mit nach Hause genommen hat.

„Was ist? Denkst du grad darüber nach, ob ich Recht habe?“, grinst sie. „Brauchst du nicht. Ich hab immer Recht.“

Trotzdem. Ich kann nicht einfach in den Laden spazieren und sagen … da fängt’s schon an, ich wüsste nicht einmal, was ich sagen soll.

„Du solltest dir Dante eh ausm Kopf schlagen“, erklärt Tine. „Der ist doch viel zu alt. Und was willst du mit einem, der alles flachlegt, was ihm in die Quere kommt?“

„Das ist ja bislang nur ein Gerücht.“

„Glaubst du, der hat den Kerl letzten Samstag zum Monopoly spielen mitgenommen? Außerdem sagt Patti, dass Dante jedes Wochenende einen anderen hat.“

„Und woher weiß Patti das?“

„Von Kevin.“

„Und ich nehme an, Kevin weiß es von seinem Freund, Bruder oder Schwippschwager.“

„Kevin weiß es von Torben“, lächelt sie triumphierend, „und der kriegt sicher einiges mit.“

„Torben ist ein unterbelichteter Blödmann.“

„Meine Güte, dann renn doch in dein Unglück. Aber du solltest dir vorher überlegen, was dein Freund davon halten würde. Weiß er, dass du fremde Kerle anschmachtest?“

„Ich schmachte niemanden an“, rege ich mich auf. „Ich finde Dante … interessant. Das heißt nicht, dass ich sofort mit ihm durchbrennen will.“


Mein Herz rast und mein Puls ist praktisch nicht mehr messbar. Es ist Freitagnacht, ich liege im Bett. In Dantes Bett. Und er … löffelt ein Schälchen Fürst-Pückler-Eis, während Juliette Binoche gerade behauptet, Johnny Depps Lieblingsschokoladensorte zu kennen.

Ach so, nicht dass jetzt einer auf komische Ideen kommt, ich bin bloß noch hier, weil es draußen seit Stunden schneit wie die Hölle, Dante nicht mehr fahren wollte und ich aber auch nicht alleine durch nächtliches Schneegestöber latschen sollte. Übrigens weiß er mit Sicherheit, dass die Gründe meines Besuchs eher fadenscheiniger Natur waren. Jeder Vollidiot hätte das bemerkt. Nee, es ging nicht um Tattoos, das Thema ist durch, ich hab ihn was wegen seiner Band gefragt, weil er doch Bass spielt und so. Für Dante scheint es normal zu sein, dass ihm fremde Jungs nachlaufen, denn er hat so getan, als würde er mir glauben, dass ich tatsächlich dringend mit ihm über Musik sprechen wollte. Wahrscheinlich erlebt er so was wie heute sehr oft und noch wahrscheinlicher ist, dass es ihm gefällt, so teeniemäßig angehimmelt zu werden. Wem würde das nicht gefallen?

„Ist es für deinen Freund okay, wenn du bei fremden Kerlen übernachtest?“, fragt er plötzlich und schiebt mir einen Löffel Erdbeereis in den Mund.

Ich muss mich kurz verschlucken. „Woher weißt du …“

„Hab ein Gespür dafür“, lacht er. „Deine Würfelkirschenfreundin hat das beim Nachstechen erwähnt.“

Danke, Tine! Jetzt wird Dante erst recht nichts mit mir anfangen. Es sei denn, er ist tatsächlich so schlecht wie sein Ruf, dann wird’s ihm nix ausmachen, dass ich einen Freund habe.

„Was hat’n die kleine Plaudertasche sonst noch erzählt?“

„Keine Ahnung, hab irgendwann abgeschaltet. Schließlich musste ich mich aufs Wesentliche konzentrieren.“

„Und wie läuft’s so im Studio?“

„Crazy ist einfach der Beste“, schwärmt er. „Wenn ich irgendwann mal nur halb so gut bin wie er, kann ich schon total zufrieden sein.“

Mag sein, aber menschlich gesehen ist er ein Totalausfall.

„Willst du mal was von ihm sehen?“

Großer Gott! Bitte nicht schon wieder Tattoo-Magazine!

„Klar“, lächele ich lustlos.

Dante zieht sein Shirt aus und präsentiert mir stolz zwei bunte Flügel … auf jedem Oberarm einen. Links in verschiedenen Blautönen, rechts in Rotgelb. Ich kollabiere fast. Nicht wegen der Tattoos, sondern … WOW … hat der Kerl schöne Arme! Nachdem ich seine Flügel ausreichend bewundert habe und er mir auch das Kreuz, um das sich ein Drachenvieh windet, zwischen seinen Schulterblättern gezeigt hat, was allerdings nicht von Crazy stammt, zieht er sein Shirt leider wieder an. Na ja, vielleicht doch besser so, denn noch einen Moment länger und ich wäre über ihn hergefallen.

„Hat das nicht wehgetan?“

„Der Schmerz gehört dazu“, zuckt er die Schultern. „Ist wie beim Piercen … nur, dass das natürlich wesentlich schneller vorbei ist.“

Ich finde Piercings in der Lippe doof, besonders zwei oben und zwei unten, aber bei Dante … sieht wohl alles irgendwie geil aus. Sogar der kilometerlange Stab quer durch die Ohrmuschel.

„Macht’s dir was aus, wenn wir jetzt pennen? Ich bin echt müde.“

„Nee“, behaupte ich.

Er verschwindet kurz, um sich die Zähne zu putzen, schaltet Licht und Fernseher aus, zieht die Bettdecke bis zum Kinn und wünscht: „Gute Nacht.“

„Elias …“, sagt er nach einer Weile.

„Ja?“

„Komischer Name.“

„Auch nicht komischer als Dante.“

„Meine Mutter steht auf Dante Gabriel Rossetti. La Ghirlandata und so.“

„Meine Mutter steht auf den Wendler“, entgegne ich. „Glücklicherweise kannte den vor neunzehn Jahren noch kein Mensch, sonst würde ich vielleicht heute Wendler heißen. Wendler Bialik. Mit so einem Namen kann man prima Karriere als Krimineller machen.“

„Ich will ehrlich sein, Eli, wenn du Wendler heißen würdest, hätte ich dich nicht in mein Bett gelassen.“

„Es gibt Leute, die behaupten, dass du jeden in dein Bett lässt“, sage ich aus Versehen.

„Ist das so?“

„Keine Ahnung.“

„Leute behaupten immer irgendwas, egal ob es stimmt oder nicht. Du kannst übrigens ruhig ein bisschen näher kommen.“

„Ich hab genug Platz.“

„Ja“, antwortet er und zieht mich in seine Arme, „aber wenn ich schon was Hübsches bei mir habe, will ich auch kuscheln.“

Und ein bisschen töten, oder? Als er nämlich durch meine Haare wuselt, meinen Nacken streichelt und sich so an mich schmiegt, bin ich bereits halb hinüber.

Am nächsten Morgen ist die Kuscheligkeit gänzlich verflogen. Ich muss nach Hause, weil ich mit Marcel verabredet bin, Dante hat einen Tattoo-Termin. Gentlemanlike bringt er mich zur Tür.

„Okay, also … man sieht sich. Danke für die schöne Nacht“, zwinkert er.

Mir ist nach heulen. Das war’s! Man sieht sich? Klar, irgendwann in tausend Jahren. Bedröppelt stapfe ich durch den kilometerhohen Schnee und hab jetzt schon überhaupt keine Lust drauf, meinen Freund zu sehen. Ich bin doch ekelhaft. Und ich hab ein schlechtes Gewissen. Deshalb beschließe ich, heute besonders nett zu ihm zu sein.


Ich war besonders nett zu Marcel. Ich habe mit ihm geschlafen. Eigentlich wollte ich nicht, aber ich hatte halt keinen Nerv, eine Ausrede zu erfinden. Es ist ja auch nicht so, dass ich Marcel total abstoßend finde, allerdings mittlerweile ein wenig zu durchtrainiert, seit er ins Fitnesscenter rennt. Außerdem ist er oft auch auf einer komplett anderen Wellenlänge als ich. Das macht es schwer, irgendwas Gemeinsames zu finden. Ich stehe auf Punk und Gothic und Emo, er studiert und wird danach im Betrieb seines Vaters arbeiten. Ich gehe freitags und samstags gerne weg, er fühlt sich unter freakigen Gestalten nicht mehr wohl und geht nur mir zuliebe manchmal mit in die Villa. Mann, und alle sagen, was für ein Glück ich mit Marcel habe. Sicher. Er ist nett, aufmerksam, kann über die gleichen Sachen lachen wie ich, säuft und vögelt nicht herum, will immer alles bezahlen, obwohl das gar nicht nötig wäre, sieht gut aus und er hat brav gewartet, bis ich soweit war, mit ihm zu schlafen … also überhaupt zum ersten Mal … er ist der perfekte Freund, seit drei Jahren. Warum zum Teufel spukt mir andauernd ein anderer Kerl durch den Schädel? Okay, es ist nicht neu für mich, dass mir irgendwelche Jungs gefallen, obwohl ich Marcel habe. Ist doch normal, oder? Schließlich laufe ich nicht blind durch die Gegend. Marcel erzählt mir auch ab und zu, wenn er was Hübsches gesehen hat. Allerdings glaube ich nicht, dass er mit anderen Männern kuschelt. Deswegen sollte ich mich zukünftig auch beherrschen.

„Ich überlege, mich tätowieren zu lassen“, erkläre ich beim Abendessen.

Mom schüttelt gleich den Kopf. „Auf keinen Fall.“

„Ich bin volljährig“, gebe ich zu bedenken.

„Du brauchst dir deinen Körper nicht verunstalten zu lassen. Er wird vermutlich auch so mit dir sprechen.“

„Darum geht’s doch gar nicht“, antworte ich finster.

„Hast du schon ein Motiv?“, will Leo wissen, den ich seit neun Jahren Paps nenne.

„Wie bitte?“, fragt Mom angepisst.

„Na ja, wenn’s nicht allzu groß ist und die Stelle nicht zu offensichtlich …“

„Bei dir piept’s wohl“, unterbricht sie ihn.

„Jutta, der Junge ist neunzehn, er kann seine eigenen Entscheidungen treffen.“

„Anscheinend hat er grad einen Anfall von Irrsinn. Davor werde ich meinen Sohn ja wohl noch schützen dürfen.“

„Okay“, stöhne ich genervt, „ich mach’s nicht. Könnt ihr euch jetzt bitte wieder abregen? Danke.“

„Aber irgendwas geht doch in deinem Kopf vor“, bohrt Mom weiter. „Du kommst doch nicht aus Spaß mit so einer dummen Idee um die Ecke. Was sagt eigentlich Marcel dazu?“

„Was hat’n der damit zu tun?“

„Habt ihr Krach?“

„Nein.“

„Was ist es dann?“

„Gar nichts“, behaupte ich und stehe auf. „Ich geh nach oben.“

Oben ist, wo ich wohne. Das Haus hat Leo von seinen Eltern geerbt und später die obere Etage für mich ausbauen lassen. Überhaupt hat Leo immer alles Mögliche für mich gemacht und sich von Anfang an total um mich gekümmert. Ich telefoniere ein bisschen mit Tine, die sofort gelangweilt ist, als ich über Dante reden will. Kann ich ihr nicht verübeln, ich rede momentan wahrscheinlich ununterbrochen über ihn. Wäre ich Tine, hätte ich mir bereits mehrfach in den Hintern getreten.

„Ich weiß, ich sollte es dir eigentlich nicht sagen, aber vermutlich würdest du es eh früher oder später rauskriegen. Er probt dienstags von sechs bis acht im Jugendzentrum. Es ist also relativ sicher, dass du ihn da treffen kannst.“

Woher Tine das schon wieder weiß … who knows?!

„Da lungern doch bestimmt tausend Leute rum.“

„Na und? Du hast doch gesagt, dass du nichts von ihm willst, also kann’s dir egal sein, oder?“

„Ist es ja auch.“

„Und in Wirklichkeit?“

„Tine“, knurre ich.

„Mal ehrlich, Elias, wir haben schon einige deiner Begeisterungsphasen durchgestanden, aber bei dem nimmt das langsam komische Züge an.“

„Schwachsinn.“

„Die vorherigen Typen hast du wenigstens nur aus der Ferne angehimmelt.“

„Mann, ich hab doch auch keine Ahnung, warum das auf einmal so … anders ist“, entgegne ich.

„Dann denk mal schleunigst darüber nach. Ich leg jetzt auf, bin mit Patti verabredet.“

Tines Rat stellt sich als ungünstig heraus. Weil ich nicht über Dante nachdenke, sondern an ihn denke, was dazu führt, dass ich mir einen runterhole und danach völlig im Arsch bin.


Drei Wochen später kann ich mir absolut nicht erklären, wieso ich Dante mal toll gefunden habe. Offenbar hat mein Gehirn kurzzeitig nicht funktioniert. Ey, der Typ ist dermaßen von sich überzeugt … eklig. Ich war natürlich doch im Jugendzentrum und konnte mich persönlich und aus nächster Nähe von seiner Widerwärtigkeit überzeugen. Seine charmant-schleimige Art ist mir dermaßen auf den Sack gegangen, dass ich ihm kreuz und quer in die Fresse schlagen wollte. Dabei war ich für seine charmante Art in Bezug auf mich erst mal noch sehr empfänglich. Das änderte sich schlagartig, als die Probe vorbei war und er fröhlich mit den wartenden Jungs an der Theke geflirtet hat. Mit den Mädels übrigens auch. Ey, auf den Penner scheinen ja wirklich ALLE abzufahren, es ist unfassbar.

Als ich dort hinkam und er sich seltsamerweise freute, mich in den Proberaum mitnahm und ich zuhören durfte, was normalerweise strengstens untersagt ist, dachte ich noch: Halleluja und Bingo! Ich fühlte mich irgendwie besonders. Nach der Probe war ich total abgemeldet. Nicht mal einer von vielen. Ich war komplett unsichtbar.

Meine Güte, und trotzdem bin ich den Dienstag darauf wieder hin. Da war’s noch schlimmer, weil Dante unaufgefordert Sexgeschichten erzählte. Immerhin weiß ich jetzt, dass er sich nicht gerne ficken lässt und schon ein paar Mal mit mehreren Typen gleichzeitig … warum zum Arsch meint er, dass mich so was interessiert? Seine Haare sahen übrigens auch doof  aus. Dunkelbraun mit sehr viel blond dazwischen.

Den dritten Dienstag hab ich mir dann geschenkt. Da bin ich lieber mit Marcel ins Kino gegangen.

Heute ist Samstag und ich brauche unbedingt laute Musik und tanzen. Mein Freund hat familiäre Verpflichtungen, Tine hat Pärchenabend, also bin ich allein unterwegs. In der Villa

ist es rappelvoll, was ich nicht begreife, denn die Musik ist zum Kotzen. Vermutlich ist hier Alle-zwei-Stunden-ein-gutes-Lied-Party und ich hab’s nicht mitgekriegt.

„Voll die grottige Musik“, brüllt es in mein Ohr.

Ich drehe mich erschrocken um. Dante lehnt an der Theke und nuckelt an einem dieser winzigen Kirschlollys, die man als Kind manchmal bei Arztbesuchen als Belohnung bekommen hat, weil man so tapfer war. Zwischendurch nippt er an … dem Glas nach zu urteilen ist es Whisky-Cola. Sein schwarzes, ärmelloses Shirt mit weißem Alien-Sex-Fiend-Schriftzug als hauteng zu bezeichnen wäre glatte Untertreibung. An seinen Handgelenken baumeln silberne Schnürchen und Sternchenarmbänder. Zwei schmale, weiße Nietengürtel schlängeln sich lässig um seine Hüften.

Es ist ätzend, aber ich bin sofort wieder Feuer und Flamme für diese hübsche Erscheinung!

„Außerdem laufen heute nur Idioten rum, zum Glück bist du jetzt da“, lächelt er, schnappt sein Glas, mit der anderen Hand meine Flosse und zieht mich auf eine plüschige Sitzgelegenheit.

„Wo warst’n Dienstag?“

„Wieso? Waren wir verabredet?“

„Das nicht, aber du warst halt die Wochen davor immer im Jugendzentrum.“

„Zweimal.“

„Magst du unsere Musik nicht?“

„Doch, die ist ganz okay.“

„Also?“

„Ich war mit meinem Freund im Kino“, erkläre ich, weil mir spontan nur die Wahrheit einfällt.

„Verstehe. Das ist natürlich wichtiger. Aber nächste Woche kommst du wieder.“

Das klang nicht nach einer Frage, worauf ich mir die Frage stelle, warum er mich unbedingt sehen will? Ich meine, der hat doch echt genug Verehrer. Und Verehrerinnen.

„Wenn ich Zeit hab, vielleicht.“

„Was habt ihr euch angeschaut?“

„Hä?“

„Du und dein Freund. Was Schweinisches?“, fragt er blöde grinsend.

Na toll, jetzt fängt das wieder an.

„Alice im Wunderland. Da kam ein Schwein drin vor“, antworte ich aggressiv.

„Johnny Depp ist toll. Der einzige Kerl, von dem ich mich ficken lassen würde.“

„Leider weiß der nicht einmal, dass du überhaupt existierst und außerdem steht der auf Frauen.“

„Hm, also ich würd auch ’nen Dreier mit ihm und seiner Zahnlückenfreundin machen. Die Frau ist echt schön.“

Na, Johnny Depp würd sich vermutlich bedanken.

„Ich hol mal was zu trinken.“

Ich hol mal kurz mein Sauerstoffzelt … hat der einen geilen Arsch!

Dante kommt zurück und hat mir netterweise Getränke mitgebracht. Zwei Gläser Whisky-Cola. Nein, frag mich nur nicht, was ich möchte, ich treffe niemals eigene Entscheidungen! Na ja, immerhin bin ich wohl eingeladen, weswegen ich das Gesöff runterkippe. Zwischendurch muss ich auf seine Oberarme mit den bunten Flügeln starren und würde gerne darüber lecken. Mir ist völlig schleierhaft, wieso. Seit Dante aufgetaucht ist, hab ich wohl recht seltsame Phantasien. Jedenfalls hatte ich bisher nie das Bedürfnis, Marcels Arme abzulecken. Glücklicherweise verwickelt Dante mich in ein Gespräch über alles Mögliche, so dass ich mich nicht weiter mit meinen Leck-Phantasien befassen muss. Ah, er ist gerade dabei, den Entwurf für einen Sleeve zu machen, Old School natürlich, den er dann stechen darf. Ultra spannend. Tine wäre begeistert … wegen des einschlägigen Vokabulars. Und seine Mutter ist Künstlerin, Malerin, um genau zu sein, also hat er das Talent von ihr. Seinen Vater kennt er nicht. Egal, denn er fühlt sich eh schon von Crazy adoptiert. Auf den Schreck hole ich die nächste Runde Whisky-Cola, obwohl mir bereits ein wenig duselig von dem Zeugs ist. Prompt verliere ich bei meiner Rückkehr das Gleichgewicht und lande fast auf Dantes Schoß.

„Verträgst nicht viel, mh?“, grinst er.

Ihm merkt man’s nicht an, er ist offensichtlich geübt im Saufen. Passt hervorragend ins Gesamtbild. Ich haue mein Getränk weg und überlege, dass ihm das Grinsen bestimmt vergeht, wenn ich ihm auf den Schoß kotze. Schade, dass mir dafür noch nicht übel genug ist.

„Ich würd dich echt gerne stechen, Eli“, sagt er auf einmal. Mit einem Blick … unbeschreiblich. „Willst du’s dir nicht noch mal überlegen?“

„Hm …“

Er rückt näher, umfasst mein Handgelenk und streicht über die Innenseite meines Unterarms.

„Das ist ’ne gute Stelle. Irgendwas Buntes. Würd bei dir irre cool aussehen.“

„Das kitzelt“, murmle ich schwächlich und ziehe meinen Arm weg.

„Ja?“, wispert er. „Wo denn noch? Ich wette …“ Und plötzlich küsst er meinen Hals, während seine Hand auf meinen Oberschenkel wandert.

Lange drüber nachdenken, was grad abgeht, kann ich nicht, weil Dante in meine Haare greift, mein Gesicht in seine Richtung dreht und wir uns küssen.

Wir knutschen. Heftig. Gefühlte hunderttausend Jahre und trotzdem nicht lange genug.

Irgendwann muss man schließlich nach Hause, weil der Laden dicht macht, und er lädt mich leider nicht ein, die Nacht mit ihm zu verbringen.


Am Dienstag im Jugendzentrum bin ich total obenauf. Immerhin hab ich mit Dante geknutscht und bin doch wohl jetzt was Besseres als die Anschmachter, die hier rumlungern.

„Hi, Wendler!“, schreit es durch den Saal.

„Der Wendler? Wo?“, schreit Torben zurück.

„Kleiner Insider-Witz“, lacht Dante. „Hey, Eli.“

Ja, total lustig, ich piss mich ein!

„Cool, dein Groupie ist da, dann können wir jetzt anfangen“, erklärt Torben.

Erwähnte ich, dass ich den Mitbewohner hasse?

„Mach dir nix draus. Torben ist manchmal nicht ganz richtig im Kopf“, behauptet Dante, legt seinen Arm um meine Schulter und geht mit mir runter in den Proberaum.

Der Gitarrist ist bereits da, Torben nimmt hinterm Schlagzeug Platz, Dante schnappt sich seinen Bass und die nächsten zwei Stunden krieg ich laute Punkmusik um die Ohren gehauen. Traditionell endet die Probe mit einer eigenwilligen, leicht umgetexteten Version von Britneys „Piece of me.“

„Ich bin dafür, dass wir die Scheiße endlich rausschmeißen“, verkündet Torben.

„Nee“, schüttelt Dante den Kopf.

„Das Lied ist doch kacke.“

„Frieder?“

Der Gitarrist zuckt die Schultern. „Is mir egal.“

„Okay, also bleibt es auf der Playlist.“

„Und seit wann bist du der Boss, der alles bestimmt?“, mault Torben.

„Seit immer. Eli, was sagst du dazu?“

Äh …?

„Was soll das denn jetzt?“, kreischt Torben schrill, aber Dante ignoriert das einfach.

„Findest du das Lied gut?“

„Ja, ist doch lustig“, sage ich vorsichtig.

Der blöde Mitbewohner stöhnt genervt. „Der findet doch alles gut, was du machst. Entscheiden jetzt deine Groupies, was wir spielen und was nicht? Dann hat sich die Band aber für mich erledigt.“

„Komm wieder runter, Dicker. Ist doch eh nur Zugabe, mh?“

„Trotzdem, ich …“

„Ey, jetzt halt mal den Rand“, unterbricht ihn Dante. „Hast du irgendwie Stress mit Pia, oder warum jallerst du hier rum?“

„Arschloch“, lächelt Torben horrorartig. „Nächste Woche bleibt der draußen“, sagt er noch auf mich deutend, bevor er den Raum verlässt.

Der Gitarrist verschwindet ebenfalls, verabschiedet sich allerdings höflicher.

„Das geht nicht gegen dich, Elias.“

Nein, natürlich nicht. Ich fühle mich absolut nicht angegriffen. Ob so ungefähr das Ende der Beatles begonnen hat? Und ich bin dann eine Art Yoko Ono.

„Wenn der Idiot sich mit seiner Freundin vertragen hat, ist er wieder lieb. Die stressen sich mindestens alle paar Wochen, weil Pia findet, dass Torben zu wenig Zeit mit ihr und zu viel Zeit mit uns verbringt.“

Schön, dass er mit mir die Beziehungsprobleme fremder Mitbewohner bequatscht, oder?

„Logischerweise verbringt er die meiste Zeit damit, irgendwelche Weiber flachzulegen, was Pia allerdings nicht weiß. Und Torben weiß nicht, dass Pia auch gerne mal Weiber flachlegt. Total krank die Beziehung, echt.“

Wo ist bloß die gute, alte Treue hin? Fuck, so was sollte ich nicht denken, ich hab mit Dante fremdgeknutscht. Mmmhhh … ich hab mit Dante geknutscht. Schade, sieht irgendwie nicht danach aus, als würde das heute wieder passieren.

Nachdem er seinen Bass weggestellt hat, setzt er sich mit einer Flasche Bier zu mir aufs gammlige Sofa.

„Sorry, ich bin heute etwas … ah, fuck, keine Ahnung.“

„Was’n los?“, frage ich.

„Meine Mutter.“

„Die Malerin.“

„Genau“, schnauft er, trinkt die Flasche zur Hälfte leer und plaudert ein wenig aus dem Nähkästchen.

Dass bei seiner Mama ständig irgendwelche Künstlerfreunde rumhingen und er eine sehr lockere Erziehung genossen hat, beispielsweise. Mit vierzehn hatte er seinen ersten Freund, der gleich mal zehn Jahre älter, natürlich ein Typ aus dem Freundeskreis seiner Mutter, war und eine Weile bei ihnen gewohnt hat. Überhaupt haben wohl öfters Leute vorübergehend mit im Haus gelebt. Gerne die jungen Gespielen und Gespielinnen seiner Mutter. Die schläft nämlich mit Männern und mit Frauen. Seinen Vater kennt er nicht, weil die Mama selbst nicht weiß, welcher der Gespielen sie damals geschwängert hat. Und eigentlich war und ist es ihr auch egal. Die klassische Familie mit Vater, Mutter, Kind lehnt sie bis heute ab.

„Meine Freunde haben mich immer total beneidet, weil ich so viele Freiheiten hatte und bei uns ständig was los war. Die fanden meine Mutter cool.“

„Für dich war das bestimmt nur bedingt spaßig, oder?“

Dante schaut mich überrascht an. „Komisch, du bist der Erste, der das sagt.“

„Echt? Hm, vielleicht hast du bisher nur Schwachköpfe kennengelernt.“

„Möglich.“

„Ich meine … klar, wenn man selbst ganz normale Eltern hat, findet man so was natürlich toll, aber wenn man das jeden Tag hat … ich weiß nicht. Nee, hätte mir nicht gefallen.“

„Deswegen bin ich irgendwann abgehauen. Erst war ich in einer betreuten WG, aber das war auch kacke. Ich konnte mich da an die vielen Regeln nicht gewöhnen, ich kannte so was ja nicht. Dann hab ich eine Zeit lang bei irgendwelchen Typen gewohnt und wenn ich die Typen satt hatte, bin ich wieder nach Hause. Du bist wahrscheinlich ziemlich behütet aufgewachsen, oder?“

„Merkt man das?“

„Ein bisschen“, grinst er, „aber das ist okay.“

„Na ja, mein Vater hat sich relativ schnell aus dem Staub gemacht. Das war für meine Mutter sicher auch nicht einfach, alleine mit einem Kind an der Hacke. Sie hatte dann aber das Glück, meinen Stiefvater zu treffen.“

„Ich bin ganz froh, dass ich keine Ahnung habe, wer mein Erzeuger ist. So kann ich mir immerhin einbilden, dass er was total Tolles ist. Denn die Realität ist ja wohl meistens enttäuschend. Weißt du, was aus deinem Vater geworden ist?“

Mein Handy klingelt. Marcel. Der wartet auf mich bei mir zu Hause. Fuck! Wir waren heute eigentlich nicht verabredet.

„Ich muss los“, erkläre ich.

„Bis nächste Woche.“

Marcel ist reichlich angepisst. Völlig zu unrecht, wie ich finde.

„Wo warst’n du?“

„Jugendzentrum.“

„Schon wieder?“

„Rege ich mich vielleicht auf, dass du ständig im Fitnesscenter rumlungerst?“

„Jutta sagt, du lässt dir ein Tattoo machen.“

War ja klar, dass Mom sofort alles weitertratschen musste.

„Das hat sie falsch verstanden.“

„Gut“, lächelt er und zieht mich in seine Arme, „ich mag deinen Körper nämlich so, wie er ist.“

Ich wünschte, ich könnte das Kompliment zurückgeben. Dabei war ich mit Marcels Körper echt zufrieden. Jetzt ist er erfolgreich dabei, sich ’n Sixpack anzutrainieren, was ekelhaft ist, weil es sich anfühlt, als würde man einen Insektenpanzer streicheln. Ich hab ihm mal gesagt, dass ich so was nicht schön finde … anscheinend ist ihm das egal. Dante würde für seinen Freund bestimmt angenehm anfassbar sein wollen. Scheiße, Dante IST angenehm anfassbar. Davon konnte ich mich letzten Samstag beim Knutschen überzeugen. Da hab ich nämlich mal kurz meine Hand unter sein Shirt …

„Ich wüsste gerne, woran du grad denkst.“

„Hm?“

„Du lächelst so verträumt“, behauptet Marcel.

Mir wird augenblicklich übel. Schlechtes Gewissen und so. Aber, hey … es ist nicht meine Schuld, dass sich Marcel in ein Insekt verwandelt. Zum Glück mag er nur ein bisschen kuscheln und fährt später nach Hause. Ich glaube, Sex hätte ich heute nicht fertig gebracht.


Ich bin überhaupt nicht der Erste, der festgestellt hat, dass Dante keine wahnsinnig tolle Kindheit hatte. Torben weiß das auch, denn mit dem ist er seit Ewigkeiten befreundet und deshalb kennt Torben Frau Engels samt Künstlerfreunden, Gespielen und Gespielinnen in und auswendig. Mich nervt das, weil ich dachte … ja, was? Dass Dante nur mit mir über private Dinge spricht? Okay, mich nervt es, dass der beknackte Mitbewohner mehr über ihn weiß als ich. Wahrscheinlich weiß sogar der Gitarrist mehr über Dante, weil die zwei ebenfalls schon längere Zeit befreundet sind. Ich wäre auch schrecklich gerne mit ihm befreundet, aber vermutlich bin ich eben doch nur ein Groupie. Ins Jugendzentrum zu gehen macht irgendwie keinen Sinn mehr, weil man sich dort nicht vernünftig unterhalten kann, wenn tausend Verehrer und Verehrerinnen ihn umringen und mit Herzchenaugen anglotzen. Ey, die sollen sich doch alle verpissen!

Glücklicherweise wirkt sich meine Hardcore-Schwärmerei nicht negativ auf die Schule aus. Meine Englischklausur ist wie üblich ’ne Eins geworden. Mathe dagegen … na ja, da werd ich niemals besser als durchschnittlich sein. Ich hab mal überlegt, ob ich überhaupt irgendwas gut kann. Also außer Deutsch und Englisch in der Schule. Dante zum Beispiel kann irre gut zeichnen, tätowieren, Bass spielen, singen. Tine zeichnet auch gut, schreibt in ihrer Freizeit Horrorgeschichten und näht ihre Klamotten selbst. Marcel hat total viel Ahnung von Computerzeugs und ist ein Mathegenie. Patti spielt Gitarre und ein bisschen Schlagzeug. Ich kann irgendwie gar nichts. Weder zeichnen noch Geschichten erfinden, Computer begreife ich grundsätzlich nicht und ein Instrument hab ich auch nie gelernt. Wahrscheinlich bin ich der talentloseste Mensch auf der Welt. Das macht mich echt fertig. Manchmal weiß ich nicht mal, warum sich jemand mit einer Niete wie mir abgeben will, warum sich Marcel in mich verliebt hat.

Unten in der Küche ist Leo grad dabei zu kochen. Irgendein hochkompliziertes Risottozeugs, was für ihn eine Kleinigkeit ist, als gelernter Koch. Ich finde es unglaublich, dass er sich nach seinem Job noch stundenlang zu Hause an den Herd stellt. Allerdings haben Mom und er heute Hochzeitstag. Das heißt für mich: verschwinden und Pizza bestellen! Oder eher: verschwinden. Das mit der Pizza lass ich, weil ich eh nix runterkriegen würde. Dante hat kein einziges Wort über die Knutscherei verloren. Und die ist immerhin über zwei Wochen her. Vielleicht erinnert er sich gar nicht mehr dran. Oder ich küsse so miserabel, dass er sie verdrängt hat. Oder es ist ihm völlig egal, weil er sowieso ständig mit Jungs rumknutscht. Mir sind alle drei Varianten unsympathisch. Er hätte mir ja wenigstens mal erklären können, warum er mich geküsst hat. Und sagen, dass es ihm leid tut, weil ich doch einen Freund habe, er aber wahnsinnig in mich verliebt ist und mich einfach küssen musste, weil er sonst vor Sehnsucht danach krepiert wäre. Irgendwas in der Art halt.

Um den Kopf frei zu kriegen, schwinge ich mich aufs Fahrrad und besuche Tine, die lieber mit Patti kuscheln will, rufe Marcel an, der nicht drangeht, und stehe auf einmal vor Dantes Haus. Mann, das ist doch total verrückt. Ich kann da nicht schon wieder hingehen und mich ungefragt aufdrängen. Außerdem ist er bestimmt nicht zu Hause. Und wenn doch, hat er keine Zeit. Oder keine Lust, sich mit mir zu befassen.

Mein Fahrrad ist abgeschlossen und dummerweise hab ich eben geklingelt. Torben steht oben an der Treppe.

„Hallo“, sage ich leise. „Äh … ist …“

„Dante“, brüllt er in die Wohnung, „deine Groupies haben unsere Adresse rausgekriegt. Jetzt müssen wir umziehen.“ Damit lässt er mich stehen.

Ein paar Sekunden später erscheint Dante und schlindert auf schwarzen Snoopy-Socken über den Laminatboden zur Tür.

„Eli … hi.“

„Hey“, grüße ich heiser. „Ich … ähem … ich war grad in der …“

„Komm rein.“

Wir gehen in sein Zimmer, ich darf mich setzen und mit ihm Mandeltee trinken.

„Störe ich?“, frage ich und blicke auf den Wust an Papier und Stiften auf dem niedrigen Tisch.

„Na ja, nee, also eigentlich nicht. Hab nur ein bisschen gezeichnet. Hey, sag mal, was du davon hältst.“

Er reicht mir ein Blatt Papier. Hm … Herzen, Sterne, Hufeisen, Schwalben, Schriftbänder, Rosen. Alles sehr bunt.

„Nicht übel“, behaupte ich lahmarschig.

„Irgendwie isses das noch nicht, oder?“

„Ich hab von so was keine Ahnung.“

„Aber du kannst sagen, ob’s dir gefällt. Beziehungsweise, was dich stört.“

„Warum fragst du nicht deinen Chef?“

„Weil ich dich frage.“

Ich beäuge den Entwurf eingehender. „Also … ich würde die Herzen über das Hufeisen in die Mitte setzen, rechts und links daneben jeweils eine Schwalbe.“

Dante lächelt und kramt ein weiteres Blatt hervor. Mit einer Zeichnung, die aussieht wie ich’s grad beschrieben hab.

„So ungefähr?“

„Ja. So … ungefähr.“

„Siehst du, hast doch Ahnung.“

Sehr richtig. „Soll das der Sleeve sein, von dem du erzählt hast? Dann hat der Mensch aber einen recht … kurzen Arm.“

„Okay“, lacht er, „hab ein bisschen auf die Kacke gehauen. Schwierig wird’s aber trotzdem. Und wer weiß, vielleicht kommt ja irgendwann noch was dazu.“

„Viel Glück.“

Dante reißt entsetzt die Augen auf. „Sag nicht so was Schlimmes. Ich kann mich doch nicht aufs Glück verlassen. Ich muss es können.“

„Du machst das schon.“

„Das behauptet Crazy auch. Der ist super überzeugt von mir und ich piss mir fast ins Hemd.“

Mann, langsam hasse ich es, ständig diesen beschissenen Namen zu hören.

„Kannst du eigentlich von der Tätowiererei leben?“, frage ich, weil’s mich wirklich interessiert.

„Noch lange nicht.“

„Und woher …“

„Meine Mutter finanziert mich gerne.“

„Ach ja?“

„Klar. Schließlich hab ich ihr das schönste Geschenk überhaupt bereitet … ich bin schwul geworden.“

„Du verarschst mich doch.“

„Kein bisschen. Ehrlich, sie wäre wahrscheinlich vor Schreck tot umgefallen, wenn ich gebeichtet hätte, dass ich auf Frauen stehe. Denk nicht weiter drüber nach. Marlene ist halt … exzentrisch. Und sie hat’n Faible für Homos. Und sie hat genug Geld. Inzwischen finde ich’s auch okay, mich von ihr aushalten zu lassen … jedenfalls momentan. Anfangs wollte ich das nicht und hab überlegt, wie ich anderweitig an Geld kommen könnte … so ohne nervigen Acht-bis-fünf-Job. Da hab ich mit Gedanken gespielt, Pornos zu drehen.“

„Wie bitte?“ Das ist doch hoffentlich ein Scherz.

„Ich hab gedacht, wenn ich schon gerne ficke, warum nicht vor einer Kamera für Geld? Allerdings …“

„Ja?“

„Es hat sich herausgestellt, dass ich … äh … ich kann halt irgendwie nicht, wenn mir tausend Leute dabei zugucken.“

Ich bin beruhigt, dass er nicht so freizügig ist, wie es grad den Anschein hatte.

„Ich hab da echt stundenlang rumhantiert und einfach keinen hochgekriegt. Also jedenfalls nicht so, dass es zu gebrauchen gewesen wäre. Das war mega peinlich. Weil ich vorher logischerweise total die Klappe aufgerissen hab … von wegen, ich hab den Größten und kann am Längsten. War dann ja wohl nicht ganz so.“

Was soll man auf eine derartige Geschichte antworten? Genau, gar nix.

„Möchtest du noch Tee?“

„Hm-hm.“

Dante steht auf und geht in die Küche. Okay, ich hab einen Augenblick, um mich zu sammeln. Und um die Bilder aus meinen Kopf zu bekommen. Du lieber Himmel!

Nach einer weiteren Tasse Tee beschäftigt mich das Thema immer noch.

„Du hättest also wirklich Pornos gedreht, wenn’s … gegangen wäre?“

„Ja, wieso nicht?“

„Ich nehme an, auch das hätte deine Mutter toll gefunden.“

„Das war mir egal.“

„Trotzdem. Man kann so was doch eigentlich keinem erzählen.“

Dante zuckt die Schultern. „Ich hätte es allen erzählt. Es war ja nicht so, dass mich jemand gezwungen hat. Es war meine Entscheidung … es zu versuchen.“

Bin ich eigentlich der einzige, der findet, dass man Sex nur haben sollte, wenn man verliebt ist und nicht, weil eine Kamera draufhält?

„Ich finde, Sex ist Privatsache.“

„Auf jeden Fall“, nickt Dante. „Wenn ich mich mehr mit Computern und Internetkram auskennen würde, hätte ich vielleicht ’ne Website gebastelt, mich selber allein oder mit wem auch immer gefilmt und die Clips gegen Kohle ins Netzt gestellt. Aber das war mir auch irgendwie zu viel Aufwand.“

Ey, der will mich doch extra nicht verstehen, oder?! Sein Grinsen ist verdächtig.

„Jetzt ist deine Meinung über mich grad in den Keller gestiefelt, mh? Guck mich nicht so an, Eli. Sex innerhalb einer Beziehung ist Privatsache. Ich würde beispielsweise nicht durch die Gegend ficken, wenn ich richtig verliebt wäre.“

Gut zu wissen!

„Und ich würde mich auch nicht mit meinem Freund filmen. Weder um Geld dafür zu kassieren noch zum Vergnügen, weil … so selbstverknallt, dass ich bei meinem eigenen Anblick scharf werde, bin ich nicht.“

Haha, es werden ja auch schon genügend andere Leute bei seinem Anblick scharf.

„Warst du mal richtig verliebt?“, frage ich und klinge ein bisschen wie Tines heißgeliebte Carrie Bradshaw.

Dante grinst und antwortet: „Abso-fucking-lutely. Ist allerdings tausend Jahre her.“

Meine Augen brennen unangenehm. Eli, was hast du erwartet? Dass er dir eine romantische Liebeserklärung macht? Junge, träum weiter!

„Was ist mit dir?“

„Hm?“

„Warst du mal richtig verliebt?“

„Äh … ich hab einen Freund.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage“, lächelt Dante. „Wie lange seid ’n ihr zusammen?“

„Ungefähr drei Jahre.“

„Wow. Warte mal, du bist jetzt wie alt … neunzehn? Ich kenne echt nicht viele, die in dem Alter schon so festgelegt waren. Und, wollt ihr später heiraten und Kinder kriegen?“

Soll ich jetzt und hier einem fast fremden Menschen gestehen, dass ich überhaupt nicht weiß, ob ich Marcel noch genug liebe? Oder dass ich mir fast sicher bin, Marcel eben nicht mehr zu lieben? Dass er scheiß perfekt ist … aber eben nicht für mich? Warum ich mich dann nicht von ihm trenne? Solche Sachen bespreche ich nicht einmal gerne mit mir selbst.

„Sorry, bin ich zu intim geworden?“

„Was?“, frage ich irritiert.

„Na ja, wir müssen uns nicht über deinen Freund unterhalten, wenn du dazu keine Lust hast“, erklärt er.

„Da gibt’s halt nicht viel zu erzählen.“

Dante schüttelt etwas überrascht den Kopf. „Mann, dann scheint es die große Liebe zu sein, was?“

„Die Tatsache, dass ich letztens mit dir fremdgeknutscht habe, lässt anderes vermuten“, entgegne ich angespannt.

„Das hatte doch nix weiter zu bedeuten. Du warst breit und seien wir mal ehrlich … ich hab dich ganz schön genötigt. Also mach dir deswegen keinen Kopf.“

Fein, er erinnert sich noch. Soll ich mich darüber jetzt freuen, dass es für ihn offensichtlich nur ein Spaß zwischendurch gewesen ist? Gott, was zum Geier hab ich eigentlich hier zu suchen?

„Okay, ich werd dann mal gehen“, behaupte ich und möchte mich augenblicklich selber K.O. schlagen.


„… und Pornos wollte er drehen, aber das hat nicht geklappt, weil er keinen hochgekriegt hat und … ich weiß auch nicht, warum muss der denn immer derart intime Dinge ausplaudern?“

Tine starrt mich mit offenem Mund an.

„Was?“

Sie blickt auf ihre Uhr. „Du hast grad einen fast zehnminütigen Monolog über Dante Engels gehalten … und mir ist noch nicht der Kragen geplatzt.“

„Entschuldige“, entschuldige ich mich für meinen Mitteilungsdrang.

„Außerdem wäre er sicher super erfreut, wenn er wüsste, dass du seine Erektionsprobleme weitertratschst.“

„Ich glaube, der geht grundsätzlich gerne mit seinen Sexgeschichten hausieren. Und überhaupt, der besten Freundin etwas Privates über andere Leute zu erzählen ist wie gar nicht erzählt.“

Das haben wir nämlich irgendwann mal so beschlossen.

„Ja, aber möglicherweise interessiert’s mich nicht, ob Dante in seiner Freizeit Pornos dreht.“

„Er dreht ja keine.“

„Du weißt, was ich meine, Eli.“

Es tut mir ja wirklich leid, dass ich Tine so auf den Sack gehen muss. Aber mit wem soll ich sonst über Dante reden? Dabei hab ich mich noch nicht mal getraut, ihr das Wichtigste zu sagen. Nämlich, dass ich geknutscht hab mit ihm. Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich das für mich behalte. Tine gehört zu den Menschen, die glauben, dass Marcel und ich füreinander bestimmt sind. Sie wäre sofort total sauer.

„Jedenfalls finde ich, du solltest dir schleunigst ein paar Hobbys zulegen“, erklärt sie, „die dich von deiner Schwärmerei ablenken. Du bist ja praktisch besessen. Wie kleine Teenie-Mädchen, die Justin Bieber oder so anhimmeln. Ey, dass Marcel noch nicht gemerkt hat, was mit dir los ist … unglaublich.“

„Der hat kaum noch Zeit, weil er andauernd seinen Körper stählen geht. Ich glaube, dieser Fitness- und Trainierwahn hat sein Hirn lahmgelegt.“

„Er will halt gut für dich aussehen. Ist doch toll.“

„Er sieht aber nicht mehr gut aus. Das ist das Problem.“

„Du hast echt einen Knall“, schüttelt sie den Kopf. „Wenn er nicht schwul und mit dir zusammen wäre, hätte ich ihn mir schon längst geschnappt.“

„Patti wäre begeistert.“

„Ach ja“, grinst sie, „den hätte ich beinahe vergessen. Also gut, wenn Patti nicht wäre, Marcel auf Frauen stehen würde und nicht mit dir … will sagen, dein Freund ist mega heiß. Und er liebt dich.“

Ja, ja, vielen Dank. Bis eben hatte ich auch noch kein schlechtes Gewissen!


So, ich habe mir rigoroses Dante-Verbot auferlegt. Kein Rumgehänge im Jugendzentrum, keine zufälligen Besuche bei ihm zu Hause und in der Villa bin ich auch nicht gewesen.

Dafür war ich die letzten zwei Wochen viel mit Marcel zusammen. Das war echt schön und hat mir gezeigt, dass ich ihn doch sehr gern habe. Okay, der Sex war … nett. Das ist aber meine Schuld, weil ich ihm nie sage, was ich möchte. Was wiederum daran liegt, dass ich Marcel gut kenne und weiß, er ist nicht der Typ, der seinen Freund einfach mal packt, aufs Bett wirft und dumm und dämlich fickt, wenn ihm danach ist. Marcel macht’s immer verschmust, romantisch, ruhig und … nett eben. Dann flüstert er mir liebes Zeug ins Ohr, obwohl ich grad dringend was Schmutziges hören will. Er würde halt nie sagen: Ich bin geil auf dich, lass uns ficken! Er sagt: Ich möchte mit dir schlafen! Das ist in bestimmten Momenten voll in Ordnung, aber nicht, wenn ich dermaßen rattig bin, dass mich Höflichkeit und Romantik mal kurz am Arsch lecken können. Tja, und weil ich ihn, wie bereits erwähnt, gut kenne, würde ich mich im Leben nicht trauen, mit ihm über so etwas zu sprechen. Allein bei seinem Blick müsste ich mich schämen, als hätte ich verlangt, von ihm gefesselt, verdroschen, angepinkelt oder noch Schlimmeres zu werden. Nicht, dass Marcel verklemmt ist. Auch nicht intolerant. Er findet, dass jeder tun und lassen soll, was er will. Nur … was ich will, darf ich anscheinend nicht wollen, obwohl das wirklich sehr harmlos ist. Keine Ahnung, ist es normal, dass man mit neunzehn Jahren schon sexuelle Probleme in der Partnerschaft hat? Tine hat jedenfalls keine. Die ist seit knapp einem Jahr mit Patti zusammen und kommt IMMER auf ihre Kosten. Na ja, vielleicht sieht das in zwei Jahren anders aus. Wenn die akute Verknalltheit und die permanente Bumsbereitschaft nachgelassen haben.

Stichwort Verknalltheit! Als Dante und ich geknutscht haben … wow, das hat gekickt und gekribbelt und war aufregend. Knutschen mit Marcel ist schön und vertraut. Die Schmetterlinge im Bauch halten sich mit rasanten Flügen vornehm zurück. Das war im ersten Jahr unserer Beziehung auch noch völlig anders. Aber ehrlich gesagt, nach anderen Jungs geschielt hab ich von Anfang an gerne. Möglicherweise bin ich ja gar kein Beziehungstyp?

Vermutlich würde das mit der Begeisterung für andere Jungs sogar aufhören, wenn mal einer von denen Interesse zeigen würde … das kam bisher nie vor. Marcel war der Erste und wird wohl der Einzige bleiben. Logischerweise lernt er dagegen ständig irgendwelche Typen kennen, die scharf auf ihn sind. Ich rechne es ihm hoch an, dass er noch nicht fremdgegangen ist, denn die Typen sind mit Sicherheit allesamt sehr viel toller als ich. Und haben bestimmt keine eigenartigen sexuellen Phantasien. Vorgestern hab ich an Marcels Arm geleckt. Er hat’s nicht verstanden und mir hat’s nichts gebracht.


Begeisterungsphasen sind anstrengend. Für die beste Freundin und vor allem für einen selbst. Es ist wie … also eine Woche lang ist man völlig high, braucht weder ausreichend zu essen, noch zu schlafen, noch sonst was, weil man den Angebeteten gesehen oder sich mit ihm unterhalten hat, und danach stürzt man in die absolute Hölle, weil der Angebetete einem zum Beispiel nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat. Man hat eigentlich überhaupt keine Kontrolle mehr. Man kann nur versuchen, in einen gesunden Zustand zwischen Himmel und Hölle zu gelangen. Aber das schafft man nicht. Es wird munter weiter gefahren in der fucking  Gefühlsachterbahn. Wenn so eine Phase dann vorbei ist, merkt man erst, dass man körperlich ein Wrack ist und braucht ungefähr achthundert Jahre, um sich zu erholen. Leute, die keine extremen Begeisterungsphasen kennen, müssen übrigens Drogen nehmen, um die eben geschilderten Zustände herbeizuführen. Das brauche ich nicht. Stellt mir einfach einen Dante vor die Nase. Um das aber noch mal klarzustellen: Meine Begeisterung für Dante oder andere Jungs ist völlig ungefährlich für meine Beziehung, weil ich wirklich niemals mit irgendwem seitenspringen würde!

Ich glaube weiterhin, dass solche Phasen hauptsächlich Leute haben, deren Selbstbewusstsein nicht so ganz stark ausgeprägt ist. Weil … man eben nicht nur schwärmt, man möchte gleichzeitig auch ein bisschen so sein wie der Angebetete. Menschen, die mit sich zufrieden sind, wünschen sich vermutlich kaum, jemand anders zu sein, oder? Ich dagegen fühle mich sehr oft unzulänglich. Zufriedenheit ist praktisch ein Fremdwort für mich. Manchmal ekeln mich Tine, Marcel, Dante und so weiter regelrecht an, weil die sich halt nie mit solchen Gedanken herumschlagen müssen. Die sind nämlich toll und machen alles richtig.

Ich mache alles falsch, denn … meine Dante-Sehnsucht ist vorhin so dermaßen übermächtig geworden, dass ich jetzt schon minutenlang um sein Haus herumschleiche. Wenn ich nicht aufpasse, verwandle ich mich in einen blöden Stalker und so was braucht ja wohl kein Mensch.

Okay, ich klingle einfach und wenn er da ist, ist er da, und wenn nicht … egal. Besser wär’s, er wäre nicht da, weil mir kein guter Grund einfällt, weswegen ich ihn schon wieder belästige. Auch kein schlechter. Überhaupt gar keiner. Zumal ich ihn heute im Jugendzentrum gesehen habe. Aber das war natürlich alles andere als ausreichend, denn da hat er mich nicht beachtet, weil er mit den Jungs flirten musste. Na ja, sollten alle Stricke reißen, kann ich ihm immer noch die Wahrheit über seinen neuen Adoptivvater erzählen.

Also, ich klingle. Und mir wird geöffnet. Hauptsache, der beknackte Mitbewohner haut mir nicht wieder einen blöden Spruch um die Ohren. Nein, in der Tür steht eine Gothic-Frau.

„Dante ist nicht da“, erklärt sie.

„Äh …“

„Sorry“, lächelt sie freundlich, „aber du siehst so aus, als wolltest du zu Dante.“

„Ja, ähem …“

„Wie gesagt, er ist nicht da.“

Meine Beine fühlen sich unglaublich schwer an und ich hab diesen Kloß im Hals, der glücklicherweise verhindert, dass ich sofort in Tränen ausbreche.

„Tja, dann gehe ich mal. Äh … tschüß.“

„Soll ich ihm was ausrichten?“

„Nein“, kiekse ich leise und schwanke schwächlich die fünfhundert Stufen hinunter.

Fuck, was mache ich denn jetzt? Was hab ich mir dabei gedacht, so spontan aufzukreuzen?

Und wo treibt der blöde Kerl sich abends um neun Uhr rum? Oder was treibt er? Oder mit wem treibt er es grad? Ich kann’s mir ungefähr denken. Sicher mit dem kleinen Blondschopf, der ihn im Jugendzentrum so hardcore angegraben hat. Dem Dante irgendwann sein verficktes Regenbogenarmband geschenkt hat. Mann, ich bin doch echt bescheuert. Er fickt Blondie und ich hänge hier in der Kälte. Hm, und wenn er doch nicht mit dem Blondschopf … vielleicht holt er ja bloß was zu essen oder musste nochmal ins Studio oder dringend Gott weiß was erledigen. Vielleicht kommt er gleich zurück. Zwei, drei Minuten kann man mal warten …

Inzwischen ist es halb elf und ich habe mich in einen wandelnden Eiszapfen verwandelt. Wieso ist es Anfang März eigentlich noch Winter? Ich begreife das nicht. Und ich begreife mich selbst nicht, weswegen ich mit zittrigen Fingern mein Fahrrad aufschließe und schleunigst nach Hause fahren will, als plötzlich Dante mit schwarz-rot gefärbten Haaren auftaucht.

„Eli, was machst du denn hier?“

Es ist mir unmöglich, darauf gescheit zu antworten. Mir ist kalt, ich fühl mich scheiße, Dante sieht wahnsinnig gut aus und ich hoffe, dass der Kloß im Hals noch kurz da bleibt, weil ich mich sonst vor Peinlichkeit erschieße.

„Du bist ja total durchgefroren“, stellt er fest. „Willst du mit raufkommen und dich ein bisschen aufwärmen?“

Ein bedröppeltes Nicken ist alles, was ich hinkriege.

„Hey … du schon wieder“, grüßt die Gothic-Frau, die uns im Flur über den Weg läuft. Dante bekommt von ihr einen Kuss auf die Wange. „Lustige Haare, Engels.“

„Hi, Pia“, entgegnet er.

Sie beäugt mich kritisch. „Sag mal, du hast jetzt aber nicht anderthalb Stunden draußen vor der Tür gestanden, oder?“

„Nee, ich war noch woanders“, lüge ich.

„Ah, okay“, nickt sie und verschwindet ins Bad.

Dante weiß es. Das sehe ich an seinem Blick. Na und? Macht auch schon nix mehr.

„Lust auf heiße Schokolade?“

„Hm-hm.“

In seinem Zimmer wird mir, dank des süßen Heißgetränks, ein wenig wärmer. Dante scheint Kälte gut abzukönnen, denn er trägt lediglich ein Drop-Dead-T-Shirt zu seiner engen, schwarzen Jeans. Ich muss ihn anstarren wie bekloppt und irgendwie schleicht sich diese Leck-Phantasie in mein Hirn, worauf meine Visage wahrscheinlich so rot wird wie seine Haare.

„Lange nicht gesehen, mh?“

„Ich hab dich vor ein paar Stunden im Jugendzentrum gesehen“, antworte ich eine Spur zu aggressiv.

„Echt? Warum hast’n nicht Hallo gesagt?“

„Du warst beschäftigt.“

Dante streicht sich kurz durch die Haare. „Blondie? Der ist mir total auf den Sack gegangen. Super hartnäckig, der Kleine. Wollte unbedingt ein Tattoo von mir, aber … der ist ja leider erst sechzehn. So was mache ich nicht mal hier zu Hause unter der Hand. Hinterher stehen die Eltern auf der Matte oder so’n Scheiß.“

„Wahrscheinlich wollte der eh was ganz anderes“, murmle ich.

Dante lacht sich kaputt. „Ja, ich glaub auch. Aber, hey … sechzehn … ist ein bisschen sehr jung. Außerdem bin ich echt fertig. Den ganzen Nachmittag gestochen, danach geprobt und mit Torben über irgendeinen Kack diskutiert und danach hat mich Iris beim Haare färben mit tausend Sachen zugetextet … jetzt will ich nur noch Ruhe haben.“

„Soll ich dann lieber gehen?“

„Nee, is okay. Du bist nie anstrengend, Eli.“

Und schon fährt die Achterbahn rasant nach oben.

„Übrigens … hier.“ Er drückt mir eine Visitenkarte in die Hand. Schwarz mit flammenartigem gelb-orangenen Schriftzug: Crazy Tattoos. „Hinten drauf steht meine Nummer. Für den Fall, dass du mich nochmal spontan sehen willst und nicht weißt, wo ich grad bin … ruf mich einfach kurz an, okay?“

Verschämt verstaue ich die Karte in meiner Tasche.

Wir reden eine Weile über Dieses und Jenes und stellen eine riesige Gemeinsamkeit fest: Linus und die Peanuts! Seit ich denken kann, liebe ich die Peanuts. Unnötig zu erwähnen, wie entzückt ich bin, dass Dante mich versteht, oder? Er kramt dann auch gleich tausend DVDs raus und schaltet auf Kuschelmodus. Sein Kopf lehnt so an meiner Brust, dass ich meinen Arm um ihn legen muss und ganz bequem durch seine Haare wuseln kann.

„Pass auf, ich färb bestimmt noch ’n bisschen ab“, grinst er.

„Das macht nichts“, erkläre ich und wusele weiter. Nicht mal der Weltuntergang könnte mich davon abhalten. Dantes Haare sind super weich. Genau wie sein Nacken.

Irgendwann fällt mir doch plötzlich ein, dass ich morgen Schule hab und vielleicht langsam nach Hause sollte.

„Kannst hier schlafen“, bietet Dante an. „Das heißt, du hast eigentlich keine Wahl, weil ich dich nachts nicht allein durch die Gegend latschen lasse. Und Torben ist vorhin mit Pia weg, also kann ich dich nicht fahren.“

Oh Mann, ist der süß besorgt. Aber nochmal bei ihm schlafen halte ich sicher nicht aus. Aber JETZT gehen … ist auch doof. Und Dante zieht sich bereits aus und kriecht unter die Decke.

Na ja, was soll’s?!

Anders als in der ersten Nacht trägt er bloß eine Unterhose zum Schlafen und ich sehe mich auf einmal mit seinen unglaublich schönen Armen konfrontiert, als ich neben ihm liege. Obwohl es dunkel ist, sind die Umrisse der Flügel deutlich zu erkennen.

Ey, lass bloß deine Zunge drin, Eli, mahne ich mich, sonst wird’s schweinepeinlich!

Ohne, dass ich’s will, rücke ich näher an ihn ran.

„Wie lange hast du das schon?“, frage ich und tippe leicht an sein Industrial-Piercing im Ohr, wahrscheinlich nur, um zu überprüfen, ob er schon schläft und ich nicht doch heimlich an seinem Arm …

„Ewig.“

Verdammt!

„Sieht cool aus.“

„Ich weiß“, seufzt er.

Mein Herz schlägt dermaßen laut und schnell, dass ich das Gefühl habe, mein gesamter Körper vibriert. Dann verliere ich irgendwie die Kontrolle. Ich rutsche ein Stück tiefer und fahre mit der Zungenspitze über seinen Arm. Ganz kurz nur, aber Dante fängt an zu giggeln.

„Was zum Geier machst du da?“

„Äh … nichts.“

Er dreht sein Gesicht in meine Richtung.

„Du hast also gerade nicht an meinem Arm geleckt?“

„Entschuldige.“

„Hat’s wenigstens geschmeckt?“, kichert er.

„Ich spreng mich mal kurz in die Luft“, murmle ich.

Dante zieht mich an sich, dass mein Kopf auf seiner Brust liegt.

„Schlaf gut.“

Ja, Schlaf wäre gut, allerdings ist daran absolut nicht zu denken, wenn man eine Hand frei hat, um Dantes nackte Haut zu streicheln. Seine Nippel zu berühren, seinen niedlichen Bauch, weiter nach unten zu wandern bis … oh mein Gott … blitzschnell liegt meine Flosse wieder züchtig auf seiner Brust. Wo sie nicht lange bleibt, weil Dante sie zurück nach unten schiebt, mit der anderen Hand in meine Haare greift und mich küsst.

Das ist ungefähr der Zeitpunkt, an dem sich mein Gehirn ausschaltet und eine entsetzliche Triebhaftigkeit das Ruder übernimmt.

Als ich meine Augen öffne, ist es hell draußen. Ich erinnere mich nicht daran, eingeschlafen zu sein, ich erinnere mich überhaupt nicht daran, was VOR dieser Nacht war. Dante hat seinen Arm um mich gelegt und sich an meinen Rücken geschmiegt. Er macht leise Schlafgeräusche. Du meine Güte, ich habe meinen Freund betrogen. Und zwar so was von … das ist nicht feierlich. Außerdem zeigt der altmodische Radiowecker neun Uhr dreiundvierzig, was bedeutet, dass ich Schule heute wohl blau mache. Fuck, fuck, fuck, ich hab Marcel betrogen, das ist viel schlimmer. Das war nicht geplant und sollte niemals, niemals passieren. Verdammt, wie konnte mir das nur passieren? Ich weiß es. Weil Dante … wie soll ich sagen … der ist dermaßen abgegangen, dass ich eben noch mehr abging und … das ging dann halt die ganze Nacht. Na ja, und Dante ist total der Typ, der einen einfach packt und dumm und dämlich fickt, wenn ihm danach ist. Mann, und ihm war sehr danach. Verschmust ist er auch … hinterher … zwischendurch … mittendrin … wie auch immer.

Ich versuche mich vorsichtig aus seinem Griff zu befreien, wobei Dante aufwacht, sich kurz hochrappelt, um sofort wieder aufs Kissen zu fallen.

„Ich hab noch zwei Stunden.“

„Ich verpasse Mathe, Deutsch und Englisch.“

„Kleiner Streber“, säuselt er und beknabbert süß meinen Nacken, „wir lernen jetzt ’n bisschen Bio zusammen.“

„Echt, ich kann nicht.“

„Eli, du bist neunzehn, da kann man praktisch immer.“

„So war das nicht gemeint.“

Dante dreht mich auf den Rücken, küsst und leckt meinen Oberkörper hinunter und … na, ja.

Gegen Mittag fahre ich nach Hause und bin für den Rest des Tages nicht mehr ansprechbar.

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