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Inhaltsverzeichnis

Chris: Turnierreise in den Sommerferien

Die Sonnenschirme spendeten angenehmen Schatten. Ich saß mit einer kalten Fassbrause auf der Terrasse des Clubhauses und schaute über die Anlage. Da momentan keiner meiner drei Jungs auf dem Platz stand, konnte ich also bei den anderen Matches zuschauen und mich ein wenig entspannen. Ich war diesmal mit drei unserer Nachwuchstalente in den Sommerferien als Coach unterwegs. Mein Bruder hatte sich vor 20 Jahren mit einem Tennis Team selbständig gemacht. Er war mittlerweile sehr erfolgreich auf der ATP Profi Tour als Trainer unterwegs. Im Stützpunkt hatte er mehrere Trainer, Physiotherapeuten, Sportmediziner und einen Teammanager eingestellt. Da ich zwar auch eine Trainerlizenz besaß, aber beruflich als Familientherapeut arbeitete, konnte ich während der Schulferien und in meinem Urlaub dort aushelfen.

Diese Turnierreise sollte mich in den Süden Deutschlands führen. Wir, drei Spieler und ich als Coach, waren mit einem Wohnmobil unterwegs. Meine Jungs waren bereits sehr gute Spieler. Sie spielten in unterschiedlichen Altersklassen und der Älteste, er hieß Fynn, war bereits so gut, dass er mit sechzehn schon in unserem Verein in der Tennisbundesliga spielte. Das war sehr ungewöhnlich im Herrenbereich.

Die anderen beiden Jungs waren vierzehn und fünfzehn und ebenfalls sehr talentiert. Carlo war italienischer Abstammung und der jüngere der beiden. Ein lustiger Junge, der immer für einen Scherz gut war. Mattes, eigentlich hieß er Mathias, war fünfzehn und schon sehr athletisch austrainiert. Er hatte bereits in der zweiten Herrenmannschaft in der Regionalliga Erfahrungen gesammelt. Da es bei einem der Jungs, dem ältesten, in der Familie einige Probleme gab, hatte mich mein Bruder gebeten, mit den Dreien auf Tour zu gehen. Vielleicht konnte ich ja vermitteln.

Ach ja, bevor ich es vergesse, ich heiße Christian, wurde aber seit Jahren nur Chris gerufen, war Ende vierzig und spielte auch recht ordentlich Tennis. Und das seit meinem sechsten Lebensjahr. Genug Erfahrung und Kontakte hatte ich jedenfalls.

„Chris“

Oha, das hörte sich nach Carlo an. Er kam auf der Terrasse angelaufen und blieb vor mir stehen.

„Chris, ich muss erst in einer Stunde spielen. Kann ich mit Timo ein wenig in den Wald?“

„Wer ist Timo? Und was wollt ihr dort machen?“

„Timo ist hier aus dem Verein und spielt in der U15 mit. Er kennt sich hier also aus.“

Ich kannte Timo natürlich nicht und deshalb wollte ich, dass ihn Carlo mir vorstellte. Ich wollte immer wissen, mit wem wir es zu tun hatten.

„Kannst du mir Timo bitte vorstellen. Ich möchte wissen, wer das ist.“

„Boah, du bist ja schlimmer als meine Eltern. Die wollen auch immer alles genau wissen.“

Ich schaute Carlo mit coolem Blick an und zog eine Augenbraue nach oben. Da wusste er sofort, diskutieren war hier sinnlos. Also drehte er sich um und ging irgendetwas murmelnd von der Terrasse. Wenige Augenblicke später kam er mit einem dunkelblonden Jungen zurück. Er hatte eine Trainingsjacke mit einem Vereinslogo des ausrichtenden Vereines an. Carlo blieb vor mir stehen und Timo neben ihm.

„Hier Chris, das ist Timo.“

Timo gab mir die Hand und stellte sich auch kurz vor. Er erklärte mir, dass er sich hier sehr gut auskennen würde und sie auch in einer dreiviertel Stunde wieder zurück seien. Ich fragte Carlo noch, ob er sein Handy dabei hat und dann ließ ich die beiden losziehen.

Ich ließ meinen Blick über die Anlage schweifen und suchte nach den anderen beiden Jungs. Allerdings nicht, weil ich Sorge hatte, sie könnten verloren gehen. Fynn sollte sich rechtzeitig aufwärmen. Er vergaß das hin und wieder mal. Allerdings konnte ich beide nicht finden. Ich nahm also meine Flasche, trank sie aus und machte ich mich auf einen Rundgang über die Anlage. Der Club hatte dreizehn Plätze, die alle in einem hervorragenden Zustand waren. Das Clubhaus war sehr gepflegt und wurde von einem Ehepaar geführt. Obwohl der Verein sehr groß war, hatte ich das Gefühl einer familiären Atmosphäre.

Bei Platz zehn verweilte ich einen Moment. Dort fand ein interessantes Match statt. In der Konkurrenz U21, also dort, wo auch Fynn spielte. Das war eine Nachwuchsklasse, in der Spieler bis zum 21. Lebensjahr spielen durften. Das war gerade für aufstrebende Junioren sehr interessant.

Das Spiel befand sich im dritten und entscheidenden Satz, der seit neuestem immer im Matchtiebreak ausgespielt wurde. Das war ein normaler Tiebreak, der nur bis zehn und nicht bis sieben gespielt wurde. Einer der Spieler war deutlich jünger, vielleicht so alt wie Fynn. Sein Gegner war hier an Position drei gesetzt und schon zwanzig. Spielerisch war das schon richtig gut, was der jüngere Spieler da zeigte. Es fehlte ihm allerdings ein wenig an Erfahrung, so dass er unglücklich verlor. Die Reaktion des Spielers war sehr gut, er ging ohne Probleme zum Netz und gratulierte seinem Gegner zum Sieg. Das beeindruckt mich immer, wenn junge Spieler auch in einer Niederlage fair blieben und die Leistung des Gegners anerkannten.

Hier kam das böse Ende allerdings vom Vater des Spielers. Der war nämlich alles andere als gelassen. Er meckerte direkt mit seinem Sohn und das so laut, dass das alle an dem Platz stehenden Zuschauer mitbekamen. So etwas regte mich echt auf. Ich schaute mir das noch einen Moment an und wollte schon dazwischen gehen, als mich jemand am Arm festhielt.

„Lass es Chris, das bringt nichts. Der Vater ist einfach ein Arschloch. Solange der Junge sich nicht von ihm befreit, wird nichts helfen. Leider ist dieser Typ schon sehr oft negativ aufgefallen.“

„Marco, du bist auch hier? Hatte dich noch gar nicht entdeckt.“

Marco Pöttinger, ein ehemaliger Verbandstrainer im westfälischen Tennisverband. Er war jetzt Stützpunkttrainer im Badischen Verband. Er hatte sich immer wieder mit den Funktionären im Westfälischen Verband angelegt und vor drei Jahren den Verband gewechselt. Wir hatten uns schon immer gut verstanden und sehr ähnliche Vorstellungen von Trainerarbeit.

Er gab mir zur Begrüßung die Hand.

„Ja, ich bin mit vier Jugendlichen unterwegs. Du anscheinend wohl auch.“

Dabei mussten wir beide lachen. Durch diese Begebenheit hatte ich nicht mitbekommen, dass der Junge den Platz mit seinem Vater bereits verlassen hatte.

In diesem Augenblick lief Fynn an uns vorbei.

„Fynn, warte mal bitte. Du bist gleich dran. Denkst du bitte an das Warmmachen?“

Er blieb stehen und erkannte Marco. Marco war vor einigen Jahren sein Bezirkstrainer, bevor er zu uns kam.

„Hi Marco, schön dich auch mal wieder zu treffen. Wie geht’s dir so?“

„Hallo Fynn, danke. In Baden kann man viel besser arbeiten, also geht es mir gut. Du bist noch im Wettbewerb?“

„Ja, ich muss gleich Viertelfinale spielen gegen die Nummer zwei hier. Ist in der DTB Rangliste die Nummer 124. Das wird hart, aber ich habe nichts zu verlieren. Mal sehen was passiert.“

DTB war der „Deutsche Tennis Bund“ und die Dachorganisation der einzelnen Landesverbände.

„Ok, ich sehe schon, wer dein Coach ist. Du hast dich nicht groß verändert. Viel Erfolg gleich.“

„Danke, ich muss mich jetzt auch aufwärmen, sonst gibt das Stress mit dem Coach.“ Dabei fing er an, frech zu grinsen.

Ich gab ihm einen kleinen Schubser auf die Schulter und er ging lachend zum Aufwärmen.

„Mit welchen Spielern bist du unterwegs? Und wo ist dein Bruder gerade?“

Ich erzählte Marco unsere diesjährige Turnierreise und er freute sich, weil zwei weitere Turniere auch auf seinem Plan standen. Also würden wir uns in den nächsten Wochen noch häufiger treffen. Das freute uns beide, denn wir hatten uns schon länger nicht mehr gesehen. Seine Spieler waren allerdings noch deutlich jünger als meine. Er hatte auch damals schon die jüngeren Kinder bis zwölf Jahre trainiert.

„Du Chris, ich muss zu Sven, der spielt auf Platz 13 und wartet auf mich. Du bist doch auch noch länger hier, oder?“

„Klar, solange einer meiner Jungs noch drin ist. Dann lass uns doch nachher zusammen was essen.“

„Genau, das ist eine gute Idee. Also bis gleich.“

Marco machte sich auf den Weg zu Platz 13 und ich suchte jetzt nur noch nach Mattes. Er hatte noch ein wenig mehr Zeit, aber da hörte ich die Ansage der Turnierleitung. Er sollte sich dort einmal melden. Also ging ich auch dorthin, denn dann würde er vermutlich dort gleich auch erscheinen.

Erstaunlicherweise war Mattes schon dort und hatte bereits seine Schlägertasche über der Schulter.

„Hey Chris, ich muss schon spielen. Ein anderes Match wurde abgesagt. Auf Platz acht.“

„Ok, dann lass uns kurz noch einmal über den Gegner sprechen.“

„Ich weiß nur, dass er ein Linkshänder ist. Hast du noch mehr Informationen?“

Ich musste schmunzeln. Meine Spieler wussten eigentlich ganz genau, dass ich immer ein paar Informationen hatte. Also gab ich ihm noch ein paar Hinweise mit auf den Platz und wir gingen recht entspannt nebeneinander her. Ich konnte allerdings jetzt doch fühlen, dass bei Mattes die Anspannung kam. Er war fit und ich wusste, dass das seine Stärke war. Er hatte eine sehr gute Fitness und Kondition, bewegte sich hervorragend auf dem Platz. Ich wünschte ihm noch alles Gute und dann trennten sich unsere Wege. Bei diesen Turnieren war ein Coachen auf dem Platz untersagt. Das bedeutete, ich konnte nur sehr begrenzt Einfluss auf das Spiel nehmen. Aber durch Blickkontakt konnte ich dem Spieler Sicherheit geben.

Was mir gut gefiel, war unser Teamgeist. Alle drei Jungs unterstützten sich gegenseitig und auch Fynn war immer für die beiden Jüngeren ansprechbar. Jetzt hatte ich nur das Problem, das zwei meiner Jungs gleichzeitig auf den Platz gehen würden. Egal, auch das gehörte dazu. Ich würde immer mal auf beiden Plätzen schauen.

Mittlerweile war auch Carlo wieder zurück und wir standen jetzt bei Mattes am Platz, als Fynn noch kurz Bescheid sagte, dass er jetzt auch auf den Platz müsse.

„Carlo, gehst du zu Fynn an den Platz. Ich bleibe erst einmal hier. Wenn etwas ist, kommst du bitte zu mir.“

„Geht klar, Chris.“

Das war für Carlo auch typisch. Er hatte einfach ein tolles Gemüt. Ich mochte diesen Jungen, auch seine Eltern waren sehr nett und sie ließen uns in Ruhe arbeiten, allerdings waren sie immer bereit zu helfen, wenn wir darum baten. Eine ideale Konstellation, um einen Spieler gut entwickeln zu können.

Fynn: Ich bin so ein Idiot

Ich könnte kotzen. Da spiele ich ein richtig geiles Match gegen die 124 von Deutschland, gewinne den ersten Satz mit 7:5, führe im zweiten Satz 5:2 und verliere diesen Satz noch 5:7. Jetzt saß ich in der Satzpause auf meiner Bank und war sauer. Wie blöd musste ich sein? Chris würde mir in den Arsch treten, außerdem wäre ich das Gespött der Anderen. 5:2 führen und verlieren, das war die Höchststrafe beim Tennis.

Mein Handtuch hatte ich mir schützend über den Kopf geworfen. Am liebsten würde ich heulen. Ich bemerkte erst gar nicht, dass sich Chris neben mich auf die Bank gesetzt hatte. Da hatte ich gar nicht dran gedacht, dass es in der Satzpause erlaubt war, zu coachen. Chris blieb ganz ruhig und versuchte mich aufzubauen:

„Hey Krieger, du musst dich neu konzentrieren. Mach dich nicht so fertig. Du hast fast zwei Sätze lang richtig gut gespielt. Los, jetzt geht es noch einmal bei Null wieder los. Du hast noch nicht verloren, aber wenn du den Kopf nicht frei bekommst, ist das schnell vorbei.“

Ich nahm mein Handtuch vom Kopf und schaute in sein Gesicht. Es war wirklich erstaunlich, Chris blieb so cool und dabei freundlich, obwohl ich genau wusste, dass er immer voll im Match dabei war. Er litt immer mit, egal wie das Spiel lief. Meine letzten Trainer waren da total anders. Auch im Stützpunkt wurde oft richtig heftig gemotzt, wenn man mal nicht so richtig aus dem Arsch kam. Chris versuchte immer freundlich zu bleiben. Das war mir schon gleich aufgefallen. Was nicht hieß, dass er nicht wusste, was er von mir verlangte.

„Ich bin so ein Idiot, ich habe das Spiel voll im Griff und schenke es weg. Das kann echt nicht sein.“

„Hör auf damit. Du kannst den Satz nicht noch einmal spielen. Reiß dich zusammen und konzentriere dich auf den Tiebreak. Zehn Minuten noch einmal Vollgas. Los! Du kannst das. Alles Weitere klären wir hinterher. Du hast ein tolles Match gemacht. Ich glaube an dich. Und glaub nicht, dass ist noch keinem anderen Spieler passiert. Das gehört zu diesem Sport dazu.“

Er klopfte mir dabei auf die Schulter und lächelte sogar dabei. Eigentlich war ich stinksauer, aber seine lockere Art löste bei mir die Anspannung ein wenig und ich bekam so ein Gefühl von Entschlossenheit.

„Du hast Recht, ich muss nur von Punkt zu Punkt spielen und aufhören zu denken.“

Chris lachte und schubste mich von der Bank.

„Siehst du, warum denn nicht gleich so. Los, du machst das jetzt klar.“

Erstaunlich, wie einfach er mir den Kopf frei machte. Es funktionierte und ich lag im Tiebreak schnell mit 5:1 vorn und die Seiten wurden wieder gewechselt. Er musste noch einmal aufschlagen. Er schlug ein As zum 5:2. Jetzt war ich wieder dran mit zwei Aufschlägen und mit einem Service-Winner und einem guten Passierball führte ich 7:2. Wieder fing ich an nachzudenken. Ich brauchte noch drei Punkte zu diesem wichtigen Sieg. Ich konnte mich nicht richtig konzentrieren und schon stand es 7:5. Plötzlich hörte ich Chris vom Zaun rufen:

„Nicht denken, spielen.“

Das war wie ein Weckruf. Einen Aufschlag hatte ich noch. Ich konzentrierte mich und legte die ganze Wut in diesen Aufschlag. As! 8:5, noch zwei Punkte. Ich ballte die Faust und brüllte ein lautes: „Yes!“

Ich wollte unbedingt gewinnen. So nah war ich noch nie vor einem Sieg gegen einen so guten Spieler.

Er schlug jetzt zweimal sehr gut auf und ich hatte keine Gelegenheit einen Punkt zu machen. 8:7, jetzt musste ich meine beiden Aufschläge durchbringen.

Nach einem sehr langen Ballwechsel schlug er den Ball ins Aus. Matchball!

Ich war außer Atem und echt fertig, über zwei Stunden kämpften wir schon um jeden Punkt. Chris feuerte mich an und ich nahm mir Zeit, den Ball zu holen. Dann stellte ich mich zum Aufschlag und schlug nach außen auf, er brachte den Ball nur zurück und ich rückte an das Netz vor und machte den Punkt. Sieg!

Ich riss die Arme hoch und Applaus kam auf. Ich hatte noch gar nicht bemerkt, dass mittlerweile einige Zuschauer an unserem Platz standen. Am Netz gaben wir uns die Hand und er gratulierte mir sehr fair. Er lobte mich sogar für meine gute Leistung. Das war sehr selten, dass ein Favorit, der verloren hatte, so fair blieb. Ich ging zur Bank, legte den Schläger auf die Tasche und setzte mich. Die ganze Anspannung fiel von mir und ich war so happy. Chris, wo war Chris denn hin? Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Plötzlich stand er schon hinter mir und schlug mir auf die Schultern.

„Geil, Fynn. Richtig geil gespielt. Großen Respekt, wie du dich wieder ausgegraben hast. Das war toll.“

Ich stand von der Bank auf und wir umarmten uns kurz. Ein gutes Gefühl, dieses Match doch gewonnen zu haben.

„Komm, zieh den Platz ab und dann ab unter die Dusche. Du musst heute nicht mehr spielen. Halbfinals sind erst morgen früh. Ich geh schon mal zu Carlo. Der spielt auch noch. Mattes hat übrigens auch gewonnen. Er muss gleich noch einmal spielen im Viertelfinale.“

Chris drehte sich um und ich blieb allein auf dem Platz zurück. Mein Gegner saß auch noch auf seiner Bank und wir verließen nach dem Abziehen den Platz gemeinsam. Ich gab bei der Turnierleitung die Bälle ab und teilte das Ergebnis mit. Morgen um zehn sollte ich das Halbfinale spielen.

In der Umkleide stellte ich meine Tasche ab und ging duschen. Ich unterhielt mich noch einen Moment mit meinem Gegner, der mir zum Abschied noch viel Glück wünschte. Ich stand unter dem heißen Wasserstrahl und war eigentlich glücklich. Aber es kamen auch die Gedanken an zu Hause. Immer diese Streitereien zwischen meinen Eltern und dass mein Vater sehr häufig betrunken nach Hause kam. Ich hatte hier seit langer Zeit das Gefühl, abschalten zu können und so akzeptiert zu werden, wie ich eben war. Zu Hause wurde ständig darüber gelästert, dass ich keine Freundin habe und nur Tennis im Kopf hätte. Auch einige meiner Freunde hatten sich von mir verabschiedet. Es war ihnen nicht verständlich, dass ich so viel unterwegs war. Nur Thomas, einer meiner Kindergartenfreunde, hatte bis heute zu mir gehalten und hielt auch nicht viel von Partys und Alkohol. Er war auch der Einzige, dem ich gleich nach dem Match eine Whatsapp Nachricht geschickt hatte.

Nach dem Duschen schnappte ich mir meine Tasche und brachte sie zu unserem Camp. Dort standen einige Wohnmobile und Zelte der anderen Spieler und Teams. Natürlich war Unseres abgeschlossen. Mist, da hätte ich auch selbst drauf kommen können, Chris war ja noch bei Carlo am Platz. Also stellte ich die Tasche bei uns ins Zelt. Mattes und ich schliefen zusammen im Zelt, das fanden wir besser, weil wir dadurch auch leichter noch mit den anderen Spielern abends ein wenig quatschen konnten. Ohne unsere Coaches. Nichts gegen Chris, aber manchmal war es eben besser, wenn der Trainer nicht immer daneben steht.

Chris fand das auch total in Ordnung. Er ließ uns da viele Freiheiten, solange wir unsere Leistung brachten und die Absprachen einhielten. Allerdings konnte er auch richtig fies werden, wenn einer meinte, er könnte sich Extratouren erlauben. Ich hatte meine Lektion gelernt und war auch froh, hier zu sein. Zu Hause wäre es viel schlimmer.

Ich schloss unser Zelt wieder und wollte schon zurück an den Platz gehen, als ich eine Diskussion mitbekam. Der Verbandscheftrainer des WTV (Westfälischer Tennis Verband), Jürgen Listen, stand mit einem Spieler etwas abseits auf dem Rasen. Herr Listen redete auf den Jungen ein und schien recht erbost zu sein. Ich bekam es nicht genau mit, aber es ging um die Spielweise des Jungen. Ich erkannte ihn wieder, denn das war ein ehemaliger Mannschaftskamerad aus meinem alten Verein. Dustin, er war in die Verbandsförderung gekommen, während ich dort nicht angenommen wurde. Es hieß, ich sei nicht talentiert genug gewesen. Allerdings hatte ich für mich eine andere Erklärung. Meine Art passte ihnen nicht. Ich hatte immer meine eigene Meinung und die habe ich vertreten. Das sah Herr Listen eben nicht gern. Dustin hingegen war eher ruhig und schüchtern. Er kam aus wohlhabendem Hause. Seine Eltern konnten es sich leisten, einen eigenen Trainer zu bezahlen. Ich dagegen musste mir jede Trainerstunde selbst verdienen mit anderen Jobs. Glücklicherweise durfte ich in unserem damaligen Verein ein paar Trainerstunden mit den ganz kleinen Kindern machen. Dadurch finanzierte ich mir mein Training. Erst als Burghard Rehmann aus meinem heutigen Verein mich auf einem Turnier spielen sah, wurde es etwas einfacher für mich. Er bot mir an, bei ihnen zu trainieren. Dort gab es auch bereits Sponsoren, die besondere Talente finanziell unterstützten. So war ich dorthin gewechselt. Ich hatte es bis heute nicht bereut. Allerdings hatte Dustin das wohl nicht verstanden und war mir seitdem aus dem Weg gegangen. Ich fand das sehr schade, denn wir waren mal sehr gute Freunde gewesen.

Es ging mich nichts an, was sie dort zu besprechen hatten, dennoch wunderte ich mich über die Art von Herrn Listen. Dustin hatte seine Spiele bislang deutlich gewonnen und war im Halbfinale der U16 Klasse. Egal, ich machte mich wieder auf den Weg zu Chris. Es meldete sich langsam mein Magen, aber wir würden wie immer gemeinsam zu Abend essen. Das gefiel mir übrigens sehr gut. Tagsüber konnten wir eh nur Kleinigkeiten essen. Mal ein paar Nudeln oder einen Salat.

„Hi Fynn, alles in Ordnung bei dir?“

Chris kam mir ein paar Meter entgegen, damit wir das Spiel von Carlo nicht störten, wenn wir uns unterhielten.

„Ja, so langsam kann ich mich auch freuen, dass ich gewonnen habe. Wie sieht es hier aus?“

„Carlo hat es sehr schwer, aber der Gegner ist auch an Position eins gesetzt. Bislang macht er ein gutes Spiel, liegt aber 4:6 und 2:3 zurück.“

„Ok, aber wenn er doch ein gutes Spiel macht, kann er zufrieden sein, oder?“

„Sicher, warten wir mal ab. Vielleicht macht der Gegner ja den gleichen Fehler wie du.“

Ich wusste es, Chris hatte eine ironische und sarkastische Art, Dinge anzusprechen, die ihm nicht gefielen. Er meinte das nicht böse und ich mochte es, denn so konnte ich relativ locker mit ihm sprechen.

„Meinst du, es gibt noch mehr Spieler, die so blöd sind wie ich?“

Er grinste mich an und meinte dann ganz trocken:

„Klar, aber die wenigsten bekommen es dann hin, sich doch wieder auszugraben und zu gewinnen. Aber ich würde schon gern noch mit dir darüber sprechen. Lass uns aber erst das Spiel hier zu Ende betrachten.“

Wir standen hinter dem Zaun in einer Ecke des Platzes, als Mattes auch zu uns kam. Er hatte noch einen anderen Spieler dabei, mit dem er sich angeregt unterhielt. Chris ermahnte sie, etwas leiser zu sein.

„Sorry, wir sind schon leise. Wie steht es denn?“, fragte Mattes.

Ich klärte ihn auf und Chris ging wieder an seinen alten Platz zurück. Wir folgten ihm und es wurde noch einmal richtig spannend, aber letztlich verlor Carlo den zweiten Satz mit 5:7 und damit das Match. Trotzdem war das, was ich noch gesehen hatte, eine gute Leistung und er konnte mit dem Turnier zufrieden sein. Chris ging zu Carlo auf den Platz und sprach kurz mit ihm. Carlo war echt erstaunlich, er hatte gerade verloren und dennoch konnte er schon wieder lachen. Es sah so aus, als ob er sich nicht ärgern würde. Ich habe ihn noch nie schlecht gelaunt erlebt.

Chris: Gemeinsames Abendessen und Vorbereitung auf morgen

Nachdem Mattes sein Viertelfinale ebenfalls gewonnen hatte, war der Spielbetrieb für heute beendet. Ich hatte meinen Jungs gesagt, dass wir heute zum Essen im Clubhaus sein würden. Denn der Veranstalter richtete einen Grillabend aus. Das war in der Meldegebühr enthalten und ich fand es auch eine gute Gelegenheit, mit den anderen Trainern und Spielern ins Gespräch zu kommen. Ich saß noch in unserem Wohnmobil und gab ein paar Daten und Ergebnisse in den Laptop ein, telefonierte mit Burghard und gab ihm den neuesten Stand durch. Burghard war bei unserem Team der Jugendkoordinator. Er war für den gesamten Nachwuchs verantwortlich. Carlo hatte seine Sachen bereits verstaut und war wieder draußen unterwegs. Die beiden anderen Jungs schliefen ja in ihrem Zelt.

Meinen Tee konnte ich mir auch schnell zubereiten, weil wir auch eine kleine Küche an Bord hatten. Die Tür ging auf und Fynn kam herein.

„Chris, hast du jetzt einen Moment Zeit, ich würde gern noch mal über mein Spiel sprechen und vielleicht über den Gegner morgen.“

Ich blickte vom Laptop auf und wunderte mich ein wenig. So direkt war Fynn sonst nicht.

„Klar, setz dich. Ich mache gerade noch die Sachen hier fertig. Weißt du, wo die anderen beiden sind?“

„Äh, nicht so wirklich. Carlo war eben noch im Clubhaus und Mattes wollte auslaufen gehen und dann duschen.“

„Also weißt du es ja doch.“

Ich grinste ihn an und er musste auch lachen. Es war immer wieder lustig, wie einfach es war, meine drei Jungs zum Lachen zu bringen. Das war eine Grundbedingung in meiner Art, als Trainer zu arbeiten. Der Spaß durfte nicht verloren gehen. Im Profibereich würde es früh genug weniger Spaß geben.

„So, dann lass uns mal schauen. Mich würde zuerst einmal interessieren, was denkst du selbst über dein Spiel?“

Fynn überlegte sehr lange, bevor er darauf antwortete.

„Eigentlich bin ich bis zum 5:2 sehr zufrieden, aber bis Ende des Satzes, dass …, ich weiß es einfach nicht. Was ist da passiert? Ich kann es mir nicht erklären.“

Ich konnte es immer noch spüren. Es wühlte ihn auf, er war verunsichert und wollte unbedingt begreifen, warum er an der Stelle so eingebrochen ist.

„Bleib ruhig, jeder Tennisspieler erlebt diese Situationen. Es reicht eine Unachtsamkeit und der Spieler fängt an nachzudenken. Schon wird der Gegner aufgebaut und hat eh nichts zu verlieren. Also spielt er völlig befreit auf. Du selbst wirst immer verkrampfter und irgendwann bist du nicht mehr in der Lage, das Spiel zu ändern.“

„Aber ich war doch total im Spiel. Ich weiß nicht einmal, was mich so durcheinander brachte.“

Ich musste lächeln. Seine Angst vor einem erneuten „Versagen“ war fühlbar. Er wollte sicher sein, dass er in Zukunft damit besser umgehen könnte.

„Schau mal, es ist gar nicht so wichtig, was dich verunsichert hat, sondern dass es so war. Es ist normal, dass es Phasen in einem Spiel gibt, wo man nicht so gut im Spiel ist. Entscheidend ist, dass der Spieler es bemerkt und dagegen etwas tut. Also reg dich nicht so auf, du hast es doch gemanagt und das zählt.“

„Aber nur mit deiner Hilfe, ich will das selbst können.“

Jetzt schaute ich ihm in die Augen und fragte ihn: „Wie alt bist du?“

Er schüttelte irritiert den Kopf.

„Sechzehn, das weißt du doch.“

„Genau, du anscheinend nicht mehr. Du musst das noch nicht perfekt können. Dafür muss sich die Persönlichkeit eines Spielers erst entwickeln. Das dauert Jahre. Lerne einfach jedes Mal etwas hinzu und irgendwann wirst du das können.“

„Heißt das, du bist mit mir nicht unzufrieden?“

Jetzt hatte er mich verblüfft. Was sollte diese Frage?

„Warum sollte ich mit dir unzufrieden sein?“

„Nun, ich habe schon andere Trainer erlebt, die bei so einer Situation völlig ausgeflippt sind. Ich meine, ich hätte das Spiel beinahe weggeworfen und verloren.“

„Na und? Selbst wenn du verloren hättest, wäre die Welt nicht untergegangen. Das wird dir noch häufiger passieren. Ich finde, du hast ein ganz hervorragendes Match gezeigt. Sowohl taktisch, als auch spielerisch. Also lass uns nach vorn schauen auf das nächste Spiel.“

Er nickte und blickte gedankenversunken aus dem Fenster.

„Woran denkst du gerade?“

„Ach, nichts. Ist schon gut. Du hast sicher Recht, aber es ist nicht immer einfach, den Kopf so auszuschalten.“

„Wenn es einfach wäre, könnte es jeder und alle wären gleich gut.“

Damit hakten wir das Spiel ab, allerdings wurde mir bewusst, dass bei ihm noch mehr im Kopf herumschwirrte. Mal abwarten, was uns noch so begegnen würde.

„Dein Gegner morgen ist auf dem Papier nicht so stark einzuschätzen. Das heißt, morgen wird die Favoritenrolle bei dir sein. Lass dich nicht davon leiten, sondern spiele aggressiv und versuche, viel ans Netz zu gehen. Er ist sehr sicher von der Grundlinie, kann aber kaum Druck machen. Also attackiere ihn und zwinge ihn, agieren zu müssen, dann macht er Fehler.“

„Ok, denkst du, ich kann es gewinnen?“

„Es ist nicht wichtig für mich, ob du gewinnst. Wichtig ist für mich, dass du dich weiter entwickelst und gutes Tennis spielst. Dann wird das Ergebnis automatisch kommen.“

Wieder kam nur ein wortloses Nicken. Irgendetwas schien ihn noch zu beschäftigen, aber er war noch nicht bereit, mit mir darüber zu sprechen. Unglücklicherweise kam Carlo in diesem Moment in das Wohnmobil.

„Ach hier seid ihr. Da kann ich ja lange suchen. Wie sieht das aus? Kommt ihr zum Essen?“

Ich schaute erstaunt zur Uhr und er hatte recht, wir waren doch länger in unserem Gespräch vertieft, als ich dachte.

„Doch, danke. Wir haben wohl ein wenig die Zeit verloren. Fynn, hast du noch etwas oder sollen wir zum Essen gehen?“

Fynn stand auf und sagte noch: „Danke, Chris. Es ist schön, dass du dieses Mal mit uns unterwegs bist.“

Damit verließen wir das Wohnmobil und Carlo lief schon vor, während Fynn noch bei den Zelten vorbeigehen wollte. Ich wartete einen Augenblick auf ihn, und als er wieder um die Ecke kam, hatte er sich noch ein anderes Shirt angezogen. Wir hatten alle unsere Teamkleidung und es wurde gern gesehen, wenn wir einheitlich gekleidet auftraten. Was mich freute, ich musste meine Jungs nicht ständig daran erinnern.

Es gab ein Grillbuffet, das heißt, jeder konnte sich am Grill das holen, was er wollte und dazu gab es viele verschiedene Salate, die auf der Terrasse aufgebaut waren. Es waren immer noch etwa fünfzig Personen anwesend und entsprechend lebendig ging es zu. Die Altersklassen waren ebenfalls sehr gemischt, von elf bis einundzwanzig war alles vertreten. Die Trainer und Betreuer nicht berücksichtigt. Wir saßen an einem großen Tisch, an dem noch einige Plätze frei waren. Carlo hatte sich gerade mit seinem Teller hingesetzt und Fynn kam auf uns zu, als ein Junge vom WTV an unseren Tisch kam. Ich konnte es an seiner Trainingsjacke erkennen.

„Entschuldigung, darf ich mich zu euch setzen, bei uns ist kein Platz mehr am Tisch.“

Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, hatte Carlo das Zepter in die Hand genommen.

„Klar, Fynn kommt auch sicher gleich. Ihr kennt euch ja.“

Das wunderte mich jetzt doch ein wenig, aber es gefiel mir, dass der Junge höflich gefragt hatte und sich nicht einfach gesetzt hatte. Fynn war mittlerweile auch bei uns angekommen und Mattes konnte ich am Grill stehen sehen. Damit war ich nun an der Reihe, mir auch etwas zum Essen zu holen. Marco kam mit seinen Jungs ebenfalls auf die Terrasse. Ich winkte ihm zu und sofort steuerte er unseren Tisch an. Er verteilte seine Kids am Tisch und kam dann zu mir.

„Hi Chris, habe gesehen, deine Jungs sind noch dabei. Vor allem Fynn hat ein super Match gemacht, Respekt.“

„Danke, ja, ich bin sehr zufrieden. Auch Carlo hat ein gutes Match gemacht, obwohl er verloren hat. Morgen habe ich also zwei Halbfinals. Wie lief es bei euch?“

„Danke, ich kann auch sehr zufrieden sein. Zwei Halbfinals in der Hauptrunde und eins in der Nebenrunde. Übrigens, du hast doch nichts dagegen, wenn ich mit meinen Jungs zu euch an den Tisch gekommen bin.“

Ich schmunzelte.

„Solange meine Jungs nicht meckern, gerne. Du weißt ja, manchmal fühlen sie sich von den Kleinen etwas genervt.“

Marco musste auch grinsen. Wir beide hatten das nicht so ernst gemeint, denn mir war es wichtig, dass alle Spieler miteinander lernten umzugehen. Wir hatten uns in der Schlange angestellt und konnten das Treiben an unserem Tisch dennoch beobachten. Das sah alles entspannt aus. Was mich besonders freute, Fynn unterhielt sich mit dem anderen Jungen und sie schienen sich sogar ganz gut zu verstehen.

Die andere Gruppe der WTV-Spieler saß an einem anderen Tisch und ihr Coach schien nicht so begeistert zu sein, dass sein Spieler bei uns saß. Er stellte sich an unseren Tisch und schien den anderen Jungen aufzufordern, unseren Tisch zu verlassen. Dieser ließ sich jedoch nicht überreden und blieb bei Fynn sitzen. Der Trainer zog wieder von dannen, allerdings konnte ich bei Herrn Listen ein Kopfschütteln erkennen. Wieder typisch für den Mann. Immer musste alles nur nach seiner Nase tanzen.

Marco und ich hatten uns gut versorgt und kamen mit gut gefüllten Tellern zurück an den Tisch. Fynn unterhielt sich mit dem dunkelblonden Jungen und ich setzte mich mit Marco zwischen die anderen Jungs.

Während des Essens bekam ich ein wenig von den Gesprächen am Tisch mit. Unser „Gast“ fragte Fynn irgendwann, ob er nicht Lust hätte, sich mit ihm einzuschlagen. Fynn schaute fragend zu mir und der andere Junge wollte schon aufstehen, weil er wohl damit rechnete, dass ich das ablehnen würde.

„Was gibt es denn Jungs?“

„Chris, Dustin fragt, ob ich mich mit ihm morgen früh einschlagen kann. Das geht doch, oder?“

„Wann wollt ihr das denn machen? Spielbeginn für euch ist um zehn, ab neun wird gespielt, da müsst ihr vorher fertig sein.“

„Kein Problem“, meldete sich Dustin, „ich muss eh sonst laufen gehen, da ist mir spielen auf dem Platz lieber, aber bei uns finde ich keinen gleich guten Partner.“

„Frag beim Turnierleiter nach, ob ihr vor neun auf einem Platz spielen könnt. Meinetwegen gern. Aber nicht, dass das für dich Stress gibt mit deinem Trainer. Ich weiß nicht, ob Herr Listen das mögen wird.“

Dustin schaute mich an und ich konnte erkennen, dass er wütend wurde, aber er versuchte sich zurückzunehmen.

„Wissen Sie, es ist mir mittlerweile egal, weil er immer was zu meckern hat. Ich habe eh keine Lust mehr, für den Verband zu spielen.“

Ups, was war denn das? Es wäre klüger, das nicht so laut zu sagen, auch wenn er recht hätte.

„Dustin, sag es nicht so laut, aber für mich ist es ok. Kannst du mir sagen, woher du Fynn kennst?“

Fynn begann zu grinsen.

„Ich habe es dir doch gesagt, Chris ist total cool. Er versteht dich.“

Dustin erzählte mir dann die Geschichte und warum sie sich so lange aus dem Weg gegangen waren. Seine Eltern hatten keine Gelegenheit ausgelassen, Fynn bei ihm schlecht zu machen. Sie hatten auch erzählt, Fynn sei beim Verband rausgeflogen. Das hätte jedenfalls Herr Listen erzählt.

„Hm, und jetzt hat dir Fynn seine Sicht erzählt. Was denkst du jetzt?“

„Ich glaube ihm, denn mittlerweile habe ich verstanden, wie das beim Verband so läuft. Solange man nur „ja“ sagt und das macht, was der Trainer sagt, hat man keine Probleme. Aber wenn man mal selber etwas machen will, weil man merkt, dass das Training einen nicht weiterbringt, bekommt man Probleme. Ich habe mich bei Fynn dafür heute entschuldigt und möchte unsere Freundschaft wieder aufleben lassen.“

Wow, dieser Junge hatte Charakter. Er sagte dies vor allen anderen Jungs und es herrschte für einen Moment Stille am Tisch, aber als Marco dann das bestätigte, indem er seine Sichtweise dazu darlegte, war klar, Dustin würde bei uns gern gesehen werden.

„Dustin, meine Jungs nennen mich alle nur Chris, also gilt das auch für dich. Wenn du etwas brauchst oder mit uns trainieren möchtest während der Turniere, melde dich einfach. Wir bauen dich mit ein, schließlich profitiert Fynn auch davon.“

Dustin begann zu lächeln. Allerdings schien er sehr verwundert zu sein. Das hatte er überhaupt nicht erwartet. Wir saßen noch einen Moment gemeinsam am Tisch, aber die jüngeren Kids wurden unruhig und Marco entließ sie vom Tisch. Allerdings nicht ohne klar zu sagen, dass um neun alle im Zelt zu sein hatten. So blieben wir noch mit meinen Jungs am Tisch sitzen und auch Dustin blieb bei uns. Ich konnte beobachten, dass es Herrn Listen überhaupt nicht passte. Mir war das unbegreiflich, wie starr dieser Verband immer noch war. Es hatte sich in den letzten zehn Jahren eigentlich nichts verändert. Dustin und Fynn wollten noch ein wenig allein los.

„Aber ihr seid bitte um zehn spätestens zurück. Morgen geht es ja früh raus. Ich möchte nicht hinter euch herlaufen müssen.“

Fynn grinste richtig. Seine Art gefiel mir und er blühte immer mehr auf, je länger er von Zuhause weg war. Nachdem sich auch Carlo und Mattes mit ein paar anderen Jungs zusammengetan hatten, gingen Marco und ich noch ein wenig über die Anlage und setzten uns auf eine Bank an einem der Plätze.

Fynn: Dustin und ich werden wieder Freunde

Das Essen war wirklich klasse gewesen und der Verein hatte sich große Mühe gegeben, uns Spielern gute Bedingungen zu geben. Gesättigt ging ich mit Dustin von der Anlage in den Wald. Große Aktionen wollten wir beide nicht machen, weil wir erstens schon müde waren und zweitens morgen noch harte Matches vor uns hatten.

„Wie findest du Chris? Er ist etwas anders als Listen, oder?“

Dustin lachte laut.

„Etwas anders? Du bist gut, immer noch den gleichen Humor wie damals. So einen Coach hätte ich auch gerne. Du glaubst echt nicht, wie mir das im Verband momentan auf den Sack geht.“

Ich stutzte ein wenig, Dustin war immer derjenige gewesen, der den Verband in den höchsten Tönen gelobt hatte.

„Woher kommt diese Sinneswandlung? Du hast doch immer gesagt, wie toll das dort ist.“

Wir schlenderten nebeneinander durch den Wald und die laue Abendluft. Es dämmerte bereits und wir entschlossen uns, auf einer kleinen Lichtung uns in das Gras zu setzen.

„Ach, es ist doch echt blöd. Wenn ich das alles vorher gewusst hätte, wäre ich dir gefolgt. Du hast wirklich die richtige Entscheidung getroffen. Du kannst selbst entscheiden, was du spielen willst und mit wem du trainieren kannst. Ich muss immer nur das machen, was der Verband vorgibt. Ich habe es nur viel zu spät bemerkt. Als ich damals zum Verband ging, hatte ich meinen Eltern geglaubt. Heute sieht das anders aus.“

„Wieso? Was ist mit deinen Eltern? Hast du Stress zu Hause?“

Er fing an verächtlich zu lachen.

„Das ist sehr vornehm ausgedrückt. Mein Vater ist nur am Motzen und Mama hält zu ihm. Immer ist das nicht gut genug, was ich tue. Echt, es geht mir gerade am Arsch vorbei, ob ich einen Einser Schnitt habe oder Peng. Ich komme gut mit und das reicht mir. Ich möchte auch etwas vom Leben haben. Echte Freunde habe ich kaum noch, weil ich in der wenigen Freizeit immer unterwegs bei Turnieren bin. Im Kader sind das alles nur noch Ja-Sager. Ich habe keinen Bock mehr auf diesen Scheiß.“

Hoppla, das hatte ich so nicht erwartet. Da musste ich meine Meinung über Dustin aber deutlich hinterfragen. Er hatte sich verändert und das interessierte mich.

„Warum gehst du nicht aus dem Verbandskader raus und schließt dich einem anderen Verein an? Am Geld dürfte es bei dir doch nicht scheitern.“

„Doch, meine Eltern würden das niemals unterstützen. Jetzt mal schon gar nicht. Sie begreifen nicht, dass ich im Moment einfach keinen Bock mehr habe. Ich habe schon daran gedacht, ganz mit Tennis aufzuhören. So macht mir das einfach keinen Spaß mehr.“

Er schien das ernst zu meinen, denn er war richtig niedergeschlagen.

„Hey, ich kann das verstehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel besser das bei uns im „Break-Point-Team“ ist. Ich habe heute wieder richtig Spaß, und wenn Chris mit uns unterwegs ist, macht es noch mehr Spaß. Ok, die anderen Coaches sind auch sehr gut, aber sie sind mehr auf den Erfolg ausgerichtet. Chris kümmert sich viel stärker um den Spieler. Das ist echt cool. Ich kann mit ihm gut reden. Nicht nur über Tennis.“

Dustin hatte mir aufmerksam zugehört und die Zeit war förmlich gerast, denn wir mussten zurück. Sonst würde es unangenehm werden, denn eines war bei Chris wirklich ein Problem. Unpünktlichkeit ging gar nicht. Das gab Stress. Also machten wir uns auf den Rückweg.

„Weißt du, Fynn, ich möchte mich noch mal bei dir entschuldigen. Ich bin dir aus dem Weg gegangen, weil ich mich geschämt habe. Ich habe dir Unrecht getan und war zu feige, dir das zu sagen.“

Es wurde immer verrückter. Früher hätte Dustin niemals so etwas zugegeben. Ich war jetzt auch wirklich sehr skeptisch, ob er das ernst meinen würde. Allerdings machte er nicht den Eindruck, dass es nur so daher gesagt war.

„Wenn du das wirklich ernst meinst, dann lass uns doch versuchen, unsere Freundschaft wieder richtig aufleben zu lassen.“

Ich blieb dabei stehen und hielt ihm meine Hand hin. Er war überrascht, zögerte einen Moment und nahm dann meine Hand.

„Danke, ich freue mich wirklich, dass du mir eine neue Chance gibst. Ich freue mich drauf, morgen mit dir auf den Platz zu gehen.“

„Ja, ich auch. Jetzt müssen wir uns aber beeilen, sonst wird Chris echt sauer.“

Die letzten einhundert Meter liefen wir zurück, dennoch waren wir fünf Minuten zu spät, als wir bei den Zelten eintrafen. Chris saß auf seinem Liegestuhl vor dem Wohnmobil und schaute demonstrativ auf die Uhr. Dustin blieb trotzdem bei mir und ging nicht direkt zu seinen Leuten.

Chris: Planungen und Austausch mit Marco

„So, hier haben wir etwas Ruhe. Wie sieht denn so deine Arbeit aus, Chris? Bist du immer noch als Hobbycoach unterwegs?“

Ich musste schmunzeln. Klar, er war der Profi, aber es war wie früher. Er hatte mich von Beginn an respektiert, weil ich seine Philosophie vertrat. Der Spieler stand immer bei mir im Vordergrund. Nicht das Ergebnis.

„Klar, ich werde meinen Beruf auch nicht aufgeben. Dafür liebe ich ihn zu sehr. Außerdem habe ich bei meinem Bruder die Möglichkeit beides zu verbinden. Er hat mittlerweile begriffen, dass es wichtig ist, dass der Spieler sich wohl fühlt und keine Probleme mit sich herumträgt.“

Marco nickte anerkennend.

„Nun, der Erfolg gibt ihm ja recht. Außerdem hast du ja früher schon gesagt, dass das die Voraussetzung für gute Leistungen ist. Wie sind denn deine Jungs, mit denen du dieses Mal unterwegs bist?“

„Ach, alles bislang echt klasse. Carlo ist der Lustigste und ich mag ihn echt gern. Er hat immer gute Laune und für ihn ist Tennis noch Spiel. Dennoch zeigt er gute Leistungen und hat auch Talent. Mattes ist der Athlet von den Dreien. Er ringt seine Gegner oft mit seiner Fitness nieder. Weniger spielerisches Talent, eher der Arbeiter auf dem Platz. Fynn ist mein Problemfall.“

„Warum? Er macht einen netten Eindruck und spielt geiles Tennis.“

„Ja, da hast du sicher recht, aber es ist auffällig, dass er mit jedem Tag, den er von zu Hause weg ist, fröhlicher wird. Er wirkt förmlich befreit. Ich habe aber auch noch keine Ahnung, was der Grund ist. Mein Bruder hat mir nur gesagt, es gibt dort wohl ein paar Spannungen in der Familie.“

Marco grinste mich an.

„Also dann ist er ja genau beim richtigen Trainer gelandet. Wenn das einer regeln kann, dann du.“

Dabei schubste er mich ein wenig in die Seite und wir mussten beide lachen.

„Und mit was für einer Truppe bist du unterwegs? Wieder ein halber Kindergarten?“

Das meinte ich natürlich nicht ganz ernst, aber er hatte immer die jüngeren Spieler dabei.

„Klar, aber irgendwer muss die ja auch bändigen. Nein, im Ernst, ich habe eine tolle Gruppe. Einer, der Nico ist bei den U12er in Deutschland unter den zehn besten Spielern. Dabei wird er erst zwölf. Die anderen sind im Bezirk jeweils Spitze. Allerdings auf Landesebene noch nicht ganz oben.“

„Naja, wie alt sind die anderen denn? Ich denke eher noch jünger als Nico, oder?“

„Ja, gut beobachtet. Nico ist mit Sascha der älteste.“

„Sascha? Den Namen habe ich gar nicht auf den Tableaus gesehen. Wer ist das?“

Marco lachte und erwiderte: „Richtig, sein richtiger Name ist Aljoscha, er ist aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Wir nennen ihn aber alle nur Sascha.“

„Ahso, ok. Gut zu wissen. Wie lange ist er schon in Deutschland?“

„Etwa fünf Jahre. Sie sind aus der Ukraine weg, bevor der Krieg dort so richtig losging. Seine Eltern sind sehr nett und total engagiert. Der Vater spricht auch schon recht gut Deutsch. Die Mutter hat noch so ihre Schwierigkeiten, aber Sascha kann im Zweifel übersetzen, denn er kann mittlerweile fast perfekt Deutsch sprechen.“

„Wie gut, dass sie vor dem Drama dort ausgewandert sind. Was macht der Vater? Arbeitet er hier?“

„Ja, er ist Maschinenbauingenieur und arbeitet bei M.A.N.“

Mittlerweile wurde es langsam dunkel und es war bereits halb zehn. Wir nahmen noch eine Cola an der Theke und anschließend machten wir uns auf den Weg ins Camp. Marco wollte mal nach seinen Jungs schauen. Sie waren ja noch etwas kleiner und er wollte doch lieber mal schauen, ob auch alle bereits im Zelt waren. Wir trennten uns, aber nicht ohne uns für den nächsten Morgen zum Frühstück zu verabreden. Ich öffnete das Wohnmobil und alle Fenster, um frische Luft hineinzulassen. Carlo lag schon im Bett und schlief bereits. Er war beim Lesen eingeschlafen und das Buch lag auf seinem Bauch. Ich nahm es weg, löschte das Licht und setzte mich noch mit einer kalten Fassbrause nach draußen in meinen Liegestuhl. Bald müssten auch Fynn und Dustin zurück sein. Mattes lag im Zelt und spielte mit seinem Handy. Er hatte mich begrüßt, als ich kam. Dort war also alles in Ordnung.

Ich nahm meinen Laptop und schaute im Internet noch ein paar Dinge nach. Ebenfalls schrieb ich an Thorsten, unserem Teammanager, eine Mail. Ich berichtete über unseren Turnierverlauf und gab die weitere Zeitplanung durch. Währenddessen konnte ich sehen, dass Mattes sein Handy weggelegt hatte und eingeschlafen war. Jetzt fehlte nur noch Fynn mit Dustin.

Fynn: Wir kamen zu spät zurück

Das war jetzt dumm gelaufen. Das erste Mal war ich mit Dustin unterwegs und gleich zu spät zurück im Camp.

„Sorry Chris, ich bin zu spät. Wir haben uns gut unterhalten und da habe ich nicht auf die Zeit geachtet.“

Mir wurde ein wenig heiß im Kopf, denn Chris reagierte auf Unpünktlichkeit immer sehr allergisch. Jetzt schaute er mich an und seine Augenbrauen gingen in der Mitte zusammen. Oh oh, das sah böse aus. Dustin begann sich einzumischen.

„Es war aber auch mein Fehler …“

Chris unterbrach ihn sofort:

„Nein, Dustin. Fynn ist für sich selbst verantwortlich. Wenn ich zehn sage, meine ich auch zehn und nicht zehn nach zehn, a...“

„Es ist aber erst fünf nach zehn und wir haben uns beeilt“, unterbrach ihn Dustin jetzt auch noch.

„Dustin, halt dich zurück und lass mich ausreden.“

Chris Stimme wurde bestimmter und drohender. Dustin sollte sich besser aus der Sache heraushalten.

„Ok, entschuldige Chris.“

„Ich wollte nämlich sagen, es ist ja noch nicht zehn nach, sondern fünf nach. Außerdem hat Fynn doch sofort gesagt, dass er zu spät ist und sich entschuldigt. Bitte beim nächsten Mal besser aufpassen und damit ist das erledigt, ok?“

„Kein Sonderprogramm?“, fragte ich ungläubig.

„Warum Sonderprogramm?“

„Na, weil die anderen immer erzählen, wer bei dir zu spät kommt, hat nichts zu lachen.“

Chris schaute mich verwundert an und lachte.

„Ok, da eilt mir ja ein schlimmer Ruf voraus. Es stimmt, ich mag es eben nicht, wenn jemand ständig zu spät kommt. Aber ich bin doch kein Pedant. Dustin, mach dich vom Acker und geh zu deinem Zelt. Ich wünsche dir eine gute Nacht und bis morgen früh.“

Dustin musste grinsen und verabschiedete sich von mir und von Chris.

„Danke, Chris. Ich wollte wirklich pünktlich sein. Passiert auch nicht wieder.“

„Ist gut jetzt. Sieh zu, dass du in dein Zelt kommst. Mattes schläft schon. Also sei bitte leise.“

„Ok, ich bin schon weg. Bis morgen früh dann. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Fynn.“

Wow, noch mal Glück gehabt. Ich durfte nur nicht noch einmal so etwas machen. Ich ging in unser Zelt und legte mich gleich hin. Es dauerte auch nicht lange und ich wurde müde nach diesem harten Tag. Dennoch gingen mir noch ein paar Dinge durch den Kopf.

Warum konnte es nicht auch zu Hause so harmonisch sein. Wenn das zu Hause passiert wäre, hätte ich direkt richtig Stress gehabt. Vor allem wenn ich an Schule dachte. Es war so ähnlich wie bei Dustin. Ich konnte es keinem recht machen. Oder Papa war wieder mal besoffen, dann wurde es richtig gefährlich. Ich hatte dann in letzter Zeit immer die Flucht ergriffen. Beim Tennis konnte ich mich austoben und den Frust abbauen. Mit dem Gedanken, wieder einen guten Freund zurückbekommen zu haben, schlief ich dann doch bald ein.

Der nächste Morgen wurde sehr hart. Ich hatte irgendwie beschissen geschlafen. Immer wieder wurde ich wach und musste über den Tag und diese Dinge nachdenken. Aber jetzt ging es erst einmal unter die Dusche. Dort traf ich Dustin, der bereits bestens gelaunt schien.

„Moin Fynn, alles fit im Schritt?“

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht empfing mich Dustin in der Dusche. Oh nein, ein Morgen-Mensch. Ich war ein Morgenmuffel, ich konnte nicht so früh schon so lustig sein.

„Morgen“, sagte ich grummelnd.

„Oh, du bist ja gut drauf. Ich dachte, du freust dich auf unser Einschlagen.“

„Ja, Einschlagen schon, aber früh aufstehen nicht so.“

Diese Antwort gefiel ihm scheinbar, denn er brach in lautes Gelächter aus und ich musste auch lachen. So kam ich schnell in Gang und nach der Dusche ging es mir schon viel besser.

Wir beschlossen, erst nach dem Einschlagen mit den anderen zu frühstücken. So hatten wir mehr Zeit zum Spielen. Die ersten Bälle schlugen wir im T-Feld und es dauerte wirklich nicht lange und wir hatten einen guten Rhythmus entwickelt und es machte mir richtig Spaß. Wir scherzten auf dem Platz und bald kam auch Chris hinzu. Von Dustins Leuten war nichts zu sehen.

„Morgen Chris“, rief ich mitten im Ballwechsel und Chris grüßte gut gelaunt zurück. Ein paar Minuten später mussten wir bereits aufhören, weil die Plätze für das Turnier gebraucht wurden. Wir zogen den Platz ab und Chris kam zu uns.

„Wir treffen uns in zehn Minuten am Wohnmobil zum Frühstück. Dustin, danke fürs Einschlagen, hat mir gut gefallen.“

„Mir auch“, sagte Dustin und wir gaben uns die Hand.

„Wann musst du eigentlich spielen?“, fragte ich ihn noch.

„Erst um halb elf. Wenn es ok ist, komme ich vorher bei dir zum Platz und schaue dir etwas zu.“

„Klar, gerne. Unterstützung ist immer gut.“

Damit verabschiedeten wir uns für diesen Moment und ich nahm meine Tasche und ging zu unserem Wohnmobil zum Frühstück.

Die anderen saßen schon am Tisch und Chris schien gerade mit ihnen den Tagesplan zu besprechen.

„Hi Fynn, gut aufgewärmt mit Dustin?“

„Ja, Chris, hat Spaß gemacht. Ich glaube, es wird ein gutes Match. Ich fühle mich jetzt wieder gut.“

Chris schaute mich ganz genau an. Ich ahnte, dass er meinen Satz genau verstanden hatte, ließ es sich aber nicht weiter anmerken. Er besprach noch mit Mattes sein kommendes Match. Dann wandte er sich mir zu:

„Fynn, wenn du in Ruhe gegessen hast, möchte ich mit dir gleich über dein Match reden. Carlo muss heute ja nicht mehr spielen.“

Ich nickte ihm zu und beschäftigte mich mit den Brötchen.

Dustin: Stress mit Listen

Als ich zurückkam und mich in mein Zelt legte, waren die anderen bereits alle in ihren Zelten. Am nächsten Morgen begann das Theater dann richtig. Nach dem Einschlagen mit Fynn wurde ich zu Herrn Listen zitiert. Das schien ihm immer eine besondere Freude zu machen, Spieler vorzuladen und dann fertigzumachen. Er regte sich tierisch darüber auf, dass ich mich mit anderen Leuten lieber einschlagen würde, als mit dem eigenen Team. Er verlangte von mir, dass ich mehr für das Team tun sollte. Da platzte mir fast der Kragen. Ich wollte schon fragen, welches Team? In meinen Augen gab es kein WTV-Team. Es bestand aus Einzelspielern, die von einem autoritären Herrscher regiert wurden. Aber ich wusste auch, wenn ich jetzt dagegen etwas sagen würde, hätte ich noch schlechtere Karten. Aber beim nächsten Turnier würde ich mir etwas überlegen.

Das war eine richtig gute Vorbereitung auf mein Match. Listen hatte mir nur Vorhaltungen gemacht, aber mich auf meinen Gegner einzustellen, fiel ihm nicht ein. Als er fertig war, wollte ich ihm das noch sagen, aber ich hatte eine andere Idee.

„Danke für die gute Vorbereitung auf mein Halbfinale. Ich möchte deshalb lieber ohne Trainer am Platz spielen. Kommen Sie also nicht auf die Idee, mein Spiel am Platz zu verfolgen.“

Danach wäre er am liebsten geplatzt. Aber es waren schon andere Leute im Clubhaus und ich war ganz ruhig geblieben, als ich das gesagt hatte. Im Gegensatz zu ihm, der gleich wieder laut wurde.

Ich verließ das Clubhaus und holte meine Tasche. Fynn würde bestimmt gleich auf den Platz gehen. Das Spiel wollte ich unbedingt sehen. Er spielte immerhin schon in der Nachwuchsklasse. Das konnte ich ja nicht einmal selbst entscheiden. Der Verband gab das vor.

Fynn kam mir entgegen mit seiner Tasche und seinem Gegner. Sie unterhielten sich recht entspannt.

„Hi Dustin, na schon mit Tasche unterwegs. Du hast doch noch Zeit.“

„Hör bloß auf, Listen hat mich gerade ganz toll auf mein Spiel vorbereitet. Da bin ich geflüchtet, bevor mir der Kragen platzte.“

Fynn schaute mich skeptisch an. Ich ärgerte mich gerade, dass ich das jetzt gesagt hatte. Genau vor seinem Spiel. Mist. Hoffentlich fing er nicht an, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Fynn blieb stehen und sein Gegner ging allein auf den Platz, nachdem Fynn ihm gesagt hatte, dass er noch kurz mit mir sprechen wollte.

„Hey, der Listen scheint ja immer schlimmer zu werden. Geht ja gar nicht. So kann man doch keine gute Leistung bringen.“

„Ach egal. Ich habe eh keine Lust mehr für den Idioten zu spielen. Jetzt mach dir aber keinen Kopf darüber, sondern konzentriere dich auf dein Match. Ich will dich im Finale sehen.“

Wir gaben uns noch kurz die Hand und ich umarmte ihn. Mir war einfach danach. Er freute sich sogar über die Unterstützung und lachte.

„Ich gebe mein Bestes und dann schauen wir mal. Dir aber auch trotzdem ein gutes Match.“

Unsere Wege trennten sich jetzt, denn Fynn betrat den Platz. Ich ging zu Chris und stellte meine Tasche unter einem Baum in den Schatten.

„Na, du siehst aber auch nicht gerade gut gelaunt aus.“

„Ach, hör bloß auf. Der Listen ist einfach ein Arschloch.“

Chris nickte nur.

„Hm, ja da könntest du sogar recht haben. Komm, erzähl mal. Bevor Fynn anfängt, haben wir noch ein paar Minuten.“

Ich erzählte ihm, was passiert war und zum Schluss fing er sogar an zu lachen. Das irritierte mich total. Machte er sich auch über mich lustig?

„Hey, keine Panik. Ich finde es nur cool, wie du ihm zum Schluss den Spruch reingedrückt hast. Respekt!“

„Aber das hat jetzt bestimmt Folgen und ich weiß leider immer noch nichts über meinen Gegner.“

Jetzt legte er seinen Arm um meine Schulter und was dann kam, erstaunte mich.

„Alles kein Grund zur Panik. Ich denke, es war richtig, dass du dir das nicht länger hast gefallen lassen. Es wird Zeit, dass der Verband auch einmal Grenzen gezeigt bekommt. Komm, ich erzähle dir gerade das, was ich über deinen Gegner weiß. Vielleicht hilft dir das ein wenig.“

Das war untertrieben. Innerhalb von zehn Minuten hatte ich mehr über mein kommendes Spiel erklärt bekommen, als in den letzten drei Trainingseinheiten beim Verband.

„Danke Chris. Ich glaube, ich habe es verstanden.“

Mittlerweile hatte auch Fynns Match begonnen und er hatte sein erstes Aufschlagspiel gewonnen. Jetzt ließ ich Chris lieber in Ruhe. Carlo kam nun auch zu uns. Ich hatte fast den Eindruck, dass er extra gewartet hatte, bis Chris mit unserem Gespräch fertig war.

„Hi Dustin“, kam es von Carlo.

„Hi Carlo, was denkst du? Wer wird gewinnen?“

„Na, ich hoffe doch, dass Fynn gewinnt. Das eigentlich schwerere Spiel war gestern, aber ich denke schon, er gewinnt.“

„Hoffe ich auch, du musst heute nicht mehr ran?“

Carlo schüttelte nur den Kopf, denn Chris gab uns ein Zeichen, dass wir leiser sein sollten. Das machten wir natürlich sofort. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie nervig das war, wenn am Platz während der Ballwechsel laut gesprochen wurde.

Ich beobachtete Chris genau. Er nahm immer wieder mit Fynn Blickkontakt auf und feuerte ihn auch mit kleinen Zurufen an. Es war für mich sehr interessant, wie es Chris immer wieder gelang, mit Zeichen oder kleinen Hinweisen, Fynn zu unterstützen. Mir war das auf dem Platz noch nie so deutlich geworden.

„Sag mal, Carlo“, flüsterte ich, „ist dir das schon mal aufgefallen, wie viel Chris mit Fynn kommuniziert, obwohl das ja eigentlich nicht erlaubt ist?“

Carlo grinste mich an.

„Klar, das ist seine Spezialität. Er weiß immer ganz genau, was noch erlaubt ist und was nicht. Außerdem ist er immer fair dem Gegner gegenüber. Ich finde es total cool, wenn er bei mir am Platz steht.“

Je länger ich Chris beobachtete, desto faszinierender fand ich das. Ich hatte mir noch nie derart intensiv Gedanken darüber gemacht, weil bei uns so etwas nicht stattfand. Da war jeder Spieler auf dem Platz, sich selbst überlassen. Es gefiel mir immer besser, je länger ich dem Spiel zusah. Leider musste ich nun selber auf den Platz und mein Halbfinale spielen. Ich verabschiedete mich von Carlo und sagte Chris noch Bescheid. Er wünschte mir viel Glück und ich ging mich aufwärmen.

Fynn: Ein gutes Turnier

Es wurde ein richtig heißer Tag und ich hatte schwer zu kämpfen. Dummerweise hatte ich vergessen, meine Allergietabletten zu nehmen. Ich bekam also immer mehr Probleme mit dem Atmen. Außerdem lagen sie in unserem Zelt neben dem Schlafsack. Ich war echt zu blöd. Das Spiel verlief bis hierhin recht gut. Ich lag immer ein Break vorn und kontrollierte das Match. Zu Beginn des zweiten Satzes wurden die Probleme aber immer größer und auch Chris wurde unruhig. Ich konnte beobachten, wie er mit Carlo sprach. Dustin war mittlerweile auch auf den Platz gegangen für sein Halbfinale. Plötzlich schüttelte Chris den Kopf und schickte Carlo irgendwohin. Es stand 2:2 und ich schlug nun gegen die Sonne auf. Meine Konzentration war komplett weg und ich gab das Spiel zu null ab. Beim Seitenwechsel kam Chris zur Bank, ging zuerst zu meinem Gegner, sprach mit ihm ein paar Worte. Der nickte freundlich und Chris kam zu mir.

„Hey, was ist los mit dir?“

Mir was es jetzt peinlich, ihm zu sagen, dass ich meine Medikamente vergessen hatte.

„Nichts, nur ich kann mich gerade nicht konzentrieren.“

Chris schaute mich einen Moment an, dann kam eine Ansage, die ich so noch nie gehört hatte.

„Hör auf, entweder du sagst mir sofort, was los ist, oder ich hole dich vom Platz. Es geht dir beschissen und du lügst mich an.“

Bumm, das saß. Völlig verdutzt schaute ich zu ihm hoch.

„Ok, Chris. Ja, es geht mir nicht so besonders. Ich bekomme nur noch ganz schlecht Luft. Also, ich habe halt vergessen meine Allergietabletten zu nehmen und das Spray liegt im Zelt.“

Chris schloss für einen Moment seine Augen, holte tief Luft und ich dachte, jetzt raucht er mich richtig ab. Es kam aber anders.

„Kann ja nicht sein. Du weißt aber, dass du eine Medical time out nehmen kannst? Dann hättest du dir die Medi holen können. Ich sage deinem Gegner gerade Bescheid und hole dir das Spray und die Tabletten. Wo liegen die genau?“

„Neben meinem Schlafsack im Zelt.“ Die Antwort kam automatisch.

Chris drehte sich wortlos um, klärte meinen Gegner auf und lief Richtung Zelt. Es war mir sowas von peinlich, aber ich hätte vermutlich niemals gewonnen, wenn Chris sich nicht eingeschaltet hätte.

Carlo brachte mir noch ein Handtuch mit Eiswürfeln drin, das legte ich mir in den Nacken. Nachdem Chris mich behandelt hatte, konnte ich wieder frei atmen und gewann das Spiel recht locker. Beim Handshake am Netz entschuldigte ich mich noch einmal bei meinem Gegner. Er war sehr nett und fair und fand das kein Problem. Allerdings konnte ich beim Verlassen des Platzes erkennen, dass Chris ein wenig schlechte Laune hatte. Er hatte mir natürlich gratuliert und freute sich, dass ich das Finale erreicht hatte, aber ich wusste auch, dass er mir jetzt einen Einlauf verpassen würde.

„Ich möchte in einer Viertelstunde mit dir reden. Geh dich frisch machen und dann kommst du zu Mattes an den Platz. Dort reden wir beide einmal miteinander.“

Oh je, so bestimmt war er selten. Ich glaube, da kam ein kleines Gewitter auf mich zu. Exakt eine Viertelstunde später war ich am vereinbarten Ort. Ich hatte ganz genau auf die Zeit geachtet, weil ich ja wusste, dass er darauf Wert legte. Allerdings empfing er mich recht entspannt.

„Hi, geht es dir jetzt, wieder gut?“

„Danke, ja. Ich habe mich gut erholt.“

„Gut, du kannst dir sicher denken, warum ich mit dir reden möchte?“

„Ja, weil ich vergessen habe, die Medikamente zu nehmen und dadurch das Spiel beinahe verloren hätte.“

„Nein, weil ich dir klar machen möchte, dass ich für eure Gesundheit verantwortlich bin. Wenn du mir aber nicht sagst, dass du Medikamente nimmst, kann ich nicht ausreichend reagieren. Ich muss wissen, wenn einer von euch Medikamente bekommt. Du bist sechzehn und solltest sicher selber darauf achten können, aber wie man sieht, passiert es halt doch. Also muss ich als Sicherheit wissen, was du bekommst und gegen was es helfen soll.“

Das leuchtete mir ein. Es wurde mir erst jetzt klar, dass ich Chris auch in große Schwierigkeiten hätte bringen können. Das wollte ich natürlich auf keinen Fall.

„Du hast recht, aber ich habe darüber noch gar nicht nachgedacht. Es tut mir leid und ich versuche, dass das nicht mehr passiert.“

Chris Gesicht entspannte sich und er gab mir einen Schlag gegen die Schulter.

„Gut, ich seh schon, wir sind uns einig. Vorbereitung aufs Finale machen wir nach dem Spiel von Mattes. Wenn du bei Dustin zuschauen möchtest, dann geh. Ist ok für mich.“

Dabei zwinkerte er mir wieder zu, als ob nichts gewesen war. Das fand ich cool. Wir hatten vor ein paar Minuten noch Zoff und jetzt war wieder alles gut. Natürlich wollte ich mal bei Dustin schauen gehen, machte mich entsprechend auf den Weg zu seinem Platz.

Dort hatten sich schon ein paar Zuschauer eingefunden, aber komischerweise war niemand aus dem Team vom WTV am Platz. Selbst andere Spieler nicht. Das fand ich jetzt echt blöd. Dustin musste sehr hart kämpfen und lag zurück, als er mich am Zaun entdeckte. Ich feuerte ihn an und motivierte ihn immer wieder, weiter zu kämpfen. Er musste in den dritten Satz und ich nutzte die Möglichkeit bei der Satzpause, mit ihm zu sprechen.

„Cool, wie du den Satz gewonnen hast. Versuch weiter nicht so schnell zu spielen. Nimm den Druck aus dem Ball und lass ihn die Fehler machen.“

Dustin schaute mich an und er hatte verstanden, was ich gemeint hatte. Im Tiebreak machte er nicht einen Fehler und gewann deutlich den Match-Tiebreak. Ich freute mich sehr für ihn und ging zu seiner Bank und wollte ihm gratulieren. Er freute sich richtig und umarmte mich zum Dank für die Hilfe.

„Danke, Fynn. Du hast mir sehr geholfen. Ich habe genau diesen Tipp gebraucht. Echt klasse.“

„Schon gut. Macht man unter Freunden so. Und jetzt rocken wir beide das Finale. Ich will mit dir beim Siegerfoto stehen.“

Wir lachten beide darüber. Irgendwie hatte ich immer mehr das Gefühl, wir waren wieder wie früher dicke Freunde. Das war ein gutes Gefühl.

„Ist das ok, wenn ich schon zu Mattes und Chris gehe? Du kannst ja nachkommen.“

„Klar, geh ruhig. Ich komme bestimmt noch zu euch. Bis gleich.“

Chris stand wie immer in einer Ecke des Platzes am Zaun und Carlo neben ihm.

„Na, wie hat Dustin gespielt? So wie du aussiehst, hat er gewonnen.“

Chris lächelte dabei. War es wirklich so einfach zu erkennen?

„Ja, er hat im dritten Satz 10:1 gewonnen. Wir wollen jetzt beide auf das Siegerfoto mit dem Pokal in der Hand.“

„Hey, das ist guter Plan. Damit bin ich einverstanden. Mattes macht sich auch ganz ordentlich. Allerdings hat er einen ganz harten Gegner.“

„Naja, im Halbfinale kann das schon mal sein, oder?“

Jetzt musste Chris sich zusammenreißen, nicht laut zu lachen. Er stupste mich an und wir verstanden uns ohne ein weiteres Wort.

Während wir bei Mattes am Platz standen, konnte ich beobachten, wie Dustin mit Listen eine Auseinandersetzung hatte. Ich konnte es nicht begreifen, Dustin hatte gewonnen und dennoch regte sich Listen auf. Dabei hatte er nicht einmal das Match gesehen. Widerlicher Typ, ich empfand ihn mit jedem weiteren Tag unangenehmer. Dustin schien sich sehr aufzuregen und es entstand eine heftige Auseinandersetzung. Chris bemerkte meinen ängstlichen Blick und meinte:

„Bleib hier, ich regel das jetzt. Das geht ja auf keine Kuhhaut.“

Chris ging auf direktem Wege zu den beiden Streithähnen und ich konnte es leider nicht hören, was er Herrn Listen an den Kopf knallte, aber nachdem Chris sich vor ihm aufgebaut hatte, schwieg Herr Listen. Dustin stand mittlerweile hinter Chris und ich hatte kein gutes Gefühl. Bei dieser Sache war das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Chris kam, sich mit Dustin unterhaltend, zu uns zurück.

„… wenn er noch einmal so eine Szene macht, werde ich dem Verband eine nette Mitteilung schreiben. Was glaubt er eigentlich, wer er ist. So was von inkompetent.“

Chris war mächtig in Fahrt. Ich wunderte mich schon, denn er war sonst immer freundlich und so sauer hatte ich ihn noch nie erlebt. Dustin schien auch mächtig beeindruckt zu sein, denn er ging wortlos neben Chris her.

„Na, dem Arschloch hast du aber gezeigt, wo der Hammer hängt.“

Carlo hatte es auf den Punkt gebracht und ich musste einfach lachen. Das heiterte auch Dustins Gesicht wieder auf.

Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg zu unseren Zelten. Mattes hatte sein Match verlorenen und jetzt war Mittagspause. Bis zu unseren Finals hatten wir etwa zwei Stunden Zeit. Dustin blieb die ganze Zeit bei uns und hatte keine Lust, Listen noch einmal zu begegnen. Chris schlug uns daher vor:

„Dustin, hast du Lust, mit Fynn mal ein wenig in den Wald zu gehen. Da könnt ihr euch etwas abreagieren. Du bist immer noch sehr angespannt. Ich verspreche dir, Listen wird dich in Ruhe lassen. Er kennt mich mittlerweile und weiß, dass ich das tue, was ich sage. Leider wird es dann zu Hause bei euch weitergehen. Das wirst du nur ändern können, indem du dich aus dem Verband verabschiedest und für dich eine andere Lösung suchst.“

Dustin wusste, dass Chris recht hatte. Er gab mir ein Zeichen und wir marschierten los. Ich glaube es war besser, wenn niemand unsere kommende Unterhaltung mitbekommen würde. Als wir endlich im Wald waren legte Dustin los.

„Fynn, ich habe keinen Bock mehr. Ich spiele richtig gutes Tennis und dennoch werde ich immer runter gemacht. Das kann doch nicht sein. Was soll ich noch machen? Ich höre auf mit Tennis. Dann habe ich wenigstens meine Ruhe.“

Das traf mich wie ein Blitz.

„Spinnst Du? Du spielst momentan besser denn je und jetzt willst du diesem Arschloch noch nachgeben? Nichts da. Du spielst doch Tennis, weil es dir Spaß macht. Das darf dir so einer wie Listen doch nicht kaputt machen.“

Ich war richtig wütend. Dustin war total am Boden zerstört und verzweifelt.

„Ach, es ist ja nicht nur Listen. Was meinst du, was ich zu Hause zu hören bekommen werde? Mein Vater glaubt dem Listen doch alles. Einzig meine Mutter versteht mich meistens, aber die hat von Tennis überhaupt keine Ahnung.“

Dustin hatte mit seinen Gefühlen zu kämpfen und ich fühlte mich hilflos. Wie konnte es soweit kommen, dass ein richtiges Talent mit seinem geliebten Sport aufhören wollte, nur weil der Verbandstrainer unfähig war.

„Hey, komm. Das bekommen wir auch hin. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, aus dem Verband herauszugehen und dich einem anderen Verein anzuschließen? Also ernsthaft.“

Er schaute mich aus glasigen Augen an und schüttelte den Kopf. Er kämpfte mit den Tränen und ich wurde immer wütender. Wir hockten uns auf einen Baumstamm, der am Weg lag und ich wusste mir nicht anders zu helfen, als meinen Arm um ihn zu legen und ihn zu trösten.

„Wo soll ich denn hingehen? Kein Verein in meiner Nähe hätte die sportliche Perspektive. Wenn es überhaupt einen Verein in der Nähe gäbe, dann der TP Versmold, aber das würde bedeuten, meine Eltern müssten mich jedes Mal fahren. Das kannst du vergessen.“

Als er bemerkte, dass ich meinen Arm um ihn gelegt hatte, entspannte sich sein Körper fühlbar. Es entwickelte sich nun ein richtiges Gespräch. So hatten wir schon ewig nicht mehr miteinander gesprochen. Er erzählte mir von seinem Zuhause und was für Probleme er in der Schule hatte. Es fiel ihm halt schwer, sich zu motivieren. Er sah halt kein Ziel vor Augen. Ich hörte die meiste Zeit schweigend zu und als fertig war und wir beide für einen Moment schweigend auf dem Baumstamm saßen, kam mir die Idee.

„Hast du mal daran gedacht, dich bei uns vorzustellen und zu fragen, ob du nicht bei uns trainieren und spielen kannst? Halle ist nicht weiter weg als Versmold und du kannst vor allem vielleicht bei uns in der Spieler WG wohnen und in Halle zur Schule gehen.“

Jetzt schaute er mich mit großen Augen an.

„Meinst du das ernst? Denkst du, ich wäre gut genug dafür?“

„Das kann ich nicht sagen, aber wenn du nicht fragst, kannst du auch keine Antwort bekommen. Denk doch mal drüber nach. Außerdem kann dir Chris bestimmt helfen, Kontakte herzustellen.“

Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie und er zog mich hoch.

„Danke Fynn. Ich freue mich, dass wir wieder Freunde sind. Ich denke mal darüber nach. Kann ich dich dann fragen, falls mir etwas unklar ist?“

„Sicher doch, auch Chris kannst du immer fragen. Und keine Sorge, von uns erfährt das niemand, bis du dich entschieden hast. Diesen zusätzlichen Stress braucht keiner. Ich habe das damals falsch gemacht, bevor ich nach Halle gegangen bin. Mein alter Verein hat mir damals viele Steine in den Weg gelegt.“

Das war der Moment, in dem wir uns auf den Rückweg machten und Dustin suchte immer wieder in kleinen Albereien den Kontakt zu mir. Es war wie früher, als wir so zehn waren. Da haben wir ständig zusammen gehockt und herumgealbert. Mir gefiel das, denn Dustin hatte viel bessere Laune und das tat auch mir gut. Ich lud ihn spontan zu uns zum Essen ein. Er musste ja auch noch ein Finale spielen. Wir kamen auf dem Rückweg an unseren Zelten vorbei und er holte seinen ipod aus dem Zelt. Er wollte mir seine Musik vorspielen. Ich nahm meinen ebenfalls mit und dann gingen wir zurück ins Clubhaus. Mittags aßen wir immer dort. Chris saß mit Marco auf der Terrasse und sie schienen sich sehr intensiv zu unterhalten, denn sie bemerkten uns erst gar nicht. Wir blieben deshalb ein wenig abseits stehen und wollten die beiden nicht stören. Doch Chris bemerkte uns dann doch und lotste uns an den Tisch.

„Na ihr beiden, wie ich sehe, ist Dustins Laune wieder besser. Setzt euch ruhig zu uns. Mattes und Carlo kommen auch gleich. Heute ist Pasta angesagt. Die Wirtin macht für uns alle Spaghetti mit zwei verschiedenen Soßen.“

„Cool, ich liebe Pasta und wie ist das mit dir, Dustin?“

„Immer, dafür lasse ich jeden Burger stehen.“

Chris und Marco brachen in schallendes Gelächter aus, als plötzlich ein anderer Junge aus dem WTV-Team zu uns kam. Chris übernahm sofort die Regie und schirmte Dustin ab.

„Hi, was kann ich für dich tun?“, fragte Chris den Jungen sehr freundlich.

„Ähm, ich wollte Dustin kurz sprechen. Geht das?“

Chris drehte sich zu Dustin um, um zu schauen, ob er mit dem Jungen sprechen wollte. Da Dustin nickte, ging Chris einfach an die Seite und die beiden standen sich gegenüber. Ich blieb bei Dustin und hörte dem Gespräch zu. Es dauerte nicht lange und im Wesentlichen gab ihm der Junge recht und wollte ihm nur sagen, dass er ihn unterstützen würde. Dustin lächelte sogar ein wenig, als sie sich verabschiedeten.

Einige Minuten später saßen wir beim Essen und auch Marco hatte seine Jungs mitgebracht. Es war eine lustige Stimmung am Tisch. Immer wieder machten die jüngeren Spieler von Marco Blödsinn beim Essen. Irgendwann wurde es Marco zu bunt.

„Leute, sind wir hier im Kindergarten oder was? Mal bitte etwas mehr Ruhe beim Essen.“

Schlagartig war Ruhe. Er hatte seine Spieler gut im Griff. Chris grinste dabei.

Die Zeit rannte nur so und wir mussten uns für die Finals vorbereiten. Chris gab mir noch ein paar Hinweise und auch für Dustin hatte er ein paar nette Worte parat. Als ich dann mit meinem Gegner auf den Platz ging, konnte ich erkennen, dass er Dustin noch etwas erklärte. Dustin schien verwundert zu sein, aber Chris machte ihm wohl deutlich, dass er das so machen sollte. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte.

Mein erstes Finale in diesem Jahr, vor allem gleich in der Nachwuchskonkurrenz. Entsprechend nervös begann mein Spiel. Ich konnte mich nur schlecht konzentrieren. Immer wieder gingen mir leider auch andere Gedanken durch den Kopf. Es lief einfach nicht, so dass das Ergebnis im ersten Satz. 2:6 lautete. Chris kam an die Bank, mit einem Lächeln im Gesicht. Unfassbar, bei der schlechten Leistung von mir.

„Hey Fynn. Wenn du gewinnen willst, musst du aufhören zu denken. Fang an zu spielen. Du kannst das. Los! Dustin führt, hat mir Carlo gerade gesagt. Also wenn du mit ihm aufs Siegerfoto willst, dann gib Gas.“

Ok das war ein Argument, ich wollte nicht so untergehen. Allerdings wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte.

„Natürlich will ich mit Dustin aufs Bild, aber ich bekomme es nicht hin. Ich habe zu viel andere Sachen im Kopf.“

„Ich weiß, aber du musst aufhören, an Dustin zu denken. Jetzt musst du an dich denken und dein Match. Alles andere machen wir später, ok?“

Ich nickte und nahm mir vor, es noch einmal zu versuchen.

Den zweiten Satz startete ich viel besser und führte recht schnell mit 4:2 und einem Break. Plötzlich stand Dustin am Platz. Er hatte sein Spiel schon beendet und so wie er aussah, hatte er gewonnen. Chris, Mattes und Carlo gratulierten ihm. Ich konnte sehen, wie sehr er sich darüber freute. Beim nächsten Seitenwechsel stand er plötzlich hinter meiner Bank und flachste mit mir.

„So Fynn, ich habe meinen Teil eingelöst, jetzt gib Gas. Ich will mit dir aufs Bild. Mit Siegerpokal natürlich.“

Das tat echt gut. Er war richtig entspannt und das gab mir den nötigen Schub. Ich gewann den zweiten Satz und den dritten dann im Tiebreak. Als ich den Matchball verwandelt hatte, klatschten die Zuschauer und Dustin kam auf den Platz gelaufen, umarmte mich und gratulierte mir. Carlo zog sogar für mich den Platz ab. Das fand ich total nett.

Chris: Siegerehrung und Fahrt zum nächsten Turnier

Bei der Siegerehrung wurde es spannend, weil Listen ja durch Dustin sogar einen Titel für den Verband gewonnen hatte. Würde er jetzt wie immer gute Miene machen? Dustin jedenfalls sprach kein Wort mehr mit ihm und saß auch bei uns. Ich hatte das Gefühl, er hatte sich innerlich vom Verband verabschiedet. Fynn und er schienen jedenfalls wieder gute Freunde zu sein. Fynn schien befreit zu sein. Keinerlei Angst und Zurückhaltung war mehr zu erkennen. Ich musste unbedingt mit ihm über sein Zuhause mal reden. Sicherlich nicht heute, aber irgendwann war das fällig.

Die Pokale wurden überreicht und jeder Spieler erhielt den verdienten Applaus. Die Nachwuchsklasse wurde als letzte geehrt und das Besondere daran war, der Sieger erhielt sogar einen Scheck mit 100 Euro Preisgeld. Fynn war total überrascht, denn es war sein erstes Finale in dieser Klasse und dort gab es nicht nur Ranglistenpunkte, sondern eben auch ein Preisgeld.

Freudestrahlend kam er mit dem Pokal und dem Scheck zu uns an den Tisch zurück. Er legte den Scheck auf den Tisch und der Pokal machte im Team die Runde. Natürlich durfte Dustin seinen Pokal auch herumzeigen. Bei uns herrschte eine gelöste Stimmung, und als alles vorbei war, mussten wir uns von Dustin verabschieden. Er musste mit seiner Truppe zum nächsten Turnier fahren. Für drei Tage sahen wir uns nicht. Erst beim übernächsten Turnier würden wir wieder am gleichen Ort sein. Für Fynn war es kein so großes Thema, aber für Dustin. Er hatte große Angst vor dem, was kommen würde. Fynn hatte mir davon berichtet und ich hatte mich entschlossen, Dustin zu unterstützen.

„Dustin, kommst du bitte mal.“

Er war gerade dabei, sich von meinen Jungs zu verabschieden und bevor er mit Fynn ein wenig abseits der Anderen zum Abschied traf, wollte ich noch mit ihm etwas besprechen.

„Was gibt es?“

„Hier, das ist meine Handynummer. Wenn du mit Listen mal wieder richtig Probleme bekommst, rufst du mich an. Ansonsten sehen wir uns in drei Tagen wieder. Einen Rat habe ich noch. Versuche diese Reise noch einigermaßen über die Runden zu bringen. Es bringt dir gar nichts, wenn du dir das hier zur Hölle machst. Ich werde mit dem zuständigen Jugendkoordinator beim DTB Kontakt aufnehmen und ihm Bericht erstatten über die Vorfälle. Das ist nicht deine Aufgabe. Ich habe mit Marco bereits gesprochen und er wird einen ähnlichen Bericht verfassen. Pass auf dich auf.“

Er schaute mich beeindruckt an. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Danke, Chris. Ich werde mich melden und versuchen, deinen Rat umzusetzen. Eigentlich habe ich mich entschieden. Ich werde nicht weiter im Verband spielen. Fynn hat mir die Augen geöffnet. Ich muss nur meine Eltern überzeugen, dass es so nicht weitergehen kann.“

„Das ist ein guter Plan und du hast mit Fynn wieder einen alten Freund zurückgewonnen, das ist viel wichtiger als alles andere.“

„Ja, da hast du recht. Es ist wirklich schön, dass er mir verziehen hat.“

Damit entließ ich ihn, denn Fynn wartete bereits auf ihn am Ausgang. Die letzten Minuten sollten sie allein sein. Das war mir ganz wichtig.

Es dauerte noch einige Zeit, bis wir unsere Sachen abgebaut und verstaut hatten, aber dann machten wir uns auf den Weg zum nächsten Ort. Jetzt kam ein eher kleineres Turnier, das wollte ich dafür nutzen, den Jungs ein bisschen mehr Möglichkeiten zum Experimentieren zu geben. Hier sollten neue Dinge unter Wettkampfbedingungen ausprobiert werden. Wenn es zu frühen Niederlagen kommen würde, wäre das nicht schlimm. Erst beim letzten Turnier auf dieser ersten Reise würde es wieder wichtiger werden.

Während wir mit 100 Stundenkilometern über die Autobahn rollten und die Musik von den Scorpions gute Laune verbreitete, konnte ich mich ein wenig mit Fynn unterhalten. Die anderen waren hinten mit Spielen und Lesen beschäftigt.

Unsere Fahrt dauerte noch etwa eine Stunde. Wir brauchten heute nur noch anzukommen und die Zelte aufzubauen. Das Turnier begann erst morgen.

„Wie sieht deine Planung für das kommende Turnier aus?“, fragte ich Fynn.

„Ach, eigentlich wollte ich mehr ans Netz gehen. Ich möchte mehr aus meinem Aufschlag herausholen. Burghard meinte, ich sollte ruhig mehr Serve and Volley spielen.“

„Ja, er hat es mir gesagt, dass das der Plan ist. Wenn du das auch so möchtest, dann mach das einfach mal. Wenn es hier noch nicht klappt, ist das nicht weiter schlimm.“

Nebenbei tippte er auf seinem Handy Nachrichten. So etwas störte mich immer. Wenn ich in einem Gespräch war, wollte ich die ganze Aufmerksamkeit haben. Ich räusperte mich deutlich hörbar. Fynn zuckte zusammen.

„Oh, ja. Sorry. Ich schreibe gerade mit Dustin und mit meinem kleinen Bruder. Ich schreibe die Nachricht noch fertig, dann lege ich es weg.“

Von hinten kam gleich Unmut. Mattes beschwerte sich:

„Warum nimmst du ihm das jetzt nicht weg, ich musste mein Handy gleich abgeben.“

Bevor ich etwas sagen konnte, regelte Carlo das auf seine Weise.

„Erzähl keinen Unsinn. Chris hatte dich dreimal verwarnt und du hast immer weiter gemacht. Also halt mal den Ball flach.“

Fynn und ich schauten uns kurz an und mussten grinsen. Ich zeigte Carlo nach hinten den Daumen hoch und damit war wieder Ruhe.

„Wie alt ist dein kleiner Bruder eigentlich? Du hast noch nicht viel von ihm erzählt.“

„Er ist erst zwölf, aber ich mag ihn. Wir halten immer zusammen.“

Die letzten Worte sprach er sehr leise. Ich spürte eine gewisse Traurigkeit in seiner Stimme. Da die anderen hinten saßen, beließ ich es dabei und wechselte das Thema. Fynn schien dankbar zu sein, dass ich das Thema jetzt nicht weiter verfolgte. Nach etwa zehn Minuten fragte er mich überraschend:

„Wenn du willst, zeige ich dir mal ein paar Fotos von ihm und mir.“

„Klar, gerne. Nur nicht während der Fahrt. Später, wenn wir angekommen sind und alles fertig ist, ok?“

„Ja, gern. Du wirst dann auch verstehen, warum ich ihn so mag.“

Dabei lächelte er wieder. Ich konnte mir langsam vorstellen, dass in seiner Familie einiges nicht so gut lief. Mal sehen, was er mir erzählen würde und was nicht.

Die Fahrt verlief sehr ruhig. Die Jungs waren doch müde. Vor allem Fynn merkte man das Finale an. Immer wieder nickte er ein. Es waren aber nur noch ein paar Minuten durch die Stadt zu fahren. Die Anlage lag mitten in einem kleinen Kurpark. Wunderschön gelegen und sehr gemütlich. Sie hatte acht Plätze und eine große Wiese, auf der bereits einige Zelte standen. Das Wohnmobil parkte ich so auf dem Parkplatz, dass ich das Vorzelt noch aufbauen konnte. Also es passte alles sehr gut. Nur würden die Jungs diesmal nicht direkt bei mir ihre Zelte aufbauen können. Das war aber kein Problem.

Die Jungs wollten sofort ihr Zelt mitnehmen, aber ich hatte erst einmal vor, uns anzumelden und zu fragen, wo sie ihr Zelt aufbauen konnten. Somit betraten wir vier das Clubhaus, in dem bereits reges Treiben herrschte. Einige Spieler waren beim Essen mit ihren Betreuern und Eltern. Auf den Plätzen wurde sogar noch trainiert. Wir wurden sehr freundlich vom ausrichtenden Jugendwart begrüßt und bekamen alles erklärt. Danach hatte ich das Bedürfnis, eine Dusche zu nehmen. Fynn und Mattes bauten in der Zeit ihr Zelt auf und anschließend trafen wir uns zum Abendessen. Der Verein hatte sich große Mühe gegeben und einige Eltern halfen bei der Verpflegung. Das gefiel mir sehr gut. Solche Turniere mochte ich viel lieber, als die riesigen Veranstaltungen, wo sich kaum noch jemand kannte.

Ich hatte sogar einen alten Trainerkollegen wiedergetroffen. Vor dreißig Jahren spielten wir im selben Verein.

Gegen halb zehn am Abend saß ich allein vor unserem Wohnmobil, als Fynn plötzlich bei mir auftauchte.

„Hast du jetzt Zeit für die Fotos? Oder sollen wir das morgen machen?“

„Nein, nein. Ich habe Zeit. Komm setz dich einfach zu mir und dann kannst du mir in Ruhe deine Familie zeigen.“

Er legte sein Tablet auf den Tisch und zeigte mir die ersten Bilder. Auf dem einen Bild war er vielleicht sechs oder sieben und sein kleiner Bruder noch ein Baby. Hier sagte er dann den Satz, den ich eigentlich schon lange vermutet hatte.

„Das waren noch schöne Zeiten zu Hause.“

Mehr sagte er nicht dazu. Ich ließ das auch so stehen. Auf den weiteren Bildern war nur noch sehr selten sein Vater zu sehen. Als wir fertig waren, schien er angespannt zu sein, sagte aber nichts mehr zu den Bildern und der Geschichte, wie er zum Tennis kam und welche Erfolge er bereits erreicht hatte. Ich wollte jetzt aber behutsam etwas mehr aus ihm herausholen.

„Kann ich dich etwas fragen?“

Er schaute mich fast erwartungsfroh an, als er antwortete:

„Klar, deswegen habe ich dir das ja alles gezeigt.“

„Nun, die Frage ist etwas problematisch, wenn du sie nicht beantworten möchtest, dann sage es einfach, ok?“

Er nickte und ich stellte die Frage:

„Mir ist aufgefallen, dass du bei allen Bildern der letzten Jahre deinen Vater nicht mehr erwähnt hast. Er ist auch nur noch selten auf den Bildern zu sehen.“

Mehr brauchte ich nicht zu sagen, er schien die Frage geahnt zu haben.

„Ja, das ist auch so gewollt. Ich komme mit ihm nicht klar. Entweder ist er nur betrunken oder er tobt rum. Eines weiß ich genau, sobald ich die Möglichkeit habe, von zu Hause wegzukommen, werde ich sie nutzen.“

Es lag eine gewisse Spannung in der Luft, ich wusste gerade nicht, ob er jetzt reden wollte oder lieber doch nicht. Ich testete es ganz vorsichtig an.

„Lass mich raten, so wie du von deinem Bruder erzählst, ist das der Hauptgrund, warum du noch zu Hause bist. Du hättest doch zu uns in eine WG ziehen können.“

„Richtig, dann wäre Patrick ohne Schutz zu Hause. Das würde ich nicht aushalten. Also bleibe ich noch so lange, bis er alt genug ist.“

„Hm, das ist eine ganz blöde Situation. Arbeitet dein Vater noch?“

„Ja, noch. Aber er hat auch schon einige Abmahnungen bekommen. Das weiß ich aber nur von Mama. Wir haben Angst, dass er seinen Job verliert und dann nur noch zu Hause rum hängt und sich im Alkohol ertränkt.“

Fynn wurde immer trauriger und sein Frust war deutlich spürbar.

„Darum stürzt du dich auch so ins Training. Du willst von Zuhause so oft wie möglich weg sein. Und deine Mutter kümmert sich um deinen Bruder.“

„Ja“, dabei nickte er und ballte eine Hand zur Faust, „wenn ich so gut werde, dass ich davon meine Ausbildung oder ein Studium finanzieren kann, würde ich schon sehr glücklich sein.“

„Bist du eigentlich mehr wütend oder mehr enttäuscht über deinen Vater?“

Diese Frage war zu viel für den Jungen. Jetzt brach die Fassade der Beherrschung zusammen und er weinte und begann zu zittern.

„Ich ... weiß es nicht. Manchmal“, schluchzte er, „würde ich ihn am liebsten umbringen und manchmal habe ich den Wunsch, es würde wieder wie früher sein.“

Diese Situation war mir natürlich als Therapeut nicht unbekannt und ich konnte es sehr nachempfinden. Allerdings war mir auch ganz bewusst, ohne den Willen des Vaters, würde es sinnlos sein, in der Familie zu arbeiten. Entweder der Vater würde bereit sein, an sich zu arbeiten oder die Familie müsste sich von ihm trennen.

„Hast du ihn mal gefragt, warum er so viel trinkt?“

Jetzt schlugen seine Emotionen in Richtung Wut um.

„Klar, der Idiot sagt immer nur, er trinkt doch gar nicht und was wir eigentlich hätten. Schließlich würde er ja für das Geld sorgen.“

Ich nickte wortlos und legte meine Hand auf seine Schulter. Er weinte bitterlich. Die ganzen Emotionen brachen hervor. Ich ließ es einfach laufen, hielt ihn aber fest im Arm, bis er sich beruhigte. Plötzlich schien er zu bemerken, wie sehr er sich hatte gehen lassen. Er zuckte förmlich zusammen und wollte weglaufen. Ich hielt ihn fest und da spürte er, dass ich ihn verstanden hatte.

„Du glaubst mir? In der Schule glaubt mir niemand von den Lehrern. Ich bin immer der Spinner, der sich das ausdenkt.“

„Natürlich glaube ich dir. Und ich verspreche dir, sollte ich deinen Vater jemals betrunken bei uns erleben, werde ich ihm Platzverbot erteilen. Ich kann auch Thomas und Burghard informieren, wenn du das möchtest.“

„Meinst du nicht, dass ich dann vielleicht nicht mehr bleiben kann?“

„Warum? Die Trainer sollen euch unterstützen. Von Burghard weiß ich bereits, dass er eine Ahnung hat und dass er dich immer unterstützen würde.“

„Was, echt? Woher weißt du das?“

„Ganz ehrlich, mein Bruder hat mir vor dieser Reise von dir erzählt und von deinen Problemen sich auf dem Platz zu konzentrieren. Er hatte die Vermutung, dass bei dir in der Familie etwas nicht stimmt.“

„Wie kommt er darauf? Bin ich so auffällig?“

„Nein, aber ich habe es sehr schnell gemerkt. Je länger du von zu Hause weg bist, desto lockerer und fröhlicher bist du geworden. Ich habe eigentlich das genau bestätigt gesehen. Deshalb bin ich sehr froh, dass du es mir jetzt erzählt hast.“

Erst jetzt begriff er, was gerade passierte.

„Wirst du mich unterstützen? Kann ich im Team bleiben?“

„Ja und solange du hart trainierst, kannst du bei uns bleiben, natürlich.“

Er stand auf und umarmte mich. Das hatte er noch nie so fest getan, wie jetzt.

„Noch etwas, ich möchte, dass du in Zukunft zu mir kommst, wenn du mit Zuhause Probleme hast. Wir können dir nur helfen, wenn wir das Problem kennen. Versprichst du mir das?“

„Ja, versprochen. Nur was könnt ihr tun, um das Problem zu lösen?“

„Auf dem Platz können wir dir helfen. Mit deinem Vater wird das schwer, wenn er nicht will. Aber ich habe noch eine andere Idee. Da muss ich aber erst noch mit meinem Bruder sprechen. Natürlich kann ich das nicht entscheiden, aber ich werde mich einbringen.“

Er gab mir die Hand und sagte sehr leise: „Danke, du bist der Erste, dem ich alles erzählt habe.“

„Und, geht es dir jetzt besser?“

„Auf jeden Fall, hoffentlich hilft es mir.“

Er bat mich noch, ob er noch eine Runde durch die Dunkelheit gehen dürfe. Er wollte einen Moment allein sein. Ich ließ ihn natürlich gehen und bat ihn nur um halb elf zurück zu sein.

Fynn: Gedanken über die Zukunft

Was war da gerade passiert? Ich hatte Chris alles erzählt und er hatte mich nicht ausgelacht. Er nahm mich ernst und hat mir gesagt, dass sie mich unterstützten. Wow. Wenn es so sein würde, dann wollte ich alles dafür tun, dass ich gutes Tennis spielen kann. Es fühlte sich wie eine Befreiung an. Vielleicht konnte ich jetzt endlich ohne Angst durch die Turniere gehen. Ich hatte mich Chris anvertraut und brauchte nicht mehr etwas zu spielen, wenn es mir schlecht ging.

Außerdem wurde mir klar, je besser ich spielen würde, desto eher kam ich von Zuhause weg. Also hatte ich den zweiten Aufschlag bekommen, mich endlich von meinem Vater zu lösen. Sozusagen den „second serve“, um wieder richtig anzugreifen. Also genau das Gegenteil von dem, was mir schon häufiger durch den Kopf ging. In meiner Euphorie fing ich an durch die Straßen zu laufen. Ich fühlte mich leicht und dachte, ich würde über den Boden schweben. Was für ein geiles Gefühl.

Kurz bevor ich zurück war, bekam ich eine Nachricht von Dustin.

Hi Fynn. Bei dir alles ok? Hast du vielleicht Lust beim nächsten Turnier mit mir Doppel zu spielen? Dort gibt es eine Doppelkonkurrenz.

Das fehlte mir noch zu meinem Glück, denn ich hatte schon ganz lange kein Doppel mehr gespielt, weil ich mich nicht mehr getraut hatte. Ich hatte immer Angst, meinen Partner mit einer schlechten Leistung zu enttäuschen. Ich antwortete sofort.

Klar, coole Idee. Ja, hier ist alles ok. Erzähl ich dir dann, wenn wir uns sehen. Ich frage Chris, ob wir Doppel spielen dürfen. Melde mich.

Es dauerte eine Weile, bis er antwortete und ich war schon wieder zurück bei den Zelten.

Hier hat es geknallt, Listen hat mich aus dem Kader geworfen, aber ich komme mit meinem Onkel zum Turnier. Erkläre ich dir dann.

Oha, das ging jetzt aber schnell. Ich musste unbedingt mit Chris darüber sprechen. Also machte ich mich wieder auf den Weg zum Wohnmobil. Chris kam mir schon entgegen. Er wollte im Clubhaus noch etwas trinken.

„Nanu? Wo willst du denn so schnell noch hin?“

Ich musste lachen.

„Na zu dir. Ich muss dir etwas sagen. Dustin ist aus dem Verbandskader geflogen. Listen hat ihn rausgeschmissen.“

„Oh, das ging jetzt aber schnell. Und jetzt? Kann er die Turniere nicht mehr spielen?“

„Doch, das ist ja das Gute. Er kommt mit seinem Onkel zum Turnier. Er hat mich sogar gefragt, ob ich mit ihm Doppel spielen würde.“

Chris fing an zu lachen.

„Und? Was hast du geantwortet?“

„Ich muss erst dich fragen, ob ich darf.“

„Guter Junge. Ok, Erlaubnis erteilt. Finde ich gut. Es wird eh viel zu wenig Doppel gespielt.“

Cool, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Es würde ja auch eine doppelte Belastung sein, aber ich freute mich auf das Doppel mit Dustin.

„Danke, ich sage ihm dann gleich Bescheid.“

„Mach das, bestell schöne Grüße und du siehst dann auch mal zu, dass du zur Ruhe kommst.“

Ich drehte mich um und ging mit Chris zurück in Richtung Clubhaus. Bei den Zelten trennten wir uns und ich ging zu meinem Zelt. Dort schrieb ich Dustin noch eine Antwort und traf noch einige andere Spieler. Wir hockten noch für ein paar Minuten zusammen, aber ich wurde recht schnell müde und verabschiedete mich.

Ich lag bereits in meinem Schlafsack, als eine weitere Nachricht von Dustin eintraf.

Cool, freue mich auf unser Doppel. Für dein Turnier morgen viel Erfolg. Ich freue mich, dich bald wiederzusehen. Gruß Dustin

In mir kam die Frage hoch, warum hatten wir uns die ganzen Jahre nicht mehr gesprochen. Ich hatte das Gefühl, als wäre es nie anders gewesen. Mir ging es nicht anders als ihm, ich freute mich auch auf das Doppel und dass wir uns wiedersehen würden. Mattes schlief schon tief und fest, da kam der Gedanke, sich doch ein wenig Entspannung zu gönnen. Ich hatte bereits einige Tage keinen Druck mehr abgebaut, da war das Ergebnis entsprechend heftig. So dauerte es ein wenig, bis ich alles wieder sauber hatte. Das wäre doch zu peinlich, wenn Mattes das mitbekommen würde.

Entspannt schlief ich ein. Allerdings verlief die Nacht nicht sehr erholsam. Gegen drei Uhr morgens wachte ich nach einem Traum auf. Irritiert brauchte ich ein paar Sekunden, bis ich soweit realisiert hatte, dass es ein Traum war. Ich hatte geträumt, dass Dustin etwas zugestoßen war, weil er von meinem Vater verprügelt worden ist. Ein krasser und idiotischer Traum. Der hatte aber zur Folge, dass ich mir Gedanken über meine Zukunft machte. Chris hatte mit dem Gespräch bei mir einiges in Bewegung gesetzt. Vielleicht könnte ich ja in eine WG des Teams ziehen. Dann könnte ich endlich in Ruhe mein Leben gestalten und müsste nicht mehr in Angst leben. Dustin hatte es ja auch nicht so leicht zu Hause und er musste sich jetzt auch noch eine andere Trainingsmöglichkeit suchen. Da kam mir ein Gedanke. Warum würden wir nicht beide in unsere WG ziehen? Da hätten wir bestimmt viel mehr Spaß zu trainieren und auch zu lernen. Es war ein Wunschtraum, über diesen Gedanken schlief ich im frühen Morgengrauen wieder ein.

„Guten Morgen“, begrüßte mich Chris, als ich zum Wohnmobil kam. Ich war heute der Letzte und wurde entsprechend aufgezogen.

„Morgen“, gab ich zurück. Ich war einfach noch nicht wirklich wach.

Chris schaute mich an und schickte mich direkt eine Runde laufen. Na klasse, der Tag fing ja gut an. Allerdings hatte er ja Recht. So würde ich wenigstens wach werden. Als ich zurückkam, war das Frühstück in vollem Gang und Chris hatte sich bereits die Auslosung besorgt. Er studierte die einzelnen Wettbewerbe während Carlo und Mattes schon bestens gelaunt herum alberten.

„Ey, Leute. Könnt ihr nicht wenigstens beim Frühstück etwas weniger Stress verbreiten?“

Leider hatte mein Spruch nur zur Folge, dass sie sich nun auf mich als Opfer erst recht einschossen.

„Ach, stören wir dich in deinen Träumen?“

Boah, manchmal hätte ich Carlo auf den Mond schießen können, denn das war eine Steilvorlage für Mattes, der laut lachte und auch Chris fand das sehr lustig. Ich streckte ihnen die Zunge raus und nahm mir vor, nicht weiter darauf zu reagieren und mich mit dem Frühstück zu beschäftigen. Glücklicherweise ließen sie mich dadurch in Ruhe. Carlo war schon wieder auf dem Sprung und wollte zu einem Freund aus einem anderen Team. Er hatte auch Lust bekommen, Doppel zu spielen und wollte diesen Jungen fragen, ob er mit ihm antreten würde. Ich würde erst beim nächsten Turnier mit Dustin spielen.

Chris ließ ihn gewähren und Mattes sollte heute als Erster von uns auf den Platz. Also ging Mattes sich direkt aufwärmen.

„So“, fing Chris an, sich mit mir zu beschäftigen, „du hast heute ein verhältnismäßig gutes Los erwischt. Du bist an Position drei gesetzt. Das heißt, du hast ein Freilos in der ersten Runde.“

Er schob mir das Tableau herüber und ich konnte es betrachten. Eigentlich waren nur die vier Gesetzten eine echte Herausforderung für mich. Schade, dachte ich. So bekam ich natürlich nicht so viele Punkte für die Rangliste.

„Ich sehe es dir an, du hättest lieber stärkere Gegner.“

„Hm, eigentlich schon. So kann ich mich nicht auf der Rangliste verbessern.“

Chris lächelte. Irgendetwas hatte ich übersehen.

„Du solltest dieses Turnier dafür nutzen, neue Dinge in deinem Spiel zu entwickeln. Hast du unser Gespräch schon wieder vergessen?“

Ok, da hatte er natürlich recht und ja, tatsächlich hatte ich daran nicht mehr gedacht.

„Ok, ich gebe mich geschlagen, aber immerhin weiß ich noch, was ich verstärkt ausprobieren soll. Offensiver spielen und häufiger ans Netz kommen.“

„Guter Junge!“

Chris blieb wirklich fast immer locker, auch wenn mal etwas schlecht gelaufen war. Es gehörte schon einiges dazu, um ihn richtig sauer werden zu lassen. Allerdings wurde es dann auch recht unangenehm für denjenigen.

„So, wie sieht dein Plan aus? Denkst du, wir können hier ein gutes Ergebnis erreichen?“

„Carlo und Mattes sollen Punkte sammeln und sich hier stabilisieren. Ich möchte vor allem, dass Carlo auch einmal gegen ältere Gegner spielt. Deshalb startet er in der gleichen Klasse wie Mattes. Du solltest hier Selbstvertrauen tanken und so viel wie möglich ausprobieren. Das kommende Turnier wird für dich hingegen wieder wichtig werden. Ich bin von euch überzeugt und ja, wir werden ein gutes Ergebnis erreichen.“

Ich staunte immer wieder, wie locker er blieb, aber dennoch klare Vorgaben setzte.

„Was ich dich noch fragen wollte, warum bist du heute so spät gekommen? Außerdem hast du furchterregend ausgesehen. Ist dir in der Nacht irgendwas zugestoßen?“

Warum hatte ich eigentlich gehofft, dass er das übersehen würde?

„Ich hatte gehofft, du würdest es vielleicht auch einmal übersehen, aber nun gut. Nein, mir ist nichts zugestoßen. Ich habe einfach schlecht geträumt.“

„Möchtest du mir davon erzählen?“

„Ich glaube, du würdest mich vermutlich auslachen. Also eigentlich lieber nicht.“

„Oh, interessant. Was für nette Mädels kamen denn darin vor?“

Hm, wie immer ein lockerer Spruch, aber dass ich von Dustin geträumt habe, wollte ich ihm wirklich nicht erzählen. Schon gar nicht, den Inhalt.

„Nein, keine Mädels. Ich möchte jetzt nicht drüber reden.“

Er akzeptierte das ohne weiteren Kommentar. Im Gegenteil, er war wie immer freundlich und kümmerte sich um uns. Ich hatte ein Freilos und es war für mich selbstverständlich, dass ich Chris unterstützte, wo ich konnte. Heute sollte ich bei Mattes am Platz bleiben, während er sich das Spiel von Carlo ansah.

Mattes hatte seinen ersten Gegner vollkommen im Griff und gewann sehr locker. Ich hatte also einen ruhigen Job. Allerdings konnte ich Carlo häufiger laut fluchen hören. Da schien es nicht so gut zu laufen. Nachdem Mattes fertig war, ging ich zu Chris an den Platz.

„Na, wie sieht das hier aus? Mattes hat locker gewonnen.“

„Nicht so gut. Carlo erwartet zu viel von sich. Er ist total verkrampft. Entsprechend schlecht spielt er.“

Das war kurz und trocken. Ich schaute mir ein paar Bälle an und musste erkennen, dass Chris mit seiner Aussage richtig lag. Carlo kämpfte verbissen, aber seine Lockerheit war weg.

„Du Chris, darf ich mal etwas versuchen?“

Er schaute mich verwundert an und meinte nur: „Jetzt machst du mich aber neugierig. Denk dran, coachen ist verboten.“

Ich grinste und nickte, ging zu Carlo an den Zaun.

„Hey, was machst du hier? Tennis ist ein Spiel, also spiele gefälligst und habe Spaß.“

Er drehte sich total perplex um und schaute mich an. Er sagte gar nichts. Der nächste Aufschlag vom Gegner stand an und er musste sich wieder konzentrieren. Er lag mittlerweile im zweiten Satz 1:3 zurück und hatte auch den ersten Satz mit 1:6 hoch verloren.

Beim Seitenwechsel stand es 1:4 und ich stand hinter ihm.

„Los, fang an Spaß zu haben. Du siehst aus, als ob du keinen Bock hättest, hier zu spielen. Zeig mir, dass Tennis Spaß macht.“

Dabei kitzelte ich ihn von hinten durch. Er sprang kreischend auf.

„Hee, spinnst du? Wie soll man sich da konzentrieren?“

Dabei lachte er wieder und er rief Chris zu: „Hey Chris, der belästigt mich. So kann ich nicht spielen.“

„Na, nach Spiel sieht das jetzt nicht gerade aus“, kam von Chris und wir drei mussten echt lachen. Der Gegner verstand überhaupt nicht, was los war. Allerdings mussten wir uns mäßigen, denn wir wollten nicht unfair sein. Also ließ ich Carlo in Ruhe und stellte mich wieder zu Chris.

Chris: Interessante Entwicklungen

Es war schon komisch, Fynn fing an Carlo zu kitzeln. Beim Seitenwechsel im Match! So etwas hatte ich noch nie erlebt. Vor allem Carlos Reaktion war cool. Jetzt war ich gespannt, was passieren würde.

„Sag mal, was sollte das nun? Meinst du, das Carlo sich nun besser aufs Spiel konzentriert?“

„Nein“, lachte Fynn, „er soll wieder spielen und nicht so viel überlegen. Du hast doch selbst mal gesagt, Carlo sei ein intuitiver Spieler. Also, warum nicht?“

Ich musste auch lachen. Dieser Ansatz war sehr interessant und bei dem Spielstand war es eh egal. Aber wenn es Carlo gelang, wieder einfach nur zu spielen, dann würde er zumindest noch ein versöhnliches Ende finden. Dass er noch eine reelle Chance haben würde, war nicht zu erwarten.

Also entschied ich für mich, Fynn das Feld zu überlassen und nur noch zu beobachten. Er hatte den Draht zu Carlo gefunden. Denn nach dem 2:4 fing Carlo wieder an mit Fynn zu blödeln und wurde immer lockerer. Ich ließ sie gewähren.

Nach einer Viertelstunde stand es 4:4 und der Gegner hatte zu kämpfen. Er hatte nicht bemerkt, dass sich die Situation auf dem Platz verändert hatte. Leider reichte es für Carlo nicht mehr, das Spiel zu gewinnen. Allerdings kam er nicht niedergeschlagen vom Platz. Trotz Niederlage. Ich stand mit Fynn immer noch am Platz und Carlo kam direkt zu uns.

„Sorry, Chris. Ich habe am Anfang so scheiße gespielt. Ich weiß nicht warum, aber als Fynn kam, hat es irgendwie „Klick“ gemacht und ich habe einfach nur wieder gespielt.“

Während er das sagte, nickte ich zustimmend.

„Stimmt, du musst spielen. Also spiel einfach. Du hast doch gar nichts zu verlieren gehabt. Warum machst du dir so einen Druck?“

Es dauerte auch nicht lange und wir hatten alles besprochen und er sollte auslaufen und dann duschen gehen. Fynn wollte schon wieder weggehen.

„Warte, ich möchte mit dir auch noch etwas besprechen.“

Er drehte sich fragend zu mir: „Ja, was denn?“

„Wie bist du auf diese Idee gekommen? Mich interessiert das echt.“

„Naja, Carlo ist immer lustig und auch manchmal albern und nervig. Ich habe gedacht, vielleicht denkt er zu viel und ich muss ihn ablenken.“

„Ja, danke. Das war genau der richtige Ansatz. Ich werde in Zukunft darauf mehr achten. Carlo ist anders, als ihr beide. Was machst du jetzt? Du musst nachher auch noch spielen.“

„Ich geh mal kurz zum Zelt und wollte mich gleich einlaufen und vorbereiten. Vielleicht noch ein paar Bälle schlagen, wenn ich jemanden finde.“

„Du kannst auch an die Ballwand gehen, falls du keinen findest, oder eben auch kein Platz frei ist.“

Fynn nickte mir zu und ging gut gelaunt zu den Zelten. Auf dem Weg dorthin unterhielt er sich noch mit einem anderen Spieler. Mir hatte das sehr gut gefallen, wie Fynn sich hier eingebracht hatte.

Auf dem Weg zum Clubhaus kam ich an einer Holzbank vorbei, die im Schatten lag. Ich nahm dort Platz und rief bei Thorsten an.

„Leibig“, meldete er sich.

„Hi Thorsten, wie stehen die Aktien bei euch?“

„Ach, alles gut hier. Burghard meckert ein wenig rum, weil der Luis mal wieder nicht weiß, wie man sich zu benehmen hat. Du kennst ja den Vater, dann weißt du auch, woher er das hat.“

„Ja, aber da ist er bei Burghard genau richtig. Wenn das einer hinbekommt, dann er. Ich hoffe, er lässt ihn ordentlich schwitzen.“

„Da kannst du drauf wetten. Wie läuft es so bei euch?“

„Ja, soweit ganz gut. Fynn macht sich richtig gut. Allerdings glaube ich, dass in der Familie irgendwas nicht gut läuft. Je länger er von Zuhause weg ist, desto besser macht er hier mit. Er hat viel bessere Laune und kümmert sich sogar um die anderen.“

„Fynn? Echt, das wäre ja toll. Ja, dein Bruder hatte es auch schon einmal angedeutet. Vielleicht sollten wir mal ein Gespräch mit seinen Eltern vereinbaren? Was meinst du?“

„Ganz ehrlich, ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee ist. Fynn scheint vor seinem Vater echt Angst zu haben. Wir sollten eher erst ein Gespräch mit Burghard und ihm machen.“

„Ja, ist auch in Ordnung, ich werde das mit Burghard besprechen. Reden wir drüber, wenn ihr wieder da seid.“

Damit beendete er das Gespräch, allerdings nicht ohne uns weiterhin viel Erfolg zu wünschen.

Carlo war also schon aus dem Turnier, Mattes war nun an der Reihe und dieses Spiel war sehr gut von ihm. Lediglich ein paar Kleinigkeiten waren zu verbessern. Es dauerte noch bis zum frühen Nachmittag, bis Fynn sein Match spielen durfte. Er begann beeindruckend und spielte sich richtig in einen Rausch. Er führte hoch, aber es sollte leider ein unglückliches Ende nehmen. Bei einem Ball rutschte er nach vorn und blieb an einer Linie hängen. Er machte instinktiv alles richtig und ließ sich sofort fallen. Sein Sprunggelenk blieb heil, aber er fiel sehr unglücklich auf den Kopf.

Ich hatte sofort realisiert, das hatte weh getan und lief sofort in Richtung der Bank. Fynn lag immer noch benommen auf dem Platz. Sein Gegner war umgehend zu Hilfe geeilt. Er versuchte ihn vorsichtig aufzusetzen. Ich kam hinzu und sah, dass Fynn aus einer Wunde an der Augenbraue blutete. Er war immer noch benommen. Wir halfen ihm aufzustehen und führten ihn zur Bank. Mittlerweile hatten es viele mitbekommen, dass auf diesem Platz etwas passiert war. Carlo stand ebenfalls neben mir und war sehr aufgeregt.

„Boah, das sieht böse aus. Was machen wir jetzt?“

Carlo begann sogar ein wenig panisch zu werden, das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen.

„Lauf bitte ins Clubhaus und hol mir ein Kühlpack und einen Verbandskasten.“

Ich hatte im Wohnmobil auch noch einen Koffer mit allerlei Material für Verletzungen, den hatte ich aber nicht mit am Platz. Jetzt musste es schnell gehen. Was mich mehr beunruhigte, Fynn wirkte immer noch benommen. Erst langsam sammelte er sich.

„Chris, wie schlimm ist das? Blute ich stark?“

Das war wieder der klare Fynn. Ich wurde ruhiger und konnte mich nun auch der Wunde am Kopf widmen.

„Sieht schlimmer aus, als es ist. Komm, wir gehen Carlo entgegen und versorgen das zuerst einmal.“

Ich fragte den Gegner, ob es in Ordnung war, dass wir zur Behandlung den Platz verlassen. Dies war so in den Regeln vorgeschrieben. Er war einverstanden und ich führte Fynn zum Clubhaus. Auf dem Weg dorthin kam mir Carlo entgegen.

„Lass uns in die Umkleide gehen. Da kann ich das richtig versorgen.“

Als wir dort ankamen, hatte bereits der Turnierleiter und Jugendwart des Clubs eine Decke auf eine Bank gelegt. Dort sollte sich Fynn hinlegen. Das Blut lief immer noch aus einer verdreckten Wunde.

Carlo gab mir einen Waschlappen und lauwarmes Wasser. Damit säuberte ich die Wunde und konnte sehen, das musste genäht werden.

„Ok, Carlo, gehst du bitte zum Platz zurück und sagst dem Gegner, das Spiel ist zu Ende. Das muss genäht werden.“

„Ok, mache ich.“

„Danach kommst du bitte wieder zurück. Einer muss bei Mattes bleiben.“

Es meldete sich nun der Turnierleiter.

„Mach dir keine Gedanken darum. Wir kümmern uns um deine beiden Jungs. Fahr du mit Fynn ins Krankenhaus. Ich rufe mal einen Rettungswagen an.“

Damit verließ er die Umkleide. Fynn wurde nun unruhig, er wollte unbedingt weiterspielen.

„Chris, es tut nicht weh, kann ich nicht weiterspielen?“

Ich drehte mich zu ihm um, sah dass er aufstehen wollte.

„Du bleibst liegen, bis ich das verbunden habe. Und dein Spiel ist zu Ende. Keine Diskussion darüber.“

Er schaute mich zwar enttäuscht, aber auch erschrocken an. So deutliche Ansagen von mir war er nicht gewohnt. Ich setzte mich zu ihm auf die Bank.

„Schau mal, die Wunde ist tief und lang. Das muss genäht werden, sonst ist für dich die Turnierreise ganz zu Ende. Also beruhige dich und vertrau mir. Wenn alles gut geht, bist du in drei Tagen wieder fit.“

Ich versorgte die Wunde und stillte die Blutung. Der Turnierleiter betrat die Umkleide und teilte mir mit, dass der Rettungswagen unterwegs sei. Ich legte Fynn noch das Kühlpack auf den Verband, damit es nicht zu einer zu großen Schwellung kommen sollte.

„Weiß jemand, wo Carlo bleibt?“

„Der ist schon vorn im Clubhaus. Ich habe gesagt, er soll dort warten. Hier ist schon genug Hektik.“

Ich bedankte mich für das umsichtige Verhalten des Jugendwartes und nach zehn Minuten war ich mit Fynn im Rettungswagen unterwegs ins Krankenhaus.

Wir wurden auch sofort in der Ambulanz in Empfang genommen, und während ich der Schwester die Daten gab, wurde Fynn bereits vom Arzt untersucht. Es dauerte auch nicht lange und der Arzt kam aus dem Behandlungszimmer zu mir.

„Guten Tag, Dr. Middelhauve, ich bin der diensthabende Unfallarzt. Die Wunde wurde bereits gut versorgt, dadurch konnten wir das schnell nähen und es wird keine große Sache. In zehn Minuten können sie den Jungen wieder mitnehmen. Allerdings sollte er die nächsten drei bis vier Tage keinen Sport machen.“

Das hörte sich doch gut an, ich bedankte mich für die Erklärungen und versprach, dafür zu sorgen, dass sich Fynn daran halten würde. Wenige Minuten später kam eine andere Schwester mit Fynn aus dem Behandlungszimmer und ich musste lachen. Fynn sah aus wie ein angeschlagener Boxer.

„Hey, so wie du aussiehst, wirst du aber bei den Mädels keine gute Figur machen.“

„Sehr witzig. Aber immerhin habe ich daran gedacht, nicht zu versuchen mich auf den Beinen zu halten. Also bist du Schuld, dass ich nun so aussehe.“

Lachend antwortete ich: „Ja, ich bekenne mich schuldig, aber besser ein dickes Auge, als ein Bänderriss im Fuß.“

„Das ist wohl richtig. Der Doc sagte, ich darf drei oder vier Tage keinen Sport machen. Dann muss ich wohl das nächste Turnier auch ausfallen lassen.“

Ich konnte seine Enttäuschung deutlich spüren. Ich nahm ihn auf dem Weg nach draußen in den Arm und tröstete ihn.

„Lass uns das mal abwarten. Wenn es gut heilt, kannst du mit Dustin Doppel spielen. Vielleicht spielst du nur Doppel dann. Mal sehen. Jetzt schonst du dich bitte, dann klappt das auch mit dem nächsten Turnier. Deshalb wollte ich auch unbedingt, dass es genäht wird. So heilt es schneller.“

Fynn holte sein Handy heraus und bat mich ein Foto zu machen. Er wollte es Dustin schicken. Ich tat ihm den Gefallen und anschließend nahmen wir uns ein Taxi, das vor dem Krankenhaus stand. Damit fuhren wir zurück in den Club. Ich ließ mir eine Quittung geben und anschließend ging ich mit Fynn ins Clubhaus. Dort wurde Fynn freundlich begrüßt und er wurde von der Wirtin gefragt, ob er Hunger hätte. Eine gute Frage, denn ich hatte ja auch noch kein Mittag gehabt. Also bestellten wir uns beide etwas zu essen. Vom Jugendwart erfuhr ich, dass Mattes mittlerweile auch sein zweites Spiel begonnen hatte.

„Ich gehe noch schnell bei Mattes vorbei und sage Bescheid, dass wir wieder zurück sind. Du bleibst bitte hier und gehst nicht so viel in die Sonne. Ich bin gleich zurück.“

Carlo hatte mich schnell gesehen und kam zu mir gelaufen.

„Hi, wie geht es Fynn? Musste er im Krankenhaus bleiben?“

„Nein, er sitzt im Clubhaus und wartet auf unser Essen. Alles gut gelaufen. Wie sieht es bei Mattes aus?“

„Puh, das hört sich doch gut an. Mattes spielt schlecht und nach jedem Spiel fragt er, ob ich schon was von Fynn gehört habe. Ich glaube, er wird nicht gewinnen.“

„Hm, ok. Danke, ich geh mal zu ihm.“

Wir kamen gemeinsam am Platz an und Mattes fragte nach dem nächsten Ballwechsel sofort:

„Da bist du ja wieder, was ist mit Fynn? Geht es ihm besser?“

„Alles gut, keine Panik. Er ist im Clubhaus und es geht ihm wieder gut. Los, konzentrier dich auf dein Spiel.“

Ich bat Carlo, am Platz zu bleiben, während ich wieder zurück ins Clubhaus ging. Mattes sollte nicht das Gefühl bekommen, ich wäre enttäuscht, dass er schlecht spielte. Für mich war das eigentlich ein gutes Zeichen. Er machte sich Gedanken um seinen Teamkameraden. Ein gutes Signal. Dass er das auf dem Platz noch nicht ausblenden konnte, war normal für mich.

Ich betrat das Clubhaus und traf Fynn an einem Tisch sitzend, vor. Er telefonierte mit jemandem. Sehr schnell konnte ich heraushören, das musste Dustin sein. Fynn versuchte ihn zu beruhigen und ihm zu sagen, dass er bis zum nächsten Turnier wieder fit wäre. Sie wollten auf jeden Fall Doppel spielen. Sie sprachen auch noch über etwas anderes, das wollte ich gar nicht so genau mitbekommen und ging an die Theke und bestellte mir eine Fassbrause zum Essen. Als Fynn sein Handy weglegte, setzte ich mich zu ihm an den Tisch. Er wirkte regelrecht abwesend. War es durch die Verletzung oder gab es ein anderes Problem?

„Hey, du siehst nicht begeistert aus. Was ist los? Geht es dir nicht gut?“

„Doch, doch. Es ist nichts.“

„Fynn, schau mich mal an, bitte.“

Er sah mich an und ich wusste, hier war mehr passiert. Unser Essen kam und ich ließ es erst einmal damit bewenden. Er hatte eh schon genug Stress gehabt.

„Weißt du was, Chris? Irgendwie steht dieses Turnier unter keinem guten Stern, oder?“

Ich musste ein wenig schmunzeln.

„Hm, es hätte schöner sein können, aber so ist das nun einmal. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Hat aber auch etwas Positives.“

„Hä? Wieso?“

„Na, ganz einfach. Wenn wir hier schnell rausfliegen sollten, wonach es ja aussieht, können wir uns in Ruhe auf das wichtigste Turnier unserer Reise vorbereiten. Ein paar Tage frei, wäre doch auch nicht schlecht.“

Fynn wirkte sehr nachdenklich. Ich ließ ihn in Ruhe und vertraute darauf, dass er zu mir kommen würde, sollte er mit mir reden wollen. Das Essen war sehr lecker. Er sollte sich noch ein wenig schonen. Ich ging wieder zu Carlo an den Platz von Mattes. Überraschenderweise war er noch nicht fertig, sondern kämpfte immer noch gegen die Niederlage. Er hatte sich im zweiten Satz wieder heran gekämpft und zum 5:5 ausgeglichen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Carlo gab mir eine kurze Info und ich blieb dezent im Hintergrund und überließ es Carlo, das Match weiter zu begleiten. Mattes wurde immer lockerer, insbesondere als er Fynn entdeckte, der sich doch zu uns an den Platz stellte. Fynn sah noch recht wüst aus, aber er schien sich etwas gefangen zu haben. Mattes strahlte richtig, als er Fynn sah. Er spielte sich in einen Rausch und gewann tatsächlich noch sein Match. Wir jubelten nach dem Matchball und Fynn ging langsam zu Mattes an die Bank. Carlo war schon vorgelaufen. Wir gratulierten und es war ein tolles Bild, Mattes freute sich ehrlich, dass Fynn wieder zurück war und es ihm gut ging.

Fynn: Soll ich oder soll ich nicht?

„Mensch Fynn“, jubelte Mattes und umarmte mich vorsichtig, „du jagst uns ja einen Schrecken ein. Ich bin sehr froh, dass du wieder bei uns bist. Hast du Schmerzen?“

Ich war schon etwas erstaunt, dass sich mein Team so freute, aber andererseits waren wir schon so etwas wie Freunde geworden.

„Nein, es geht schon wieder. Ich habe nur ein wenig Kopfschmerzen, aber das ist alles nicht so schlimm.“

Wir blieben noch für ein paar Minuten am Platz stehen und Chris sprach mit Mattes noch einmal kurz das Match durch und fragte ihn, ob es wirklich daran lag, dass ich wieder zurück war.

„Ja, ich denke schon, Chris“, antwortete Mattes, „es war wie eine Befreiung. Ich habe mir halt Sorgen gemacht.“

„Ok, dann musst du da aber noch etwas dazulernen. Eines kann ich versprechen, und das gilt für euch alle, wenn es etwas wirklich Ernstes ist, würde ich euch sofort informieren. Aber ich freue mich natürlich auch darüber, dass ihr euch gegenseitig unterstützt. So, jetzt lade ich euch mal zu einem Eis ein. Was haltet ihr davon? In einer halben Stunde treffen wir uns am Wohnmobil.“

Wow, unser Trainer lädt uns zum Eis ein. Das kam auch nicht alle Tage vor. Allerdings kamen mir auch wieder die Sachen in den Kopf, die mir Dustin vor einigen Minuten erzählt hatte. Sein Vater war vollkommen ausgeflippt, als Dustin ihm sagte, dass er nicht mehr im Kader des Verbandes sei. Schlimm fand ich, dass der Vater Dustin nicht unterstützt hat und nicht einmal nach dem 'Warum' gefragt hatte.

Dustin hatte mir sogar erzählt, dass ihn sein Vater geschlagen hätte und daraufhin sei er zu seinem Onkel abgehauen. Ich hatte das Gefühl, es würde dort noch mehr Probleme geben, aber er wollte mir nicht mehr erzählen. Eine Kleinigkeit hatte er mir aber noch erzählt, das wollte ich aber unbedingt für mich behalten, denn das war ihm sichtlich peinlich. Ich fand das eigentlich nicht weiter schlimm, aber nun ja.

Mittlerweile stand ich auf dem Platz, wo die Wohnmobile und Wohnwagen standen. Ich unterhielt mich mit einem anderen Spieler, der total verwundert war, dass unser Trainer uns zum Eis eingeladen hatte. Das war bei den anderen Teams wohl nicht üblich. Chris kam von der Anlage herüber und begrüßte den anderen Spieler. Ich überlegte, soll ich Chris von Dustins Problemen erzählen oder nicht. Ich hatte Angst, Chris könnte dann sagen, dass wir doch besser kein Doppel spielen sollten.

„Hey Fynn, wo bist du denn gerade mit deinen Gedanken? Hast du Lust auf eine kalte Fassbrause? Die anderen brauchen noch etwas Zeit.“

Fassbrause? Ich hatte noch nie von diesem Getränk gehört, also machte mich das neugierig.

„Hm, ich weiß gar nicht, was das ist. Warum nicht.“

„Gut, dann komm.“

Ich setzte mich an unseren Tisch, der unter dem Vorzelt stand und Chris holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank. Sie sahen aus wie Bierflaschen.

„Bier?“, fragte ich erstaunt.

Chris lachte: „Nein, Limonade. Nicht so süß und sehr lecker. Hier, probier mal. Ist ohne Alkohol.“

Ich nahm die Flasche und trank einen Schluck. Es stimmte, das war wirklich sehr lecker. Er prostete mir zu und dann kam das dicke Ende.

„So, und jetzt erzählst du mir, was dir Dustin berichtet hat. Und ich möchte die Wahrheit hören.“

Wie konnte er wissen, dass bei Dustin noch mehr passiert war? Sollte ich ihm wirklich alles erzählen? Dustin hatte ich versprochen, es niemandem zu erzählen.

„Fynn, ich sehe es dir an, dass du mehr von Dustin weißt und dass es dich belastet. Ich verspreche dir, es vertraulich zu behandeln.“

„Hm, ich habe es ihm versprochen, aber irgendwie bekommst du es eh heraus.“

Ich nahm meinen Mut zusammen und berichtete alles, bis auf die eine Sache. Als ich fertig war, hatte ich einerseits Angst, andererseits war ich froh, dass ich es nicht mehr allein herumtragen musste. Chris schwieg. Wie sollte ich das einordnen?

„Was ist? Darf ich jetzt nicht mehr mit Dustin spielen?“

Er schaute mich an. Sein Gesicht verfinsterte sich deutlich.

„Quatsch, Du kannst ihm sagen, er ist bei uns immer willkommen. Ich möchte seinen Onkel kennenlernen. Also schreib ihm, dass ich ihn unterstütze. Er kann mit uns trainieren und ich möchte seinen Onkel kennenlernen. Weißt du noch mehr? Irgendwie kann ich das noch nicht so wirklich glauben, dass das alles ist.“

„Naja“, sagte ich, „da ist noch eine Sache, die der Vater wohl total daneben fand und völlig ausgeflippt ist.“

„Ok, lass mich nicht so zappeln. Erzähl schon.“

„Aber das ist Dustin total peinlich. Ich weiß nicht, ob ich das darf.“

„Ich verspreche dir, er wird nicht erfahren, dass ich es weiß.“

„Also gut, tja, sein Vater hatte sich, ohne zu fragen, seinen Laptop genommen, weil sein PC kaputt war und Dustin hatte es erst bemerkt, als er nach Hause kam.“

„Hm, das ist nicht schön. Schade, dass der Vater die Privatsphäre seines Sohnes nicht respektiert.“

„Naja, das Problem war, dass wohl ein paar Filme auf seinem Teil waren, die der Vater nicht so toll fand.“

„Pornos?“, fragte Chris direkt.

Ich nickte nur stumm, während Chris anfing, laut zu lachen.

„Das kann doch nicht wahr sein. Deswegen macht der so ein Riesenfass auf? Lebt der noch im Mittelalter? Meinst du, ich wüsste nicht, dass heute ganz viele Jungs sich damit vergnügen. Das Internet verführt geradezu und da sollten Eltern lieber offen mit den Kindern drüber reden.“

Ich war total verblüfft. Chris nahm das absolut locker. Irgendwie war Chris immer mehr wie ein Freund und nicht nur unser Trainer. Dennoch hatte ich weiterhin großen Respekt vor ihm. Das war irgendwie anders, als mit meinen anderen Coaches.

„Also, mir wäre das auch peinlich, wenn meine Eltern da was finden würden, und weiß nicht, ob sie mir das verbieten würden.“

„Ich glaube, manche Eltern leben wirklich noch auf dem Mond. In der Pubertät ist das doch vollkommen normal. Wichtig wäre doch, den Jungs zu erklären, dass Pornofilme eben nichts mit der Realität zu tun haben. Aber als Wichsvorlage eben vollkommen normal sind.“

Boah, wie krass. Er spricht vom Wichsen, als ob das nichts wäre, cool. Eines war mir jetzt vollkommen klar, sollte ich mal Probleme zu dem Thema haben, würde ich mit Chris reden. Leider kamen jetzt Carlo und Mattes dazu und wir ließen das so stehen. Chris hielt Wort und erwähnte den beiden gegenüber kein Wort von unserem Gespräch.

Das Eis schmeckte sehr lecker und wir hatten viel Spaß. Mattes verlor sein zweites Match, aber spielte sehr gut. Chris war zufrieden mit seiner Leistung. Wir beschlossen, die Nacht noch dort zu bleiben und dann am nächsten Tag aufzubrechen, um zum wichtigsten Turnier unserer Reise zu fahren. Ich freute mich auf Dustin. Hoffentlich hatte er nicht zu viel Stress und wir würden ein gutes Doppel spielen. Irgendwie wurde ich langsam nervös, denn dieses Turnier war mit 4000 Euro dotiert. Allein der Sieger erhielt 500 Euro. Das war für ein Nachwuchsturnier viel Geld.

Fynn: Das große Turnier

Es war schon beeindruckend, welcher Aufwand hier betrieben wurde. Es gab Verkaufsstände von Sponsoren und viel mehr Werbung. Die Teilnehmerfelder waren viel größer und es gab sogar einen Center Court mit einer kleinen Tribüne. Diese Anlage machte deutlich, dass der ausrichtende Verein zu den größeren zählte. Es gab 15 Plätze und sogar zwei davon waren als Trainigscourts reserviert. Das war schon beeindruckend. Es erinnerte mich stark an einen Spieltag bei unserer Bundesligamannschaft. Dort mal spielen zu dürfen, war für mich ein Highlight gewesen. Dauerhaft dort zum Stammkader zu gehören, war mein Ziel.

Wir schlenderten über die Anlage, um uns einen Eindruck zu verschaffen. Carlo fand das alles total spannend. Für ihn war es das erste richtig große Turnier. Er fragte Chris immer wieder Löcher in den Bauch. Chris blieb ganz entspannt und erklärte alles. Ich war beeindruckt, wie cool er dabei blieb. Mir würde das auf den Zeiger gehen, ständig dem Kleinen etwas zu erklären. Für mich war viel interessanter, wann würde Dustin hier auftauchen. Er hatte noch eine halbe Stunde bis zum Sign-in. Das gab es bei großen Turnieren häufiger. Dort musste jeder Spieler bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sich eingetragen haben, dass er anwesend ist.

Ich wurde schon etwas unruhig, weil Dustin immer noch nicht da war. Ich schaute auch immer wieder auf mein Handy, ob er mir eine Nachricht geschrieben hatte. Leider hatte Chris mich beobachtet und schien es zu ahnen.

„Hey Fynn, Dustin wird schon noch kommen. Mach dich nicht so verrückt. Willst du nicht mal bei den WTV Leuten guten Tag sagen?“

Bitte? Das meinte er doch wohl nicht ernst. Ich wollte mich gerade schon aufregen, als ich sah, dass Chris mich ganz fies angrinste und Carlo sich vor Lachen den Bauch hielt.

„Sehr witzig. Den Volldeppen werde ich höchstens auf dem Platz zeigen, wo der Hammer hängt.“

„Na na na, keine falschen Versprechungen. Aber wenn du sie weg haust, bin ich der letzte, der sich nicht freuen würde.“

Krass, wie einfach es Chris immer gelang, uns auf andere Gedanken zu bringen. Es dauerte nicht mehr lange und Dustin war mit seinem Onkel angekommen. Ich hatte ihn schon erkannt, bevor die anderen ihn gesehen hatten. Ich lief direkt auf die beiden zu und begrüßte zuerst seinen Onkel.

„Hallo, Sie sind Dustins Onkel? Ich bin Fynn und Dustins Freund. Wir kennen uns schon sehr lange.“

„Hallo Fynn. Es freut mich, dich kennenzulernen. Damit wir das direkt geklärt haben, ich heiße Frank und wir können uns duzen, wenn dir das recht ist.“

„Klar, gerne.“

Dustin schaute mich die ganze Zeit an und sagte nichts. Auch Frank schien erst jetzt mein Auge zu bemerken, aber es war Dustin, der dazu etwas sagte:

„Man Fynn, du siehst aber echt krass aus. Wie hast du das eigentlich hinbekommen? Kannst du denn damit spielen?“

„Ach so, du meinst mein Auge. Ja, ich weiß nicht. Chris meinte, ich sollte das probieren. Aber kann natürlich sein, dass es nicht geht. Sorry, aber ich kann es nicht mehr ändern.“

Dustin lächelte und auch sein Onkel blieb sehr freundlich. Der fragte mich dann:

„Sag mal, wo ist euer Trainer eigentlich, ich wollte ihn gern mal kurz sprechen. Du willst ja eh sicher mit Dustin mal in Ruhe sprechen.“

Ich schickte ihn zu Chris, der mit Carlo und Mattes bei Marco stand. Seine Truppe war hier auch wieder am Start. Dustin zog mich am Arm und wollte mit mir irgendwohin gehen, wo wir allein waren.

„Warte, ich muss Chris Bescheid sagen, sonst gibt das Stress.“

„Ok, aber beeil dich. Ich habe viel zu erzählen.“

Ich lief zu Chris und er hatte es sich schon gedacht, also ließ er uns ziehen und bat nur darum, nicht zu lange wegzubleiben.

Wir verließen die große Anlage und setzten uns auf eine Bank in dem großen Park, der die Anlage umgab. Es war eine Kurstadt und entsprechend war der Park ausgelegt.

Dustin wurde sehr still und ich fragte mich schon, ob es richtig ist, jetzt mit ihm zu reden. Aber er machte auch keine Anstalten, es nicht zu tun, denn er begann recht schnell zu berichten:

„Ich bin von zu Hause abgehauen. Nachdem mich mein Vater geschlagen hatte, hat mich dort nichts mehr gehalten. Frank hat mich sofort aufgenommen, er kennt seinen Bruder halt nicht anders und meinte, es wäre besser, ich würde ein paar Tage bei ihm bleiben.“

„Ich verstehe es irgendwie nicht. Warum rastet dein Alter so aus? Nur, weil er die Pornos gefunden hatte? Oder weil du aus dem Kader geflogen bist?“

„Scheint so, aber …“, er machte eine Pause und ich spürte, es kam noch mehr. „… ich habe dir auch etwas verschwiegen bislang. Ich wollte dir das persönlich sagen. Aber du musst mir etwas versprechen. Ich möchte, dass du mich erst alles erklären lässt, bevor du etwas sagst.“

Nanu, was sollte das denn jetzt? Irgendwie bekam ich gerade ein ganz flaues Gefühl im Magen. Hoffentlich hatte er keinen großen Blödsinn gemacht.

„Ja, klar. Du machst es aber spannend. Los, erzähl.“

„Hm, wie soll ich anfangen? Also, nach dem letzten Turnier habe ich Listen gesagt, dass ich nicht mehr für den Verband spielen will und da ist er vollkommen ausgerastet. Er hat mir vorgeworfen, wir hätten einen Vertrag und das würde Konsequenzen haben usw. …“

„Moment, also haben sie dich nicht rausgeworfen, sondern du bist gegangen?“

„Ja, aber lass mich bitte weiter erzählen.“

„Sorry, ja.“

„Als ich dann nach Hause kam, hatte Listen bereits bei meinen Eltern angerufen. Entsprechend gut gelaunt war mein Vater. Meine Mutter war nicht zu Hause und was dann kam, war einfach zu viel.“

Er machte eine Pause. Ich wollte schon wieder etwas sagen, aber ich sollte ihn ja ausreden lassen. Allerdings kämpfte er mit den Tränen. Er begann zu zittern und ich wusste überhaupt nicht was passierte.

„Hey, Dustin. Was ist los? Beruhige dich wieder, ich bleib bei dir und du musst keine Angst haben.“

Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte, also legte ich meinen Arm auf seine Schulter und versuchte ihn zu beruhigen. Er holte immer wieder Luft und wollte weiter berichten, aber es ging nicht.

„Komm, beruhige dich. Du kannst mir das auch später erzählen. Sollen wir zurückgehen?“

Er schüttelte vehement den Kopf und dann brach es aus ihm heraus.

„Nein, ich will dir die Wahrheit sagen, aber es tut so weh. Ich kann doch nichts dafür, dass es so ist.“

Ich verstand nur noch Bahnhof. Was meinte er nun?

„Kannst du mir vielleicht sagen, wovon du sprichst? Ich habe keinen Plan, was du meinst.“

Er schaute mich an und die Tränen liefen aus seinem Gesicht. Ich erschrak, so hatte ich ihn noch nie erlebt.

„Mein Vater hat die Filme auf meinem Laptop gefunden und …“

Er konnte nicht weiter sprechen. Es ging einfach nicht. Ich wollte ihm helfen und fragte:

„Du meinst, er hat ein paar Pornos gefunden und deswegen macht er so einen Stress?“

Dustin nickte und ganz leise sagte er:

„Ja, es waren nicht irgendwelche Pornos.“

Jetzt war ich komplett verwirrt. Was meinte er damit? Und er weinte jetzt hemmungslos. Ich bekam Angst und wollte mit ihm zu seinem Onkel, aber er wollte nicht weggehen. Ich blieb wortlos neben ihm sitzen und erst nach einigen Minuten beruhigte er sich.

„Danke, dass du bei mir geblieben bist. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Ich habe Angst, dass ich dich als Freund wieder verliere, wenn ich dir das jetzt sage.“

„Dustin, egal, was du mir sagst, ich werde dein Freund bleiben. Aber was für Pornos waren das, wenn dein Alter so einen Stress deswegen macht? Waren das Kinderpornos oder was?“

„Nein, aber es kommen keine Mädchen drin vor.“

Stille. Absolute Stille, ich hatte das Gefühl, die Zeit würde stehen bleiben. Was hatte er gerade gesagt? Ich brauchte einige Sekunden, um das zu begreifen.

„Heißt das, … also wie soll ich das sagen? Heißt das, du stehst auf Jungs? Du bist schwul?“

Jetzt diesen Blick zu beschreiben war unmöglich. Er nickte wortlos und wollte weglaufen. Das konnte ich verhindern, indem ich ihn ganz hart am Arm packte und wieder auf die Bank zog.

„Deswegen hat dich dein Alter geschlagen? Das Arschloch. Boah, ich könnte kotzen. Du bist dir sicher, dass du auf Jungs stehst?“

„Ja, schon lange. Eigentlich habe ich mich noch nie für Mädchen interessiert.“

„Ok, also bevor du auf falsche Gedanken kommst, ich habe damit überhaupt keine Probleme und natürlich bleiben wir Freunde. Im Gegenteil, ich bin froh, dass du mir das anvertraust. Danke dafür. Ich bin nur total überrascht.“

„Heißt das, du spielst trotzdem mit mir Doppel und ich kann mit dir trainieren?“

„Spinnst du? Hast du daran gezweifelt? Es ist schlimm genug, dass dein Vater so reagierte, aber für mich bleibst du mein Freund, wie zuvor. Ich verspreche dir, Chris wird nichts dagegen haben, wenn du bei uns trainierst. Ich werde es ihm auch nicht sagen, aber ich glaube, er wird dich verstehen und dir helfen. Das solltest du aber selbst entscheiden. Ich habe es immer gehasst, wenn Lehrer vor mir mit meinen Eltern gesprochen haben.“

Er war total fertig und ich legte meinen Arm um ihn und tröstete ihn.

„Danke, ich habe mich in dir nicht getäuscht, Fynn. Warum war ich nur so blöd, damals Listen zu glauben. Verzeihst du mir?“

„Das hatten wir doch schon geklärt. Los, komm. Wir gehen zurück. Weißt du, warum dein Onkel mit Chris sprechen wollte? Weiß er schon was los ist?“

„Ja, ich habe es ihm gesagt und er meinte, er hatte es sich schon gedacht. Er findet das auch überhaupt nicht schlimm.“

„Cool, so muss das sein. Allerdings würde mein Vater vermutlich genauso bescheuert reagieren, wie deiner. Meine Mutter würde zu mir halten, da bin ich mir ganz sicher.“

„Ich beneide dich echt, ich weiß gerade nicht, wie es weitergehen soll. Was ist, wenn mein Vater mich rausschmeißt?“

„Das wird er schon nicht machen. Komm, wir sollten langsam zurückgehen. Sonst setzt Chris eine Vermisstenanzeige auf. Das wäre nicht gut für mich.“

Chris: Eine Überraschung

Dustins Onkel saß mir gegenüber und wir waren recht schnell beim „Du“ angekommen. Er hatte mir von den Szenen zu Hause bei Dustin berichtet und wie er dort geflüchtet ist. Das tat mir einfach nur weh. So viel Dummheit der Eltern war schon böse. Leider gab es immer wieder solche Reaktionen von Eltern, die erfahren, dass ihre Kinder anders sind, als die meisten anderen Kinder. Dustin ließ sich nicht vorschreiben, was er wann zu tun hatte. Allerdings hatte ich das Gefühl, eine wichtige Information stand noch im Raum. Bislang hatten wir überwiegend über die Perspektive beim Tennis gesprochen.

„Denkst du denn, Dustin hätte die Möglichkeit, bei euch zu trainieren und sich zu entwickeln?“

„Grundsätzlich ja, aber er müsste sich in Halle vorstellen und sicher auch ein paar Trainingseinheiten machen, damit sich die Trainer anschauen können, was er kann. Da habe ich aber keinerlei Einfluss darauf. Da zählt allein die Leistung. Außerdem kostet das sicherlich mehr Geld als beim Verband. Wobei der Unterschied nicht sehr groß ist, dafür ist das System aber viel besser und erfolgversprechender.“

„Ok, wie sieht das aus, wenn seine Eltern da nicht mitmachen und es ihm nicht ermöglichen wollen. Kann ich dann die Finanzierung übernehmen und die Verantwortung für Dustin?“

„Hm, Finanzierung sicherlich, aber seine Eltern müssen es dir schon erlauben, als Verantwortlicher aufzutreten. Ich denke, wir sollten in drei Schritten vorgehen. Die Lage ist für Dustin beschissen. So wird er langfristig keinen Erfolg haben. Das hält kein Spieler lange durch, in einer ungeklärten Situation zu leben.“

Frank nickte und wir waren uns schnell über die nächsten Schritte einig. Dustin würde diese Ferien bei uns bleiben und anschließend würde ich versuchen, mit Hilfe von Frank ein Gespräch mit Dustins Eltern zu arrangieren.

„Es gibt noch einen Punkt. Ich muss mit Thorsten sprechen und ihn darüber informieren, dass Dustin aus besonderen Gründen bei uns bleibt. Ohne das geht es nicht. Sie müssen schon wissen, was hier läuft.“

„Natürlich, dafür habe ich vollstes Verständnis. Ich würde mich ja auch selbst um ihn kümmern, aber ich bekomme so schnell keinen Urlaub. Ich kann an den Wochenenden mal anwesend sein, aber mehr ist nicht drin.“

„Ist schon ok, er hat wenigstens jemanden in der Familie, der auf seiner Seite steht. Kannst du vielleicht mal mit den Eltern sprechen?“

Wir einigten uns darauf, dass er das versuchen wollte und ich versprach, mich für Dustin bei uns einzusetzen. Während unseres Gespräches kam Carlo mehrfach zu uns an den Tisch und fragte nach einigen Dingen. Er war mit Sascha aus Marcos Team unterwegs und wollte auch mit ihm Doppel spielen. Also bekam er von mir den Auftrag, diese Meldung auch selbst abzugeben.

„Du, ich habe da noch eine Sache, die du eigentlich wissen solltest, aber ich möchte das nicht ohne die Erlaubnis von Dustin tun. Kann ich dich gleich noch einmal aufsuchen?“

„Natürlich, ich bin immer ansprechbar für wichtige Dinge. Rede mit ihm und am besten ihr kommt vielleicht gemeinsam zu mir.“

„Ich werde es versuchen.“

„Weißt du eigentlich, wo die beiden sich rumtreiben?“

„Nein, aber sie werden wohl schon nicht weglaufen.“

Da musste ich dann auch lachen. Der Onkel war mir sympathisch. Er hatte gute Ansichten und ich war mir sicher, wenn alle Eltern so sein würden, hätten wir es viel einfacher in der Betreuung und Entwicklung der Kinder.

Ich machte mich auf zur Turnierleitung, um die Spielzeiten zu erfragen. Auf dem Weg dorthin konnte ich Frank mit Dustin sprechen sehen. Fynn kam mir entgegen und sprach mich an:

„Und? Was für einen Eindruck hast du von Frank?“

„Sehr nett und auch bemüht, Dustin zu helfen. Wir werden versuchen, eine Lösung zu finden. Und gibt es etwas, was du mir vielleicht sagen solltest?“

Er schaute mich komisch an. Ich wusste sofort, die beiden hatten etwas besprochen, was ich noch nicht wusste. Allerdings wollte ich auch nicht, dass Fynn mir etwas erzählt, was Dustin auch betreffen würde.

„Schon gut, ich will es noch gar nicht wissen. Dustin ist nicht dabei und du hast ihm versprochen zu schweigen.“

Dabei musste ich lachen, denn Fynns Gesicht war dabei einfach herrlich. Allerdings konnte ich auch sehen, dass Frank und Dustin eine heftige Unterhaltung hatten und sie wohl nicht einer Meinung waren. Erst nach einigen Augenblicken entspannte sich die Situation sichtlich. Beide kamen in unsere Richtung. Allerdings sah Dustin alles andere als entspannt aus. Fynn wollte sich schon von mir trennen, aber ich war der Meinung, es sei besser, er würde bei mir bleiben. Dustin konnte vielleicht etwas Unterstützung gebrauchen.

„Na, ihr beiden. Was kann ich für euch tun?“, fragte ich mehr in Richtung Dustin.

Dieser schien sich unsicher zu sein, allerdings war mir schnell klar geworden, Fynn wusste bereits mehr als ich.

„Ähm, ja, Frank meint, ich sollte auch mal mit dir sprechen.“

Ich schaute ihn an und konnte Angst in seinen Augen erkennen. Was für eine Information wurde mir bislang vorenthalten?

„Ok, keine Panik. Ich beiße nicht. Möchtest du mit mir allein reden, oder soll Fynn dabei sein?“

Er schaute zu Fynn herüber und die Anspannung war enorm in seinem ganzen Körper sichtbar.

„Wenn das geht, wäre das vielleicht besser. Ich …, also, ich habe schon Angst davor, weil ich nicht weiß, was passieren wird.“

Pure Angst wurde in diesen Worten spürbar. Ich musste dem Jungen Sicherheit geben. Mir wurde klar, es handelte sich wohl doch um ein größeres Problem. Vielleicht wurde er zu Hause doch mehr misshandelt, als Frank mir gesagt hatte.

„Kommt mit. Wir gehen zu mir ins Wohnmobil, da stört uns keiner.“

Frank schien bei diesem Gespräch nicht dabei sein zu wollen, denn er gab mir mit einem Augenkontakt zu verstehen, dass er Dustin das allein machen lassen wollte. Also marschierten wir in Richtung Wohnmobil. Fynn flüsterte Dustin etwas zu und legte ihm seinen Arm um die Schulter, als ob er ihn beschützen wollte. Ich bat die beiden im Wohnraum Platz zu nehmen.

„Möchtet ihr vielleicht etwas trinken?“

Beide schüttelten den Kopf. Es lag eine enorme Spannung in der Luft. Irgendetwas war auch zwischen Fynn und Dustin passiert. Fynn machte den Eindruck, dass er sich sicher war, ich würde damit keine großen Probleme haben.

„Also, bevor du mir irgendetwas erzählst, möchte ich sagen, dass ich bei meinen Jungs immer eine wichtige Regel habe. Wenn jemand etwas angestellt hat und es mir von sich aus erzählt, bevor ich es herausbekomme, wird er dafür nicht bestraft. Fehler gehören zum Leben dazu, wie das Salz in der Suppe.“

Dieser Spruch lockerte die Stimmung etwas auf, aber Dustin war immer noch sehr ängstlich, als er dann doch zu sprechen begann.

„Ähm, ja. Ich möchte nicht, dass Fynn meinetwegen vielleicht Schwierigkeiten bekommt, aber vielleicht sollte ich es wirklich sagen. Also gut. Das größte Problem mit meinem Vater ist nicht, dass ich nicht mehr beim Verband bin. Es gibt da ein anderes Problem.“

„Los, Dustin, du kannst es Chris erzählen. Er wird dir nicht den Kopf abreißen. Das weiß ich.“

Ich schaute die beiden an und ich spürte die Angst bei Dustin. Ich ließ ihn in Ruhe überlegen und dann kam der Satz, der vieles verändern würde.

„Ok, also gut. Mein Vater hat herausbekommen, dass ich schwul bin.“

Stille. Für einen Moment war völlige Stille bei uns im Wohnmobil.

Dustin schaute mich ängstlich, aber ganz genau an. Er wartete auf meine Reaktion. Lustig fand ich, dass Dustins Hand die Hand von Fynn suchte. Fynn ließ ihn gewähren.

„Ja, und? Deshalb regt er sich so auf? Da kannst du doch auch nichts dafür. Wenn es so ist, dann ist es so. Kein Junge kann sich das aussuchen, ob er schwul sein will oder nicht. Wichtig ist aber, dass du das für dich selbst annehmen kannst. Für mich ist das absolut kein Problem. Es ist normal für mich. Es wird sich im Umgang mit dir für mich nichts ändern.“

Dustin schaute mich ungläubig an. Er hatte noch nicht wirklich begriffen, was ich gesagt hatte. Fynn war da schneller.

„Was habe ich dir gesagt. Chris wird dich verstehen. Außerdem musst du dich bei uns nicht mehr verstecken.“

„Heißt das, ich darf trotzdem bei euch bleiben und mit Fynn Doppel spielen?“

Völlig verwirrt ob dieser Frage schüttelte ich meinen Kopf.

„Was ist das denn für eine merkwürdige Frage? Du bist doch deswegen plötzlich kein anderer Mensch geworden. Für mich ändert sich gar nichts. Außer einer Sache vielleicht, aber das gehört jetzt nicht hierhin.“

Fynn wusste sofort, was ich meinte. Er fing an zu grinsen und Dustin wurde unruhig.

„Erklär ich dir später, lass uns jetzt schauen, wie es weitergeht.“

„Dustin“, sagte ich, „du wirst es nicht immer leicht haben, vor allem, wenn du irgendwann einmal einen Freund hast und es publik wird, dass du schwul bist. Von mir wird es niemand erfahren ohne dein Einverständnis. Wenn du es jemandem sagen willst und dich aber nicht traust, komm zu mir oder nimm dir Fynn als Unterstützung mit. Ich nehme mal an, dass er bereits wusste was los ist, oder?“

Jetzt löste sich die Anspannung bei Dustin und er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Nickte aber dabei. Ich beschloss die beiden für einen Moment allein zu lassen. Es sollte für Dustin nicht zu peinlich werden.

„Passt auf, ihr beiden. Ich lasse euch einen Moment allein. Wenn du dich wieder beruhigt hast, kannst du immer zu mir kommen. Ansonsten ändert sich für mich gar nichts. Weiß dein Onkel das bereits oder muss ich bei ihm aufpassen?“

„Er weiß es. Er hat mich auch überredet, dir die Wahrheit zu sagen. Es tut mir leid, ich konnte es nicht eher. Ich hatte Angst ...“

Weiter kam er nicht mehr. Ich legte meine Hand auf seine Schulter.

„Du musst dich nicht entschuldigen, ich lasse euch einen Moment allein. Ich werde mal deinen Onkel suchen.“

Ich verließ das Wohnmobil und ließ die beiden allein zurück. Dustin sollte sich beruhigen können. Für mich kam das zwar schon überraschend, aber ein Problem war das sicher nicht für mich. Allerdings wurde mir schon klar, für Dustin würde es nicht einfacher werden. Die Funktionäre in unserem Verband waren einfach so verkalkt in ihren Köpfen. Dustin hätte niemals eine faire Chance im Verband, sollte es bekannt werden.

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