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Rot und blau

Weihnachtschallenge 2014

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Rot und blau

Oh, wie ich diese Zeit hasse. Der Höhepunkt kommt dann immer um den 24. herum. Meistens flüchtete ich dann irgendwohin, wo mich keiner störte. Dieses Jahr hatte ich einen anderen Plan. Ein Freund von mir, ebenfalls in meinem Löschzug in der freiwilligen Feuerwehr tätig, hatte mich gebeten, seine Feiertagsbereitschaft zu übernehmen. Er hatte Familie und Kinder. Da ich keine Kinder hatte, und eh diese Tage gehasst habe, gönnte ich ihm die freien Festtage.

Bereitschaft bei einer freiwilligen Feuerwehr, werden sich jetzt einige Leute fragen. Bei uns gab es eine Besonderheit in der Gemeinde. Wir hatten die Kreisleitstelle in unserem Ort und dort waren auch sogenannte „Sonderfahrzeuge“ stationiert. Diese Fahrzeuge standen allen Einheiten in unserem Kreis zur Verfügung. Wenn also irgendwo eine besondere Lage entstanden war, konnten die jeweiligen Einsatzleiter diese Fahrzeuge zur Unterstützung anfordern. Besetzt wurden diese Fahrzeuge von Kameraden unserer Löschzüge. Diese waren speziell ausgebildet und hatten auch spezielle Funkmeldeempfänger. Ich war einer dieser speziell ausgebildeten Kräfte.

Ach ja, ich sollte mich erst einmal kurz vorstellen. Ich war zu dieser Zeit bereits 47 und hatte schon dreißig Jahre Diensterfahrung. Feuerwehr war meine Passion. Ich hatte auch keine Probleme eben in der Zeit zwischen dem 24.12. und 1.1., an den Feiertagen, den Bereitschaftsdienst zu machen. Ich war immer froh, wenn diese Zeit endlich vorbei war. Seit Ende September begannen die Geschäfte, diese schreckliche Musik zu spielen und die Dekorationen entsprechend herzurichten. Ich konnte es spätestens nach einer Woche schon nicht mehr hören oder sehen. Einfach grausam.

Um Missverständnissen vorzubeugen. Ich mochte Kinder, und ich hatte absolutes Verständnis für deren Freude auf diese Zeit, aber für mich war das nichts. Deshalb gönnte ich auch den Kollegen mit Kindern und Familie, diese Zeit im Kreis der Familie.

Meine Bereitschaft begann am 24.12.um zehn Uhr morgens. Ich hatte kurz mit dem Kollegen telefoniert, ob es etwas Besonderes in seinem Dienst gab. Das war nicht der Fall. Ich hatte jetzt also mit zwei weiteren Kollegen diese Bereitschaft begonnen. Für mich bedeutete das, ich konnte alles machen, durfte mich nur nicht zu weit von der Leitstelle entfernen. Es gab verschiedenste Fahrzeuge, die für besondere Einsatzlagen vorgehalten wurden. Ich möchte die wichtigsten kurz erwähnen.

Die Lichtgiraffe:

Ein Flutlichtfahrzeug speziell für Nachteinsätze zum Ausleuchten größerer Flächen. Das Fahrzeug hatte einen voll drehbaren, ausfahrbaren Lichtmast mit zwanzig Hochleistungsscheinwerfern, verfügte über einen eigenen Generator für die Stromerzeugung.

Der Rüstwagen:

Ein großer LKW mit verschiedensten Geräten für die technische Hilfe. Dieses Fahrzeug wurde vorwiegend bei schweren Verkehrsunfällen angefordert, um die örtlichen Einheiten mit schwerem und sehr teurem Gerät zu unterstützen.

Es gab noch einige andere Spezialfahrzeuge, alle hier zu erklären würde ein Fachvortrag werden, das würde hier zu weit führen. Deshalb genug der Technik bis hierher.

An diesem Morgen rief mein Bruder an, um sich wie jedes Jahr um diese Zeit nach „Down Under“ zu verabschieden. Er war Tennis Coach auf der ATP Profi Tour und betreute drei Top 20 Spieler auf der Tour. Um die Festtage herum flogen sie immer zuerst nach Neuseeland, um dort ein paar Vorbereitungsturniere auf die Australian Open zu spielen. Das war das erste Grand Slam Turnier des Jahres.

Wir sprachen über unsere Eltern und dass sie dieses Mal mit auf diese Reise gingen. Ich freute mich sehr, denn das bedeutete, dass es ihnen sehr gut ging. Immerhin waren sie beide schon um die 80 und da war so eine Reise doch eine starke Belastung mit den Flügen und dem Klimawechsel. Außerdem hieß das für mich, keine Festtagsbesuche zu Hause. Ich hatte also völlig freie Hand, was ich machen wollte. Ich hatte mir vorgenommen, an meiner aktuellen Geschichte für NiSt Stories weiterzuschreiben. Vor allem wollte ich jeglichen Festtagstrubel vermeiden. Ich hatte am liebsten, wenn diese Tage so abliefen, wie jeder andere Tag des Jahres.

Es gab noch zu erwähnen, dass ich einen entscheidenden Vorteil gegenüber den meisten anderen Menschen hatte, ich brauchte nicht mehr einem normalen Beruf nachgehen. Ich hatte durch einen sehr glücklichen Wink des Schicksals genug Wohlstand durch einen Lotteriegewinn erhalten. Ich durfte wirklich das tun, worauf ich Lust hatte. Mein Engagement in der Feuerwehr hatte ich schon vorher sehr ernst genommen und wollte das auch weiterhin betreiben. Ich hatte mittlerweile dort auch Führungsaufgaben und war sehr anerkannt.

Es gab auch noch andere ehrenamtliche Tätigkeiten, bei denen ich sehr aktiv war. In der Regel hatte ich dabei mit Jugendlichen zu tun, die meistens nicht in der glücklichen Lage waren, eine fürsorgliche Familie zu haben.

Nachdem ich auch meinen Eltern eine tolle Reise gewünscht hatte, entschloss ich mich an diesem 24. Dezember mit meinem Mountainbike eine Runde durch den Wald zu fahren. Das Wetter war kalt, aber trocken. Es lag auch kein Schnee, also ideale Bedingungen. Außerdem würde heute wenig im Wald los sein. Alle normalen Menschen würden in den Festvorbereitungen sein. Ich hatte also meine Ruhe. Ich steckte mein Handy und meinen Funkempfänger ein und begab mich in den Wald. Es war eine kalte klare Winterluft und ich kam sehr gut über den gefrorenen Boden voran.

Diese Strecke kannte ich sehr gut. Leider war ich schon recht früh verschwitzt. Eine Eigenart von mir. Ich brauchte den Sport nur zu erwähnen und schon lief mein Schweiß. Dennoch war ich für mein Alter noch sehr fit. Die Sonne lugte immer wieder durch die Bäume und es war einfach herrlich. Am höchsten Punkt im Wald angekommen, genoss ich den Ausblick. Ich stand auf einer Lichtung und schaute auf meinen Ort. Ich war dort aufgewachsen und kannte wirklich jede Ecke. Eine Flasche Wasser in der Hand, blickte ich nachdenklich in die Sonne. Plötzlich klingelte mein Handy.

„Hallo Bernd, bei euch alles im grünen Bereich?“

Bernd war der Löschzugführer des anderen Löschzuges in unserer Gemeinde. Die Freundschaft zu ihm währte schon sehr lange. Allerdings hatte ich damit in meinem Löschzug nicht nur Begeisterung ausgelöst. Einige Kameraden empfanden das als Verrat, dass ich so gute Kontakte zum anderen Zug hatte. Das war bedauerlich, aber störte mich nicht mehr im Geringsten.

„Hi, hast du dich wieder mal für Mario geopfert und Bereitschaft?“

„Ach Bernd, du weißt doch, wie ich dieses ganze Brimborium hasse. So kann ich den Kollegen ein Fest im Kreis der Familie ermöglichen und ich muss mich nicht mit dem ganzen Mist rumquälen.“

Bernd lachte, er kannte mich sehr gut.

„Was machst du grade? Ich wollte fragen, ob du Lust auf einen Kaffee hast?“

Bernd war auch schon etwas über dreißig und Junggeselle. Er hatte viele Gemeinsamkeiten mit mir. Wir verstanden uns wirklich sehr gut.

„Ich stehe grade im Wald und genieße die Aussicht. Ich bin mit dem Bike unterwegs und genieße die klare Luft und die Sonne. Aber wir könnten uns in einer Stunde bei Hensel zum Kaffee treffen, ich muss nur vorher noch schnell duschen.“

„Gut, so machen wir das. Bis gleich dann.“

Schnell machte ich mich auf den Heimweg, da ich ja auf dem höchsten Punkt war, ging es nur noch bergab.

Eine Stunde später saß ich mit Bernd bei einer Latte Macchiato im Cafe. Leider nervte hier auch diese blöde Musik im Hintergrund. Ich konnte es bald nicht mehr ertragen. Die Bedienung kam an unseren Tisch und fragte, ob wir noch einen Wunsch hätten. Ich schaute Bernd kurz an und dann kam mir eine dreiste Idee.

„Bringen sie uns bitte noch zwei Latte und machen sie doch bitte diese grausame Festmusik aus. Ein wenig Rockmusik wäre jetzt viel schöner.“

Bernd bekam ein fettes Grinsen ins Gesicht und die Bedienung wurde blass. Sie nahm unsere Bestellung auf und tatsächlich, Jingle Bells wurde durch Hells Bells ersetzt. Geht doch!

Das war sofort ein richtiger Stimmungsaufschwung, Bernd und ich mussten lachen. Es gab also auch noch andere Leidensgenossen. Die Bedienung kam jedenfalls mit zwei frischen Latte Macchiato und einem Strahlen im Gesicht zu uns.

„Bitte sehr, endlich mal Gäste, die Jingle Bells auch nicht mehr hören können.“

„Richtig, Hells Bells ist auch viel schöner.“

Wir saßen noch einige Zeit beisammen und Bernd berichtete mir von den neuesten Fahrzeugbeschaffungen und den Problemen, die Politiker von den nötigen Investitionen zu überzeugen. Draußen wurde es langsam dämmrig und das Cafe war schon recht leer. Wir bezahlten unsere Kaffee und ich wünschte Bernd ein paar ruhige Tage. Für mich war es nun an der Zeit, mal bei den Fahrzeugen an der Leitstelle vorbeizuschauen. Die Leitstelle war immer besetzt, egal ob Feiertag, Sonntag oder nachts. Ich fuhr mit meinem Winterauto, einem AMG G 63 auf den Parkplatz und stellte den Motor ab. Mit meinem Chip am Schlüsselbund öffnete ich die Tür zur Fahrzeughalle. Das Licht ging automatisch an und ich öffnete die Tür vom Rüstwagen, inspizierte die Beladung und stellte fest, dass alles in Ordnung war.

Jetzt war noch ein kurzer Besuch in der Leitstelle fällig. Ich begrüßte das Personal und wir machten noch einen kurzen Smalltalk. Wir wünschten uns gegenseitig einen ruhigen Dienst und ich machte mich auf den Heimweg. Heute sollte es sicherlich noch sehr ruhig bleiben. Zur Bescherung waren die meisten zu Hause im Kreise ihrer Familien. Interessant wurde es in der Regel erst an den Feiertagen. Das Wetter war auch nicht sonderlich gefährlich, also ich erwartete einen ruhigen 24.Dezember.

Meine Tastatur lag vor mir auf dem Schreibtisch, meine Finger glitten über die Tasten und ich konnte in Ruhe schreiben. Fünf Seiten konnte ich bereits zu meiner Geschichte hinzufügen. Im Hintergrund lief die neue Within Temptations Cd und ich hatte richtig gute Laune. Kein nervendes Telefon und eine schöne Tasse Tee auf dem Tisch. Die weiße Schokolade wurde von mir förmlich vernichtet. Das war meine geistige Nahrung, egal ob Feiertage oder normaler Arbeitstag.

Die Zeit rückte auf halb sechs vor, eigentlich sollten die meisten Menschen jetzt im Kreis ihrer Liebsten sein. Ich hingegen, genoss meine Ruhe. Die Ruhe wurde plötzlich jäh von einem unangenehmen Geräusch unterbrochen. Ein paar unterschiedliche Pieptöne signalisierten mir, irgendwo war etwas passiert. Ich holte meinen Melder aus der Gürteltasche und las den Text:

„Einsatz für den RW2, VU PKW mit LKW, mehrere Personen eingeklemmt.“

Dann folgten noch der Ort und die Straße. Ich wusste Bescheid, diese Straße war mir gut bekannt. Die örtliche Feuerwehr war auch alarmiert und ich hastete aus dem Haus zum Auto. Der Weg zur Leitstelle war in fünf Minuten erledigt, schnell aus dem Auto und hinein in die warme Halle. Feuerwehrschutzkleidung angezogen und aus dem Faxgerät das Alarm Fax gezogen. Dort wurde die Anfahrt beschrieben und mitgeteilt, welche Einheiten bereits alarmiert waren.

Über Funk meldete ich meine Ausfahrt. Das Tor war bereits geöffnet und ich schaltete mein Blaulicht und das Horn ein. Ich hatte ungefähr eine Anfahrtszeit von sieben Minuten. Über Funk hörte ich bereits die ersten Meldungen vom Rettungsdienst, der teilweise schon vor Ort war. Diese Meldungen hörten sich nicht sonderlich gut an. In der Stimme der Rettungsdienstleute konnte man eine gewisse Hektik hören. Es hieß vier Personen schwer eingeklemmt. In Rücksprache mit der Leitstelle änderte ich meine Anfahrt, um nicht dem alarmierten Löschzug im Weg zu stehen. Ich wollte von der anderen Seite an die Unfallstelle heranfahren.

Die Straßen waren natürlich leergefegt. Ich erreichte die Unfallstelle und konnte schon die ersten blinkenden Blaulichter erkennen. Ich schaltete das Horn ab und rollte langsam an das Geschehen heran. Ein Kamerad aus dem örtlichen Löschzug wies mich ein. Ich stellte den RW2 quer auf die Fahrbahn. Dadurch waren wir abgesichert und vor zu vielen Schaulustigen geschützt.

Ich saß noch im Führerhaus und konnte so von oben ein wenig das Szenario überblicken. Was ich allerdings sehen konnte, war nicht besonders schön. Es sah nach einem Trümmerfeld aus. Ein LKW stand auf der Straße und ein PKW war seitlich unter dem LKW eingeklemmt. Ein weiterer PKW lag auf der Seite, vollkommen zerstört, im Graben. Das musste ein ganz böser Crash gewesen sein. Der Hergang war mir noch vollkommen unklar. Das spielte jetzt auch erst einmal keine Rolle. Jetzt musste es schnell gehen, die eingeklemmten Personen zu befreien. Ich nahm mein Funkgerät und stieg aus dem Fahrzeug. Der Einsatzleiter kam bereits auf mich zu, er gab mir einen kurzen Überblick und ich erfuhr, dass der LKW Fahrer vermutlich nur leicht verletzt war und das in dem PKW unter dem LKW, nur eine Person war. Allerdings waren in dem anderen PKW drei Personen, davon ein Kind, eingeklemmt. Ich vermutete, es handelte sich um eine Familie. Ich besprach mich mit ihm, dass es wohl sinnvoll wäre, die Lichtgiraffe nachzufordern. Es war bereits richtig dunkel und dieser Einsatz würde länger dauern. Ich ging zum Fahrzeug zurück, um von der Leitstelle die Lichtgiraffe nachzufordern. Anschließend baute ich mit Unterstützung der örtlichen Kameraden einen sogenannten Ablageplatz auf. Dort wurden alle technischen Geräte abgelegt, die im Einsatz gebraucht würden. Nebenbei fuhr ich den Lichtmast vom Fahrzeug aus und startete den Stromerzeuger. Die Einsatzstelle war innerhalb von wenigen Minuten taghell ausgeleuchtet und viele Einsatzkräfte kümmerten sich um die verletzten Personen.

Als ich nach etwa zehn Minuten meine Geräte an die Einsatzkräfte herausgegeben hatte, bekam ich etwas Zeit, mich vor Ort umzusehen. Vielleicht konnte ich die örtlichen Kräfte noch unterstützen. Hier war jedenfalls ein Großaufgebot an Kräften, alles Freiwillige, die an einem Tag, wie dem 24.12. ohne zu zögern von ihren Familien wegliefen, um anderen zu helfen.

Der LKW Fahrer wurde bereits vom Rettungsdienst abtransportiert. Er hatte einen schweren Schock erlitten, war aber sonst nicht verletzt.

Anders sah das bei den Insassen der PKW aus. Mittlerweile hatten wir hier drei Notärzte und einen Leitenden Notarzt vor Ort. Jeder war mit einem Patienten beschäftigt. Die Kollegen begannen nun in Absprache mit dem Leitenden Notarzt, die PKW so zu öffnen, dass die Personen befreit werden konnten.

Ich stand etwa fünf Meter von dem PKW im Graben entfernt. Die Personen vorne im Fahrzeug waren nicht ansprechbar, das Kind hinten hingegen, war bei Bewusstsein.

Plötzlich bemerkte ich im Dunkeln eine Person auf dem Boden sitzend. Ich ging dorthin und sprach sie an. Ich konnte einen Jungen erkennen, der in etwa 15 Jahre alt war. Er war recht blass und zitterte. Ansonsten schien er äußerlich unverletzt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Junge im Fahrzeug gesessen hatte. So zertrümmert, wie das aussah. Aber wo kam dann dieser Junge her? Er gab mir keine Antwort, er schaute nur starr auf die Arbeiten an dem PKW. Ich wollte den Jungen von hier entfernen. Er musste sich das nicht ansehen. Allerdings schien es so, als ob er mich nicht verstehen würde. Ich nahm ihn an die Hand und zog ihn einfach erst einmal vom Geschehen weg. Erst ließ er sich ohne Widerstand von mir wegführen, plötzlich jedoch wollte er wieder zum Auto laufen. Ich hielt ihn fest und dann stellte ich überrascht fest, der Junge sprach Englisch. Also redete ich in Englisch auf ihn ein, er solle bitte bei mir bleiben und nicht wieder an das Auto laufen. Er drehte sich um, schaute mich mit großen Augen an und brach weinend in meinen Armen zusammen. Ich hielt ihn fest und führte ihn weg. Ich streichelte über seinen Rücken und versuchte so, ihn zu beruhigen.

Über Funk konnte ich hören, dass der PKW-Fahrer, der vermutlich den Unfall verursacht hatte, in seinem Fahrzeug verstorben war. In unserer Fachsprache hörte sich das sehr technisch an:

„Patient aus dem PKW unter dem LKW ist Ex.“

Die Arbeiten dort, wurden daraufhin erst einmal eingestellt. Jetzt galt die ganze Kraft den Personen aus dem anderen Fahrzeug.

Ich stand mit dem Jungen im Arm nun an meinem RW2 und konnte so mal einen genaueren Blick auf den Jungen werfen. Ein wirklich gut aussehender Junge, dunkelblond und kurze Haare. Er hatte keine Jacke an und so gab ich ihm sofort meine dicke Einsatzjacke.

Ich versuchte von ihm ein paar Informationen zu erhalten. Wie gut, dass Englisch für mich kein Problem darstellte. Ich erfuhr, dass er tatsächlich in diesem Auto gesessen hatte und er aus New York kam. Sein Name war Justin und er war ein Austauschschüler, der mit seiner Gastfamilie unterwegs nach Hause war, als der Unfall passierte. Ich entschloss mich, den Jungen zu einem Rettungswagen zu bringen. Er musste auf jeden Fall im Krankenhaus untersucht werden. Ich unterrichtete den Notarzt über meine Erkenntnisse und wollte mich von dem Jungen verabschieden, aber er ließ meine Hand nicht los, er klammerte sich förmlich an mir fest. Der Rettungsassistent bat mich noch einen Moment zu bleiben, bis der Arzt den Jungen mit einer Infusion beruhigt hatte. Das tat ich selbstverständlich. Es dauerte auch nicht mehr als eine Minute, bis der Junge in meinen Armen eingeschlafen war.

Ich fragte noch, in welches Krankenhaus sie den Jungen bringen würden und dann verließ ich den RTW. Ich ging zum Einsatzleiter und besprach mich mit ihm über die Lage. Gab ihm die Informationen, die ich mittlerweile von dem Jungen bekommen hatte. Es sah für die Familie nicht so gut aus, wie für den Gastschüler.

Die Eltern waren schwerstverletzt und immer noch eingeklemmt. Es bestand für beide eine akute Lebensgefahr. Der andere Junge war mittlerweile befreit worden und dem Rettungsdienst übergeben worden. Er hatte zwar auch schwere Verletzungen davongetragen, aber es bestand keine Lebensgefahr.

Ich konnte über Funk alle Maßnahmen verfolgen. Einmal musste der Vater sogar im Fahrzeug reanimiert werden, konnte aber wiedergeholt werden. Die Zeit lief uns davon, ich machte mir richtig Sorgen, was würde mit den Kindern passieren, wenn die Eltern den Unfall nicht überleben sollten? Das war so ein Einsatz, den man sich nicht wünscht. Erst recht nicht am 24.12. abends.

Nach etwa einer Dreiviertelstunde waren beide Eltern befreit und auf dem Weg ins Krankenhaus. Wir hatten beide erfolgreich aus dem völlig zertrümmerten Fahrzeug retten können. Normalerweise war damit für uns der Einsatz beendet. Wir sicherten noch die auslaufenden Betriebsstoffe und begannen, unsere Geräte wieder einzuräumen. Die Stimmung unter den Kameraden war sehr gedrückt. Diese Einsätze gingen auch an uns nicht spurlos vorbei. Mittlerweile wurde bei uns auf die Nachsorge viel Wert gelegt. Gerade nach so belastenden Einsätzen, stand uns speziell geschultes Personal zur Verfügung, wenn es notwendig sein sollte.

Ich hatte meine ganzen Gerätschaften wieder auf dem RW2 verladen und konnte so den Heimweg antreten. Die Kameraden der örtlichen Wehr mussten noch ein wenig länger bleiben und warten, bis die Fahrzeuge abgeschleppt wurden.

Auf dem Weg zurück zur Leitstelle, gingen mir doch mehr Gedanken durch den Kopf als sonst. Ich dachte an Justin. Was würde ihn wohl hier im Krankenhaus erwarten. Würden seine Gasteltern wieder gesund und was war mit dem anderen Jungen? Ich hatte einfach Schwierigkeiten diesen Einsatz abzuhaken. Das passierte mir nicht oft. Allerdings war das heute auch ein heftiger Einsatz gewesen, der glücklicherweise auch nicht alle Tage vorkam.

Als ich den RW2 in der Halle wieder abgestellt hatte, das Fahrtenbuch ausgefüllt und den Leitstellenkollegen eine gute Nacht gewünscht hatte, stieg ich in meinen G Benz und fuhr langsam über die leeren Straßen nach Hause. Es war mittlerweile der erste Feiertag angebrochen. Um kurz nach ein Uhr nachts, fiel ich müde ins Bett.

An Einschlafen war nicht zu denken. Mir ging das Gesicht, dieses völlig verstörten Jungen, nicht aus dem Kopf. Ich hatte die Verletzungen der Eltern und des Sohnes gesehen, wusste also, wie lange es wohl dauern würde, bis alle wieder gesund sein würden.

Diese Reaktion nach einem Einsatz, hatte ich schon ganz lange nicht mehr erlebt. Gegen vier Uhr morgens am 25.12., schlief ich dann endlich ein.

Die Nacht war für mich um Neun zu Ende. Der Schlaf war erstaunlich erholsam, deshalb saß ich gut gelaunt am Frühstückstisch und genoss die gute Musik im Hintergrund. Vor allem Musik und kein Gedudel, wie aus den Geschäften.

Der Einsatz aus der Nacht war schon fast verarbeitet, als das Telefon klingelte. Überrascht nahm ich das Gespräch an.

„Hallo Bernd, ein frohes Fest wünsche ich dir mal. Was gibt es denn, dass du dich von deiner Familie löst.“

Er lachte, er wusste genau, dass war nicht ernst gemeint. Allerdings wurde er dann ernst.

„Wie war der Einsatz heute Nacht? Hast du alles gut geschafft?“

„Ja, danke. Mittlerweile geht es wieder.“

Ich berichtete ihm dann das Geschehen aus meiner Sicht und Bernd hörte sehr aufmerksam zu. Als ich fertig war, holte er kurz Luft und bat mich dann, zur Leitstelle zu kommen. Die Polizei würde dort auf mich warten und ein paar Fragen an mich haben. Das wunderte mich doch sehr. Hoffentlich waren die Eltern nicht verstorben. Dass wir der Polizei noch nach Einsätzen Auskunft geben sollten, kam sehr selten vor.

Ich zog mir meine Daunenjacke an und schmiss mich in mein G-Modell. Nach gut sieben Minuten war ich an der Leitstelle.

Der Streifenwagen stand schon auf dem Hof. Ich wurde etwas nervös. Was wollten die Polizisten von mir? Mit dem Chip öffnete ich die Tür und betrat das Leitstellengebäude. Ich begab mich in den kleinen Stabsraum. Dort saßen zwei Polizeibeamte. Ein Mann in meinem Alter und eine wirklich gut aussehende, jüngere Frau.

„Ein Frohes Fest wünsche ich ihnen“, begrüßte ich sie freundlich. Ich gab beiden die Hand und stellte mich kurz vor. Sie baten mich Platz zu nehmen. Innerhalb weniger Minuten berichteten sie mir von den neuesten Entwicklungen und ich atmete erleichtert auf. Alle Personen waren außer Lebensgefahr. Das war doch mal eine echte Festtagsnachricht.

Allerdings war das sicherlich nicht der Grund, weshalb ich hier mit den beiden Beamten saß. Ich wartete also geduldig, bis die Beamtin dann begann, von dem Jungen zu berichten. Sie erzählten mir, dass der Junge seit der Einlieferung in das Krankenhaus mit niemandem mehr gesprochen hatte. Ich sei die letzte Person gewesen, mit der der Junge gesprochen hatte. Er würde nur wortlos am Bett des anderen Jungen aus dem Auto sitzen. Ich schaute die Polizisten ziemlich erstaunt an.

Sie baten mich, in das Krankenhaus zu fahren, um zu versuchen mit dem Jungen in Kontakt zu treten. Justin war für die Polizei Unfallzeuge und konnte auch den Ärzten sicher wichtige Informationen geben.

Den Beamten war es sichtlich unangenehm, mich ausgerechnet am ersten Feiertag zu belästigen. Allerdings war es mir persönlich auch ein Bedürfnis, hier zu helfen. Ich sagte also zu, ins Krankenhaus zu fahren. Die Polizisten wollten sich darum kümmern, dass ich ohne Probleme den Jungen und die Familie besuchen durfte.

Ich wollte aber noch kurz zu Hause vorbeifahren und etwas trinken und eine Kleinigkeit essen. Das Frühstück wurde ja von dieser Sache unterbrochen. Ich informierte Bernd noch schnell über die Lage und schon war ich unterwegs ins Krankenhaus.

Meine innere Unruhe verwunderte mich, was bedeutete diese Reaktion? Ich fühlte mich verantwortlich für diesen Jungen. Eigentlich sollte das nicht sein. Ich kannte weder die Familie noch diesen amerikanischen Austauschschüler. Im Fahrstuhl auf dem Weg auf die Station überkam mich dennoch ein Gefühl, diesem Jungen helfen zu wollen.

Ich meldete mich im Stationszimmer an und fragte nach dem Zimmer von Justin. Die Oberschwester bat mich noch einen Moment zu warten, weil sie mich noch sprechen wollte, bevor ich den Jungen sehen konnte.

Sie berichtete mir von den Ereignissen und ich erzählte ihr das, was ich bereits wusste. Wir vereinbarten, dass ich erst einmal versuchen sollte mit dem Jungen wieder in Kontakt zu treten. Also machte ich mich auf den Weg in das Zimmer. Ich klopfte an die Tür und betrat das Krankenzimmer. Justin saß mit dem Rücken zu mir am Bett des anderen Jungen. Sie hielten sich an den Händen und Justin reagierte überhaupt nicht auf mein Eintreten. Der andere Junge schien zu schlafen. Er war mit einigen Monitoren überwacht und hatte auch zwei Infusionsschläuche in den Armen. Sein Kopf war mit einem Verband versehen und beide Beine schienen in einer Art Schiene fixiert.

Ich stand etwa einen halben Meter hinter Justin und konnte seinen Atem hören. Ich sprach ihn sehr leise in Englisch mit seinem Namen an. Er zuckte zusammen, lies sofort die Hand des Jungen los und drehte sich um. Seine Augen waren rot unterlaufen. Er musste viel geweint haben. Jetzt stand er auf und fiel mir wortlos um den Hals. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich brauchte einen Moment, um das zu realisieren, dann legte ich meine Arme um ihn und redete beruhigend auf ihn ein.

Plötzlich sprach Justin von seinem Freund. Er nannte mir den Namen. Er hieß Nico und war ebenfalls fünfzehn wie er. Justin berichtete mir, dass er seit etwa vier Wochen in Deutschland sei und sich sehr wohl in der Familie fühlte. Ich spürte, wie er sich immer mehr entspannte. Meine Anwesenheit schien ihm Sicherheit zu geben. Plötzlich fragte er mich auf Deutsch, warum ich gekommen sei.

Ich war total überrascht und konnte erst einmal gar nicht darauf reagieren. Erst einige Momente später erklärte ich ihm die Lage. Er wurde sehr traurig und wusste nicht mehr, was er machen sollte. Ich schlug zuerst einmal vor, den diensthabenden Arzt zu verständigen, damit wir seine Situation besprechen konnten. Justin war verunsichert. Ich versprach ihm, ihn zu begleiten und auch zu übersetzen, falls erforderlich.

Mit dem diensthabenden Arzt klärten wir zuerst alle offenen Fragen zu seiner Person und dass es eigentlich keinem Grund mehr für ihn gab, im Krankenhaus bleiben zu müssen. Außer der Tatsache, dass seine Gastfamilie hier noch einige Zeit bleiben müsste.

Für mich war damit klar, meine Festtage würden in diesem Jahr einen ganz besonderen Verlauf nehmen. Ich hatte mich entschieden, Justin bei mir vorübergehend aufzunehmen. Ich wollte ihn erst einmal stabilisieren. Dann seine Eltern informieren und mit ihnen das weitere Vorgehen abstimmen. Mit dem Arzt klärte ich das ab und wir bekamen auch die Erlaubnis, die Gasteltern zu besuchen.

Justin wurde immer sicherer an meiner Seite. Er schien mir zu vertrauen. Allerdings wurde es noch einmal sehr schwierig, als wir zum Abschied noch einmal bei Nico waren. Justin wollte seinen Freund nicht allein lassen. Ich sagte ihm, er könne ruhig seinen Freund allein lassen. Wir würden morgen wieder kommen. Justin war sichtlich verlegen. Er streichelte Nicos Hand sehr zärtlich. Ich hatte den Eindruck, dass sich beide schon sehr nahe stehen würden. Ich ließ Justin die Zeit und ging bereits hinaus. Er sollte einen Moment allein sein mit seinem Freund.

Einige Minuten später kam er mit Tränen in den Augen hinaus. Ich umarmte ihn und wir gingen hinaus. Draußen redeten wir über den weiteren Ablauf. Justin war ein sehr netter und auch freundlicher Junge. Ich hatte einfach großes Mitgefühl für diesen Jungen. Er war hier in einem fremden Land ohne seine Familie und nun auch ohne seine Gasteltern. Er brauchte jemanden an seiner Seite, der ihn unterstützte.

Auf der Fahrt nach Hause war er schnell eingeschlafen. Er musste sehr erschöpft gewesen sein, denn er ließ sich durch nichts stören. Als wir bei mir in der Garage standen, schlief er immer noch tief und fest. Ich beschloss, ihn nicht zu wecken und ihn ins Haus zu tragen. Er sollte ausschlafen.

Mittlerweile war es Mittag geworden und ich beschloss erst einmal ein paar Sachen vorzubereiten. Justin konnte das Gästezimmer benutzen und sich dort auch etwas allein zurückziehen, wenn er denn wollte.

Jetzt stand mir allerdings ein schweres Telefonat bevor. Ich musste seine Eltern in New York informieren. Das fiel mir sehr schwer. Sie kannten mich überhaupt nicht und dachten sicherlich, ihr Sohn sei über die Festtage gut in der Gastfamilie untergebracht. Wie würden sie reagieren?

Eine halbe Stunde später fiel mir eine große Last ab, als ich das Telefon zur Seite legte. Justin hatte tolle Eltern, wie ich festgestellt hatte. Sie hatten mir zugesagt, innerhalb der nächsten Tage sofort nach Deutschland zu kommen und sich um Justin zu kümmern. Ich versprach, sie am Flughafen abzuholen und Justin so lange zu betreuen.

Ich schaute bei Justin im Zimmer vorbei und sah einen friedlich schlafenden Jungen. Er lag tief schlafend auf dem Gästebett und ich setzte mich auf die Bettkante, streichelte ihm übers Gesicht. Dabei wachte er langsam auf. Er schaute einen Moment irritiert, erkannte mich aber und entspannte sich sofort. Er lächelte sogar.

„Danke für alles. Ich weiß gar nicht, was ich sonst tun sollte.“

Ich legte meine Hand auf seine Brust und erwiderte:

„Justin, ich freue mich, dass es dir besser geht. Ich soll dir schöne Grüße von deinen Eltern ausrichten. Ich habe mit ihnen lange telefoniert und sie werden nach den Feiertagen nach Deutschland kommen und sich um dich kümmern. Sie können leider nicht sofort kommen, weil es keinen Flug mehr gibt.“

„Muss ich dann sofort wieder nach Hause? Ich kann doch Nico nicht einfach allein lassen.“

Er schien sich sehr um seinen Freund zu sorgen und mein Eindruck verstärkte sich immer mehr, dass diese Beziehung mehr war, als eine normale Freundschaft.

„Das besprechen wir, wenn deine Eltern hier sind. Wir müssen abwarten, wie sich die Gesundheit deiner Gastfamilie entwickelt. Du verstehst dich mit Nico sehr gut, oder?“

Er wurde rot, dann nickte er nur. Ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Also ließ ich das so stehen und zeigte ihm meine Wohnung. Er sollte sich hier wie zu Hause fühlen. Zuerst schickte ich ihn mal ins Bad. Ich ging in der Zeit ins Wohnzimmer und machte uns einen frischen Tee und entgegen der üblichen Tradition, gab es bei mir weiße Schokolade dazu.

Meine Gedanken kreisten um die Situation. Erster Feiertag und ich hatte plötzlich einen amerikanischen Austauschschüler bei mir zu Gast, der einen furchtbaren Unfall nahezu unverletzt überstanden hatte. Kuriose Sache!

Als ich den Tee in die Kanne goss, kam Justin in das Wohnzimmer. Er sah mit seinen nassen Haaren wirklich süß aus. Ich gab ihm eine Tasse und wir standen einen Moment vor dem Fenster zum Garten. Er legte seinen Kopf an meine Schulter und ich meinen Arm um ihn.

„Sag mal Justin, erzähl mir ein wenig von dir. Wie lange bist du schon hier und wie kommst du hier zurecht. Du sprichst schon sehr gut deutsch. Das ist für einen Ami ja nicht grade selbstverständlich.“

Er lachte sogar ein wenig. Ich spürte, wie er sich immer sicherer fühlte und mehr und mehr entspannte.

„Ach weißt du, ich habe mich schon sehr früh für Deutschland interessiert. Vor einem Jahr etwa haben wir in der Schule begonnen mit unserer Patenschule hier Kontakt aufzunehmen. Erst nur per Mail und Brief und irgendwann habe ich dann Nico mal angerufen. Wir haben uns von Beginn an gut verstanden. Nach einigen Monaten fragte dann mein Lehrer, ob ich mir vorstellen könnte, für ein halbes Jahr in Deutschland zu leben. Ich sagte ihm, nur wenn ich bei Nico leben kann.“

Ich schmunzelte und gab ihm noch ein Stück Schokolade.

„Du scheinst dich hier ja recht gut eingelebt zu haben. Immerhin versuchst du immer Deutsch zu sprechen. Das finde ich ganz Klasse. Wie lange würdest du denn noch hier bleiben?“

„Eigentlich noch fünf Monate, bis das Halbjahr zu Ende ist. Aber ich habe sogar überlegt, noch ein halbes Jahr zu verlängern. Nicos Eltern sind auch ganz toll. Es ist so traurig, dass sie jetzt so schwer verletzt sind.“

Dabei liefen ihm Tränen über die Wangen. Ich wischte sie mit meiner Hand weg und versprach ihm, für ihn da zu sein, so lange seine Eltern noch nicht hier wären. Er sollte sich nicht unnötig Sorgen machen.

„Schau mal, ich glaube, du wirst hier jederzeit als Gast willkommen sein. Deine Freunde werden wieder gesund werden, das haben mir die Ärzte versprochen. Es wäre für dich jetzt aber besser, wieder zu deinen Eltern zu gehen. Nico kannst du dann ja wieder besuchen, wenn er gesund ist. Du brauchst jetzt deine Eltern.“

Er schien sehr traurig zu sein, aber auch froh, dass er nicht mehr allein war und seine Eltern schon Bescheid wussten.

„Habt ihr eigentlich schon eure Bescherung gehabt? Oder ist das alles jetzt ins Wasser gefallen?“

Er schüttelte den Kopf, sagte aber auch.

„Weißt du, eigentlich habe ich meine Bescherung schon gehabt, als ich hier nach Deutschland gekommen bin. Ich habe Nico kennengelernt.“

Dabei strahlte er plötzlich über das ganze Gesicht. Seine Augen leuchteten und ich wusste jetzt, was die beiden verband.

„Ihr mögt euch sehr, oder? Du brauchst hier keine Angst zu haben, ich hätte damit keine Probleme, aber es würde einiges erleichtern, wenn du mir die Wahrheit sagst.“

Er zögerte und ich legte ihm meinen Arm auf die Schulter.

„Meine Eltern wissen es aber noch nicht.“

„Was wissen deine Eltern noch nicht?“

„Dass Nico mein Freund ist. Weißt du, wir sind schwul und ich habe mich total in Nico verliebt.“

„Wissen denn deine Eltern schon, dass du schwul bist?“

Er schüttelte ängstlich den Kopf. Ich hatte verstanden, was sein Problem jetzt war.

`“Wissen denn Nicos Eltern bereits, dass ihr zusammen seid?“

„Ja, seit vorgestern. Sie sind in unser Zimmer gekommen und Nico und ich lagen in seinem Bett.“

Ich musste lachen, sehr geschickt, wenn man das noch verheimlichen will. Justin musste auch lachen.

„Komm, das war doch von euch Absicht. Ihr wolltet es doch den Eltern so zeigen. Ich finde es schön, wenn ihr beide zu euren Gefühlen steht. Wie war die Reaktion von Nicos Eltern?“

„Ganz toll, sie haben nichts gesagt, sind wieder aus dem Zimmer gegangen und erst beim Frühstück haben sie uns gefragt. Ich habe dann nicht mehr lügen wollen und gesagt, dass ich Nico liebe.“

„Und war es schwer, ihnen das zu sagen?“

„Da nicht mehr, Nicos Mutter schien das auch nicht mehr zu überraschen, sie hatte es wohl schon geahnt. Seit dem dürfen wir in seinem Bett schlafen.“

Er wurde jetzt sehr nachdenklich.

„Komm Justin, das wird wieder. Ganz bestimmt. Deine Liebe wird Nico helfen. Ich freue mich für euch beide, auch das Nicos Eltern damit so gut umgehen, ist toll.“

Justin wunderte sich über meine Unterstützung. Er wollte wissen, ob ich auch schwul sei. Auf diese direkte Frage war ich nicht vorbereitet, aber ich wollte ihn auch nicht anlügen, also sagte ich ihm, dass ich auch schwul bin. Er bekam große Augen und umarmte mich umso herzlicher.

„Dann werden meine Eltern hoffentlich auch keine Probleme damit haben. Wirst du mir helfen, es ihnen zu sagen?“

„Natürlich, wenn du das möchtest.“

Der Nachmittag wurde noch sehr spannend. Justin erzählte mir viel von sich und seiner Entdeckung schwul zu sein. Auch wie er sich mit Nico immer mehr angefreundet hatte und sie sich näherkamen. Nach zwei spannenden Stunden wusste ich schon sehr viel über Justin und seine Gastfamilie. Nur über seine eigene Familie traute er sich noch nicht so viel zu erzählen. Er war immer noch unsicher, wie sie das aufnehmen würden.

Ich beschloss mit Justin noch einmal in die Klinik zu seinem Freund zu fahren und anschließend mit ihm essen zu gehen.

Im Auto schwiegen wir beide. Ich wollte ihm Zeit geben, sich auf die Situation im Krankenhaus vorzubereiten. Wir meldeten uns auf der Station an und durften Nico dann besuchen. Wir betraten das Zimmer und Justin ging an das Bett und gab seinem immer noch bewusstlosen Freund einen Kuss. Er streichelte seine Hand und glitt sehr zärtlich den Arm hinauf. Ich konnte erkennen, dass Nico eine Gänsehaut bekam. Das bedeutete, er spürte Justins Nähe. Ich wollte die beiden einen Moment allein lassen.

„Ist es ok für dich, wenn ich einen Moment mit dem Doktor spreche?“

Er nickte nur und war schon vollkommen mit Nico beschäftigt. Ich verließ das Zimmer und traf den Arzt auf dem Flur. Der Flur war für ein Krankenhaus recht festlich geschmückt. Es waren auch nicht so viele Patienten über die Festtage hier, nur wer unbedingt bleiben musste.

Ich informierte den Arzt über die neueste Entwicklung und er war sehr froh, dass es mir gelungen war, mit Justin näher in Kontakt zu treten.

Mein Weg führte mich zurück zu Justin und Nico. Ich betrat das Zimmer und fand Justin in der bereits bekannten Position vor. Er hielt Nicos Hand und streichelte ihm mit der anderen Hand über den Arm. Ich legte meine Hände auf Justins Schulter und ich spürte wie er zuerst verkrampfte, sich dann aber entspannte und sich zurücklehnte. Ich sah auf den im Bett liegenden Nico und dachte für einen Moment, er hätte sich bewegt. Ich musste mich aber getäuscht haben. Nico atmete weiterhin gleichmäßig ruhig.

„Was meinst du Justin, wollen wir gleich fahren? Du solltest auch mal an etwas anderes denken.“

Er sah zu mir auf und ich konnte seine Trauer und Angst in den Augen erkennen. Ich drückte ihn fest an mich, als plötzlich ein leises Husten zu hören war. Ich war irritiert, aber es war deutlich zu hören, Nico begann zu schlucken und zu husten. Ich drückte sofort den Knopf für die Schwestern. Justin wurde fast hysterisch. Er hatte Angst Nico könnte ersticken. Ich beruhigte ihn. Nach wenigen Augenblicken stand die Oberschwester im Raum und hatte den Doktor gleich mitgebracht. Sie baten uns für einen Moment hinauszugehen. Justin konnte das überhaupt nicht verstehen, aber ich konnte ihm erklären, dass es nicht so angenehm sei, wenn der Intubationsschlauch gezogen würde. Es schien tatsächlich so, dass Nico aus dem Koma erwachen würde. Die Zimmertür ging auf und die Oberschwester bat uns wieder hinein. Justin trat an das Bett seines Freundes und er sah in die Augen von Nico. Nico war wieder wach! Justin wusste nicht, was er tun sollte, ich nahm seine Hand und führte sie zu Nicos Hand, sie berührten sich und ein Lächeln kam auf Nicos Gesicht. Der Doktor schaute zu den beiden Jungs und ich wusste, er hatte begriffen was die beiden für eine Beziehung zueinander hatten.

Der Doktor gab mir ein Zeichen, ihm aus dem Zimmer zu folgen.

„Haben Sie das gewusst?“ fragte er mich.

„Was? Das die beiden ein Paar sind? Ja, seit heute.“

„Dann verstehe ich auch, warum Justin immer so lange bei seinem Freund gesessen hat. Er hat ihn nur zum Schlafen verlassen. Er hat Nico dabei sehr geholfen. Ich hoffe, er wird wieder ganz gesund. Wir müssen jetzt abwarten, wie gut Nico das Koma verkraftet hat.“

„Denken sie, dass es jetzt gut ist, wenn ich Justin mitnehme oder sollte er hier bleiben?“

„Nein, Sie sollten ihn mitnehmen. Nico muss sich langsam an die Situation gewöhnen. Sollte etwas Wichtiges passieren, werde ich Sie informieren. Kommen Sie morgen früh wieder, vielleicht hat sich bis dahin bei Nico schon etwas getan.“

„In Ordnung, ich glaube, dieses Fest in diesem Jahr werde ich so schnell nicht vergessen.“

„Ich bin mir sicher, das wird den beiden Jungs auch nicht anders gehen. Sagen Sie Justin bitte auch, dass er morgen zu Nicos Eltern darf. Sie haben schon nach ihm gefragt. Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut. Sie sind über den Berg, wie wir so sagen.“

„Das wird eine tolle Nachricht sein. Passend zum ersten Feiertag. Vielen Dank für ihre Zeit, wir kommen dann morgen wieder, und ihnen und ihrer Familie noch ruhige Feiertage.“

Damit trennten wir uns und ich ging wieder zu Justin und Nico. Justin hatte geweint, er versuchte mit Nico zu sprechen, aber Nico war noch nicht so weit.

„Justin, lass Nico etwas Zeit. Er kann noch nicht wieder sprechen. Das wird etwas dauern, bis alles wieder richtig funktioniert.“

Nicos Augen sahen mich dankbar an, es schien also, dass er mich verstanden hatte. Justin sah mich und er schmiegte sich an mich. Ich hielt ihn fest im Arm. Dann sagte ich ihm leise ins Ohr:

„Komm, der Arzt meinte, wir sollten Nico bis morgen nun ein wenig Ruhe geben. Wir kommen morgen früh wieder.“

Justin nickte nur traurig, aber er wehrte sich nicht dagegen. Er gab Nico noch einen Kuss und dann verließen wir das Zimmer.

Auf dem Weg zum Auto schwiegen wir. Erst, als wir fast beim Auto waren, sprudelte es aus ihm heraus.

„Was für ein Festtag! Nico ist wieder wach und er wird überleben. Jetzt muss er nur noch wieder gesund werden.“

Ich musste einfach lachen. Justin sah zu niedlich aus. Er freute sich wirklich wie ein kleines Kind, aber ich konnte es auch verstehen. Was für schreckliche Stunden hatte er verbracht. Als ich ihm noch erzählte, dass auch Nicos Eltern nach ihm gefragt hatten, weinte er vor Freude. Wir standen noch ein paar Minuten auf dem Parkplatz. Ich wollte ihn nicht loslassen, bis er sich wieder beruhigt hatte.

„Vielleicht wird es ja doch noch ein frohes Fest, was meinst du?“ fragte er mich, mit einem Lachen im Gesicht.

„Ja, wenn es so weiter geht, kann man es fast so sagen.“

Wir stiegen ein und ich hatte mir schon überlegt, wo wir am ersten Feiertag essen gehen konnten. Es gab bei uns in der Nähe ein exzellentes, bulgarisches Restaurant. Dort hatte ich uns einen Tisch reserviert. Wir hatten etwa zwanzig Minuten zu fahren.

Glücklicherweise hatte sich Bernd bereit erklärt, meine Bereitschaft zu übernehmen. Er meinte, dass ich hier mehr gebraucht würde. Ein toller Kollege, der einfach so an den Festtagen einspringt.

Am Tisch sitzend fragte mich Justin, ob mir das nicht alles zu viel würde. Immerhin kannten wir uns ja erst seit ein paar Stunden und es war ihm etwas unangenehm.

„Nein Justin, ich mache das gerne. Ich freue mich zu sehen, dass es dir und deinen Freunden besser geht und ihr euer Fest später feiern könnt.“

In diesem Moment bekam ich eine Nachricht auf mein Smartphone. Eine Email war eingegangen. Ich schaute nach und war erfreut. Sie kam von Justins Eltern. Sie fragten nach Justin und wie es Nico und seinen Eltern gehe. Außerdem teilten sie mit, dass sie einen Flug für den 27.12. bekommen hatten. Sie baten mich, sie um halb zehn morgens in Hannover abzuholen. Ich zeigte Justin die Mail und bat ihn, ihnen über mein Smartphone zu antworten. Er schrieb eine Antwort und ich schickte sie, selbstverständlich ohne sie zu lesen, ab.

Das Essen war hervorragend, und Justin hatte auch zum ersten Mal wieder richtig Appetit. Das war doch ein gutes Zeichen.

Eigentlich hatte ich die Idee, Justin noch die Feuerwehr zu zeigen, aber er machte einen sehr müden Eindruck. Ich konnte ihn aber auch verstehen. Die Anspannung der letzten Stunden forderte ihren Tribut. Wir fuhren auf direktem Weg nach Hause und so lag Justin sehr früh in meinem Gästezimmer im Bett. Ich wünschte ihm eine ruhige Nacht und es dauerte nicht lange, bis er tief und fest schlief.

Die Nacht verlief glücklicherweise vollkommen ruhig. Ich betrat um zehn Uhr morgens das Gästezimmer. Das Frühstück hatte ich bereits vorbereitet und wollte Justin jetzt wecken. Er lag ruhig schlafend in seinem Bett. Meine Gedanken kreisten um diesen Junge, Was hatte er hier in Deutschland schon alles erlebt? Hoffentlich würde alles ein gutes Ende finden. Ich setzte mich auf die Bettkante und streichelte sein Gesicht. Er öffnete die Augen und ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.

„Guten Morgen, Justin. Hast du gut geschlafen?“

„Ja, sehr gut. Fahren wir gleich ins Krankenhaus? Ich will wissen, ob Nico Fortschritte gemacht hat.“

Ich musste lachen. Typisch für den Jungen. Ich hätte es mir auch denken können, dass sein erster Gedanke, seinem Freund gelten würde.

„Erst wird gefrühstückt, dann bringe ich dich zu deinem Freund.“

So schnell konnte ich kaum gucken, wie er aus dem Bett hüpfte und im Bad verschwand. Ich grinste und ging zurück in die Küche.

Die Brötchen dufteten aus dem Ofen. Ich hatte außerdem zur Feier des Tages heiße Schokolade gemacht. Allerdings nicht die normale heiße Schokolade, sondern aus weißer Schokolade. Das war etwas Besonderes. Justin kannte das noch gar nicht und entsprechend misstrauisch schaute er auch drein, als ich ihm das anbot.

Untypisch für einen Amerikaner, wollte er es aber probieren. Erst nippte er nur vorsichtig an dem Becher. Einen Moment später grinste er.

„Hmm, das ist echt lecker. Kannst du das öfter machen?“

Ich lachte und erwiderte.

„Gern, aber das gibt es nur bei besonderen Anlässen.“

„Oh, das ist aber schade. Das ist echt cool.“

Wir hatten noch viel Spaß beim Frühstück. Justin schien vor Energie nur so zu sprühen. Der Gedanke, dass sein Freund auf dem Weg der Genesung war, schien Wunder zu bewirken.

Allerdings, auf dem Weg in das Klinikum wurde er auffallend still. Ich schaute immer wieder zu ihm hinüber. Sein Blick war starr nach vorne gerichtet.

„Hey, woran denkst du gerade?“

„Was? Hast du mich was gefragt?“

Ich musste lachen.

„Du warst wohl grade ganz weit weg, oder?“

Er wurde richtig rot. Er stammelte nur etwas Unverständliches vor sich hin und ich legte meinen Arm auf seine Schulter.

„Muss dir nicht peinlich sein. Ich kann dich schon verstehen. Es ist nicht schön, wenn der Freund schwer verletzt ist und man selbst kann nichts tun, außer bei ihm zu sein und zu warten.“

Er nickte stumm. Ich konnte mir vorstellen, was in seinem Kopf gerade vor sich ging. Ich stellte meinen Geländewagen auf dem Parkplatz ab und Justin schaute sich zum ersten Mal das Auto ganz genau an.

„Das ist ein echt schönes Auto. Aber der kostet bestimmt viel Geld. Bist du eigentlich reich? Ich weiß irgendwie nicht viel von dir? Was machst du eigentlich beruflich?“

Das war eine verständliche, aber auch unangenehme Frage. Wie sollte ich ihm das erklären. Ich entschied mich für die Wahrheit. Nachdem ich fertig war, lachte er mich an und meinte:

„Du bist echt cool. Ich kenne keinen Erwachsenen, der sich so um einen fremden Jungen kümmern würde. Das ist toll. Ich finde es nur schade, dass wir uns bald trennen müssen, wenn meine Eltern kommen. Mein Vater würde so etwas nie tun, wie du.“

„Warte es ab. Vielleicht ist er doch gar nicht so schlimm, wie du denkst.“

Während unseres Gespräches waren wir schon auf der Station angekommen. Die Schwester kam uns schon entgegen und Justin wurde doch recht ungeduldig. Ich ließ mir noch die neuesten Entwicklungen berichten und das hörte sich gar nicht so schlecht an. Justin war hingegen schon im Zimmer seines Freundes verschwunden.

Als ich das Zimmer betrat, saß Justin bereits bei seinem Freund händchenhaltend auf dem Bett. Allerdings, eines war anders als bisher. Nico saß aufrecht im Bett und konnte schon wieder ein paar Sätze sprechen. Justin war außer sich vor Freude, am liebsten hätte er vermutlich die ganze Welt umarmt. Ich freute mich für die beiden Jungs. Es wurde nun aber Zeit bei Nicos Eltern vorbeizuschauen.

„Hey Justin, kommst du mit zu Nicos Eltern? Nico kann im Rollstuhl auch mitkommen hat mir die Schwester eben noch gesagt.“

Beide Jungs bekamen große Augen. Justin hüpfte aus dem Bett und wollte schon losstürmen. Ich hielt ihn zurück und bat ihn noch einen Moment bei Nico zu bleiben. Ich verließ kurz das Zimmer, um einen Rollstuhl zu holen. Als ich damit wieder das Zimmer betrat, wurde Nico sehr ängstlich. Es war ihm wohl unangenehm, so durch die Gegend gefahren zu werden. Ich erklärte ihm die Lage und Justin brauchte auch nicht viel, seinen Freund davon zu überzeugen.

Der Besuch bei Nicos Eltern verlief sehr positiv. Auch sie waren wieder bei Bewusstsein und auf dem Wege der Besserung. Allerdings würden sie noch etwas länger im Klinikum bleiben müssen. Für Nico war das eine ganz besondere Begegnung. Ich konnte sofort spüren wie erleichtert er war, zu sehen, dass es seinen Eltern auch wieder besser ging. Es schien sich alles zum Guten zu wenden. Jetzt stand nur noch der kritische Besuch von Justins Eltern an. Dann würde wieder Normalität in mein Leben kommen.

Diese Feiertage würde ich jedenfalls nicht so schnell vergessen.

Justin schien sich gar nicht mehr von seinem Freund trennen zu wollen. Dennoch mussten wir wieder gehen. Nico sollte sich noch etwas ausruhen und Kraft tanken können. Der Besuch hatte ihn doch sehr angestrengt, aber beide Jungs sahen sehr glücklich aus. Was für ein Wunder, wenn man so verliebt ist, wie die beiden. Ich grinste vor mich hin, aber Justin hatte es bemerkt.

„Sag mal, warum grinst du so? Lachst du mich aus?“

Ich zuckte etwas zusammen, fühlte mich ertappt.

„Nein Justin, ich finde es einfach nur süß, wie ihr beiden miteinander umgeht. Was muss Liebe schön sein.“

Dabei wuschelte ich ihm durch seine Haare und wir beiden lachten laut.

„Was hältst du eigentlich davon, wenn wir uns jetzt mal unsere Feuerwehr ansehen?“

„Heute? Es ist doch Feiertag, können wir da denn so einfach hinfahren?“

„Klar, ich habe doch die Schlüssel für das Gerätehaus.“

„Cool, darf ich dann auch mal in ein rotes Auto einsteigen? Ich habe noch nie in einem Feuerwehrauto gesessen.“

Ich lachte ihn an und nickte nur.

„Das bekommen wir wohl auch noch hin.“

Ich fuhr also nicht nach Hause, sondern an unserem Gerätehaus vom Löschzug vorbei. Justin staunte über die ganzen Geräte, die wir auf den Autos hatten. So nah war er noch nie diesen Geräten gekommen. Irgendwann stand er vor unserem HLF 20 und schaute ganz verträumt auf den Fahrersitz.

„Was ist? Möchtest du da mal sitzen?“

Er nickte.

„Na dann mal rauf mit dir.“

Er kletterte die drei kleinen Stufen hinauf und saß, stolz wie Oskar, hinter dem Lenkrad des großen HLFs. Ich machte noch schnell ein paar Bilder mit dem Handy und dann hatte er den Knopf für das Blaulicht gefunden. Er bekam ganz glänzende Augen.

Ganz leise sagte er:

„Große rote Autos mit vielen blauen Lichtern.“

Ich wusste erst nicht, was er gemeint hatte, aber dann sah ich, dass Tränen über sein Gesicht liefen. Die Erinnerungen an den Unfall kamen wieder hoch, die Bilder aus der Dunkelheit waren wieder da. Ich hob ihn aus dem Führerhaus und schaltete dann das Blaulicht wieder ab. Als wir beide wieder nebeneinander auf dem Boden standen, nahm ich ihn in die Arme. Er beruhigte sich schnell wieder.

„Es tut mir leid, ich hatte diese Bilder wieder gesehen. Ich wollte das nicht, aber sie kamen einfach so.“

„Das ist vollkommen in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, das kann dir noch häufiger passieren. Aber mit der Zeit wird das besser werden. Also kein Grund, sich zu entschuldigen. Alles in Ordnung.“

Nachdem wir noch eine Cola getrunken hatten, fuhren wir zu mir nach Hause. Wir spielten noch eine Runde „Uno“ und „Die Siedler“, dann konnte ich spüren, dass Justin müde wurde. Ich schickte ihn noch duschen und dann ins Bett.

Er war sehr schnell eingeschlafen und damit hatte ich einen Moment Zeit über die letzten drei Tage nachzudenken. Eigentlich war das fast schon reif für einen Film, was ich hier erlebte. Auf jeden Fall sollte ich das mal aufschreiben. Vielleicht wäre das eine Story für NiSt Storys, wer weiß.

Morgen stand die Begegnung mit Justins Eltern an. Was würde mich dort erwarten. Hoffentlich würden sie die ganze Situation gut aufnehmen. Am Telefon machte der Vater eigentlich einen sehr netten und besorgten Eindruck. Ich wünschte es den Jungs jedenfalls sehr, dass ihre Liebe hier nicht zerstört würde.

Heute war also der Tag der Wahrheit gekommen. Justin hatte sehr unruhig geschlafen und ich musste zweimal in der Nacht aufstehen, weil er geweint hatte. Er machte sich große Sorgen über die Begegnung mit seinen Eltern.

Das Frühstück verlief nicht sonderlich fröhlich und mittlerweile waren wir seit einer halben Stunde auf dem Weg nach Hannover zum Flughafen. Es waren noch ungefähr zehn Minuten bis zum Flughafen. Justin war schon einige Minuten völlig still. Seine Hand lag auf der Armlehne zwischen uns. Ich legte meine Hand darauf und er griff zu. Er wollte sie gar nicht mehr loslassen.

Das Parken und der Weg zum Gate wurden für Justin zur Qual. Einerseits freute er sich auf seine Eltern, andererseits hatte er Angst vor dem, was kommen würde. Ich versuchte immer in seiner Nähe zu bleiben und ihm Sicherheit zu geben. Dann war die Maschine aus New York gelandet und er konnte seine Nervosität kaum noch kontrollieren. Als er seine Eltern kommen sah, gab es kein Halten mehr. Er rannte auf sie zu und es wurde eine tolle Begrüßung. Ich hielt mich im Hintergrund, um sowohl den Eltern als auch Justin genug Raum für ihr unplanmäßiges Wiedersehen zu lassen. Der Vater, ich schätzte ihn auf etwa vierzig, hatte mich irgendwann gesehen und kam auf mich zu. Er gab mir die Hand und stellte sich vor. Er entschuldigte sich, dass sein Deutsch sehr schlecht sei. Da ich ein gutes Englisch sprach, sollte das kein Problem sein. Justin stellte mir seine Mutter vor. Er hatte bereits beiden kurz erklärt, dass er die letzten Tage bei mir gewohnt hatte. Seiner Mutter war das unangenehm und sie wollte mir diesen Aufwand mit Geld entschädigen. Das lehnte ich kategorisch ab. Nach ein paar Minuten des small talks, schlug ich vor zum Auto zu gehen, um dann den Heimweg anzutreten. Ich hatte für die Eltern ein Hotelzimmer in meinem Ort reserviert. Es gab dort das Hotel Freihof, ein vier Sterne Hotel, dessen Inhaber ich sehr gut kannte. Hier würden sich die Eltern sicherlich wohl fühlen und sich vom Flug erholen können.

Auf der Rückfahrt begann Justin von den Ereignissen zu berichten. Seine Mutter, die neben ihm hinten saß, unterbrach ihn immer wieder, um etwas zu fragen. Der Vater hörte mehr schweigend zu. Justin erzählte seine Ängste und alles was er erlebt hatte, an den Tagen des Festes. Immer wieder schaute der Vater zu mir hinüber. Er schien zu ahnen, dass ich eine besondere Rolle für seinen Sohn hatte. Ich brachte die Eltern zum Hotel und Justin sollte eigentlich bei ihnen bleiben. Er sollte jetzt wieder in seiner Familie sein. Ich hatte eigentlich meine Aufgabe erfüllt, bis auf die Tatsache, dass Justin eben auch schwul war und Nico sein Freund war.

Der Vater bedankte sich sehr herzlich für meine Hilfe und dass ich ihren Sohn so nett und selbstverständlich aufgenommen hatte. Ich erklärte, dass es für mich selbstverständlich gewesen war. Ich war Feuerwehrmann, da gehörte so etwas als Selbstverständlichkeit dazu.

Ich verabschiedete mich mit der Verabredung zum gemeinsamen Mittagessen im Hotel. Darauf hatten die Eltern bestanden. Justin war sichtlich traurig, dass ich jetzt ohne ihn fahren würde. Ich umarmte ihn noch einmal und versprach ihm, immer für ihn erreichbar zu sein. Dem Vater gab ich meine Visitenkarte und fuhr erst einmal nach Hause.

Ich brauchte etwas Abstand, um das Ganze zu verarbeiten. Ich musste mir eingestehen, dass mir Justin ans Herz gewachsen war. Auch diese ganze Fügung war schon etwas strange. Aber jetzt schien alles wieder in die Reihe zu kommen. Ich machte es mir gemütlich mit einem frischen grünen Tee. Ich nahm vor meinem PC Platz und stellte fest, dass ich in den letzten Tagen absolut gar nichts mitbekommen hatte. Es waren über zwanzig Emails eingegangen, ausschließlich mit guten Festtagswünschen. Oh mein Gott, da wurde mir so richtig bewusst, was für ein außergewöhnliches Fest es in diesem Jahr gewesen war.

Plötzlich klingelte es an meiner Haustür. Ich erwartete keinen Besuch und ging neugierig zur Tür. Als ich die Tür öffnete, blieb mir für eine Sekunde das Herz stehen. Vor mir stand Justins Vater mit Justin im Arm. Der Junge sah ziemlich verstört aus, ich hatte eine Ahnung was passiert war. Ich bat beide hinein.

Der Vater begann mir zu erklären was passiert war.

„Wissen sie, ich kenne meinen Sohn schon sehr gut. Immerhin leben wir bereits seit fünfzehn Jahren zusammen.“

Der Mann hatte Humor, ich war echt erstaunt. Nachdem was Justin mir erzählt hatte, passte das überhaupt nicht in mein Bild.

Er fuhr dann mit den Worten fort:

„Alles was Justin erlebt hat, ist sicherlich sehr tragisch, aber er hatte auch unglaubliches Glück, in dem er Sie kennengelernt hat. Was Sie für unseren Jungen und Nicos Familie getan haben, ist außergewöhnlich. Dennoch habe ich das Gefühl, Justin hat uns etwas verschwiegen. Und ich glaube, Sie wissen davon. Ich möchte Sie bitten, sagen Sie mir die Wahrheit. Justin weigert sich, mir zu sagen, was zwischen Nico und ihm passiert ist. Er ist förmlich in Panik geraten, als wir ihm sagten, dass wir ihn mit zurück in die USA nehmen wollen.“

Ich sah dem Vater in die Augen und wusste, er hatte es erkannt. Aber er wollte es eigentlich von seinem Sohn hören, der verweigerte aber seinem Vater die Wahrheit. Warum?

„Ich kann es ihnen nicht sagen, ich habe es Justin versprochen. Er soll es ihnen selbst sagen. Lassen sie mich einen Moment mit Justin allein. Ich glaube, dann wird er es ihnen sagen können.“

Ich nahm den Jungen und wir gingen kurz in den Garten. Er schaute mich ängstlich an.

„Justin, warum sagst du es deinem Vater nicht? Ich bin mir ganz sicher, er wird dir nicht böse sein und dich verstehen. Ich habe ein sehr gutes Gefühl, das was für ihn wichtig ist, ist, dass du ihm vertraust und dass du ihn nicht anlügst. Ich bitte dich, sag es ihm, ich bleibe auch so lange bei dir.“

Tränen liefen über sein Gesicht. Er schien verzweifelt.

„Ich…“, schluchzte er, „will Nico noch nicht allein zurücklassen. Er braucht mich noch.“

„Dann sag es deinem Vater, auch dass er dein Freund ist und ihr euch liebt. Er wird es verstehen und wir können gemeinsam nach einer Lösung suchen.“

„Du glaubst, er wird mich verstehen?“

„Ja, absolut, Justin. Ich habe ein sehr gutes Gefühl dabei.“

Er nahm mich an die Hand und wir gingen zurück ins Haus. Sein Vater sah uns erwartungsvoll an. Es lag eine große Spannung in der Luft. Justin holte noch einmal tief Luft.

„Papa, ich möchte dir was sagen, aber ich habe Angst, dass du mich dann nicht mehr so magst wie vorher.“

Der Vater schaute verwirrt. Er schien das überhaupt nicht zu verstehen. Dann schien er plötzlich zu begreifen. Er nahm seinen Sohn in die Arme und sprach folgenden Satz.

„Justin, ich glaube, ich habe es jetzt verstanden. Nico ist nicht nur ein Freund für dich. Er ist dein Freund. Du bist in ihn verliebt, habe ich Recht?“

Justin konnte nichts mehr sagen, er nickte nur und seine Tränen liefen über die Wangen. Sein Vater nahm ihn wortlos in die Arme und hielt ihn ganz fest.

Epilog:

Nach diesem verrückten Fest, bleibt nur noch zu erwähnen, dass ich von Justin im Sommer des folgenden Jahres eine Einladung bekam, das nächste Fest gemeinsam mit ihm, seinem Freund und den wieder genesenen Eltern in New York zu verbringen. Das taten wir auch. Bis heute haben wir noch immer einen guten Kontakt.

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