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Lucien

Teil 6

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Inhaltsverzeichnis

Luc: Tag der Wahrheit

Die Nacht war nicht besonders gut und auch der Morgen begann nicht sonderlich erfolgversprechend. Ich hatte sehr unruhig geschlafen und mein Kopf dröhnte. Seit langer Zeit hatte ich mal wieder starke Kopfschmerzen. Es half nichts, ich musste aufstehen, um zur Schule zu gehen. Leider konnte ich nicht mit Papa und Mario in die Klinik fahren. Aus der Dusche kommend, fühlte ich mich etwas besser. Zehn Minuten später betrat ich unsere Küche. Erstaunlicherweise saßen Mama und Papa bereits dort und schauten mich lächelnd an.

„Guten Morgen Luc, so wie du aussiehst, spare ich mir die Frage, ob du gut geschlafen hast.“

„Hmm, grrrr“, grummelte ich beiden zurück. Sie ließen mich deshalb vorerst in Ruhe und ich nahm mir meinen heißen Kakao, schmierte mir ein Brötchen und saß schweigend am Tisch. Leif betrat genauso gut gelaunt die Küche und setzte sich neben mich.

Nachdem ich mein erstes Brötchen vertilgt hatte, stieg meine Laune langsam und Papa fragte:

„Na, langsam wach? Luc, wie lange hast du heute Schule?“

Ich musste einen Moment überlegen.

„Bis halb zwei, also bin ich so kurz nach zwei zu Hause. Wirst du dann schon wieder zurück sein?“

„Also das denke ich doch wohl. Soll ich Stefan irgendetwas ausrichten?“

„Schöne Grüße und dass ich ihn vermisse. Frag bitte den Arzt, ob ich ihn heute vielleicht auch etwas länger besuchen darf.“

Mama musste lachen. Selbst Leif schien es zu amüsieren, denn er lächelte mich an, als er sagte:

„Du wirst ihn schon noch lange genug zu sehen bekommen. Er kann ja nicht weg.“

Ich fand diese Bemerkung überflüssig und bösartig. Ich wollte schon etwas erwidern, aber Papa kam mir zuvor.

„Leif, lass diese blöden Sprüche. Sie sind in der jetzigen Situation überflüssig.“

Leif schaute recht überrascht ob der deutlichen Worte von Papa. Die Zeit war fortgeschritten und ich musste aufbrechen. Leif hatte es ja nicht ganz so weit zum Internat. Ich verabschiedete mich von meinen Eltern und verließ die Küche, um mich anzuziehen, meine Schultasche zu nehmen und mein Rad zu holen. Als ich in den Keller gehen wollte, stand Papa auf dem Flur und verkündete:

„Luc, ich bringe dich heute in die Schule. Vielleicht ist das besser. Du machst keinen besonders guten Eindruck. Ich möchte nicht, dass du noch einen Unfall hast.“

Ich nickte wortlos und folgte ihm in die Garage. Auf dem Weg zur Schule sprachen wir nicht viel. Erst als wir schon auf dem Parkplatz an der Schule standen, sagte Papa zu mir:

„Ich werde schon auf deinen Freund aufpassen und dafür sorgen, dass du ihn so schnell wie möglich wieder länger sehen kannst. Ich verstehe deine Sorgen, aber du musst den Ärzten vertrauen. Und sag einmal, wissen die Ärzte eigentlich, dass du der Partner von Stefan bist?“

Ich seufzte.

„Nein, ich glaube, nur die eine Schwester hatte es mitbekommen, als er nach dem Kollaps eingeliefert wurde.“

„Darf ich es dem behandelnden Arzt mitteilen, dass du Stefans Freund bist und es daher vielleicht sinnvoll wäre, wenn du mehr Zeit bei ihm sein darfst?“

Ich schaute zu Papa und war mir sehr unsicher. Sollte ich es dort offen legen?

„Wenn du glaubst, es sei sinnvoll, kannst du das machen.“

„Danke, Luc. Ich freue mich, dass du meine Ansichten teilst. So werde ich das machen. Dann sehen wir weiter. So, du musst los. Denk nicht so viel an Stefan und Mario. Wir werden das schon hinbekommen. Ich werde versuchen, dass du heute noch zu Stefan kannst, ok?“

Es war wieder so typisch. Papa hatte mich in seine Richtung gebracht, ohne dass ich das überhaupt bemerkt hatte. Ich musste lachen. Es fühlte sich toll an, so einen Vater zu haben, der immer voll hinter uns Kindern stand. Und zwar wirklich hinter uns allen. Egal ob Mick, Lukas, Leif oder mir.

Ich bedankte mich mit einer Umarmung und stieg aus dem Ferrari aus. Meine Kopfschmerzen waren auch so gut wie verschwunden, wie ich nach dem Aussteigen feststellte.

Auf dem Weg ins Gebäude lief mir Nico über den Weg. Er war wie immer schon bestens gelaunt. Ein wahrer Morgenmensch.

„Moin, Luc. Na, wie war dein Wochenende? Hast du mit Stefan ein schönes Wochenende gehabt?“

„Nein, nicht wirklich. Nach dem Kartfahren haben sich die Ereignisse ein wenig überschlagen.“

Wir hatten nicht mehr viel Zeit bis zum Unterrichtsbeginn und somit gab ich ihm nur eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. Als ich fertig war, schaute er mich mit großen Augen an.

„Boah, das ist aber eine heftige Nummer. Und wie geht es Stefan jetzt?“

„Ich kann es nicht genau sagen, ich habe ihn immer nur maximal eine Stunde sehen können. Mario und Papa fahren heute Morgen in die Klinik. Dann werden wir sehen.“

Was ich jetzt richtig toll fand, Nico nahm mich einfach in den Arm und spendete mir Trost. Nicht nur das, er baute mich auch wieder auf. Er schaffte es, mir Mut zu machen und somit konnte ich auch recht gut gelaunt in den Unterricht gehen.

Was ich vollkommen vergessen hatte, morgen würden wir ja den Ausflug in die Berge zum Skilaufen machen. Das war natürlich das zentrale Thema im Unterricht. Es wurde besprochen, wann wir uns am Bus treffen sollten und was wir mitnehmen mussten. Es war doch recht viel, was wir zu beachten hatten und ich hatte dadurch keine Gelegenheit, viel an Stef und Mario zu denken. Als mich Nico in der zweiten großen Pause fragte, ob ich denn am nächsten Tag mitfahren würde, kamen mir Zweifel. Sollte ich wirklich mitfahren oder lieber bei Stef im Krankenhaus bleiben. Allerdings war es für mich, seit meiner Leukämieerkrankung, die erste Möglichkeit, wieder auf Skiern zu stehen. Das wollte ich mir auch nicht entgehen lassen.

„Ich werde mitfahren. Jetzt habe ich Mama endlich mit Marcs Hilfe überzeugt, dass ich es versuchen darf, da werde ich nicht drauf verzichten.“

Nico strahlte mich an.

„Cool, eine gute Entscheidung. Stefan ist bestimmt damit einverstanden.“

„Ich weiß es nicht, aber ich hätte eh nicht den ganzen Tag bei ihm sein dürfen. Mario ist ja seit gestern auch hier. Von daher werde ich wohl mitfahren.“

„Ich glaube auch, deine Eltern würden dir in den Hintern treten, wenn du jetzt nicht mitfährst.“

Dabei mussten wir beide lachen. Ich ergänzte allerdings noch:

„Ach, Mama wäre bestimmt nicht böse, wenn ich hierbleibe, aber Papa würde mir richtig in den Arsch treten. Da hast du schon recht.“

Nachdem alle Dinge für den morgigen Tag besprochen waren, verlief der Unterricht wieder normal und recht langweilig. Ich hatte von Papa leider noch keine Antwort bekommen auf meine Nachricht, die ich ihm in der letzten Pause des Tages geschickt hatte. In der letzten Unterrichtsstunde wurde ich doch ein wenig unruhig. Meine Gedanken wanderten immer häufiger in die Klinik zu Stef. Nico bewahrte mich einige Male davor, dass es aufgefallen wäre. Nachdem der Unterricht zu Ende war, bedankte ich mich bei ihm für seine Unterstützung. Er lachte und bat mich nur, Stef seine besten Grüße auszurichten. Dann verabschiedeten wir uns und ich versprach, sie auszurichten.

Ich kam aus dem Schulgebäude und jetzt erst fiel mir ein, dass ich gar kein Fahrrad dabei hatte. Ich musste also mit dem Bus zurückfahren. Zuerst schaute ich allerdings noch einmal auf mein Handy, ob Papa mir geantwortet hatte. Leider keine Antwort. Das machte mich doch etwas unruhig. Ich steckte das Handy wieder ein und schaute mich um. Ich stutzte, da stand doch Papas Ferrari auf dem Parkplatz. Was sollte das denn? Ich ging völlig verwirrt in Richtung des Autos und wurde noch verwirrter. Das Auto war leer und abgeschlossen. Was sollte das denn jetzt?

Ich beschloss einen Moment zu warten. Auch wenn ich jetzt den Bus verpassen würde. Dann würde ich eben den nächsten nehmen. Ich setzte mich auf die vordere Haube und wartete in der Sonne auf die Dinge, die jetzt kommen würden. Irgendwie konnte ich das nicht einordnen. Plötzlich hörte ich jemanden meinen Namen rufen.

„Luc! Luc, hallo“

Ich schaute irritiert umher. Konnte noch keinen erkennen, weil mich die Sonne blendete. Allerdings war es definitiv nicht Papas Stimme. Plötzlich erkannte ich die Person. Mario kam auf mich zu gelaufen. Etwas außer Atem blieb er vor mir stehen.

„Hi Luc, ich hatte vor dem Eingang auf dich gewartet. Wir haben uns wohl verpasst, sorry.“

„Was machst du denn hier? Und wo hast du Papa gelassen?“

Er musste jetzt lachen, das sah echt lustig aus. Mario hatte in letzter Zeit nicht oft so offen gelacht.

„Der ist schon zu Hause und werkelt in der Werkstatt. Er hat dort einiges zu tun.“

Ich überlegte einen Moment, aber konnte das wirklich sein. Papa hatte Mario seinen Ferrari gegeben? Das konnte ich eigentlich nicht glauben.

„Jetzt sag nicht, er hat dir seinen geheiligten Ferrari gegeben. Das kann ich ja gar nicht glauben.“

Mario schaute mich an und grinste. Er holte etwas aus seiner Jackentasche und hielt es mir vor die Nase. Den Autoschlüssel.

„Ok, das überzeugt mich. Dann lass uns nach Hause fahren. Ich habe nämlich Hunger. Außerdem möchte ich wissen, was ihr in der Klinik erreicht habt.“

„Nein, wir fahren nicht nach Hause. Wir fahren woanders hin. Das wird dir bestimmt viel besser gefallen. Los, steig ein.“

Ratlos stieg ich ein. Mario startete den Motor und wir fuhren vom Parkplatz. Er konnte wirklich sehr gut mit dem Auto umgehen. Nach wenigen Minuten waren wir aus dem Stadtbereich heraus auf der Landstraße. Die Sonne schien und Mario bog auf einen kleinen Parkplatz ab und öffnete das Dach. Er strahlte richtig. Ich wusste überhaupt nicht, was hier ablief. Als das Dach offen war, meinte Mario:

„Sorry, Luc, es soll eine Überraschung werden. Wir sind gleich da.“

Er zog an der rechten Schaltwippe und legte den ersten Gang ein. Nach etwa fünf Minuten standen wir vor einem kleinen griechischen Restaurant. Er stellte den Motor ab und das Dach schloss sich nahezu geräuschlos. Ich öffnete die Tür und Mario schaute mich an.

„Luc, ich wollte mich bei dir bedanken und Marc war der Meinung, die größte Freude für dich, wäre ein ausgiebiger Besuch bei Stef. Aber zuvor lade ich dich zum Essen ein. Los komm.“

Jetzt machte meine Laune einen Sprung nach oben. Meinte er das ernst, Papa hatte ihm seinen Ferrari gegeben, damit wir Stef besuchen konnten. Das musste ich meinem Papa echt lassen, er konnte mich immer noch überraschen.

Wir betraten das Lokal und bekamen einen sehr schönen Tisch für zwei Personen. Der Kellner kam und brachte uns die Karten. Nachdem wir unsere Getränke bestellt hatten und ich recht schnell mein Essen gewählt hatte, beobachtete ich Mario. Er bemerkte meinen Blick nicht, bis er auch die Karte an die Seite legte.

„Na, Luc. Was schaust du mich so prüfend an?“

„Ich bin einfach gespannt, was habt ihr in der Klinik erreicht? Außerdem bin ich immer noch total ungläubig, dass Papa dir seinen Ferrari gegeben hat.“

„Ja, ich war auch sehr überrascht, aber er hatte es mir einfach angeboten. Sollte ich da nein sagen? Vor allem, weil ich mit dir zu Stef fahren wollte. Ich werde ab übermorgen mit Stef gemeinsam eine Therapie beginnen. Sie haben in der Klinik einen Psychotherapeuten, der mit uns arbeiten wird. Der Arzt hat das heute Morgen vorgeschlagen und ich war sofort einverstanden. Das heißt also, ich bleibe heute und morgen noch bei euch und ziehe dann in die Klinik mit Stef in den Therapiebereich. Dort gibt es kleine Appartements für Familien.“

Mario war fast euphorisch, das wunderte mich doch ein wenig. Er war sonst immer so zweifelnd und negativ eingestellt.

„Du hörst dich an, als ob du dich richtig darauf freuen würdest. Wie geht es Stef, ist er auch damit einverstanden?“

„Es geht ihm schon viel besser, aber das wirst du gleich selbst bemerken. Ja, er freut sich darauf. Heute Morgen war er sehr froh, dass ich hergekommen bin und das mit ihm zusammen machen will.“

Dies war für mich die schönste Nachricht des Tages. Beide waren sich einig, dass sie ihre Situation aufarbeiten wollten. Mittlerweile bekamen wir unser Essen und damit unterbrachen wir unser Gespräch. Allerdings stieg meine Vorfreude auf das Wiedersehen mit Stef und Mario war auch sehr gelöst. Ich freute mich für beide.

Eine halbe Stunde später saßen wir wieder im offenen Ferrari und näherten uns der Klinik. Mario hatte mir die ganze Zeit von einigen schönen Erlebnissen aus seiner Kindheit erzählt, bis zu dem Moment, wo er auf den aktuellen Stand kam.

„Luc, dein Vater hat dem Arzt heute Morgen erzählt, dass du der Freund von Stef bist. Stef weiß davon offiziell noch nichts, aber das ist auch der Grund, weshalb der Arzt sofort die Erlaubnis gab, dass du Stef besuchen darfst. Es gibt nur einen Haken an der Sache.“

„Welchen?“

„Nun, er hat es zur Bedingung gemacht, dass du an einzelnen Therapiestunden teilnimmst. Er sagte, dass es ganz wichtig sei, wenn der Partner oder die Partnerin an dieser Therapie teilnimmt.“

„Aha, aber wir sind doch beide noch sehr jung. Soll das dennoch so sein?“

„Ich glaube, das wird dir der Arzt am besten selbst erklären. Wir haben nämlich gleich einen Termin bei ihm. Das heißt, du hast den Termin, ich werde derweil schon bei Stef sein. Du kommst dann später dazu.“

In diesem Moment stellte Mario das Auto auf den Parkplatz und schloss das Dach.

Bei mit stellte sich Nervosität ein, ich war mir nicht sicher, wie ich mich dem Arzt gegenüber verhalten sollte. Ich hatte etwas Angst, mein Verhalten könnte einen Einfluss auf den zukünftigen Umgang mit Stef haben. Ich hatte mir allerdings vorgenommen, mich so zu verhalten, wie ich das immer tun würde.

„Also du wirst nicht bei dem Gespräch mit dem Arzt dabei sein?“

„Nein, er möchte mit dir allein sprechen, aber ich kann dich beruhigen. Ich finde ihn sehr nett und ich glaube, er hat keine Probleme damit, dass ihr zusammen seid. Du wirst das schon merken. Ich finde ihn sehr nett.“

Das beruhigte mich ein wenig, dennoch wuchs meine Anspannung. Gleich würde sich einiges für die Zukunft entscheiden, glaubte ich zumindest.

Mario und ich waren auf dem Weg zu einem Nebengebäude der Klinik. Dort waren einige Bungalows mit vielen bunten Figuren in den Fenstern. Zwischen den Gebäuden war ein großer Spielplatz, auf dem einige Kinder mit ihren Müttern und Vätern spielten. Wir gingen auf einen der etwas zurückliegenden Bungalows zu und kamen an einem großen Schild vorbei. Dort stand etwas von Traumazentrum, ich staunte über die Größe des gesamten Bereiches. Mario ging voraus und wir kamen an eine Art Anmeldung. Mario nannte unsere Namen und dass wir einen Termin mit dem Arzt hatten. Die Dame bat uns einen Moment zu warten. Ich schaute mich ein wenig um, die Räume waren lichtdurchflutet und mit einer hellen Sitzgruppe ausgestattet. Dort nahmen wir Platz. Nach einigen Minuten kam ein junger, sportlicher Mann in Jeans und Pullover zu uns.

„Hallo, Mario, ist das Lucien?“

Dabei gab er uns beiden die Hand und ich stellte mich kurz vor.

„Hallo, ich bin Lucien Maergener. Sie sind der Arzt von Stef?“

„Ja, ich bin Dr. Henns. Aber den Doktor lassen wir hier in der Einrichtung weg. Du kannst Heiko zu mir sagen. Das vereinfacht hier vieles.“

Das verblüffte mich doch total. Der Mann war noch keine dreißig. Mario grinste mich an und jetzt verstand ich auch, was er vorhin zu mir gemeint hatte.

„Ah ok, und Sie wollten mit mir sprechen?“

„Ja, das ist richtig. Mario, gehst du schon mal zu Stefan, er wartet glaube ich schon auf dich.“

Mario verabschiedete sich kurz und meinte nur zum Schluss noch:

„Luc, wir sehen uns gleich wieder. Keine Sorge, das wird schon gut werden.“

Danach ging er in den Wohnbereich hinein und verschwand in einem langen Gang. Ich stand mit dem Doktor noch in der Wartehalle. Er bat mich, mit ihm zu kommen. Wir gingen in einen anderen Gang. Das schien der Therapiebereich zu sein. Hier waren Schilder an den Türen, wo unter anderem 'Kunsttherapie' oder 'Einzelgespräche' draufstand. Er öffnete eine Tür und ich betrat einen sehr gemütlichen Raum. Dort stand zwar auch ein Schreibtisch, aber er bat mich, direkt in der Sitzgruppe Platz zu nehmen. Er bot mir etwas zu trinken an, und nachdem er zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf den Tisch gestellt hatte, nahm er ebenfalls in einem der Sessel Platz.

Er fragte mich zuerst nach meinen persönlichen Dingen. Also, wie lange ich Stef schon kannte und wie wir uns kennengelernt hatten. Also nichts, was für mich mit der Situation zu tun hatte. Irgendwann trat eine kleine Pause ein. Ich füllte mir etwas Wasser nach und fragte ihn, ob er auch noch etwas haben mochte. Dabei beobachtete er mich sehr genau.

„Sag mal, dein Vater ist eine berühmte Persönlichkeit und du bist der Freund von einem Jungen, der, entschuldige bitte, vom anderen Ende der Gesellschaft kommt. Ich wundere mich wirklich, wie sehr du dich um deinen Freund bemühst. Mario hatte mir schon viel von euch erzählt, aber deine Art mit Menschen umzugehen, ist sehr beeindruckend. Du magst Stefan sehr, oder?“

Mir wurde bewusst, jetzt wurde es ernst.

„Ja, ich mag ihn. Wir haben uns mittlerweile sehr gut kennengelernt und ich vermisse ihn momentan. Ich würde ihn gerne auch hier besuchen dürfen und mit ihm Zeit verbringen.“

Der Arzt begann zu lächeln.

„Bist du sein Freund? Ich meine, Stefan hat mir schon viel über dich erzählt und er vermisst dich genauso. Ich möchte dich etwas fragen.“

„Ja.“

„Liebst du Stefan wirklich auch genauso, wie er dich liebt? Du hast ganz andere Möglichkeiten und hast doch sicher auch viele andere Freunde. Ihr gehört zu den wohlhabendsten Familien in der Schweiz. Warum nimmst du dir ausgerechnet einen Jungen zum Freund, der sogar auf den Strich gegangen ist?“

Ich dachte, ich höre nicht richtig. Was sollte das denn jetzt. Ich wurde richtig wütend.

„Was soll diese unsinnige Bemerkung? Es ist mir vollkommen egal, wo er herkommt. Er ist mein Freund, weil wir uns mögen und gut verstehen. Meinen Sie, ich hätte mich um ihn so gekümmert, wenn er mir egal wäre? Stef ist mein Freund, und wenn Ihnen das nicht passt, wird das an unserer Liebe nichts, aber auch gar nichts ändern. Ich stelle mir nur gerade die Frage, ob Stef hier in der richtigen Klinik ist.“

Nachdem ich damit fertig war, stand ich auf und wollte gehen. Heiko schaute mir ganz ruhig zu und zeigte keinerlei Reaktion. Er folgte jeder meiner Bewegungen mit den Augen. Erst als ich das Zimmer verlassen wollte, hörte ich seine Stimme.

„Lucien, warte bitte.“

Ich drehte mich wieder um und sah ihm wütend in die Augen.

„Setz dich bitte wieder. Es tut mir leid, aber ich wollte deine Reaktion testen.“

Ich war stinksauer auf ihn, so mit meinen Gefühlen zu spielen. Allerdings wollte ich, dass es Stef besser gehen sollte. Also setzte ich mich wieder auf die Couch.

Dann begann eigentlich erst das richtige Gespräch. Der Doktor erklärte mir die Gründe, warum er mich so provoziert hatte und es entwickelte sich ein sehr gutes und für mich auch sehr lehrreiches Gespräch. Nach einer weiteren dreiviertel Stunde waren wir uns deutlich näher gekommen. Ich hatte viel gelernt und auch begriffen, was eigentlich Stefs Problem war. Dafür war es eben wichtig, dass Stef sich vollkommen auf mich verlassen konnte. Das wollte Heiko mit mir testen. Zum Ende unseres Gespräches meinte der Arzt zu mir:

„Lucien, ich bin wirklich beeindruckt. Ich habe noch nicht viele Fünfzehnjährige kennengelernt, die so vollkommen hinter ihren Freunden stehen wie du. Ich weiß jetzt, du bist eine ganz wichtige Stütze für Stefan. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit dir und deiner Familie. Dein Vater hatte heute Morgen absolut Recht. Du bist ein toller Junge.“

Dann standen wir auf und er streckte mir seine Hand entgegen. Ich nahm sie und damit war dieser Termin beendet. Ich durfte ab sofort Stef immer besuchen. Nur musste ich mich vorher anmelden und beim Verlassen der Station wieder abmelden. Sollten wichtige Behandlungen anstehen, würde Stef mir das vorher sagen können. Ich hatte mein Ziel erreicht. Ich konnte wieder viel Zeit mit meinem Freund verbringen. Der einzige Haken war, wenn es erforderlich war, sollte ich an einzelnen Therapiegesprächen teilnehmen. Für mich war das aber von vornherein klar.

Wir verließen das Besprechungszimmer und er begleitete mich in den Wohnbereich. Dort stellte er mich dem Personal vor und dann konnte ich endlich zu Stef gehen. Ich klopfte an die Tür und nach seinem „Herein“ betrat ich sein kleines Appartement. Ich staunte über die gemütliche Einrichtung. Das hatte gar nichts von einer Klinik, wie ich es bislang kennengelernt hatte. Stef und ich standen uns für einen Moment wortlos gegenüber. Mario saß im Sessel in der Sitzgruppe.

„Luc, endlich“, platzte es aus Stef heraus. Er fiel mir um den Hals und wir umarmten uns. Was mich aber doch überraschte, er gab mir keinen Kuss. Allerdings konnte ich das auch verstehen. Mario war in unserer Nähe. Mir war auch nicht so wohl dabei. Allerdings musste Mario lachen, denn er hatte es wohl erwartet, dass Stef mir einen Kuss geben würde.

„Hey, was ist los? Kein Kuss zur Begrüßung?“

Stef war verunsichert, für mich war das ein Zeichen. Ich nahm Stef noch einmal richtig in den Arm und flüsterte ihm ins Ohr:

„Ich habe dich so vermisst. Endlich kann ich dich wieder sehen.“

Danach gab ich meinem Freund den von mir vermissten Kuss. Die Anspannung löste sich schnell bei ihm und auch Mario freute sich für uns.

„Nett hast du es hier. Sieht gar nicht nach Klinik aus. Wie fühlst du dich jetzt?“

„Jetzt, wo du bei mir bist und ich weiß, dass du mir helfen wirst, geht es mir schon wieder viel besser.“

„Was heißt das denn, dass ich dir helfen werde? Hast du etwa Zweifel gehabt? Ich durfte doch nicht kommen. Der Arzt wollte es noch nicht.“

„Ach so, und ich hatte gedacht, dass es dir vielleicht einfach zu viel wird, dich mit mir abzugeben.“

Ich wurde richtig zornig, er sollte es eigentlich besser wissen. Bevor ich auf seine Zweifel reagieren konnte, meldete sich Mario zu Wort.

„Stef, du spinnst. Marc und alle anderen haben sich unglaublich um uns bemüht. Wie kannst du nur so etwas denken?“

Stef sah mich mit traurigen Augen an und ich wusste, jetzt war ich gefragt.

„Lass uns das ganz schnell vergessen. Diese Gedanken sind schlecht für dich. Wir werden gemeinsam daran arbeiten, dass ihr beide bald wieder fröhlich nach vorne schauen könnt. Papa hat mir gesagt, ich muss Geduld haben. Ausgerechnet ich soll Geduld haben. Aber wenn ich es schaffe, Geduld zu haben, dann könnt ihr das auch.“

Es kam kein Widerspruch. Das fand ich schon einmal gut. Jetzt wurde ich aber doch neugierig und bat Stef mir zu berichten, was bislang mit ihm gemacht worden ist. Er berichtete von den Untersuchungen und CT Aufnahmen. Dabei wurde nichts gefunden. Der Neurologe führte seine Ohnmacht auf übermäßigen Stress zurück. Wir saßen schon eine Stunde in dem kleinen Appartement und redeten über etliche Erlebnisse, die beide in den letzten Jahren gehabt hatten. Dabei stellte ich fest, dass es durchaus auch schöne Ereignisse gegeben hatte. Leider berichteten sie dann aber über die Veränderung des Vaters. Allerdings waren das mehr Marios Erfahrungen, Stef war da noch zu klein, als das begann. Nach über einer Stunde registrierte ich bei Stef Erschöpfungserscheinungen. Es strengte ihn sehr an, über die Vergangenheit zu sprechen. Außerdem brauchte er noch viel Zeit zum Berichten.

Es klopfte erneut und der Arzt betrat den Raum. Wir schauten uns ein wenig verwundert an. Der Doktor erkundigte sich nach dem Befinden und was wir die Zeit schon so gemacht hätten. Als Mario fertig mit den Berichten war, schaute er uns ernst an und meinte:

„Es ist genug für heute. Macht doch mal was Schönes zusammen. Morgen haben wir ein erstes Therapiegespräch. Dann können wir das fortsetzen. Jetzt nutzt die Zeit für eine gemeinsame Aktion. Was wollt ihr machen?“

Wir schauten uns ratlos an. Wir hatten noch gar keinen Plan, denn wir wussten ja nicht, was für Möglichkeiten es gab. Mario erklärte dem Arzt unser Problem und er musste schmunzeln.

„Hat euch noch niemand in diesem Bereich herumgeführt? Das kann ja wohl nicht sein. Moment bitte. Ich schau mal, was wir da machen können.“

Er nahm sein Telefon und sprach mit einem anderen Mitarbeiter und innerhalb von fünf Minuten klopfte es erneut an unsere Tür. Ein junger Mann, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, kam herein und Dr. Henns stellte ihn uns vor. Er war ein Krankenpfleger in der Ausbildung und hieß Joachim, aber wir sollten ihn Jo nennen. Er nahm uns mit auf einen Weg durch die Freizeitbereiche der Klinik. Er erklärte uns sehr gut, was wir wo machen konnten und wo wir nur hinein durften, wenn eine Fachkraft uns begleitete. Dazu gehörte unter anderem der Kletterbereich. Dort durften die Patienten nur in Begleitung einer ausgebildeten Sicherungsperson klettern. Allerdings hatten wir das Glück, dass Jo dazugehörte. Ich war noch nie in einem Kletterpark und Stef war auch sehr unsicher. Mario hingegen war sofort begeistert und so war klar, dies würde unsere erste Aktion werden. Jo erklärte uns, dass wir uns sportliche Sachen anziehen sollten und uns dann in einer Viertelstunde hier wieder einfinden sollten. Mein Problem war jetzt natürlich, dass ich keine Sportsachen dabei hatte. Mario löste das auf seine Art. Er nahm einfach von Stefs Sachen eine Sporthose und ein T-Shirt aus dem Schrank und damit war klar, ich würde ebenfalls klettern können.

„Hey, willst du Stef nicht wenigstens vorher fragen? Nicht dass er gleich sauer wird.“

„Quatsch, außerdem hatte er mir das eben noch gesagt, dass ich das machen soll. Er musste ja erst einmal zur Toilette.“

Ich zog also Stefs Sachen an und in diesem Moment betrat er den Raum. Er schaute belustigt zu mir.

„Jop, Luc, du siehst cool in den Sachen aus, sogar ein wenig sexy.“

Ich wurde rot, denn die Sachen waren wirklich ein wenig eng. Allerdings sollte es für heute wohl reichen. Beim nächsten Mal würde ich mir eigene Sachen mitbringen. Die Stimmung lockerte sich und wir waren gut gelaunt wieder in dem Kletterbereich angekommen. Jo wartete bereits auf uns und erklärte uns die verschiedenen Wege. Jeder farbliche Stein auf der Wand bedeutete einen eigenen Weg mit einer bestimmten Schwierigkeit. Wir wählten zuerst einmal eine einfache Strecke. Jo sicherte jeweils den Kletterer und gab auch immer gute Tipps von unten. Stef war der Erste, der in die Wand sollte. Nach einer halben Stunde hatten wir jeder einmal die Wand bewältigt. Jetzt erklärte uns Jo, wie man richtig sichert. Wenn wir das gut machen würden, dann könnten wir auch mit zwei Leuten klettern. Das Sicherungsgeschirr war zwar recht aufwendig anzulegen, aber die Bedienung recht einfach. Nach einer weiteren halben Stunde durfte Mario mich sichern. Jo übernahm Stefs Sicherung und wir sollten jetzt einen mittelschweren Weg versuchen.

Auch das gelang uns noch, allerdings spürte ich bereits meine Arme schon recht stark und Jo erkannte dann auch, dass es für heute genug sein würde. Wir bedankten uns bei ihm und verabredeten uns für Donnerstag oder Freitag erneut.

Die Zeit war förmlich gerast und für Stef war es bereits Zeit für das Abendessen. Mario und ich entschieden uns, dass wir uns für heute nach Hause verabschieden würden. Morgen würde ich nicht kommen können. Das erklärte ich Stef auch zum Schluss noch einmal. Sicherlich war er enttäuscht, aber Mario wollte auf jeden Fall vorbei kommen und mit ihm arbeiten. Sie hatten zwei Termine am nächsten Tag in der Klinik. Wir wollten uns gerade von Stef verabschieden und den Wohnbereich verlassen, da kam Stef noch einmal zu mir.

„Luc, warte bitte noch einen Moment. Ich möchte dir noch etwas sagen.“

Ich drehte mich überrascht um und Mario gab mir zu verstehen, dass er schon zum Auto gehen würde und dort auf mich warten würde. Ich schaute Stef fragend an, denn er wartete, bis Mario aus der Tür war. Erst danach umarmte er mich sehr zärtlich und gab mir einen Kuss.

„Luc, ich bin dir und deiner Familie so dankbar. Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß meine Angst war, als du nicht bei mir warst. Danke für alles. Ich hoffe, ich kann mit Mario einen Neuanfang machen.“

Dabei schossen ihm die Tränen in die Augen. Ich streichelte ihm durch sein Gesicht und sprach ihm Mut zu.

„Wenn ihr beide so weiter macht, wie ihr jetzt begonnen habt, dann werden wir das schaffen. Ganz sicher. Eure Eltern werden euch nicht länger quälen.“

Ich gab ihm noch einen Kuss und verabschiedete mich bis zum übernächsten Tag. Versprach aber, ihn anzurufen, sobald ich vom Ausflug zurück wäre.

Dann verließ ich sein Appartement und sagte dem Mitarbeiter vorne Bescheid, dass wir wieder nach Hause fahren würden. Mario wartete schon am Auto und schien mich recht amüsiert zu beobachten.

„Na, Luc, hat dich Stef gehen lassen?“

Dabei grinste er richtig fies.

„Komm, du hast doch gewusst, was kommen würde. Tu nicht so unschuldig.“

Wir beiden lachten sehr herzlich über diese Situation und dann stieg ich auch ein. Mario startete den Wagen und wir rollten vom Parkplatz. Die Fahrt dauerte nicht lange und Mario stellte den Ferrari in der Einfahrt ab. Nachdem ich die Haustür geöffnet hatte, kam uns ein unverwechselbarer Duft entgegen. Mama hatte gebacken. Ihre von mir geliebten Kartoffelpuffer dufteten durch das ganze Haus. Wir gingen direkt in die Küche und wurden freudig begrüßt.

„Hallo ihr zwei. Habt ihr Hunger mitgebracht? Leif kommt auch jeden Moment und wir können dann zusammen essen.“

„Hi, Mama, natürlich haben wir Hunger mitgebracht. Ich liebe deine Puffer. Mario wird bestimmt gleich verstehen, warum ich so scharf auf die bin.“

Ich umarmte meine Mutter und auch Mario wurde von ihr genauso herzlich empfangen.

„Wo ist denn Papa?“, wollte ich wissen.

„Na, wo wohl? In der Werkstatt natürlich. Ich frage mich manchmal wirklich, was er da immer so lange macht.“

„Hat er nicht gesagt, wann er zurück ist? Wir möchten gern aus der Klinik berichten.“

Mario hatte bereits am Tisch Platz genommen und beobachtete unser Gespräch.

„Schatz, ruf ihn doch einfach an und frage ihn. Ich weiß es nicht.“

Das tat ich dann auch. Nach dreimaligem Klingeln hörte ich seine Stimme.

„Luc, seid ihr aus der Klinik zurück? Wie war der Nachmittag?“

„Hi, Papa, ja, wir sind wieder zu Hause und möchten euch gern berichten. Wann kommst du nach Hause?“

„Ich bin gleich fertig. In spätestens zwanzig Minuten bin ich zurück.“

Ich informierte die anderen und wir beschlossen, auf Papa und Leif zu warten.

Eine gute Stunde später saßen wir alle gut gesättigt gemeinsam am Tisch. Ich berichtete von meinem Nachmittag bei Stef und Papa von seinen Plänen bzgl. eines neuen Projektes. Er wollte erneut in diesem Jahr an dem 24-Stunden-Rennen am Nürburgring teilnehmen. Mama fand diese Idee natürlich überhaupt nicht so toll. Vor allem, weil Papa wieder mit Mick und Lukas fahren wollte. Sie hatten bereits einmal an diesem Rennen teilgenommen, allerdings mit einem vorzeitigen Ausfall durch einen technischen Defekt. Ich war sehr gespannt, ob Papa sich durchsetzen oder Mama gewinnen würde.

Da wir gerade bei dem Thema Mick und Lukas waren, wollte Mama dann wissen:

„Weißt du eigentlich schon, wo genau die beiden heiraten werden und was wir noch vorbereiten müssen?“

Papa schien verwundert zu sein, denn er fing an zu lachen.

„Nein, Schatz. Aber ich denke, die beiden sind alt genug und werden sich schon drum kümmern. Mick hat mir versprochen, sobald sie unsere Hilfe brauchen, werden sie sich melden. Und ich habe mir diesmal ganz fest vorgenommen, mich nicht vorher einzumischen.“

Mama schien das überhaupt nicht zu gefallen. Sie schüttelte den Kopf, schwieg aber. Leif war allerdings der Meinung, sich dazu äußern zu müssen.

„Heißt das, wir erfahren eigentlich nicht, was sie genau planen? Aber das Datum steht fest?“

„Ja genau, Datum ist in drei Wochen in der Nähe von Nürnberg und wir fahren da nicht hin, sondern werden fliegen. Die Jungs haben uns ein Quartier besorgt und ich denke, es wird eine schöne Feier werden. Mick hat sich bestimmt was Besonderes ausgedacht.“

Mama hätte natürlich am liebsten vorher genau gewusst, was passieren würde, aber ich fand es gut, dass Papa den beiden die Planung überließ. Es war ja schließlich ihre Hochzeit. Total blöd fand ich, dass sie in Deutschland heiraten mussten. Wir lebten in der Schweiz und sie würden auch sicher wieder hierher zurückkommen, nach dem Studium. Das Gesetz in der Schweiz verbot aber eine Hochzeit von schwulen Paaren. Das empfand ich als sehr altmodisch.

„So“, begann Papa nun noch ein anderes Thema, „wann musst du morgen am Bus an der Schule sein?“

„Erinnere mich nicht daran, um halb sechs schon. Abfahrt soll um sechs Uhr sein.“

Das war für mich schon sehr früh am Morgen, aber für meinen ersten Skiausflug seit Jahren war ich gerne bereit, so früh aufzustehen.

Leif genoss das natürlich, weil er da noch eine gute Stunde länger schlafen konnte.

„Ich werde dann sicher noch schöne Träume haben, aber ich freue mich für dich. Hoffentlich habt ihr auch viel Spaß.“

„Danke, Leif. Bestimmt, aber ich freue mich wirklich auf diesen Tag.“

„Wer fährt denn morgen Stefan besuchen?“, wollte Papa jetzt wissen.

Mario würde auf jeden Fall fahren, aber ich war ja nicht da. Also plante Papa es so, dass er mit Mario fahren und gleichzeitig mit dem Arzt den weiteren Verlauf besprechen würde. Mario war einverstanden und somit waren alle Dinge geklärt.

Stefan: Ein Tag ohne Luc

Heute würde ich zum ersten Mal auch in der Klinik unterrichtet werden. Hier wurde viel Wert auf Schule gelegt. Leider würde Luc heute nicht kommen. Er war mit seiner Klasse zum Skilaufen. Darauf hatte er sich schon ganz lange gefreut und ich hatte darauf bestanden, dass er auch mitfährt. Ich wollte nicht der Grund sein, dass er wieder auf etwas verzichten muss. Er hatte schon so viel für mich getan, auch wenn ich ihn gerne bei mir hatte. Er gab mir viel Sicherheit.

Das Frühstück war bereits vorbei und ich sollte um acht im Schulbereich sein. Also machte ich mich zeitig auf den Weg. Ein wenig angespannt war ich schon, denn mir war bewusst, dass ich einige Lücken hatte und durch die Therapie würden die vermutlich nicht kleiner werden. Marc hatte mir aber ganz klar vor Augen geführt, dass es für mich keine Rolle spielen würde, ob ich nun eine Klasse wiederholen musste oder nicht.

Mir war das eher unangenehm, denn ich hatte immer eingeprügelt bekommen, dass ich ein guter Schüler sein musste und gefälligst meinen Eltern keine Schande machen sollte. Diese Erlebnisse hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Leider ließ sich das nicht so einfach wieder löschen. Immer wieder plagten mich Albträume. Leider konnte mir dagegen bislang auch Luc nicht helfen. Ich wollte ihn aber auch nicht ständig damit belasten.

Entsprechend wenig Schlaf bekam ich in den letzten Wochen. Ich saß jetzt also in einem sehr praktisch und modern eingerichteten Raum. Die Tür ging auf und eine junge Frau betrat den Raum mit zwei weiteren Jugendlichen. Der eine war deutlich älter als ich und der andere in etwas so alt wie ich. Vielleicht etwas jünger. Sie stellte sich zuerst selbst vor. Sie war unsere Lehrerin, die uns während der Therapie unterrichten würde. Zumindest in den Fächern Mathe und Naturwissenschaften. Sie bot uns an, sie mit Jasmin ansprechen zu dürfen. Das machte sie mir gleich sympathisch. Die anderen beiden Jungs waren Ben, das war der ältere und Rico. Ben war bereits siebzehn und Rico erst dreizehn. Ich konnte mir noch nicht richtig vorstellen, wie das gehen sollte, uns gleichzeitig zu unterrichten. Wir hatten ja vollkommen unterschiedliche Voraussetzungen.

Nach den ersten Gesprächen wurde mir aber sehr schnell klar, hier fand kein normaler Unterricht statt. Allerdings hieß das nicht, dass es nicht anstrengend war. Nach etwa zwei Stunden konzentrierter Arbeit machten wir die erste Pause. Ben wollte in den Raucherbereich und ich lieber an die frische Luft. Rico blieb sehr schüchtern im Raum sitzen. Ich hatte ihn gefragt, ob er mitkommen möchte. Er schaute mich fast erstaunt an. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, dass ich ihn ansprechen würde. Er war auch die ganze Zeit sehr still gewesen. Somit machten wir uns auf den Weg nach draußen. Wir sprachen nicht viel, ich spürte seine große Angst und Unsicherheit, aber mir ging es ja auch nicht viel anders.

Nach der Pause machten wir noch einmal 90 Minuten Unterricht und zum Abschluss bekamen wir sogar ein paar Aufgaben, die jeder zum nächsten Tag machen sollte. Für mich stand jetzt noch ein Termin bei meinem Therapeuten an. Das erste sogenannte Einzelgespräch. Ich war sehr gespannt, was mich dort erwarten würde. Hoffentlich würde er mich nicht zu sehr unter Druck setzen. Ich hatte einfach die Vorstellung, so ein Therapeut würde mich ausfragen und mich zwingen, ihm alles zu erzählen. Ich hatte noch keine Ahnung, wie das wirklich laufen würde. Entsprechend angespannt ging ich in dieses Gespräch.

Heiko wartete bereits auf mich. Er bat mich sehr freundlich Platz zu nehmen. Meine Anspannung war sehr groß, er schien das zu spüren, denn er verwickelte mich sehr schnell in ein Gespräch über völlig andere Dinge. So bemerkte ich eigentlich gar nicht, dass wir bereits mitten in unserem Therapiegespräch gelandet waren. Ich erzählte ihm von meiner Situation und wie ich hierher gekommen war. Er hatte mich nicht einmal nach meinen Eltern gefragt. Als die Zeit um war, musste ich wohl sehr verwundert geschaut haben, denn er lächelte mich an und stellte mir eine überraschende Frage:

„Na, war es so schlimm? Wie geht es dir jetzt?“

„Eigentlich war es gar nicht schlimm, ich fühle mich ganz gut. Woher wussten Sie, dass ich Angst habe?“

„Weil alle eigentlich zu Beginn Angst haben. Kaum jemand hat schon Erfahrungen mit einer Therapie. Weißt du, ich möchte, dass du mir etwas freiwillig erzählst. Nur dann wird es dir helfen, es zu verarbeiten. Du musst bereit sein, mir etwas zu berichten. Ich möchte dir dabei helfen, anschließend nach Wegen zu suchen, wie du im Alltag glücklich sein kannst. Du wirst schon viel erlebt haben, aber ich werde dich nicht zwingen, mir etwas zu erzählen.“

„Heißt das, wenn ich etwas nicht erzählen möchte, werden Sie mich nicht dazu zwingen?“

„Sehr richtig, hier wird dich niemand zu etwas zwingen, es sei denn, du hältst dich nicht an die Regeln, aber sonst machst du hier alles freiwillig.“

Das war für mich eine völlig neue Information. Ich stellte fest, ich wusste eigentlich gar nichts über Therapien.

„Heiko, wenn ich nur freiwillig etwas tun soll, warum kann ich das dann nicht ohne die Hilfe? Ich meine, wenn ich nichts erzählen will, können Sie ja nichts dagegen tun.“

„Genau das ist das Besondere an dieser Therapie. Unser Ziel ist es, dich davon zu überzeugen, uns etwas von dir zu erzählen. Wir versuchen dann mit diesen Informationen, mit dir einen Weg in die Zukunft zu finden. Dafür musst du uns vertrauen. Das geht nicht in einer Stunde. Du hast deinem Freund ja auch nicht sofort alles anvertraut. Sonst wärest du schon viel früher hier gelandet. Denn Herr Steevens hätte sonst viel schneller für dich gesorgt.“

Das verblüffte mich immer mehr. Ohne mir viele Fragen zu stellen, hatte ich ihm mehr von mir erzählt, als ich vorher gedacht hatte. Wir verabschiedeten uns bis zum nächsten Tag. Er wünschte mir viel Spaß bei den Freizeitaktivitäten und ich hatte mittlerweile richtig Hunger.

Das Mittagessen gab es immer in der Zeit von halb eins bis drei Uhr. So konnte jeder essen, wie es in den Therapieplan passte. Als ich in den Speisesaal kam, waren vier oder fünf Tische belegt. Ich stellte mich an der Essenstheke an und wählte mein Essen. Mit dem Tablett in der Hand schaute ich mich um und erkannte Rico allein an einem Tisch sitzen. Ich ging an seinen Tisch und fragte:

„Hi, hast du etwas dagegen, wenn ich mich zu dir setze?“

„Nein, setz dich. Dann bin ich nicht mehr so alleine.“

Wir unterhielten uns über belanglose Dinge, aber irgendwie fand ich den Jungen sympathisch. Ich war aber innerlich schon auf den Besuch von Mario und Marc fixiert. Sie wollten mich heute Nachmittag besuchen und auch mit mir die weiteren Schritte besprechen. Von Luc hatte ich bereits zwei Nachrichten bekommen. Es ging ihm gut und er hatte viel Spaß.

Luc: Der Tag im Schnee

Warum musste die Nacht nur so kurz sein? Es war noch stockdunkel, als wir mit dem Bus von der Schule abfuhren. Nico saß neben mir und wir waren beide noch müde, also dauerte es auch nicht sehr lange, bis wir eingeschlafen waren. Ich war nur sehr überrascht, als ich nach etwa einer Stunde wieder wach wurde, dass Nicos Kopf auf meiner Schulter lag und er mit einem Lächeln im Gesicht noch tief und fest schlief. Ich wollte ihn nicht wecken, deshalb hob ich ganz vorsichtig seinen Kopf von meiner Schulter und legte ihn an die Lehne des Sitzes. Leider wachte er dennoch dabei auf.

„Hey Luc, warum weckst du mich? Ich habe gerade einen so schönen Traum gehabt.“

Ich musste lachen.

„Sorry, aber du hattest dir meine Schulter als Kopfkissen ausgesucht und ich war bereits aufgewacht. Ich wollte dich nicht wecken. Tut mir leid. Allerdings deinen schönen Traum konnte ich in deinem Gesicht erkennen.“

Jetzt wurde er rot und wir beide grinsten uns an. Wir wussten beide, was bei dem anderen gerade durch den Kopf ging.

Die Fahrt dauerte nicht mehr allzu lange und wir trafen in dem Skigebiet bei strahlendem Sonnenschein und stahlblauem Himmel ein. Der Bus stand auf einem riesigen Parkplatz am Fuße der Liftstation und unsere beiden Klassen wuselten um die Busse, um die jeweiligen Skier und andere Gepäckstücke auszuladen. Ich hatte, wie auch einige andere Schüler, keine eigene Ausrüstung dabei. Wir waren zehn Schüler, die sich ihre Ausrüstung leihen mussten. Unser Klassenlehrer begleitete uns in den dafür vorgesehenen Skiverleih. Mein Plan war, sollte ich heute ohne Probleme wieder fahren können, mir auch wieder eine eigene Ausrüstung zu kaufen. Das hatte ich auch mit Mama und Papa so besprochen.

Ich stand jetzt in diesem großen Geschäft und ein junger Mitarbeiter kam zu mir und ich erklärte ihm mein Problem. Er hörte sehr aufmerksam zu und fragte mich dann:

„Habe ich das richtig verstanden, du bist früher sehr sportlich unterwegs gewesen und musstest eine Pause einlegen?“

„Ja, genau. Ich will heute zum ersten Mal wieder auf die Piste.“

„Gut, du kannst also eigentlich richtig fahren und brauchst keinen Anfängerski. Dann komm bitte mal mit in die sportliche Abteilung. Ich werde dir eine Ausrüstung geben, mit der du auch richtig fahren kannst.“

Wir entfernten uns von den anderen und standen sehr schnell mitten in dem Bereich, wo nur noch sehr hochwertige und sportliche Modelle standen. Ich wurde von oben bis unten vermessen, gewogen und dann schaute er in seinem Computer nach. Wenige Minuten später hatte er mir ein Paar sehr sportliche Carving Ski und die passenden Schuhe dazu herausgestellt. Ich probierte die Schuhe an und sie passten hervorragend. Kein Vergleich zu meinen alten Schuhen. Dazu bekam ich die richtigen Stöcke und einen Rückenprotektor. Das sah alles sehr gut aus.

Mir fehlte nun noch der Helm. Ich wollte auf jeden Fall mit einem guten Helm auf die Piste gehen.

„Entschuldigung, aber ich hätte gerne auch einen guten Helm dazu.“

Er schaute mich verwundert, aber auch anerkennend an.

„Sehr gut, du bist vernünftig. Komm mit, die Helme sind dort drüben.“

Alles in allem dauerte diese Ausrüstungsaktion über eine dreiviertel Stunde. Als wir alle fertig waren, stapften wir zum Lift. Ich hatte mit dem Verleiher vereinbart, sollte ich ohne Problem fahren können, würde ich eine Ausrüstung kaufen. Dadurch durfte ich diese sehr hochwertige Ausstattung testen. Ich war sehr angetan von der guten Beratung. Jetzt fieberte ich allerdings der ersten Fahrt seit meiner Erkrankung entgegen. Nico war bereits schon mit den anderen auf der Piste. Wir stellten uns an dem Lift an und nach wenigen Minuten saßen wir in einer Liftgondel auf dem Weg nach oben. Die Bergstation lag auf über 2500m Höhe. Ich spürte den geringeren Sauerstoffgehalt in der Luft bereits sehr deutlich.

Es herrschte schon reger Betrieb auf der Piste und wir beeilten uns, ebenfalls auf eine der Pisten zu kommen. Es gab verschiedene Schwierigkeitsgrade. Ich entschied mich, erst einmal mit einer relativ einfachen Piste anzufangen. Ich schnallte mir die Ski an und setzte mir den Helm auf. Ein nervöses Kribbeln machte sich in meinem Bauch bemerkbar. Dann zog ich die Handschuhe an und los ging es. Die ersten Meter fühlten sich unsicher an, aber nach wenigen Minuten vorsichtigen Gleitens spürte ich die Abläufe zurückkehren. Ich wurde immer sicherer und dieses Gefühl war unbeschreiblich schön. Am liebsten hätte ich laut geschrien vor Freude. Die erste Abfahrt war noch sehr vorsichtig und ich bin immer wieder an der Seite stehen geblieben, um zu prüfen, ob alles in Ordnung war. Ich fühlte mich gut. Unten angekommen war ich mir sicher, ich würde wieder fahren können. Mir tat nichts weh, außer dass ich sicherlich Muskelkater bekommen würde.

An der Talstation angekommen, traf ich einige meiner Klassenkameraden. Die meisten waren gleich auf schwerere Pisten gegangen. Allerdings schauten Nico und Moritz mich fragend an.

„Luc, wie ist es gewesen? Geht es wieder mit dem Fahren?“

Ich strahlte vor Glück und von daher brauchte ich eigentlich keine Antwort mehr geben. Nico kam auf mich zu und umarmte mich.

„Wie geil, ich freue mich für dich. Was meinst du, wollen wir mal eine schwere Piste nehmen? Ich bleibe auch bei dir und du gibst die Geschwindigkeit vor.“

Das war ein tolles Angebot. Da wurde mir erneut klar, was für ein Freund Nico und einige andere in meiner Klasse waren. Wir stiegen gemeinsam in die nächste Kabine und fuhren wieder nach oben.

„Sag mal, wie hast du eigentlich deine Mutter rumgekriegt, dass du doch wieder fahren darfst?“

Ich schaute Nico mit einem Lächeln an und erwiderte:

„Ganz ehrlich, ich habe das gar nicht zu verantworten. Papa hat einfach gesagt, wenn ich fahren will, soll ich das ausprobieren, ob es geht oder nicht.“

„Und deine Mutter hat das einfach so hingenommen?“

„Nö, sie hat alles versucht, aber Papa hat sich durchgesetzt. Das war zum ersten Mal richtiger Streit bei den beiden. Ich hatte schon ein wenig Schiss, dass sie sich deswegen richtig in die Haare bekommen würden, aber irgendwann hat mich meine Mama dann doch mal abends gefragt, warum ich das unbedingt wieder möchte. Dann haben wir sehr lange geredet und sie hat mir die Erlaubnis erteilt. Ich musste ihr allerdings etwas versprechen.“

„Was denn? Du darfst nur langsam fahren?“

„Nein, ich musste ihr zusagen, dass ich sofort aufhöre, wenn es mir Schmerzen verursacht oder mir schlecht geht. Das habe ich gemacht und jetzt sitze ich hier und bin so glücklich.“

„Na dann, lass uns mal richtig loslegen.“

Der Lift war oben angekommen und wir stiegen zusammen aus. Nico führte mich an eine Piste, die schon auf den ersten Blick viel anspruchsvoller war.

„Na, Luc. Was meinst du, das sieht schon nach richtig Spaß aus, oder?“

Respekt machte sich bei mir breit, aber auch große Freude über den zu erwartenden Spaß.

„Das kannst du wohl laut sagen, aber ich werde es ruhig angehen.“

„Komm, dann lass uns mal los. Fahr du vor, ich bleibe hinter dir. Du kannst das Tempo vorgeben.“

Ich nickte und dann ging es auch schon los. Der Fahrtwind wurde immer stärker und ich begann immer euphorischer zu werden. Es machte einfach Spaß den Hang hinunter zu gleiten. Ich begann Schwünge zu fahren und mein Gefühl für die Piste und die Ski wuchs von Meter zu Meter. Was für ein Gefühl, nach etwa zehn Minuten stoppte ich auf der Hälfte der Strecke und blieb am Rande stehen. Nico stoppt vor mir mit aufstiebendem Schnee. Ich musste mich abdrehen, um nicht den ganzen Schnee ins Gesicht zu bekommen. Er lachte sich halb tot.

„Boah, Nico. Schau dir dieses Panorama an. Ist das nicht schön? Und wir stehen hier in der Sonne und haben unseren Spaß.“

Nico hatte sich mittlerweile neben mich gestellt und wir schauten in das Tal hinab. Die anderen Skifahrer rauschten an uns vorbei. Ich konnte auch einige von unseren Klassenkameraden erkennen. Nur wenige trugen wie wir einen Helm. Darüber konnte ich nur staunen. Wie konnte man nur so leichtsinnig sein.

Meine Gedanken schweiften für einen Moment ganz weit weg. Wir schwiegen und plötzlich stieß mich Nico an.

„Na, deine Gedanken möchte ich jetzt lesen können. Du sahst grade aus, als ob du ganz weit weg warst.“

Ich wurde vermutlich rot, aber das war unter dem Helm und der Brille glücklicherweise nicht zu erkennen.

„Ach Nico, du hast schon recht. Ich war gerade bei Stef in der Klinik. Weißt du, wir genießen hier die schönsten Dinge und mein Freund muss dort in der Klinik für seine Zukunft kämpfen. Das ist irgendwie ungerecht. Er hat noch nie in seinem Leben eine faire Chance bekommen.“

Was jetzt geschah, überraschte mich sehr. Nico legte seinen Arm um mich und drückte mich an sich.

„Das stimmt ja so nicht mehr. Du hast ihm doch jetzt eine Chance gegeben und er ist dabei, sie zu nutzen. Weißt du, was ich glaube?“

„Nein, aber lass es mich wissen.“

„Du wirst in naher Zukunft mit Stefan hier auf irgendeiner Piste gemeinsam rumtoben. Ich habe so ein Gefühl.“

Ziemlich verwundert schaute ich ihn an und er musste grinsen. Ich hatte die Hoffnung, er würde recht behalten. Das war ein guter Moment, um wieder auf die Piste zu gehen. Ich stieß mich mit meinen Stöcken ab und los ging es wieder nach unten. Es machte einfach so viel Spaß hier zu fahren. Kurz vor dem Ende der Piste begann ich sogar ein paar sehr enge Kurven zu carven. Das Gefühl kehrte immer mehr zurück. Nico freute sich mit mir, und als wir vor dem Lift standen, kamen noch drei andere Jungs von uns hinzu und freuten sich mit mir.

„Hey Lucien, wie schauts denn bei dir aus mit dem Fahren? Macht es wieder Spaß?“

„Oh ja, ihr glaubt gar nicht, wie sehr ich mich freue. Einfach nur geil.“

„Was meinst du, fahren wir mal ne schwarze Piste?“

Das waren die schwierigsten Strecken und nur für sehr versierte Piloten geeignet. Ich war mir nicht sicher, einerseits reizte mich das schon, aber sollte ich das schon machen? Ich schaute Nico an und fragte ihn:

„Meinst du, ich sollte das schon machen, ich bin mir nicht sicher, ob ich das schon wieder kann.“

„Luc, wenn du Zweifel hast, dann lass es sein, du hast noch so viel Zeit, wieder auf die schweren Pisten zu gehen. Es muss nicht alles heute sein.“

Ich nickte und schaute zu den anderen Klassenkameraden. Sie waren jetzt ganz ruhig und was mich sehr freute, es gab keine blöden Kommentare, als ich ihnen mitteilte, heute noch nicht mit ihnen zu fahren.

Nico und ich fuhren wieder eine Piste hinunter. Auf der Hälfte der Strecke musste ich plötzlich anhalten. Mir wurde schwindelig. Ich stoppte am Rand und stützte mich auf meinen Stöcken ab. Nico fuhr etwa dreißig Meter hinter mir und bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Sofort fuhr er zu mir und hielt an.

„Luc, was ist los? Gibt es Probleme? Kann ich dir helfen?“

„Ist schon gut, mir war nur etwas schwindelig. Wird gleich bestimmt besser gehen.“

Leider fühlte ich mich gerade gar nicht gut, aber ich wollte ihm das nicht so zeigen. Dennoch schaute er mir ins Gesicht und spürte, dass es mir nicht gut ging.

„Luc, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“

„Heute früh, bevor wir losgefahren sind“, antwortete ich.

„Mensch, das ist doch klar, dass dir dann schlecht wird. Du musst zwischendurch auch was essen. Los, wir fahren jetzt vorsichtig weiter und gehen sofort etwas essen. Du wirst sehen, dann geht’s dir wieder besser.“

Ich nickte und ärgerte mich über mich selbst. Ich hatte über die große Freude des Fahrens komplett das Essen vergessen. Also begleitete mich Nico langsam nach unten. Wir kehrten direkt in ein Restaurant am Fuße der Piste ein. Die Skier stellten wir vor dem Lokal in den dafür vorgesehenen Ständern ab.

Das Lokal war nicht mehr so voll, so dass wir recht schnell etwas zu essen bekamen. Ich hatte mir ein Pasta Gericht bestellt. Nico nahm sich ein Wiener Schnitzel mit Pommes.

Er sollte recht behalten. Kurze Zeit, nachdem wir gegessen und noch zwei Spezi getrunken hatten, ging es mir wieder besser.

„Danke Nico, ich war echt so abgelenkt, dass ich das Essen vergessen hatte. Wie gut, dass du auf mich aufgepasst hast.“

Er lachte und freute sich einfach nur, dass es mir wieder gut ging.

„Kein Ding, ich hatte schon Angst, dass du dich übernommen hättest. Wollen wir noch einmal auf die Piste oder möchtest du es lieber gut sein lassen für heute?“

Wir hatten noch etwa 90 Minuten Zeit, bis wir uns am Bus einfinden sollten. Ich musste mich ja auch noch um meine Ausrüstung kümmern. Außerdem fiel mir auf, ich hatte noch keine Nachricht an Stef geschrieben. Ich bekam fast ein schlechtes Gewissen. Ich beschloss, ihn anzurufen. Er freute sich riesig, als ich mich meldete. Wir sprachen nur ein paar Minuten, aber es war schön. Er war richtig glücklich, als ich ihm von meinen Erlebnissen auf der Piste berichtete. Es würde bestimmt ein längerer Abend werden, wenn ich zurück war. Es gab viel zu erzählen. Als ich das Gespräch beendete, spürte ich ein Glücksgefühl. Auch Nico freute sich mit mir, dass es Stef gut ging. Danach bezahlten wir unsere Rechnung und ich wollte in das Geschäft für die Skier gehen.

Nico hätte noch eine Fahrt machen können, aber er wollte mich begleiten. Somit liefen wir zuerst zum Bus, dort stellte Nico seine Ausrüstung ab. Anschließend machten wir uns auf den Weg in das Geschäft. Wir betraten den Laden und der Verkäufer von heute Morgen erkannte mich sofort wieder. Er begrüßte mich sehr neugierig und wollte wissen, wie es mir ergangen war. Ich berichtete ihm von meinen Erfahrungen und dass ich keine Probleme bekommen hatte. Ich wollte mir jetzt wieder eine eigene Ausrüstung zulegen. Wir sprachen über verschiedene Modelle und er meinte dann, ich sollte die Schuhe von heute behalten, aber einen besseren Ski nehmen. Auch wenn das Ganze dadurch nicht gerade günstig würde. Nach etwa einer halben Stunde war ich mir recht sicher, welches Equipment ich haben wollte. Jetzt kam das Problem des Bezahlens. Ich hatte natürlich nicht so viel Bargeld mitgenommen und eine eigene Kreditkarte hatte ich auch noch nicht. Aber Papa hatte daran gedacht.

„Also du möchtest dieses Equipment so haben, wie wir es jetzt zusammengestellt haben?“

Ich nickte und er bat mich mit nach vorne zu kommen. Er rechnete alle Preise zusammen und gab mir einen guten Nachlass auf das ganze Paket. Allerdings, als er mir die Summe nannte, wurde mir doch ein wenig mulmig. Das war ganz schön viel.

„Sag mal, du hast doch hoffentlich nicht den ganzen Tag so viel Geld mit dir herumgeschleppt?“

„Nein, das wollte ich gerade mit Ihnen besprechen. Ich würde gerne meinen Vater anrufen, damit er das mit Ihnen bespricht.“

Er nickte einverstanden und ich wählte Papas Nummer.

„Hallo Luc, schön, dass du dich mal meldest. Wie geht es dir?“

„Hi Papa, mir geht es richtig gut. Ein geiler Tag bislang. Ich erzähle euch später ausführlich. Wir hatten doch über die Ausrüstung gesprochen, falls ich keine Probleme beim Fahren hätte.“

„Ja, das ist richtig. Also hast gut fahren können?“

„Es war traumhaft. Papa, ich stehe jetzt hier im Sportgeschäft und habe mir ein Equipment zusammenstellen lassen, was mir gut gefällt und wo der Verkäufer meint, dass es so sinnvoll wäre. Nur, du müsstest mit ihm noch über das Bezahlen sprechen.“

„Alles klar, ja, hatten wir ja so besprochen. Gibst du mir den Verkäufer mal ans Telefon.“

Ich reichte dem Verkäufer das Telefon und Nico begann zu grinsen. Er kam ganz nah zu mir und flüsterte mir ins Ohr:

„Ich bin mal gespannt, was für ein Gesicht der Typ macht, wenn er feststellt, mit wem er da gerade telefoniert.“

Es dauerte auch nicht lange und die Reaktion war eindeutig. Nico freute sich wie ein Schneekönig und nach wenigen Minuten gab mir der Verkäufer mein Handy zurück.

Er schaute mich sehr erstaunt an und begann, mir meine neuen Sachen einzupacken. Papa wollte das Geld per Sofortüberweisung losschicken und das würde bedeuten, innerhalb weniger Minuten müsste der Betrag hier eingehen. Jedenfalls waren wir wenige Minuten später schwer bepackt mit meiner neuen Ausrüstung auf dem Weg zum Bus.

Der Zeitpunkt war fast erreicht, wo sich alle wieder am Bus einzufinden hatten. Einige waren auch schon da und Nico und ich stellten meine Sachen zu seinen und der Busfahrer begann auch schon, alles einzuladen. Nach einer halben Stunde waren wir vollständig und der Bus rollte wieder Richtung Heimat. Erst jetzt spürte ich die Erschöpfung und meine Knochen. Allerdings ging es den meisten anderen auch nicht anders und somit war die Rückfahrt sehr ruhig. Genau wie Nico und ich schliefen die meisten die ganze Fahrt.

Obwohl ich total geschafft war, hatte ich ein unglaubliches Glücksgefühl im Körper. Das Experiment Skifahren war ein voller Erfolg. Für mich eine wichtige Erkenntnis im Umgang mit meiner Krankheit. Als ich aus dem Bus stieg, war es bereits dunkel. Ich schaute nach meiner Familie, die mich abholen wollte, konnte aber noch niemanden erkennen. Deshalb holte ich zuerst einmal mein neues Gepäck aus dem Bus und stellte die Sachen auf den Parkplatz. Ich schaute mich um, Nicos Eltern waren schon da und ich begrüßte sie. Wir redeten ein paar Sätze und sie erkundigten sich nach meinen Erfahrungen. Meine Freude und Euphorie schien spürbar zu sein, denn Nicos Vater nahm mich spontan in den Arm und meinte:

„Einfach toll, Lucien. Ein weiterer Schritt in die Normalität. Hoffentlich bleibt das so.“

Das war eine sehr emotionale Situation, denn Nicos Familie hatte damals meine Erkrankung in allen Phasen miterlebt und Nico war immer für mich da. Durch diese Situation auf dem Parkplatz bekam ich nicht mit, dass meine Eltern bereits zu uns gekommen waren. Ein wenig erschrocken zuckte ich zusammen, als Mama mich von hinten umarmte. Sie war sehr glücklich, dass ich gesund und heile wieder zurück war. Papa ließ es mit einer kleinen Geste bewenden, er wuschelte mir einmal durch die Haare. Mama hingegen überfiel mich förmlich mit Fragen, ob es mir gut ginge und mir auch nichts weh tun würde. Das war einfach nur peinlich. Glücklicherweise erlöste mich Papa, indem er uns zum Aufbruch aufforderte. Ich verabschiedete mich von Nico und seinen Eltern und stieg in unser Auto.

Zuhause ließ ich mir zuerst ein heißes Bad ein. Anschließend wollte meine Familie mit mir und Mario essen gehen. Eigentlich war ich viel zu müde, aber hungrig war ich eben auch. Ich stand gerade im Bad und prüfte die Temperatur des Wassers, als Mario reinkam und mich begrüßte.

„Hi Luc, schön, dass du wieder da bist. Hast du Spaß gehabt? Und alles heil geblieben?“

„Ja, danke. Es war traumhaft, Mario. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so ein tolles Gefühl machen würde, wieder auf Skiern zu stehen. Allerdings bin ich jetzt auch echt k.o.“

„Kann ich mir vorstellen, hast du mit Stef schon geschrieben?“

„Ja, habe ich zwischendurch und auch auf der Rückfahrt. Er freut sich auch für mich. Wie war euer Tag in der Klinik?“

„Sehr interessant, aber ich glaube, dass es besser ist, wenn wir gleich gemeinsam darüber sprechen. Dann musst du dir das nicht zweimal anhören. Nur so viel, Stef scheint sich dort wohl zu fühlen, nur hat er dich heute sehr vermisst.“

„Ich auch, ich habe ihn auch sehr vermisst. Vor allem auf der Fahrt. Ich habe oft an ihn gedacht. Mario, ich wünschte, ich könnte mehr für euch tun.“

„Unsinn, du hast schon so viel für uns getan. Hör auf, dich immer so unter Druck zu setzen. Du hast doch gesehen, was passiert ist. Du kannst stolz auf dich sein.“

Danach verließ er mein Bad und ich zog mich aus und legte mich in das schöne, heiße Wasser. Das tat wirklich gut. Meine Muskeln entspannten sich und ich versuchte einen Moment lang, an gar nichts zu denken.

Erst als Papa an die Tür klopfte, kam ich zurück in die Realität.

Er öffnete die Tür und schaute mit dem Kopf herein.

„Na, geht’s dir gut? Wie lange brauchst du noch?“

„Ja, es tut so gut, das heiße Wasser. Habt ihr noch was vor?“

„Zusammen essen, oder hast du das schon vergessen?“

„Oh, ja, richtig. Ich beeile mich. Sagen wir zwanzig Minuten.“

Papa lächelte und nickte. Er schloss die Tür und ich atmete noch einmal tief ein und stieg dann aus der Wanne.

Eine dreiviertel Stunde später saßen wir bei Salvatori am Tisch und hatten unsere Bestellungen abgegeben. Mama war richtig angespannt, ich konnte ihre Neugier förmlich sehen.

„So, Luc. Jetzt erzähl doch bitte endlich, wie denn dein Tag war.“

Ich berichtete von den tollen Pisten und der guten Stimmung in der Klasse. Auch, wie ich jeden Meter genossen hatte. Nach meiner ausführlichen Schilderung schaute ich in die Gesichter meiner Eltern und erkannte bei beiden ein zufriedenes Lächeln.

Meine Mutter schien sogar ein wenig mit den Tränen kämpfen zu müssen. Papa nahm ihre Hand und drückte sie. Dann holte sie tief Luft und sagte etwas, das ich niemals mehr vergessen werde.

„Ich möchte dir sagen, wie sehr ich mich darüber freue, dass du so viel Spaß hattest. Es tut mir leid, dass ich dich immer wieder daran gehindert habe, deinen geliebten Sport auszuüben. Marc und ich haben in den letzten Tagen viel geredet und ich möchte, dass du weißt, ich habe es immer nur zu deinem Vorteil getan. Aber ich habe eben auch große Angst um dich. Ich glaube aber auch, dass ich dich manchmal zu sehr eingeengt habe.“

Das schlug bei mir ein, wie eine Bombe. Ich konnte es erst gar nicht glauben, aber sie hatte es wirklich so gesagt.

„Mama, es ist gut. Ich weiß, dass du mich schützen willst, aber ich will auch wieder leben und Dinge tun, die ich so gern gemacht hatte, bevor ich krank wurde. Ich möchte einfach normal leben. Ich bin gesund und ich will es genießen, solange ich es kann. Weißt du, ich will leben.“

Danach herrschte absolute Stille am Tisch. Ich spürte, dass das, was ich sagen wollte, viel zu hart herübergekommen war, aber im Kern war es mein Gefühl. Ich wollte leben und das Leben wieder genießen können.

Mama kämpfte mit den Tränen, aber Papa hatte mich verstanden. Er lächelte nach ein paar Sekunden wieder und sprach es dann aus.

„Luc, ich habe dich verstanden. Musstest du es aber so hart ausdrücken? Deine Mutter hat es doch nur gut gemeint.“

„Es tut mir leid, aber ich will nicht mehr ständig an die Leukämie erinnert werden. Ich will ein normales Leben führen können.“

Mario und Leif saßen die ganze Zeit schweigend am Tisch. Völlig überraschend legte Leif seinen Arm um mich und sagte ganz ruhig:

„Ich verstehe dich sehr gut. Auch ich habe dich viel zu lange unterschätzt und nicht ernst genug genommen. Neulich haben wir schon darüber gesprochen. Heute weiß ich, was du für mich bedeutest und was für ein unglaubliches Glück wir mit unserer Familie haben. Ich möchte dich bitten, lass die Vergangenheit ruhen und nach vorne schauen. Die Leukämie ist Vergangenheit, wir sollten sie begraben.“

Das löste bei uns allen große Heiterkeit aus. Wir lagen uns in den Armen und dann kam passend unser Essen. Es herrschte eine gelöste Stimmung und Mario erzählte sogar aus der Klinik und dass er in zwei Tagen in die Klinik zu Stef ziehen würde. Dann begann die Therapie offiziell und er war guter Dinge, dass sie das mit unserer Hilfe schaffen würden.

Nach dem Essen winkte Papa dem Kellner zu und ich dachte, er wollte die Rechnung begleichen, aber von wegen. Er bestellte eine Flasche Champagner. Ich schaute wohl ziemlich verdutzt und auch Leif war sprachlos. Der Chef persönlich brachte die Flasche und die Gläser. Er schenkte uns ein und ich dachte, ich träumte. Papa hatte sich ebenfalls ein Glas genommen und hob es an.

„Liebe Familie, ich finde, heute ist ein guter Tag, auf unsere gemeinsame Zukunft anzustoßen. Luc hat Recht, lasst uns die Leukämie endgültig in die Wüste schicken. Prost!“

Wir nahmen unsere Gläser und ich trank mein erstes Glas puren Champagner. Der Abend wurde noch sehr lustig und spät. Erst gegen Mitternacht fiel ich todmüde, aber sehr glücklich in mein Bett.

Luc: Drei Wochen später

Es herrschte totales Chaos bei uns. Morgen würden wir alle nach Nürnberg aufbrechen zur Hochzeit von Mick und Lukas. Meine Mutter drehte an jeder Schraube, sie hatte immer irgendetwas zu meckern oder zu tun. Leif und ich wären die letzten Tage am liebsten geflüchtet. Papa blieb recht gelassen, aber ich merkte ihm auch die Anspannung an. Schließlich waren es seine Jungs und er war auch sehr stolz auf sie. Was wir noch nicht wussten. Die Trauzeugen sollten bis zuletzt geheim bleiben. Auch der Ablauf der Feier war noch geheim. Die Organisation der Feier hatten Tim und Manuel übernommen. Sie waren extra schon eine Woche früher nach Nürnberg gefahren und bereiteten dort alles vor. Die Feier sollte in einer großen Halle am Rande der Stadt stattfinden.

Ein kurzer Rückblick der vergangenen Wochen. Stef und Mario hatten ihre Therapie begonnen und waren sehr gut vorangekommen. Ich konnte auch bereits eine Veränderung bei Stef bemerken. Er hatte wieder Ziele und er war nur noch selten traurig und depressiv. Mario blühte richtig auf. Die Last der Vergangenheit wurde ihm abgenommen durch die Therapie. Stef und ich kamen immer näher zusammen. Ich fuhr fast jeden Tag in die Klinik und seit einer Woche durfte er auch zu uns nach Hause kommen. Zumindest tagsüber und wenn keine Gespräche anstanden. Seine schulischen Leistungen wurden dramatisch besser. Er begann mit einem enormen Ehrgeiz zu lernen. Sein Ziel war es, das Schuljahr noch zu schaffen. Ich war überzeugt, er würde es packen. Allerdings wurde mir auch bewusst, dass der Tag näher rückte, an dem Mario und Stef wieder nach München gehen würden. Mario ging schon in der nächsten Woche zurück. Er sollte in München die Rückkehr vorbereiten und auch wieder in seinen Beruf bei Geiger Cars zurückkehren. Er freute sich darauf, wieder in einen geregelten Arbeitsalltag zu kommen. Stef blieb noch eine Woche länger und sollte dann in München die ambulante Therapie beginnen. Also schien sich vieles in die richtige Richtung zu entwickeln. Leider stand da auch noch der Prozess gegen die Eltern an. Das Vormundschaftsgericht hatte ihnen jeglichen Kontakt zu den beiden untersagt. Erst nach Ende der Verhandlung sollte darüber erneut verhandelt werden.

Stef hatte immer noch große Angst vor diesem Prozess. Er wollte seinen Eltern am liebsten gar nicht mehr begegnen. Unsere Beziehung entwickelte sich auch weiter. Seine Probleme, Gefühle zu zeigen, wurden immer kleiner. Oft saßen wir aneinander gekuschelt und genossen unsere Zweisamkeit. Auch Mario spürte diese Veränderung. Er freute sich für seinen kleinen Bruder. Die Klinik war auch einverstanden, dass beide uns zur Hochzeit begleiten durften. Für mich war das natürlich ganz toll. Ich freute mich wie ein Schneekönig auf dieses Wochenende. Freitagmittag sollte auf dem Standesamt die Zeremonie sein. Das hieß, wir mussten bereits sehr früh am Freitag aufbrechen. Entsprechend aufgeregt waren wir. Wir, das waren Stef, Mario, Leif und ich.

Mama und Papa hatten die Ruhe gefunden. Das Auto war gepackt und wir machten uns auf den Weg zum Flughafen. Papa hatte sich entschieden zu fliegen. Er war der Meinung, dadurch würden wir viel Zeit sparen. Nun gut, für Mario und Stef war das nicht so einfach. Papa hatte sie einfach eingeladen und für die beiden die Tickets bezahlt. Mario und Stef war das verständlicherweise wieder einmal recht unangenehm und sie hatten das auch zum Ausdruck gebracht. Papa hatte ihnen jedoch auf eine ganz einfache Art klargemacht, warum das so in Ordnung war. Er hatte einfach behauptet, ich wäre sehr unglücklich ohne meinen Freund auf die Hochzeit zu fahren und diese damit auch nicht genießen zu können. Und Stef hätte ohne Mario nicht mitfahren dürfen. Das war natürlich nicht so, aber sie hatten es so akzeptiert und damit war das Ziel erreicht.

Die Fahrt zum Flughafen verlief sehr ruhig, es war eben sehr früh am Morgen. Erst kurz vor der Ankunft am Flughafen spürte ich bei mir eine aufkommende Vorfreude. Zum Einen würde ich meine älteren Brüder wiedersehen und zum Anderen war ich sehr auf die Feier gespannt. Sie hatten etwas Größeres geplant. Selbst Mama und Papa hatten nur sehr wenige Informationen.

Papa stellte den Van auf den bewachten Parkplatz ab und wir marschierten in freudiger Erwartung in Richtung Terminal. Stef hatte ich ganz eng in den Arm genommen, denn er machte einen sehr unsicheren Eindruck. Für ihn gab es immer wieder Phasen, in denen er Probleme hatte, einfach ein Teil unserer Familie geworden zu sein. Es war ihm unangenehm. Wir konnten nur immer wieder mit ihm reden, aber manchmal war es eben sehr schwierig. So eine Situation war hier wieder eingetreten. Ich ließ ihn spüren, dass ich für ihn da bin und er mein Freund und Partner ist. Erst, als wir in die Maschine eingestiegen waren und unsere Plätze eingenommen hatten, entspannte er sich wieder.

Mick: Die Hochzeit mit Lukas

Heute war also unser großer Tag. Seit langer Zeit hatten wir uns auf diesen Tag gefreut. Der einzige Wermutstropfen war, wir mussten in Deutschland heiraten, weil die Schweizer keine homosexuellen Ehen akzeptierten. Sehr schade, denn unsere Heimat war mittlerweile die Schweiz geworden.

Was mich besonders freute war, dass Luc seinen Freund mitbrachte und auch Mario würde mit uns feiern. Für meine Eltern hatten wir auch einige Überraschungen geplant. Die größte würde nach der Gästeliste wohl die Wahl unserer Trauzeugen sein. Ich möchte es hier noch nicht vorwegnehmen, aber da war uns etwas Tolles gelungen.

Ich war mit Lukas noch beim Friseur. Benny hatte die weitere Organisation in der Halle übernommen. Es war ein richtig schönes Gefühl zu sehen, wie sich dieser Junge entwickelt hatte. Er war immer noch mit Marcel zusammen und die beiden waren auch ein Dreamteam. Beide hatten sich sofort bereiterklärt, mit uns diese Feier zu organisieren. Wir hatten viele Freunde aus der Schulzeit eingeladen und auch einige unserer neuen Freunde hier in Deutschland. In etwa waren fünfzig Personen eingeladen. Dazu kamen noch die besonderen Gäste aus dem Freundeskreis von Papa. Eine Überraschung war, dass es mir gelungen war, auch von Jean Todt eine Zusage zu bekommen. Er war früher für mich wie ein Opa an den Rennstrecken, als ich noch sehr klein war. Und er war ja auch bei unserer großen Geburtstagsparty zum achtzehnten Geburtstag dabei. Papa hatte den Kontakt zu ihm nie abreißen lassen.

Lukas und ich saßen also gerade beim Friseur und ließen uns für den großen Moment den letzten Schliff verpassen. Mir war das eigentlich nicht sonderlich wichtig, aber Lukas bestand darauf. Ich schaute in den Spiegel zu meinem neben mir sitzenden Freund und unsere Blicke trafen sich.

„Sag mal, wer holt denn eigentlich unsere Familie ab?“, fragte mich Lukas.

Mir gefror das Blut in den Adern, ich war davon ausgegangen, dass er sich darum gekümmert hatte.

„Jetzt mach kein Scheiß, das wolltest du doch organisieren.“

Ich schaute auf meine Uhr und stellte fest, dass der Flieger in etwa zwanzig Minuten landen würde. Panik machte sich bei mir breit. Das würde richtig Stress geben, wenn keiner von uns sie abholen würde.

Lukas wurde auch richtig blass.

„Ich habe echt gedacht, du machst das. Verdammt, jetzt wird’s aber eng. Wie viel Zeit haben wir noch, bis der Flieger kommt?“

„Das kann nicht wahr sein, an alles denken wir, aber an unsere eigene Familie nicht. Wie peinlich ist das denn wohl.“

Mein Friseur schaute mich etwas verwundert an, aber das musste jetzt sofort geklärt werden. Ich bat ihn, mir mein Handy aus der Jacke zu geben und überlegte schon fieberhaft, wer das übernehmen könnte. Ich entschied mich dafür, Benny anzurufen. Er hatte alle Fäden für die Halle in der Hand.

„Hallo Mick“, meldete er sich ein wenig verwundert, „was gibt es denn? Seid ihr nicht beim Friseur?“

Mir war es zwar furchtbar peinlich, ihm jetzt zu erklären, dass wir unsere Familie vergessen hatten, aber es half ja nichts.

„Benny, doch, wir sitzen noch beim Friseur, aber wir haben ein Problem. Lukas und ich hatten uns gegenseitig darauf verlassen, dass wir uns darum kümmern, wer unsere Familie vom Flughafen abholt. Kannst …“

Weiter kam ich nicht, weil Benny in lautes Gelächter ausbrach. Er kriegte sich überhaupt nicht wieder ein. Ich wurde rot und auch ein wenig ärgerlich. Glücklicherweise beruhigte er sich aber schnell wieder und meinte: „Mensch Leute, kann nicht sein. Ihr seid mir ja zwei. Aber gut, ich kümmere mich darum. Wann muss jemand am Flughafen sein?“

„In zwanzig Minuten landet der Flieger.“

„Oha, das ist ja schon bald. Mick, ich kümmere mich drum. Keine Sorge, dass bekommen wir hin.“

„Danke, ist mir auch sowas von peinlich.“

Lachend verabschiedete er sich von mir und ich atmete tief aus. Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Wie konnten wir das nur vergessen. Am liebsten wäre ich ja sofort selbst losgefahren, aber ich saß mit nassen Haaren beim Friseur. Ein besch… Gefühl. Auch Lukas schien nicht sonderlich begeistert zu sein. Wir saßen einfach schweigend im Stuhl und hofften, dass Benny das hinbekommen würde.

Eine dreiviertel Stunde später standen wir in unserer kleinen Wohnung und waren gerade dabei, uns unsere Anzüge anzuziehen. Wir hatten uns, entgegen unserer normalen Gewohnheit, jeder einen schicken Zweiteiler besorgt. Dazu ein weißes Hemd. Auf die Krawatten hatten wir verzichtet. Wir hassten beide diese Dinger. Allerdings waren wir davon überzeugt, dass wir auch so ausreichend gekleidet waren. Ich fand, Lukas sah richtig toll in diesem Anzug aus. Wir hatten also gerade Hose und Hemd angezogen und ich war dabei meine Hemdknöpfe zu schließen, als es klingelte. Lukas betätigte den Türsummer und nach wenigen Augenblicken stand unsere Familie in unserer Wohnung.

Mama schaute ganz entzückt und auch Papa staunte über unser Outfit. Lediglich Luc und Stef schauten sich kopfschüttelnd an.

„Also wenn das Pflicht ist, sich bei einer Hochzeit so zu verkleiden, dann will ich nie heiraten.“

Dieser Spruch von Luc führte bei allen zu großem Gelächter und guter Stimmung. Endlich war nun Gelegenheit, meine Familie zu begrüßen. Wir umarmten uns alle und ich freute mich, dass auch Mario und Stef mitgekommen waren.

Mit einem schnellen Blick auf die Uhr erkannte ich, dass wir nicht mehr ganz viel Zeit hatten.

„Wie seid ihr eigentlich hergekommen? Hat Benny euch abgeholt?“

Papa nickte und musste lachen.

„Ja, aber er hat uns auch erzählt, dass wir fast mit einem Taxi hätten kommen müssen.“

Scheiße, warum musste er das erwähnen. Ich wurde rot und auch Lukas war das sehr unangenehm. Mama hatte ein feines Gespür für die Situation und entschärfte sie schnell.

„Ist ja alles gutgegangen und solange ihr euren Termin beim Standesamt nicht vergesst ...“

Damit löste sich unsere Anspannung. Allerdings hatte ich nun das nächste Problem. Wie sollten wir alle zum Standesamt kommen? Eigentlich war geplant, dass Benny uns fahren würde.

„Sag mal, Schatz, hast du eine Ahnung, wie wir jetzt alle zum Standesamt kommen sollen? Benny wollte uns doch gleich abholen. Wir passen doch nicht alle in ein Auto.“

Jetzt reagierte Papa am schnellsten.

„Wie ich Benny kenne, wird er das wissen. Und im Gegensatz zu euch scheint er nicht so vergesslich zu sein. Denn er hatte eben auf der Fahrt schon gesagt, dass wir alle zusammen abgeholt werden.“

Erstaunt schaute ich Lukas an, der genauso große Augen machte wie ich. Wir hatten nicht mehr viel Zeit, aber die nutzte ich, um mich mit Mario und Stef ein wenig zu unterhalten. Es war erstaunlich, was für eine Entwicklung die beiden gemacht hatten. Viel selbstbewusster und fröhlicher waren beide. Auch bei Luc konnte ich eine positive Entwicklung spüren. Er war immer in Stefans Nähe und passte auf seinen Freund auf. Allerdings nicht mehr so besorgt wie vor einigen Wochen. Er war einfach nur glücklich. Mir kamen die Erinnerungen an die Zeit mit meinem Lukas im Internat hoch. Ich spürte, die beiden würden ihren Weg machen. Ganz sicher. Die Türklingel unterbrach meine Gedanken.

„Papa, kannst du bitte mal die Tür öffnen. Wir müssen uns fertig anziehen.“

Papa wollte schon losgehen, als sich Luc und Stef bereiterklärten zu gehen. Ich schloss meinen letzten Knopf und zog mir das Jackett an, da hörte ich lautes Gelächter und Stimmengewirr aus dem Treppenhaus. Die Wohnungstür öffnete sich und ich hörte eine Stimme, die mir nicht vertraut war. Nur Lucs Stimme war mir bekannt. Allerdings konnte ich an Marios Reaktion erkennen, dass es wohl jemand war, der ihm zumindest bekannt war.

„Scheiße, das kann doch nicht sein.“

Diese Reaktion von Mario war eindeutig, Papa schaute ihn fragend an, als die Tür aufging und mit einem lauten Hallo Karl Geiger in unserem Wohnzimmer stand. Alle waren so überrascht, dass niemand sofort in der Lage war, darauf zu reagieren. Karl legte noch einen drauf, in dem er ergänzte:

„Mir wurde gesagt, hier wird ein Fahrdienst gebraucht. Ich bitte die Dame und die Herrschaften mir unauffällig zu folgen. Der Standesbeamte wartet nicht gerne.“

Erst jetzt löste sich die Überraschung in Freude und entsprechend fröhlich wurde er begrüßt. Insbesondere Mario wurde von Karl sehr herzlich die Hand geschüttelt. Er freute sich auffällig über das Wiedersehen mit seinem Angestellten.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass wir die Ringe hatten, verließen wir gemeinsam unsere Wohnung. Als wir aus der Haustür traten, staunte ich aber nicht schlecht. Eine riesige Limousine stand vor dem Eingang. Jetzt machte es auch bei mir Klick. Deswegen konnten alle mit einem Auto zum Standesamt fahren.

Karl öffnete uns die Tür und sein Chauffeur Herr Rügamer fuhr uns zum Standesamt. Was für ein Auftritt. Im Innenraum herrschte Luxus pur. Karl nahm eine Flasche Champagner und jeder von uns erhielt ein Glas. Wir stießen gemeinsam an und Lukas gab mir anschließend einen liebevollen Kuss. Alle anderen im Wagen klatschten und jubelten dabei. Die Stimmung war grandios. Es half mir, meine stets steigende Nervosität zu überdecken.

„Herr Geiger, wie kommt es, dass sie hier sind? Von München nach Nürnberg ist es ja ein kleines Stück.“

Karl lachte, ich wusste das bisher aber auch nicht. Erst, als ich Lukas breites Grinsen sah, wurde mir klar, dass dies mein Freund eingefädelt hatte.

„Nun, Lukas hat mich vor einer Woche angerufen und bei meiner Frau angefragt, ob wir das machen würden. Da haben wir natürlich sofort zugesagt. Das wollten wir uns nicht entgehen lassen.“

Jetzt war Luc derjenige, der sofort fragte: „Heißt das, Barbara ist auch hier?“

„Natürlich, glaubst du, das lässt sie sich entgehen?“

Durch diese launige Unterhaltung wurde die Fahrt sehr kurzweilig. Als die Limousine vor dem Standesamt anhielt und uns jemand die Tür öffnete, kam meine Anspannung schlagartig zurück. Mein Schatz nahm meine Hand und gab mir noch einen Kuss.

Gleich würde Papa bemerken, wer unsere Trauzeugen sein würden. Ich war sehr gespannt, wie er darauf reagieren würde. Leif würde sich bestimmt sehr freuen. Wir gingen voraus und unsere Eltern folgten uns. Es herrschte fast eine feierliche Stimmung. Als wir das Trauzimmer betraten und vom Standesbeamten begrüßt wurden, war die Überraschung perfekt. Papa hatte Tom und seine Frau erkannt. Auch Mika war dabei.

Im Handumdrehen herrschte ein heilloses Durcheinander. Papa freute sich riesig, auch Leif und Mika waren sofort wieder ein Herz und eine Seele. Der Beamte bat uns aber recht bald, Platz zu nehmen.

Jetzt wurde es ernst und Ruhe kehrte im Raum ein. Die Tür wurde geschlossen und die Zeremonie begann.

Als alle die Urkunde unterzeichnet hatten, liefen mir die Tränen vor Rührung. Ich konnte es nicht mehr aufhalten. Lukas streichelte mir den Rücken und nach einigen Augenblicken konnte ich mich wieder beruhigen. Ich nahm von Tom den Ring und steckte ihn Lukas an die Hand. Ich zitterte dabei und musste mich sehr konzentrieren.

Und als Lukas von Meike, Toms Frau, den Ring bekam, wurde es endgültig. Er steckte ihn mir auf den Finger und damit waren wir ab jetzt ein richtiges „Ehepaar“.

Marc: Eine Feier, die es in sich hat

Nachdem meine Jungs die Ringe erhalten hatten, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich stand vor den beiden und umarmte sie. Es war ein wunderschönes Gefühl. Ich hätte es mir vor drei Jahren niemals vorstellen können. Meine Jungs waren glücklich verheiratet und ich auf beide unendlich stolz.

Das schönste an dieser Geschichte war, dass ich für meine Kinder wieder eine richtige Familie hatte. Alle meine Jungs hatten Sabine und Luc von Beginn an akzeptiert. Das war für mich keine Selbstverständlichkeit. Der Standesbeamte gratulierte mir genauso wie Sabine und damit war der offizielle Teil beendet.

Vor dem Raum gab es einen kleinen Sektempfang und auch Karl und Barbara freuten sich sehr für uns. Was mich etwas stutzen ließ, Luc und Stefan waren die ganze Zeit in einem intensiven Gespräch mit Karl. Mick und Lukas kamen zu mir und hatten Mario dabei. Ich unterhielt mich mit Tom. Für mich war das eine riesige Überraschung, dass er mit seiner Familie gekommen war. Ich stellte Tom und Mario einander vor und erklärte ihm, wie wir uns kennengelernt hatten. Mario konnte ich den Respekt vor Tom anmerken. Er wusste ziemlich genau, welche Erfolge Tom bereits erreicht hatte.

„Na Mario, wie gefällt dir das hier bislang?“

„Ach Marc, irgendwie ein wenig strange. Ich freue mich für die beiden und auch für euch. Das Wichtigste für mich ist aber, dass ich hier richtige Freunde gefunden habe.“

Er wollte noch etwas ergänzen, aber seine Stimme wurde sehr schwach und Mika übernahm das für ihn.

„Es sind nicht nur Freunde, es ist praktisch deine neue Familie. Ich weiß, wie es sich anfühlt, ein Teil der Familie Steevens sein zu dürfen.“

Dann grinste er mich an und Mario musste lachen. Mika hatte mit seiner Art ganz schnell die Stimmung gerettet.

Karl kam zu uns und bat darum, dass wir uns zum Auto bewegen sollten. Das Paar würde in der Festhalle erwartet. Tom und ich schauten uns grinsend an. Tom erwiderte:

„Wenn die Jungs von den beiden das genauso geplant haben wie Sabine, wird es eine sehr interessante Party werden. Lasst uns aufbrechen.“

Meine Gruppe verließ in der Limousine den Ort. Mick und Lukas hatten auch ein sehr außergewöhnliches Transportmittel zur Halle. Sie hatten sich einen echten HotRod gemietet. Ein offenes Ford Model A aus den dreißiger Jahren mit einem großen V8 Motor. Das gefiel mir richtig gut. Sollte ich mal drüber nachdenken, ob so etwas nicht auch etwas für meine Sammlung werden könnte. Somit war der Tross doch recht umfangreich. Etwa fünf Fahrzeuge verließen den Ort und bewegten sich zu der Halle. In unserer Limousine herrschte gespannte Ausgelassenheit. Luc und Stefan waren wie immer unzertrennlich. Mario schaute sich die beiden genau an und ich spürte eine gewisse Nachdenklichkeit bei ihm. Was ging ihm wohl gerade durch den Kopf? Er hatte die ganze Zeit schon sehr in sich gekehrt gewirkt. Ich beschloss, mit ihm später mal ein ruhiges Gespräch zu führen. Jetzt standen andere Dinge im Vordergrund. Unsere Wagenkolonne bog auf den Parkplatz vor der Halle ein. Dort standen bereits viele der Gäste und warteten auf das „Brautpaar“. Ich konnte sogar einige Spiele erkennen. Sogar ein Baumstamm mit einer großen Säge war aufgebaut. Ich musste schmunzeln. Ab jetzt würde es sehr spannend werden, was sich Benny und seine Freunde alles ausgedacht hatten.

Benny stand mit Marcel ganz vorne und öffnete Mick und Lukas die Tür des Wagens. Wir stiegen ebenfalls alle aus und ich begrüßte sowohl Benny, als auch Marcel besonders herzlich. Dieses Empfangszeremoniell zog sich doch ein wenig hin und erst langsam kamen wir Richtung Festhalle voran.

Vor dem Eingang war ein großer Grillwagen aufgebaut, in dem einige junge Leute Würstchen und Steaks grillten. Mir gefiel das sehr gut, dass hier auf rustikales Essen gesetzt wurde. Es waren überwiegend junge Leute anwesend und entsprechend waren sie auch gekleidet. Ich kam mir ein wenig overdressed vor. Mick und Lukas waren relativ schnell in der Halle verschwunden und somit hatte ich die Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen. Viele von den Freunden kannte ich noch nicht. Luc und Stefan waren den beiden in die Halle gefolgt und auch Mika war mit Leif auf Entdeckungstour. Ich stand jetzt mit Karl, Barbara und Tom mit Frau im Vorraum der Halle. Wir hatten etwas zu trinken bekommen und ich staunte wirklich, wie viele Leute hier halfen.

„Herr Steevens?“, wurde ich plötzlich von einer jungen Frau angesprochen. Ich drehte mich um und vor mir stand eine etwa zwanzigjährige, dunkelblonde Frau.

„Ja?“

„Ich darf Sie hier begrüßen, mein Name ist Jeanette und Benny hatte mich gebeten, Sie und ihre Familie mit Ihren Freunden abzuholen und in den Gästebereich zu bringen.“

„Oh, das ist ja ein toller Service.“

Ich schaute kurz zurück und gab unserer Clique ein Zeichen, dass uns alle bitte folgen sollten.

Wie in einer Prozession zuckelten wir nacheinander durch die Gästeschar. Es war schon sehr gut gefüllt und entsprechend eng. In einem hinteren Teil der Halle, in der Nähe der Cocktailbar hatten sie einen Bereich abgesperrt. Als wir dort eintrafen, musste ich lachen. Benny hatte tatsächlich eine VIP Lounge eingerichtet. Es gab sogar eine VIP Liste und jeder von uns bekam ein buntes Bändchen. Leider konnte ich die Liste nicht einsehen.

Ich nahm mit Tom direkt vor der Cocktail Bar Platz. Dort war noch relativ wenig los und somit konnten wir uns gut unterhalten. Wir sprachen über unsere Familien und die Entwicklung der Kinder. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Leif mit Mika unterwegs war. Mika war mittlerweile ein richtiger Teenager geworden.

Die Barmannschaft verstand ihr Handwerk im Mixen von Cocktails. Sie hatten auch mehrere alkoholfreie Cocktails im Angebot. Tom erzählte mir die neuesten Entwicklungen im Team und plötzlich standen Mick und Lukas neben uns.

„Hallo ihr zwei. Na, wie fühlt es sich an als „Ehepaar“?“

Lukas lachte und küsste demonstrativ Mick. Tom und ich schmunzelten.

„Eigentlich gut, ich freue mich sehr, dass du kommen konntest, Tom. Danke, dass du unser Trauzeuge warst.“

„Passt schon, wir haben uns sehr gefreut, als die Anfrage kam. Was habt ihr noch vor? Habt ihr noch viele Verpflichtungen oder könnt ihr auch mal mit uns ein wenig Zeit verbringen?“

Mick schaute zur Uhr und zählte noch eine Reihe von Dingen auf, die sie zu erledigen hatten. Benny hatte scheinbar einiges vorbereitet. Wir einigten uns darauf, dass wir gemeinsam essen würden.

„Du Marc, ich habe eine Frage. Wie sieht das in diesem Jahr mit dem 24h Rennen auf der Nordschleife aus? Hast du schon was geplant?“

Diese Frage überraschte mich. Eigentlich wollte ich nicht noch einmal an einem großen Rennen teilnehmen. Jedenfalls nicht allein oder in einem Profiteam.

„Nein, noch keine Pläne. Ich weiß auch gar nicht, ob nicht schon Meldeschluss war. Das Rennen ist ja schon bald.“

„Hättest du denn Lust, noch einmal einen Versuch zu starten. Der Letzte war ja leider ein wenig unglücklich mit dem Defekt.“

„Du meinst, ein weiterer Familienstart? Also ein Team Steevens/Kristensen? Oder was hast du gemeint?“

Tom grinste, ich wusste, er hatte bereits konkret etwas geplant.

„Nun, deine großen Jungs haben ja heute geheiratet und ich habe mir lange überlegt, was für ein Hochzeitsgeschenk ich ihnen mitbringen könnte.“

Jetzt wurde ich hellhörig. Ich hatte ihnen eine vierwöchige Reise in die USA geschenkt, sie wollten mit dem Wohnmobil durch den Westen der USA fahren.

„Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht. Erzähl mal.“

Leider kam in diesem Moment Luc mit Stefan vorbei und die beiden setzten sich zu uns an die Bar. Sabine und Meike kamen ebenfalls hinzu. Es wurde zwar sehr lustig und Luc und Stefan hatten zuweilen richtig blöd geschaut, weil wir so viel gelacht hatten über die alten Geschichten, die wir zu erzählen hatten, aber das Thema vom Rennen war vorerst einmal tabu.

Es begann, langsam richtig voll zu werden und ich hatte Toms Andeutungen schon fast vergessen, als ich mit Mario und Karl zusammen am Grillwagen stand. Wir hatten uns gerade etwas zu essen bestellt, als auch Mick und Lukas hinzukamen.

„Papa, ihr braucht euch hier nicht anzustellen. Wir bekommen gleich im VIP Bereich das Essen serviert. Hat Benny euch das nicht gesagt?“

Ich schüttelte den Kopf. Allerdings fand ich das auch gar nicht schlimm. So kam ich immer wieder mir anderen Gästen ins Gespräch und auch Karl schien sich sehr wohl zu fühlen. Es gab sogar echtes Bayrisches Weizenbier. Das war für Karl natürlich von Vorteil. Aber ich wollte den beiden Jungs den Gefallen tun und somit fanden wir uns ein wenig später wieder gemeinsam im VIP Bereich ein. Dort hatte man eine lange Tafel vorbereitet, an der wir Platz nehmen sollten. Es wurde ein richtig lustiges Essen. Den Service hatten Studienkollegen von Mick und Lukas übernommen. Somit erfuhren wir natürlich auch ein paar nette Anekdoten aus dem Studienleben der beiden. Stefan war das manchmal ein wenig unangenehm, aber Luc passte gut auf ihn auf.

Nachdem wir alle mehr als gut gesättigt waren, wollte ich unbedingt mal an die frische Luft. Karl und Mario begleiteten mich. Wir standen ein wenig abseits und genossen die frische Luft, als Karl ein Gespräch begann.

„Was denkst du eigentlich über die Beziehung zwischen Lucien und Stefan? Vor allem, was wird passieren, wenn Stefan wieder nach München geht?“

Diese Frage hatte ich die letzten Wochen immer wieder verdrängt, aber sie war leider berechtigt und aktueller denn je.

„Ich finde, dass es beiden sehr gut bekommen ist. Luc wurde viel selbstbewusster und hat gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Außerdem ist er ziemlich verliebt in Stefan. Für Stefan ist er eine große Stütze gewesen und …“

Mario unterbrach mich.

„Nein, er ist es immer noch. Marc, ohne Luc würde es Stef heute nicht so gut gehen. Ich habe große Angst, wenn Stef wieder nach München kommt und er nicht mehr mit Luc zusammen sein kann.“

Ich wurde nachdenklich. Der Gedanke war mir nicht fremd, aber wir konnten Stef nicht einfach so von seinem Bruder trennen. Und ich konnte nicht auf Dauer seine Erziehung übernehmen.

„Nun, da ihr beide ja hier zusammen mit mir steht und ich bei Karl schon wieder ein Grinsen im Gesicht sehe, was habt ihr euch überlegt?“

Karl lachte und begann mir Folgendes zu erklären:

„Also geplant haben wir gar nichts. Schließlich müssen wir das mit dir und den beiden genau besprechen, aber ich habe gesehen, wie viel Spaß Lucien bei seinem Praktikum hatte. Ich würde mir wünschen, Luc macht eine Ausbildung bei mir. Ich mag ihn sehr, wie du weißt, er hat so viele tolle Ideen und begeistert sich für amerikanische Autos. Ich würde gerne mit ihm langfristig planen.“

„Wie meinst du das, langfristig planen?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass er seine Ausbildung macht und ein duales Studium. Mein Traum wäre es, ihn bei mir einzubinden und dass er vielleicht in zehn Jahren mich als Geschäftsführer ablöst.“

Hoppla, das war jetzt aber ein weiter Schritt nach vorne.

„Karl, das ist noch eine lange Zeit. Ich weiß nicht, was Luc möchte. Ich hatte gehofft, er würde erst einmal sein Abitur machen. Allerdings werde ich ihn unterstützen, sollte er einen anderen Weg gehen wollen.“

„Wie lange muss er noch bis zum Abitur machen?“

„Mindestens zwei Jahre noch und das laufende Schuljahr.“

Mario hatte die ganze Zeit schweigend bei uns gestanden und zugehört. Jetzt mischte er sich mit ein.

„Weißt du Marc, ich habe mir natürlich auch meine Gedanken gemacht. Stef fühlt sich momentan sehr wohl in der Schweiz. Ich weiß, er soll zurück nach München kommen, aber muss das denn schon jetzt sein? Kann er nicht im Internat zumindest so lange bleiben, bis das Schuljahr vorbei ist? Jetzt erneut die Schule wechseln, ist doch auch nicht einfach.“

Dieser Gedanke war mir auch schon gekommen, ich wollte aber heute hier keine Entscheidungen treffen. Ich wollte in Ruhe mit meiner Familie feiern.

„Leute, wisst ihr was? Ich finde, wir sollten uns das alle noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Eines sei von meiner Seite versprochen, sollte Stefan die Schule beenden und zurück nach München zu dir wollen, dann werde ich das genauso unterstützen. Also lasst uns darüber mit allen noch einmal in Ruhe sprechen. Nur nicht heute, ok?`“

Damit waren alle einverstanden und Mario ging erleichtert wieder in Richtung Halleneingang. Karl blieb noch einen Moment bei mir. Wir sprachen allerdings jetzt nur über das Camaro Projekt. Luc hatte bald Ferien und sollte eigentlich dann in München sein. Sollte Stefan aber dann noch bei uns sein, würde das zu Problemen führen.

Karl hatte dafür eine einfache, aber praktische Idee. Stefan sollte dann bei Mario wohnen und Luc bei Karl. Sie würden einfach beide in München ihre Ferien verbringen. Damit wäre ich einverstanden, wenn sie beide Lust hatten.

Plötzlich stand Benny vor uns und holte uns in die Halle zurück. Eine Überraschung stand auf dem Zeitplan. Also machten wir uns mit ihm auf den Weg hinein. Die Stimmung in der Halle war deutlich nach oben gegangen, es wurde inzwischen schon getanzt und gefeiert. Mick und Lukas waren mittendrin und das freute mich unheimlich. Sie waren hier vollkommen integriert und anscheinend sehr beliebt. Wir waren noch nicht ganz in die Nähe der kleinen Bühne gekommen, als plötzlich die Musik leiser und das Licht verdunkelt wurde.

Benny führte uns unbeirrt Richtung VIP Bereich. Plötzlich flammte ein Spot auf und Marcel stand auf der Bühne und neben ihm Leif und Mika. Nanu?

„So, liebe Leute“, begann Marcel zu sprechen, „es wird nun Zeit für eine kleine Überraschung. Ich möchte deshalb natürlich auch das „Brautpaar“ auf die Bühne bitten.“

Es kam Jubel und Applaus auf. Ich konnte sehen, dass ein Scheinwerfer durch die Menge zog und als Mick im Spot auftauchte, wurde er auf dem Weg zur Bühne von dem Lichtkegel begleitet. Lukas hatte er natürlich im Schlepp. Sie stiegen die drei Stufen auf die Bühne und Marcel fuhr fort.

„Es ist ja eigentlich heute eure Feier und ihr habt einiges zu tun. Allerdings gibt es auch einige Leute, die wir nicht vergessen haben. Denn ohne die würden wir hier heute nicht feiern können. Ich würde daher Mick bitten, das Mikro zu übernehmen.“

Mick nahm das Mikro und es schien mir so, als ob er genau wusste, was nun kommen würde.

„Liebe Gäste, liebe Freunde, ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, einer Person ganz besonderen Dank auszusprechen. Dieser Person verdanken viele aus meinem Umfeld sehr viel. Diese Person hat nie gefragt, ob etwas geht oder nicht, sondern immer nur danach geschaut, ob es für uns das Beste war. Heute möchte ich dieser Person auch etwas zurückgeben, allerdings nicht nur ich möchte das, sondern ich möchte folgende Personen bitten, zu mir zu kommen.“

Jetzt holte er einen Zettel aus der Tasche und verlas eine Liste. Da ich alle Namen auf der Liste sehr gut kannte, begann ich zu ahnen, was gleich kommen würde. Als alle Personen auf der Bühne standen, fuhr Mick fort.

„Früher, als ich noch sehr klein war und Papa noch in der Formel 1 unterwegs war, hatte sich immer eine Person besonders um mich gekümmert. Sie war so etwas wie ein Großvater für mich. Ich weiß, dass mein Papa zu dieser Person immer ein besonders herzliches Verhältnis hatte und auch heute noch hat. Und das, obwohl es damals sein Chef war. Heute habe ich die Gelegenheit genutzt und diese Person als besonderen Gast eingeladen. Herzlich willkommen und vielen Dank, dass du gekommen bist. Jean Todt.“

Jetzt war ich platt. Damit hatte ich nun ja gar nicht gerechnet. Und erst, als ich ihn tatsächlich aus dem hinteren Teil der Bühne nach vorne kommen sah, wurde mir klar, er war wirklich hierher gekommen. Ich hatte keine Ahnung, dass Mick sich darum kümmern würde. Ja, Jean war für mich damals wie ein Vater und Großvater für meine Jungs.

Er stand jetzt auf die Bühne und nahm von Mick das Mikro.

„Lieber Mick, lieber Lukas, ich wünsche euch alles Gute auf eurem gemeinsamen Weg. Heute möchte ich aber auch eurem Vater ein Geschenk überreichen. Ich möchte daher Marc einmal auf die Bühne bitten.“

Alle Augen waren nun auf mich gerichtet und mir blieb wohl nichts anderes übrig, als auf die Bühne zu kommen. Ich begrüßte Jean mit einer langen herzlichen Umarmung. Es war sehr emotional für mich, denn alle Jungs auf der Bühne applaudierten. Jean ging zu Mick und hatte das Mikro wieder in der Hand.

„Lieber Marc, diese Leute hier auf der Bühne sind dir zu großem Dank verpflichtet und ich bin dir ebenso zu Dank verpflichtet, weil du auch heute noch loyal zu deinem damaligen Arbeitgeber stehst. Ich bin sehr stolz auf unsere gemeinsame Zeit und unsere Freundschaft. Heute habe ich etwas mitgebracht, dass ausschließlich für dich sein soll.“

Tom kam nun auch auf die Bühne und ich ahnte Böses. Jean holte einen Umschlag hervor und begann zu lesen. Je mehr er las, desto fassungsloser wurde ich. Am Ende hatte ich die Zusage, in dem Team von seinem Sohn auf einem werksunterstützten 458er scuderia Ferrari, das 24h-Rennen auf der Nordschleife fahren zu können. Und zwar mit Lukas, Mick und Tom als Unterstützung. Wir sollten eine neue Chance bekommen, dieses Rennen auch beenden zu können. Ich war sehr gerührt und selbst Sabine freute sich für uns. Auch wenn sie nie begeistert war, wenn es um Rennsport ging. Sie wusste genau, was mir diese Sache bedeutete. Das Tolle daran war, Manuel und Mario würden uns als Mechaniker unterstützen. Also wieder ein Familienteam. Einfach eine wunderschöne Überraschung.

 

Nachdem sich die Aufregung ein wenig beruhigt hatte und alle wieder zu normalem Feiern übergegangen waren, stand ich nun mit Jean und Tom an der Bar. Mika und Leif waren auch bei uns. Wir unterhielten uns noch sehr lange.

Zwischendurch waren auch Stefan und Luc bei uns gewesen und ich hatte das Gefühl, alle waren sehr zufrieden. Sabine und Meike hatten sich auch sehr gut unterhalten und waren den ganzen Abend immer wieder auch auf der Tanzfläche gesehen worden. Gegen Mitternacht musste ich schließlich auch auf die Tanzfläche und dann wurde noch richtig abgerockt.

Gegen drei Uhr morgens verließ ich mit Sabine, Luc und Stefan die Party. Leif und Mika wollten noch bleiben. Wir wurden zu unserem Hotel gefahren und eine tolle Party war damit für uns zu Ende. Mick und Lukas sollten noch mit ihren Freunden ihren Spaß haben. Wir hatten uns alle im Hotel zum gemeinsamen Brunch verabredet. Beginn sollte um halb elf sein.

Luc: Gedanken über die Zukunft

Diese Feier werde ich nicht so schnell vergessen. Dieses grandiose Gefühl, mit Stef auf der Tanzfläche zu sein und sich nicht verstecken zu müssen. Als wir um kurz nach drei im Hotel ankamen, war ich noch so aufgedreht, dass ich mit Stef erst noch duschen gegangen bin. Wir waren beide fast euphorisch. Niemand hatte sich daran gestört, dass wir zusammen getanzt oder auch mal geschmust haben.

Völlig übermüdet sind wir dann aber ganz schnell eingeschlafen und jetzt war es kurz vor zehn und ich lag neben Stef im Bett. Er schlief noch tief und fest. Ich beobachtete, wie sein Körper sich regelmäßig durch das Atmen bewegte. Seine Blutergüsse waren verschwunden und sein Körper bekam immer mehr Muskeln und mir wurde bewusst, wie sehr ich ihn mochte. Umso beunruhigter war ich bei dem Gedanken, dass er bald wieder nach München ging und unsere Zweisamkeit auf eine harte Probe gestellt würde. Ich legte meine Hand auf sein Gesicht und streichelte es. Es fühlte sich weich und warm an. Ich konnte nicht anders und küsste ihn. Dabei wachte er auf und schaute mich aus seinen tollen Augen an. Schnell umarmte er mich und es kam zu einer heftigen Knutscherei, an deren Ende unsere Boxer nicht mehr in korrektem Zustand waren. Aber es war wunderschön. Wortlos gingen wir duschen. Erst nach der Dusche sprachen wir wieder miteinander.

„Luc, ich liebe dich und ich habe Angst vor der Zeit, wenn ich wieder in München bin.“

Ich musste tief seufzen.

„Ja, ich auch. Es ist aber wohl so. Du kannst nicht auf ewig hierbleiben. Jedenfalls noch nicht.“

Stef schaute mich aus seinen traurigen Augen an und mir wurde auch sehr schmerzhaft bewusst, was das heißen würde.

„Komm, solange wir hier sind, sollten wir die Zeit genießen. Wer weiß, vielleicht gibt es ja noch eine andere Lösung. Jetzt gehen wir erst einmal zum Brunch, ich habe Hunger.“

Er gab mir einen Kuss und wir gingen dann hinunter in den großen Speiseraum des Hotels. Papa und Mama saßen schon mit Mario am Tisch. Leif war noch nicht da. Wir traten an den Tisch und begrüßten alle mit einem freundlichen „Guten Morgen.“

Papa schaute uns lächelnd an und bat uns Platz zu nehmen.

„Na, gut geschlafen? Und habt ihr Spaß gehabt?“

„Ja, Papa, es war eine tolle Feier und wir haben auch noch gut geschlafen. Es ist einfach nur schön, mit euch zusammen zu sein.“

Jetzt guckte Papa mich sehr merkwürdig an und Mama musste grinsen. Mario lachte laut und meinte:

„Ich denke eher, wunderschön ist es, dass ihr zusammen sein könnt und deine Eltern es unterstützen.“

Anhand der Reaktion meiner Eltern wurde es mir peinlich. Aber Stef machte jetzt etwas Erstaunliches. Er nahm meine Hand, drehte mich zu sich und küsste mich dort vor allen Leuten. Das hätte er vor drei Wochen auf keinen Fall gemacht. Ein wunderschönes Gefühl.

„Ok, ok, ist schon gut. Wir haben es verstanden, Stefan. Jetzt setzt euch zu uns und lasst uns zusammen essen.“

Papa lachte uns an und auch Mama schien beeindruckt zu sein von Stefs Aktion. Wir setzten uns und auch Mario schaute sehr anerkennend zu seinem Bruder. Im Hotel schien es allerdings auch Aufmerksamkeit erregt zu haben. Ich konnte eine gewisse Unruhe um uns herum fühlen. Ich blendete das aus, weil es mir mittlerweile egal war, was andere Leute darüber dachten. Ich wusste, meine Familie stand hinter mir.

Der Brunch war sehr lecker und reichhaltig. Nach einer Stunde gemütlichen Beisammenseins brachen wir auf, um Mick und Lukas noch einmal zu treffen, bevor wir wieder zurückflogen.

Sie waren bereits in der Halle, wo sie mit den Freunden gemeinsam aufräumten. Ich erschrak ein wenig. Sie sahen nicht sonderlich erholt aus. Die Feier schien noch recht lange weitergegangen zu sein. Als wir von ihnen bemerkt wurden, unterbrachen sie ihre Arbeit und begrüßten uns.

„Hi, na wie habt ihr die Feier überstanden? Hat es euch gefallen?“, fragte Mick.

Und wieder war es Stef, der als Erster antwortete und mich und auch meine Begleiter damit in Erstaunen versetzte.

„Ja, das war die tollste Feier, die ich bislang erlebt habe. Vielen Dank für die Einladung. Ich wünsche euch ganz lange Glück in eurer Ehe.“

Mick umarmte Stef für diesen tollen Satz und auch Lukas schien das sehr bewegt zu haben. Mama und Papa bestätigten ihre Freude über die Feier und so wurde recht schnell klar, die Feier war ein voller Erfolg. Papa bedankte sich noch einmal für die gelungene Überraschung und leider war es schon wieder Zeit, die Rückreise anzutreten.

Der Abschied fiel mir schwer und ich fand es sehr schade, Mick und Lukas schon wieder verlassen zu müssen. Allerdings sprach Lukas uns eine Einladung aus. Sie meinten, in den Sommerferien könnte ich ja mit Stef dann mal zu ihnen fahren. Ich wäre vermutlich eh in München und da würde sich das anbieten. Dieser Gedanke schien mir plausibel und wir sagten auch sofort zu.

Doch leider war nun der Zeitpunkt gekommen, in Richtung Flughafen aufzubrechen. Karl und Barbara hatten erneut für den Fahrdienst gesorgt, allerdings wurde das Programm noch einmal kurzfristig geändert. Bevor wir uns am Flughafen trennen würden, hatte Karl mit Barbara einen Termin anberaumt, um zu klären, wie es denn jetzt weitergehen würde.

Dieses Gespräch fand im Café am Flughafen statt. Karl hatte einen Tisch reserviert und wir saßen gemeinsam um einen großen runden Tisch.

Ich war ein wenig irritiert. Was hatte diese Besprechung zu bedeuten?

„Bevor hier eine unnötige Anspannung entsteht, möchte ich aufklären, warum wir uns hier getroffen haben“, begann Papa mit dem Gespräch. „In der nächsten Woche wird Mario seine stationäre Therapie beenden und wieder zurück nach München fahren. Karl erwartet ihn schon sehnsüchtig in der Firma.“

Mit einem Blick konnte man erkennen, das war zwar nicht ganz ernst gemeint, aber Mario schien sich auch zu freuen, wieder arbeiten zu können.

„Es war ursprünglich geplant, dass Stefan eine Woche später seine stationäre Therapie in der Klinik beendet und dann ebenfalls wieder nach München zurück geht, dort ambulant die Behandlung fortsetzt und bei Mario wohnt.“

Bei diesem Satz spürte ich einen Schmerz in der Brust. Es tat einfach weh, das zu hören und zu wissen, die gemeinsame Zeit ging zu Ende.

„Gestern habe ich mit Karl und Mario ein kurzes Gespräch gehabt und bin dabei auf eine Sache gestoßen, die mir auch schon länger Kopfschmerzen macht. Dabei geht es um die Tatsache, dass sich Stefan bei uns in der Schweiz ziemlich gut eingelebt hat und auch in der Schule gut mitkommt.“

Stef und ich schauten uns an und waren sehr gespannt, was nun kommen würde. Karl mischte sich ein.

„Nun, mein Gedanke ist eigentlich ganz einfach. Stefan müsste mitten im Schuljahr wieder in seine alte Klasse zurück wechseln. Mario hat wenig Zeit, sich um Stefan zu kümmern und wird bei mir in der Firma viel zu tun haben. Deshalb meine Frage an dich, Stefan. Könntest du dir auch vorstellen, das Schuljahr im Internat fertig zu machen und erst anschließend wieder nach München zu kommen? Bis dahin hätte Mario seine Zusatzausbildung fertig und könnte sich dann auch besser um dich kümmern.“

Die Katze war aus dem Sack und ich konnte anhand der Gesichter von Mama und Papa sofort erkennen, das war mit Karl bereits abgesprochen. Stefan bekam erst ein ungläubiges Staunen in sein Gesicht und dann ein Lachen.

„Klar, das wäre sogar richtig geil. Ich fühle mich nämlich sehr wohl im Internat und bei meinem Freund Luc.“

„Und was meint mein jüngster Sohn zu diesem Vorschlag? Könntest du dir vorstellen, noch etwas länger von deinem Freund begleitet zu werden oder geht er dir auf die Nerven und du möchtest, dass er nach München geht?“

„Blödmann“, war meine spontane Reaktion. Zu mehr war ich nicht in der Lage, es war einfach zu überraschend.

„Also ich sehe, so ganz auf Ablehnung scheint dein Vorschlag nicht zu stoßen. Wir werden das mit dem Internat besprechen. Wenn Dr. Steyrer einverstanden ist, wovon ich ausgehe, dann fände ich das eine sinnvolle Lösung.“

Ich sprang vom Stuhl auf und umarmte meinen Vater. Der hielt mich zwar kurz fest, aber meinte dann:

„Du musst dich nicht bei mir bedanken, sondern bei Karl. Es war seine Idee und er hat das mit Mario schon besprochen. Also diese Lorbeeren musst du an ihn geben.“

Das tat ich dann auch. Ich umarmte sowohl ihn als auch seine Frau Barbara. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Entsprechend sprachlos war auch Stef. Mit diesem Ergebnis trennten sich unsere Wege erst einmal. Wir checkten in unseren Flug ein und Karl und Barbara fuhren weiter nach München.

Auf dem Flug zurück hing ich meinen Gedanken nach. Stef war eingeschlafen, ich schaute aus dem Fenster und dachte nach. Vielleicht würde Stef doch länger bei mir bleiben können und ich würde bis zu den Sommerferien mit meinem Freund zusammen sein. Was würde danach kommen? Ich wollte auf jeden Fall mein Abitur machen. Allerdings machte mir die Arbeit bei Karl in der Firma auch sehr viel Spaß. Eine Ausbildung im Automobilbereich, ja, warum eigentlich nicht. Vielleicht danach studieren, ich wurde sehr nachdenklich. Ich sollte mit Papa darüber sprechen. Eine Ausbildung in München zum jetzigen Zeitpunkt wollte ich noch nicht. Darüber war ich mir im Klaren.

„Na, Schatz. Worüber denkst du gerade so angestrengt nach?“

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und schaute in das lächelnde Gesicht meines Vaters. Er stand auf dem Gang. Wir gingen ein Stück den Gang entlang, um Stef nicht zu wecken. Wir standen jetzt an der kleinen Teeküche, wo das Servicepersonal normalerweise die Speisen oder Getränke vorbereitete.

„Was ist los, du bist sehr nachdenklich. Machst du dir Gedanken über Karls Vorschlag?“

Ich nickte und sagte:

„Nicht nur darüber. Mir ist bewusst geworden, dass ich mir auch mal Gedanken machen müsste über meine Zukunft. Was möchte ich eigentlich machen, also nach der Schule.“

„Das ist schon mal nicht schlecht. Ich finde es gut, dass du über deine Zukunft nachdenkst, aber das Flugzeug ist sicher nicht der richtige Ort dafür. Lass uns zu Hause darüber sprechen, wenn du magst. Karl hat mir auch noch etwas mehr erzählt und ich finde, darüber sollten wir beide dann auch mal reden.“

In diesem Moment kam eine Flugbegleiterin an uns vorbei und Papa fragte sie freundlich, ob wir zwei Cappuccino bekommen könnten. Sie lächelte uns an und meinte:

„Natürlich Herr Steevens. Wenn sie bitte einen Moment Geduld haben. Ich bringe sie ihnen dann zu ihrem Platz.“

„Wenn es möglich ist, würden wir gerne hier noch einen Moment verweilen. Ich bin gerade in einem Gespräch mit meinem Sohn.“

„Natürlich, sehr gern.“

Sie begann in der kleinen Küche zwei Tassen Cappuccino zu brühen und wir schauten durch ein kleines Fenster nach draußen.

Papa legte mir seine Hand auf die Schulter und sprach leise mit mir.

„Ich finde es wirklich toll, wie du dich um Stefan kümmerst und wie ihr euch entwickelt habt. Ich werde gleich morgen mit Herrn Steyrer telefonieren und einen Termin mit ihm ausmachen. Wenn das geklärt ist, würde ich gerne mit dir über deine Wünsche und Pläne mal sprechen. Was meinst du?“

In diesem Moment bekamen wir unsere beiden Becher und Papa bedankte sich dafür. Ich wollte Papa gerade antworten, als sich der Kapitän meldete:

„Meine Damen und Herren, hier spricht ihr Flugkapitän. Wir müssen sie bitten, ihre Plätze einzunehmen und sich anzuschnallen. Es könnte zu Turbulenzen kommen. Vielen Dank!“

Wir nahmen unsere Becher und gingen zu unseren Plätzen. Ich schnallte mich an und da Stef noch schlief, tat ich das Gleiche bei ihm. Unser Platz war genau hinter den Tragflächen. Ich konnte erkennen, dass wir längst nicht mehr so hoch flogen. Die Berge waren viel näher als sonst. Ich sah zu Papa, der mit Mama auf der anderen Seite des Gangs saß. Er machte eine beruhigende Geste, schien aber auch besorgt zu sein. Irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. Ich schaute erneut aus dem Fenster und da konnte ich eine Rauchfahne aus dem rechten Triebwerk erkennen. Es war eindeutig. Ich erschrak. Was sollte ich tun? Eine Flugbegleiterin ging durch den Gang und prüfte, ob auch alle Passagiere angeschnallt waren. Als sie bei uns ankam, sprach ich sie leise an.

„Entschuldigen Sie, aber schauen Sie mal aus dem Fenster. Ich glaube, das rechte Triebwerk qualmt. Weiß der Kapitän das bereits?“

Sie schaute mich freundlich an, gab mir aber eine sehr bestimmte Antwort.

„Ja, junger Mann, der Kapitän ist über das Problem informiert. Bitte bleib ruhig und behalte es für dich. Das Triebwerk wurde abgeschaltet und es wird gleich aufhören, zu qualmen.“

Ich nickte und dachte mir nichts weiter dabei. Ich wusste, dass moderne Flugzeuge auch ohne ein Triebwerk sicher weiterfliegen konnten. Was mir allerdings schon zu denken gab, war die geringe Flughöhe. In diesem Moment kam eine weitere Ansage des Kapitäns.

„Liebe Fluggäste, wir sind aufgrund eines technischen Problems gezwungen, auf einem anderen Flughafen zu landen. Bitte bleiben Sie auf ihren Sitzen und bleiben Sie angeschnallt. Die Landung in Basel könnte etwas härter ausfallen, als Sie es gewohnt sind. Achten Sie bitte auf die Anweisungen des Kabinenpersonals. Vielen Dank!“

Das hörte sich aber doch etwas ernster an, als ich gedacht hatte. Ich schaute zu meinen Eltern hinüber und dann beschloss ich, Stef doch zu wecken. Ich stupste ihn an der Schulter und er öffnete verschlafen die Augen.

„Was ist los? Warum weckst du mich aus meinen schönen Träumen? Sind wir schon da?“

Ich erklärte ihm ganz kurz die Situation und schlagartig war er wach. Ich nahm seine Hand und versuchte ihn zu beruhigen. Er hatte offensichtlich viel mehr Probleme mit der Situation als ich. Ich umarmte ihn liebevoll und erst jetzt hatte ich bemerkt, wie still es eigentlich im Flugzeug war. Alle Passagiere waren still und saßen in ihren Sitzen.

So langsam wurde mir mulmig. Was war hier los. Jetzt konnte ich eine der Flugbegleiterinnen im Gang stehend erkennen. Sie gab uns Anweisungen, wie wir uns hinzusetzen hatten. Die Landung würde jetzt erfolgen. Das Flugzeug sackte noch einmal kräftig durch und dann setzte es sehr hart auf der Landebahn auf. Es hob noch einmal ab, um dann endgültig auf dem Boden auszurollen. Jetzt wurde es laut in der Kabine. Sobald die Maschine stand, wurden die Türen und Notausstiege geöffnet. Die Notrutschen bliesen sich auf und dann ging alles sehr schnell. Erst, als ich unten war und Stef hinter mir aus der Maschine gekommen war, liefen wir einige Meter von dem Flugzeug weg. Überall standen Feuerwehrfahrzeuge und besprühten die Triebwerke mit Schaum. Wir standen in einer Traube von Menschen und ich schaute mich nach meinen Eltern, Leif und Mario um. Sehen konnte ich sie nicht. Stef begann panisch zu werden. Er wollte sofort wissen, was mit seinem Bruder ist. Bevor wir uns auf die Suche machen konnten, wurden wir von Rettungskräften vom Flugzeug weggebracht und kamen in einen Bus. Dort wurde uns erklärt, dass alle Passagiere das Flugzeug sicher verlassen hätten und wir nun ins Flughafengebäude gebracht würden.

Wir waren alle vollkommen geschockt und auf dem Weg zum Terminal konnte ich noch einen Blick auf die auf dem Rollfeld stehende Maschine werfen. Sie war komplett eingeschäumt und die Feuerwehr stand rund um die Maschine. Weitere Busse mit Passagieren folgten uns in Richtung Gebäude. Wir fuhren in eine Halle hinein und wurden dort direkt in einen großen Raum geführt. Dort warteten bereits einige Mitarbeiter des Flughafens. Wir wurden freundlich empfangen und bekamen auch warme und kalte Getränke gereicht. Nach und nach trafen immer mehr Passagiere ein. Als der letzte Schwung Personen im Raum war, wurden die Türen geschlossen. Jetzt wurden die Passagierlisten abgefragt. Als Mama und Papa vorgelesen wurden, sah ich genau hin. Gott sei Dank, dahinten standen sie. Mein Name wurde jetzt auch aufgerufen und dann nahm ich Stef am Arm und wir bewegten uns durch die Halle zu meinen Eltern. Mama fiel uns sehr erleichtert um den Hals. Mario und Leif waren auch bei ihnen und somit waren wir alle wieder vereint.

Nachdem wir vom medizinischen Personal begutachtet worden waren und es anscheinend außer dem großen Schrecken keine Verletzungen gegeben hatte, wurden wir gebeten, uns in einem gesicherten Terminal einzufinden. Dort sollte unsere weitere Reise geplant werden. Papa holte uns zusammen und wir standen gemeinsam im Kreis vor einer Sitzgruppe.

„So, liebe Leute. Wie geht es euch? Wir müssen uns jetzt entscheiden, wie wir nach Hause reisen wollen. Hat jemand Bedenken gegen das Fliegen?“

Er schaute uns an und ich war mir nicht sicher, ob ich schon wieder fliegen wollte. Allerdings staunte ich ziemlich über Stef. Für ihn schien das alles gar kein großes Problem zu sein, denn er sagte klar:

„Also ich bin für fliegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns so etwas noch einmal passiert, tendiert gegen Null.“

„Gute Antwort, Stefan“, grinste Papa.

Von den anderen gab es keinen Widerspruch und somit kümmerte sich Papa nun um den Flug nach Hause. Mir war klar, es würde noch ein Weilchen dauern, bis wir weiterfliegen konnten. Also versuchte ich etwas mehr herauszubekommen über die Ursachen. Das gestaltete sich allerdings als nahezu unmöglich. Das Einzige, was wir an Informationen bekamen, war, dass es sich um ein technisches Problem gehandelt hatte.

Neunzig Minuten später saßen wir in der First Class eines Airbus und flogen Richtung Heimat. Immerhin bekamen wir den Flug in der First Class als kleine Entschädigung. Über alle weiteren Folgen dieses Zwischenfalls machte ich mir keine Gedanken. Ich war nur froh, dass wir bald wieder zu Hause sein würden. Unser Gepäck sollten wir einige Tage später nachgeschickt bekommen. Es war ja in der Unglücksmaschine geblieben.

Es war bereits nach Mitternacht, als wir endlich vor unserem Haus standen und ich dann mit Stef todmüde ins Bett fiel. Morgen war wieder Schule angesagt.

Marc: Gespräch im Internat

Unsere Reise nach Nürnberg hatte ein gutes Ende gefunden und glücklicherweise hatte niemand Schaden genommen. Auch psychisch hatten wir den Zwischenfall gut überstanden. Ob es später noch zu Problemen kommen würde, mussten wir abwarten. Jedenfalls hatten die Jungs die Nacht gut verbracht und waren heute Morgen mehr oder weniger gut gelaunt in die Schule bzw. in die Klinik, gestartet. Ich hatte mir vorgenommen, ein Gespräch mit Herrn Dr. Steyrer zu führen.

Während ich mit Sabine beim Frühstück saß, nahm ich mir das Telefon und rief im Sekretariat an. Sabine hatte in der Zeitung einen Bericht über den Zwischenfall gefunden und las diesen sehr aufmerksam.

„Schnyder“, meldete sich die Sekretärin.

„Guten Morgen Frau Schnyder, Marc Steevens hier.“

„Herr Steevens, wie schön mal wieder von ihnen zu hören. Wie geht es Ihnen? Mit den Jungs alles in Ordnung?“

„Danke, uns geht es gut. Ich habe ein Anliegen und möchte das gerne mit dem Chef besprechen. Ist er im Hause?“

„Einen Augenblick bitte. Im Hause ist er, ich schaue gerade mal, ob er in seinem Büro ist.“

Ich konnte hören, wie Frau Schnyder nach nebenan ging. Einen Augenblick später knackte es in der Leitung und ich hatte den Leiter der Anstalt am Apparat.

„Herr Steevens, Guten Morgen. Was verschafft mir die Ehre ihres Anrufes am frühen Morgen.“

Wir mussten beide kurz lachen. Der Rektor war, wie so oft, guter Laune und das machte es für mich immer sehr einfach, mit ihm eine gute Gesprächsebene zu finden.

„Herr Steyrer, es geht um die Zukunftsplanung von Stefan Langen.“

„Oh, gibt es Probleme in der Klinik?“

„Nein, glücklicherweise nicht. Im Gegenteil, die Entwicklung ist sehr positiv. Allerdings möchte ich mit Ihnen über die weitere Zukunft sprechen. Wann hätten Sie Zeit dafür?“

„Ach so, ich bin ab morgen für drei Tage zu einer Fortbildung. Wie wäre es heute um halb zwei am Mittag?“

Ich fragte kurz bei Sabine, ob da bei uns etwas anlag. Das war nicht der Fall und damit sagte ich diesen Termin sofort zu.

Nach einem sehr ruhigen und erholsamen Vormittag machte ich mich um kurz nach eins auf den Weg in das Internat. Ich fuhr mit dem Ferrari offen auf den Parkplatz und genoss die Sonne. Das Dach surrte fast geräuschlos nach oben und ich betätigte die Fernbedienung. Den Weg zum Sekretariat hätte ich mittlerweile vermutlich auch mit verbundenen Augen gefunden. Ich klopfte an und wartete auf das „Herein“ von Frau Schnyder. Diesmal kam allerdings kein „Herein“, sondern sie öffnete mir persönlich die Tür. Für einen kurzen Moment war ich verblüfft, als sie direkt vor mir stand.

„Frau Schnyder, erschrecken Sie mich nicht so.“

Wir mussten beide herzlich lachen. Sie war immer für einen kleinen Spaß zu haben. Nachdem wir uns die Hand gegeben hatten, bat sie mich herein und bot mir einen Kaffee an. Herr Steyrer sei noch im Gebäude unterwegs und würde gleich zurück sein. Wir unterhielten uns sehr angeregt über alltägliche Dinge und auch über meine Kinder.

„Wissen Sie, Herr Steevens, Leif hat sich hier sehr verändert. Seit einigen Wochen fängt er an, Verantwortung zu übernehmen. Er hat begonnen, wie seine großen Brüder, sich in der Schülervertretung zu engagieren. Er ist nicht mehr der sorglose Junge von Marc Steevens.“

Diese Aussage machte mich einerseits neugierig, aber auch traurig. Warum der sorglose Junge von Marc Steevens?

„Wie meinen Sie das mit dem sorglosen Jungen?“

„Nun, hier war er bislang immer nur der kleine Bruder von Mick und Lukas. Er war unauffällig und hatte das Image, Sohn eines reichen Promis zu sein. Er hatte sich ja auch einige Eskapaden erlaubt, aber seit einigen Wochen verändert er sich. Wie ich finde, zu seinem großen Vorteil.“

In diesem Moment kam Herr Steyrer ins Sekretariat. Wir begrüßten uns und er bat mich, mit in sein Büro zu kommen. Ich wollte aber den Gedanken mit Frau Schnyder nicht so stehen lassen.

„Frau Schnyder, haben Sie gleich einen Moment Zeit? Ich würde das Gespräch gerne noch fortführen.“

„Gerne, ich bin bis um vier heute im Dienst. Kommen Sie einfach vorbei, wenn es Ihnen passt.“

Ich bedankte mich und folgte Herrn Steyrer in sein Büro. Bevor wir uns setzten, fragte er mich:

„Haben Sie etwas dagegen, wenn wir gemeinsam zu Mittag essen? Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, etwas zu essen.“

„Gerne, ein guter Vorschlag. Wo wollen wir hingehen? Ich denke, in der Mensa werden wir kaum Ruhe finden.“

Er musste schmunzeln.

„Da haben Sie sicherlich Recht. Haben Sie eine Idee?“

„Ja, ich denke schon. Wollen wir dann direkt losfahren oder müssen Sie hier noch etwas erledigen?“

Er sagte nur noch Frau Schnyder Bescheid und wir gingen auf direktem Wege zum Parkplatz.

Wie selbstverständlich begleitete er mich zu meinem Wagen. Als wir vor dem Ferrari standen, musste er doch ein wenig schmunzeln.

„Also in so einem Gerät bin ich auch noch nie gefahren. Hoffentlich komme ich da überhaupt noch hinein und nachher auch wieder heraus.“

„Ach, Sie sind doch gar nicht so viel älter als ich. Das klappt bestimmt.“

Wir stiegen ein, und bevor ich den Motor startete, fragte ich ihn:

„Haben Sie etwas dagegen, wenn wir bei dem schönen Wetter das Dach öffnen?“

Er willigte ein und somit fuhren wir mit offenem Dach vom Parkplatz. Das lustige an dieser Aktion war, beim Abbiegen wurde Herr Steyrer von einigen Schülern erkannt. Die staunten nicht schlecht, ihren Direktor in einem offenen Ferrari zu sehen. Nach wenigen Minuten standen wir vor Salvatoris Restaurant. Ich hatte zwar keinen Tisch bestellt, aber mittags sollte es kein Problem sein, dort einen Tisch zu bekommen. Wir wurden wie immer sehr freundlich empfangen und bekamen auch einen schönen Tisch in einer Ecke des Lokals.

Man brachte uns die Karten und wir bestellten uns etwas zu trinken. Während wir die Karten studierten, fragte mich Herr Steyrer:

„Sagen Sie, Herr Steevens, ist es nicht manchmal ein wenig anstrengend, wenn man so bekannt ist wie Sie?“

„Nein, nicht mehr. Hier ist es eigentlich so, dass ich kaum noch angesprochen werde. Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass wir hier leben. Außerdem habe ich damit auch keine Probleme, wenn es mal so sein sollte. Ich habe hier noch nie jemanden getroffen, der unfreundlich nach einem Autogramm gefragt hat. Vor allem bei den Jugendlichen habe ich nur positive Erfahrungen gemacht.“

„Das glaube ich Ihnen gerne. Allerdings liegt das auch an Ihnen selbst. Sie sind immer für alle ansprechbar und versuchen, sich überall einzubringen, wie viele andere Eltern auch. Meistens sind Sie sogar immer in der ersten Reihe, wenn es um ein Projekt für Kinder geht.“

„Danke für die Blumen, aber es stimmt. Ich versuche, den Kindern und Jugendlichen da zu helfen, wo ich es kann. Manchmal hat es da auch Vorteile, berühmt zu sein.“

„Damit sind wir beim Thema, was für ein Anliegen haben Sie nun? Sie sagten etwas von Stefan Langen.“

Ich wollte gerade beginnen, ihm die Sache zu erklären, als der Kellner unsere Bestellungen aufnehmen wollte. Als sich der Ober mit den Karten abwendete, konnte ich das Gespräch fortführen.

„Zurück zum eigentlichen Thema. Stefan und sein Bruder Mario haben die stationäre Therapie so gut wie abgeschlossen. Geplant war ursprünglich, dass Stefan wieder nach München zu seinem Bruder zurückgeht und dort seine Schule fortsetzen wird. Es haben sich aber einige Dinge entwickelt, die so nicht zu erwarten waren.“

„Das stimmt.“

Jetzt war ich aber vollkommen überrascht, woher sollte Herr Steyrer die Informationen haben.

„Wie meinen Sie das? Ich habe doch noch gar nichts erklärt.“

„Wissen Sie, Herr Steevens, meine Lehrerkollegen haben mir schon einiges über Stefan berichtet und dass er sehr gute Fortschritte gemacht hat. Seine Leistungen sind deutlich besser geworden, er hat sein Verhalten positiv verändert und ist bei seinen Mitschülern gut integriert. Das ist für seine Situation, in der kurzen Zeit, schon sehr außergewöhnlich.“

„Das zu hören freut mich sehr. Allerdings habe ich dennoch ein Anliegen. Wir haben am Wochenende darüber gesprochen, dass es nicht so glücklich wäre, wenn Stefan jetzt mitten im Schuljahr wieder die Schule wechseln müsste. Er würde wieder aus seinem Umfeld gerissen und müsste sich neu orientieren. Ich habe mit ihm bereits gesprochen und er könnte sich durchaus gut vorstellen, das Schuljahr hier zu beenden. Dann hätten wir noch einige Wochen, bis es eine neue Entscheidung geben muss.“

Herr Steyrer lachte mich offen an und grinste sogar leicht.

„Naja, wie ich gehört habe, gibt es da noch einen guten Grund, warum er sich das gut vorstellen könnte. Auch bei mir ist mittlerweile angekommen, dass sich Lucien und Stefan gut angefreundet haben. Stimmt das überhaupt? Sind die beiden jetzt ein Paar?“

Es war eigentlich auch nicht anders zu erwarten, hier würde es nicht lange dauern, bis es bekannt war.

„Ja, das ist korrekt. Seit einiger Zeit hat sich das so entwickelt. Für Lucien wäre es natürlich auch sehr schön, wenn sein Freund noch ein wenig länger hierbleiben würde, aber das soll kein Argument sein. Ich möchte ausschließlich nach einer guten Lösung für Stefan suchen.“

„Ist schon in Ordnung. Ich habe bei Ihnen auch nichts anderes erwartet. Wie sieht das denn rechtlich bei Stefan aus? Wer hat denn momentan das Sorgerecht? Und wie ist die Situation mit seinen Eltern?“

Ich klärte ihn ausführlich über die momentane Situation auf und mittlerweile hatten wir auch unser Essen erhalten. Ich war mit meinen Erklärungen fertig und ich konnte sehen, wie es bei Herrn Steyrer arbeitete. Es schien so zu sein, dass er durchaus nicht abgeneigt war, unserer Idee zuzustimmen.

„Also ich sehe eigentlich nur ein Problem, das heißt zwei Probleme. Das erste ist, wird Mario damit einverstanden sein, wenn er momentan mit dem Jugendamt in München die Verantwortung trägt und das andere Problem sind die Kosten. Bislang haben wir über diese Förderung das Ganze finanziert. Das können wir aber nicht unendlich fortführen. Da müsste eine andere Lösung gefunden werden.“

„Heißt das, Sie wären aber einverstanden, Stefan hier weiter zu unterrichten und auf dem Internat zu behalten, wenn die beiden Punkte geklärt wären?“

„Ja, korrekt. Stefans Leistungen sind so gut geworden, dass wir das ohne Schwierigkeiten machen können. Ich persönlich finde Ihren Vorschlag übrigens sehr sinnvoll. Ich werde das mit dem Kollegium besprechen und bin mir sehr sicher, dass das auf Zustimmung stoßen wird.“

„Ich freue mich, dass wir erneut gemeinsam an dieser Lösung arbeiten. Vielen Dank. Die Jungs werden es Ihnen danken.“

„Nein, Sie tragen viel mehr dazu bei, dass Stefan sich so entwickelt hat. In der kurzen Zeit, mit seinen Erlebnissen, sich so zu entwickeln ist sehr beeindruckend. Ich bin davon überzeugt, es ist richtig, ihn noch nicht nach München gehen zu lassen. Was macht eigentlich sein Bruder?“

„Er hat gerade seine Gesellenprüfung gemacht und wird von seinem Betrieb übernommen. Er hat eine eigene Wohnung bezogen und dort soll dann auch Stefan einziehen.“

„Kann sich Mario denn ausreichend um Stefan kümmern? Er ist sicherlich genauso betroffen von seiner Familiensituation. Außerdem braucht er doch jetzt auch erst einmal etwas Zeit, sich dort neu zu orientieren. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, Stefan sollte auf jeden Fall hier noch das Schuljahr beenden. Ich werde mit den zuständigen Gremien sprechen.“

„Das ist viel mehr, als ich erhofft hatte. Ich kann mich nur bei Ihnen für ihre Unterstützung bedanken. Wenn ich ebenfalls dazu etwas beitragen kann, sagen Sie es bitte.“

„Herr Steevens, Sie sind ein Vorbild für viele Eltern. Sie überlegen nicht lange, wenn es etwas zu tun gibt. Viele der Schüler haben bereits bemerkt, dass Sie sich nicht zu schade sind, auch mit anzufassen. Ich finde es einfach faszinierend, wie Sie sich um Ihre Kinder und deren Freunde kümmern. Wenn alle Menschen so denken wie Sie, dann würde es vielen Kindern besser gehen.“

Wir waren mittlerweile mit dem Hauptgang fertig und ich hatte noch Lust auf ein Eis. Herr Steyrer fand die Idee auch nicht verkehrt.

„Sagen Sie, was machen eigentlich Ihre beiden ältesten Söhne? Sie studieren in Deutschland, oder?“

„Ja, das ist richtig. Übrigens sind Sie daran nicht ganz unschuldig. Sie waren derjenige, der damals die Regeln hier am Internat sehr großzügig für die beiden ausgelegt hatte. Sie haben am letzten Freitag geheiratet.“

Damit hatte Herr Steyrer nicht gerechnet. Entsprechend erstaunt schaute er mich an. Allerdings eher bewundernd. Er nickte anerkennend und sagte:

„Herzlichen Glückwunsch. Es ist schon schade, dass sie dafür nach Deutschland gehen müssen. Vielleicht wird die Schweiz irgendwann auch erlauben, dass gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen. Bestellen Sie ihnen bitte meine Glückwünsche. Vielleicht besuchen sie uns ja mal wieder.“

„Sie werden spätestens im Sommer zum Schulfest hier sein. Das haben sie bereits ihrem Bruder versprochen.“

„Das freut mich zu hören. Also ich denke, wir können hier kurz einmal zusammenfassen. Ich werde dafür sorgen, dass Stefan das Schuljahr hier beenden kann und Sie kümmern sich darum, einmal beim Jugendamt in München nachzufragen, ob es finanzielle Mittel dafür gibt.“

Wir waren mittlerweile fertig mit der Nahrungsaufnahme und ich wollte die Rechnung begleichen, als Herr Steyrer darauf bestand, mich einzuladen. Ich brachte ihn anschließend zurück in das Internat. Ich hatte noch ein Gespräch mit Frau Schnyder. Sie hatte mich doch neugierig gemacht.

Auf dem Weg in das Sekretariat lief mir Leif über den Weg. Er kam mit Tommy die Treppe hinunter und kam lachend auf mich zu.

„Hallo Papa, wie war dein Gespräch mit unserem Direx? Hast du was erreicht?“

„Hallo Leif, hallo Tommy, wie geht’s euch? Schule für heute beendet?“

Tommy lachte.

„Ja, für heute ist Feierabend.“

„Papa, lenk nicht vom Thema ab. Was hast du erreicht?“, bohrte Leif energisch nach.

„Beruhige dich, wir finden eine Lösung. Dr. Steyrer war wie immer eine große Hilfe. Aber lass uns später mit Stefan und Mario drüber reden.“

Leif gab sich damit zufrieden und somit trennten wir uns hier. Er fuhr nach Hause und hatte noch Training am Nachmittag. Ich stand jetzt wieder vor der Tür zum Sekretariat und klopfte. Frau Schnyder bat mich herein. Sie schaute erstaunt, als sie mich erkannte.

„Herr Steevens, ich hatte nicht gedacht, dass Sie tatsächlich noch vorbeikommen. Möchten Sie einen Kaffee oder einen Cappuccino?“

„Warum sollte ich nicht kommen? Sie haben mich neugierig gemacht. Einen Cappuccino, bitte.“

Sie hatte noch einige Unterlagen in der Hand, legte diese aber auf den Tisch und begann uns einen Cappuccino zu brühen. Herr Steyrer war bereits wieder in seinem Büro und somit nahmen wir im Sekretariat Platz.

„Also, wie haben Sie das vorhin gemeint mir den Veränderungen?“, wollte ich von ihr wissen.

Sie schaute mich einen Moment an und lächelte.

„Wissen Sie, Herr Steevens, kaum ein anderer hätte so auf meine Bemerkungen reagiert. Viele Eltern würden es nicht einmal bemerken, wenn wir es ihnen direkt mitteilen. Es ist in meinen Augen so, dass Leif sich seine Position gesucht und mittlerweile gefunden hat. Seine Eskapaden mit Regelverstößen haben komplett aufgehört und er hat sich Anerkennung und Respekt erarbeitet. Er macht einige Projekte, gerade auch mit den jüngeren Klassen. Das kommt hier gut an. Er hat nicht mehr nur eine große Klappe, wie noch vor einigen Wochen. Mittlerweile denkt er viel mehr über das nach, was er tut und was er sagt. Ich habe das Gefühl, er begreift, dass es wichtige und weniger wichtige Dinge gibt.“

Mir blieb fast die Luft weg, aber ich war sehr dankbar über diese offenen Worte. Wir unterhielten uns noch sehr angeregt über bestimmte Dinge, die hier vorgefallen waren, von denen ich noch nichts mitbekommen hatte. Eine Sache freute mich sehr. Leif hatte begonnen, sich in der Nachhilfe für jüngere Schüler zu engagieren. Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Außerdem hatte es den Anschein, dass er in der Schülervertretung seinen großen Brüdern nachfolgen würde. Dieses Gespräch gab mir viele neue Impulse und Informationen. Ich sollte auf jeden Fall wieder etwas genauer hinschauen, was Leif so tat. Ich verabschiedete mich sehr dankbar von Frau Schnyder und fuhr nachdenklich, aber auch zuversichtlich nach Hause.

Luc: Neuigkeiten aus dem Internat

Nach dem aufregenden Wochenende und im Verhältnis dazu dem sehr langweiligen Schultag wartete ich auf Papa. Er war immer noch nicht zurück aus dem Internat. Mama hatte mir etwas Leckeres zu essen gemacht und nahm sich Zeit, mit mir über die Ereignisse noch einmal zu sprechen. Es tat mir gut, auch mal über meine Angst zu sprechen. Angst, dass wir ums Leben kommen konnten. Es wurde mir in diesem Gespräch erst richtig bewusst. Worüber ich gestaunt hatte, Stef war heute Morgen gut ausgeschlafen in die Klinik gefahren. Es schien ihn nicht weiter zu belasten. Mama war auch nicht sonderlich begeistert über die Rückreise, aber was sollten wir machen. Es war ja auch alles gutgegangen.

Während wir zusammensaßen und ich auch die Zeitung mittlerweile gelesen hatte, hörte ich den Ferrari in die Einfahrt kommen. Ein unverwechselbares Geräusch. Ich wurde ein wenig unruhig. Was hatte Papa erreicht? Auch Stef wollte schon vor zwei Stunden wissen, ob Papa schon zurück sei. Ich musste ihm antworten, dass ich noch nichts Neues sagen konnte.

Am liebsten wäre ich Papa entgegengelaufen, aber Mama hielt mich zurück. Sie hatte ja recht, Papa mochte es nämlich gar nicht, überfallen zu werden, bevor er das Haus betreten hatte. Also hieß es für mich abzuwarten, bis Papa zu uns gekommen war. Ich hörte, wie er seine Jacke auf dem Flur auszog und das Schlüsselbund auf das Bord legte. Die Küchentür ging auf und Papa begrüßte uns mit sichtbar guter Laune. Mama bekam einen Kuss und dann setzte sich zu mir an den Tisch.

„Hi Luc, wie war dein Tag in der Schule? Gab es etwas Besonderes?“

„Hi Papa, nein, ich musste nur von unserer Rückreise berichten. Ansonsten alles ganz normal. Ach ja, wir haben eine Mathearbeit zurückbekommen. Eine gute Zwei.“

„Cool, das freut mich für dich. Ist sonst noch etwas an Arbeiten unterwegs?“

„Nein, das war die Letzte. Sagst du mir jetzt, was du bei Dr. Steyrer erreicht hast? Ich bin echt gespannt.“

„Schon gut, einen Moment noch Geduld. Was würdest du denn gut finden?“

„Ach Papa, was für eine Frage. Ich würde ihn gerne noch hier behalten. Wenn er in München wäre, würde ich ihn schon sehr vermissen. Außerdem hätte ich immer ein mulmiges Gefühl, ob nicht doch die Eltern wieder versuchen, sich ihm zu nähern.“

Meine Anspannung stieg immer weiter. Ich wollte endlich wissen, ob Dr. Steyrer unsere Idee unterstützen würde. Mama hatte ein gutes Gespür und mischte sich auch ein.

„Marc, spann den Jungen nicht so auf die Folter. Wir haben von gestern noch genug Aufregung im Körper.“

Papa schaute sie an und fing an zu lachen.

„Jaja, schon gut. Ich erzähle ja schon, aber nur, wenn ich einen schönen Tee bekomme. Ich habe schon wieder zu viel Kaffee gehabt.“

Mama setzte Wasser für den Tee auf und Papa begann zu berichten. Für mich wurde es mit jedem Satz, den er sprach, aufregender. Als er fertig war, hätte ich am liebsten laut gejubelt. Papa gab mir aber auch sofort zu verstehen, dass noch nichts entschieden sei, weil die Kosten noch nicht geklärt waren und auch das Jugendamt in München zustimmen müsste. Das war mir erst einmal egal. Dass Dr. Steyrer uns unterstützen würde, war doch schon mehr als die halbe Miete. Ich war mir sicher, Stef würde das Schuljahr hier beenden können. Was danach kommen würde, musste neu überlegt werden. Meine Aufregung war sehr groß, deshalb schickte mich Mama erst einmal in den Garten, um Luft zu holen. Für mich war das natürlich die Gelegenheit, Stef anzurufen. Leider war sein Handy aus. Er hatte wohl ein Gespräch und konnte nicht mit mir telefonieren. Ich schrieb ihm eine Nachricht, dass er mich zurückrufen sollte.

Bevor ich wieder ins Haus gehen konnte, stand Papa mit seiner Teetasse in der Hand neben mir.

„Na, hast du Stefan schon erreicht?“

„Nein, leider nicht. Er hat sein Handy ausgeschaltet. Vermutlich hat er gerade ein Therapiegespräch.“

„Das tut mir leid. Er wird sich sicher später bei dir melden. Ich möchte dir sagen, es ist wirklich besser, wenn er noch etwas hierbleibt. Auch im Internat sind alle ziemlich begeistert von seiner Entwicklung. Ich hoffe mal, dass die Finanzierung nicht der Grund sein wird, woran es scheitern könnte.“

Mir war schon klar, ein Jahr im Internat kostete viel Geld. Und es konnte auch nicht Papas Aufgabe sein, dafür zu sorgen. Vielleicht fiel mir ja auch noch etwas ein, um Geld für das restliche Schuljahr zu organisieren.

„Papa, ich finde, er hat es verdient. Die letzten Wochen waren bestimmt nicht einfach, aber er hat sich große Mühe gegeben und auch Mario hat sich voll reingehängt. Es darf nicht am Geld scheitern.“

Papa legte mir seinen Arm auf die Schulter und ich spürte eine enorme Kraft in mich hineinströmen. Ein großartiges Gefühl.

„Wir werden eine Lösung finden, ganz sicher. Ich bin davon überzeugt, es ist die richtige Wahl, dass er noch hier bleibt. Also schauen wir mal, was wir da machen können. Ich schlage vor, wir beide fahren gleich in die Klinik und teilen es den beiden mit. Mario wird übrigens schon übermorgen zurück nach München fahren. Er hat heute seinen letzten Tag in der Klinik. Wir können ihn dann mit nach Hause nehmen. Was meinst du, hast du Lust?“

Natürlich wusste Papa, dass ich Lust haben würde. Es war eine blöde Frage. -

Eine halbe Stunde später waren wir mit dem alten Caddie auf dem Weg in die Klinik. Aus den Lautsprechern klang Bryan Adams „Summer of 69“ und der Wind wehte mir durch die Haare. Papa lächelte und ich hatte das Gefühl, gerade in eine andere Welt zu entschweben. Die letzten Wochen waren sehr ereignisreich und es hat viele Veränderungen in meinem Leben gegeben. Jetzt standen weitere Entscheidungen über die Zukunft an. Meine Gedanken führten mich nach München. Dort hatte ich Stef kennengelernt und dort hatte ich einen Berufsbereich kennengelernt, der meine Zukunft bestimmen könnte. Meine vorigen Pläne gerieten ins Wanken. Ich war mir gerade nicht mehr sicher, ob ich mein Abitur machen oder bei Karl eine Ausbildung beginnen sollte. Die Geschehnisse haben meine Pläne und Vorstellungen gehörig ins Wanken gebracht. Mir ist klar geworden, in welchem Paradies ich bis heute gelebt habe und auch weiterhin leben konnte. Als Stef in mein Leben trat, hatte ich niemals gedacht, dass er mein Gefühlsleben derart beeinflussen würde. Ich hatte bis zu dem Zeitpunkt Angst vor solchen Leuten. Heute war ich froh, dass ich mich entschieden hatte, nicht wegzulaufen. Stef hat mir die Augen geöffnet und meine Familie hat mir geholfen, zu mir selbst zu finden und meine Liebe gegenüber Stef zu akzeptieren. Ich musste feststellen, ich war glücklich. Und jetzt sollten zu meinem Glück noch weitere gemeinsame Monate mit Stef hinzukommen. Es fühlte sich großartig an.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir schon einige Augenblicke auf dem Parkplatz der Klinik standen und Papa mich beobachtete.

„Na, erzählst du mir, worüber du nachdenkst?“

„Oh, sorry, Papa. Ich habe gerade über einiges nachgedacht.“

Er schmunzelte und ich wurde etwas rot.

„Ja, das habe ich schon die ganze Fahrt bemerkt, erzählst du mir, was dich beschäftigt?“

„Ach, eigentlich ist es die ganze Situation. Es ist viel passiert in den letzten Wochen und ich frage mich, will ich wirklich mein Abitur oder doch bei Karl eine Ausbildung machen. Viele der Dinge, die vorher für mich ganz klar waren, sind jetzt anders geworden. Es macht mich unsicher. Papa, ich weiß momentan eigentlich nicht, was ich machen möchte. Ich bin hin und her gerissen.“

„Kann ich mir gut vorstellen. Es würde mich auch sehr wundern, wenn bei dir im Kopf alles klar wäre. Du solltest aber nicht an dir zweifeln oder Angst haben vor einer Entscheidung. Du solltest deine Gedanken mit uns teilen. Wir können dir die Entscheidungen zwar nicht abnehmen, aber wir können dich beraten und gemeinsam mit dir eine Lösung deiner Gedanken finden. Was deine Zukunft betrifft, lass es auf dich zukommen. Karl hat dir ein Angebot gemacht, du musst es jetzt nicht entscheiden. Du hast noch ein Jahr Zeit, erst dann musst du dich entscheiden. Also lass uns einen Schritt nach dem anderen gehen. Jetzt sollten wir uns um deine Freunde kümmern. Dort stehen aktuelle Entscheidungen an. Eines möchte ich dir aber noch sagen. Wir werden dich unterstützen bei allen Entscheidungen, die wir gemeinsam treffen. Du wirst nicht allein sein. Das verspreche ich dir.“

Diese Sätze haben ein großartiges Gefühl in mir ausgelöst. Ich konnte mich auf den Rückhalt meiner Familie verlassen.

„Danke, Papa. Es tut gut, das zu wissen.“

„So, wollen wir jetzt Stef und Mario aufsuchen? Wir haben ihnen ja etwas mitzuteilen.“

Ich musste lächeln und wir stiegen aus dem alten Caddie aus. Papa schloss das Verdeck und ich ging mit einem guten Gefühl neben meinem Papa zum Eingang der Klinik. Wir meldeten uns auf der Station von Stef an und waren kurze Zeit später bereits im Wohnzimmer des Appartements. Uns wurde gesagt, dass Mario und Stef noch ein Abschlussgespräch mit dem Therapeuten hatten, aber gleich kommen würden.

Wenige Augenblicke später kam Mario zu uns, allerdings allein. Ich war etwas enttäuscht, ich hatte mich schon auf meinen Freund gefreut. Mario war etwas überrascht, er hatte noch nicht mit uns gerechnet, dennoch begrüßte er uns freudig.

„Hallo, ihr beiden. Ist etwas passiert, oder weshalb seid ihr heute so früh? Stef ist noch einen Moment länger mit dem Therapeuten beschäftigt. Er wollte noch etwas fragen.“

Ich schaute zu Papa und war froh, dass er das Gespräch übernahm. Ich war jetzt doch sehr aufgeregt.

„Nein Mario, es ist alles in Ordnung. Wir haben nur ein paar Informationen mitgebracht und wir wollten dich abholen. Oder hast du Verlängerung bekommen?“

„Nein“, er musste lachen, „ich darf wieder bei Herrn Geiger arbeiten und in München alles vorbereiten.“

„Freust du dich auf die Arbeit?“

„Ja, endlich wieder etwas mehr Normalität. Das soll aber nicht heißen, dass ich nicht gerne hier war. Es hat mir sehr viel gebracht. Ich habe viel gelernt und begriffen, dass wir viel mehr auf uns achten müssen. Dafür kann ich mich nur bedanken. Aber jetzt wird es Zeit, wieder in den Alltag zurückzugehen.“

Ich schaute ihm in die Augen, er kam auf mich zu und umarmte mich einfach. Ich hatte damit nicht gerechnet. Er flüsterte mir dabei etwas ins Ohr, was mir eine Gänsehaut brachte.

„Danke, Luc. Du hast meinem kleinen Bruder wieder den Lebensmut zurückgegeben. Passt gut auf euch auf. Ich bin froh, euch kennengelernt zu haben.“

Als wir uns wieder lösten, konnte ich bei ihm feuchte Augen erkennen, aber er lächelte. Er war wirklich glücklich. Mir fehlte jetzt noch zu meinem Glück mein Freund.

„Weißt du, wie lange Stefan noch braucht? Sollen wir noch etwas nach draußen gehen oder lohnt sich das nicht?“

„Ich denke, Marc, er wird jeden Moment hier sein. Lasst uns warten und dann gemeinsam nach draußen in die Sonne gehen.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Stef betrat den Raum. Er stutzte einen Moment, dann fing er an zu strahlen.

„Luc, wie schön, dass du schon da bist.“

Er lief auf mich zu und umarmte mich freudestrahlend und gab mir einen intensiven Kuss. Es fühlte sich großartig an. Er drückte mich ganz fest an sich und mir schoss das Blut auch in die unteren Körperregionen. Ich konnte spüren, dass es bei ihm genauso war. - Ich hatte aber das Gefühl, dass er gar nicht realisiert hatte, dass Papa auch im Raum stand. Erst, als sich Papa räusperte, zuckte Stef zusammen und wurde knallrot.

„Oh, äh, hallo Marc, ich habe dich gar nicht bemerkt.“

Papa nahm das recht locker und lachte ihn an.

„Macht nichts, wenn du meinen Sohn dafür so nett begrüßt, kann ich damit gut leben. Dennoch, hallo Stefan.“

Er ging auf den Jungen zu und umarmte ihn. Für Stef war das immer wieder ein Hochgefühl, wie er mir mal gesagt hatte. Papa war für ihn eine Art Ersatzvater geworden. Er hatte sich immer gewünscht, mit seinem Vater auch solche Umarmungen haben zu können.

Als die Begrüßung beendet war, spürte ich eine steigende Anspannung, sowohl bei Mario als auch bei Stef.

„Warum seid ihr schon so früh gekommen? Ist etwas passiert?“, stellte Mario erneut die Frage an Papa.

„Lasst uns nach draußen gehen. Es ist so schön heute. Ich kann euch beruhigen. Es ist nichts Schlimmes passiert, aber wir sollten über etwas reden.“

Stef nahm meine Hand und wir vier verließen das Wohnzimmer. Nachdem wir uns beim Personal abgemeldet hatten, spazierten wir durch den Garten.

„Mario“, fing Papa das Gespräch an, „bist du jetzt, wie geplant, ab heute hier entlassen und wir können dich gleich mit nach Hause nehmen?“

„Ja, die stationäre Therapie gilt als erfolgreich abgeschlossen. Ich kann jetzt wieder nach München zurückfahren.“

„Sehr schön, das freut mich, dass ihr hier etwas für euch erreicht habt. Wie sieht das bei dir aus, Stefan? Wie geht es dir?“

„Es geht mir besser, viel besser. Ich habe mit Mario viel geredet und ich glaube, wir beide sind uns viel näher gekommen. Aber ich bin auch etwas traurig. Er wird ja wieder nach München gehen. Bis ich dort bin, dauert es ja noch ein paar Tage. Außerdem habe ich Angst vor München.“

„Warum hast du Angst vor München?“, wollte Papa sofort wissen.

„Was ist, wenn unsere Eltern wieder versuchen, uns daran zu hindern, gegen sie auszusagen? Dann wird mir niemand mehr helfen können. Außerdem wieder in die alte Schule zurück, da habe ich auch ein wenig Angst davor.“

Ich konnte seine Verkrampfung spüren und streichelte ihm den Rücken.

„Und ich habe Angst davor, dass wir uns dann nicht mehr so oft sehen und du mir sehr fehlen wirst.“

Das musste ich einfach loswerden. Er lächelte jetzt und gab mir spontan einen Kuss. Das war für Papa das Stichwort.

„Also gut, warum sind wir eigentlich hier? Wir haben am Wochenende mit Karl ein Gespräch gehabt. Karl hatte eigentlich die Idee zu dem neuen Sachverhalt. Und ich muss sagen, er hat recht. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird uns das.“

Mario und Stef schauten recht ratlos zu meinem Papa.

„Ganz ruhig, ihr beiden. Ich erkläre es euch. Karl hatte ja den Gedanken, Mario wird in naher Zukunft wenig Zeit haben, sich um dich ausreichend zu kümmern. Er muss sich weiterbilden und in der Firma wartet ein neuer Bereich auf ihn. Du müsstest also mehr oder weniger allein den Alltag bewältigen. Auch den Neubeginn in deiner alten Schule müsstest du ziemlich allein schaffen. Das finden wir nicht gut. Karl hatte deshalb den Vorschlag gemacht, dass Stefan das Schuljahr hier beendet und wir bis dahin Zeit haben, uns die Entwicklung der Lage anzuschauen. Da wir das aber nicht allein entscheiden können, habe ich heute Morgen mit Dr. Steyrer gesprochen. Er findet diese Idee genau richtig. Vor allem, weil du dich sehr gut im Internat integriert hast und deine Leistungen auch sehr viel besser geworden sind. Wir müssen jetzt noch mit dem Jugendamt in München sprechen, aber im Prinzip ist es so, dass wir dir anbieten wollen, hier das Schuljahr zu beenden. Dann würde Luc in den Sommerferien mit nach München kommen, um bei Karl zu arbeiten und dir den Einstieg zu erleichtern. Bis dahin ist Mario mit seiner Fortbildung fertig und hat sich eingearbeitet.“

Sowohl Mario als auch Stef waren sprachlos. Damit hatten beide überhaupt nicht gerechnet. Stef schien einen Moment gar nicht begriffen zu haben, was das bedeuten würde. Erst, als Mario noch einmal nachfragte, kam bei Stef das Leuchten in seine Augen. Er strahlte und ich wusste, wie seine Entscheidung sein würde.

„Also Marc, ich weiß noch nicht, was ich dazu sagen soll, nur würde ich mich sehr freuen, wenn ich noch etwas hierbleiben darf. Außerdem wird mein Freund auch sicher nicht unglücklich darüber sein.“

Nanu, das war ein ganz neuer Zug von meinem Freund. Diese Art von Humor hatte ich noch nicht von ihm gehört. Umso erfreuter war ich natürlich. Er nutzte meine leichte Verwirrung, mich liebevoll zu küssen.

„Gut, wie ich sehe, ist Luc tatsächlich nicht abgeneigt. Wie auch nicht anders zu erwarten war. Ich werde mich jetzt noch um ein paar Dinge kümmern müssen, aber es wird die beste Entscheidung sein. Also ihr seid einverstanden?“

„Ja“, kam es gleichzeitig von uns dreien.

Das führte bei Papa zu einem Lachanfall. Erst einige Minuten später hatten wir uns wieder beruhigt. Unsere Laune war klasse und auch Stef schien gelöst. Irgendwann musste Mario dann seine Sachen packen. Wir wollten ihn ja mit nach Hause nehmen. Stef sollte die Woche noch hierbleiben und am Freitag entlassen werden. Bis dahin musste Papa alle Fragen geklärt haben. Ich war mir allerdings sehr sicher, dass ihm das gelingen wird.

Mario fuhr also mit uns nach Hause und würde morgen nach München aufbrechen. Stef konnte ihn nicht zum Bahnhof begleiten und somit hatten sich die beiden bereits heute verabschiedet. Es war schon eine Menge Wehmut dabei. Es war deutlich erkennbar, die beiden waren sich in der Klinik noch viel näher gekommen.

Der Abend wurde noch einmal sehr lustig. Leif, Tommy und Nico hatten sich mit Tim ein Abschiedsprogramm ausgedacht. Wir waren auf der Kartbahn, Billardspielen und zum Schluss noch toll essen. Es war Papas Wunsch, nicht dabei zu sein. Es sollte der Abschied seiner Freunde hier sein. Am nächsten Morgen brachte Papa dann Mario zum Zug und die Zeit in der Schweiz war für ihn beendet. Das neue Kapitel in München konnte für beide beginnen.

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