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Auf der Tour

Teil 20

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Inhaltsverzeichnis

Fynn: Freude und Anspannung

Unser Flug verlief ohne Probleme und je näher ich meinem Freund kam, desto größer wurde meine Aufregung und Freude. Chris hatte uns bereits auf dem Flug mitgeteilt, dass uns Jan nicht abholen würde, da sie noch auf der Anlage trainieren würden. Im ersten Moment war ich schon enttäuscht, da ich gehofft hatte, dass Dustin mich abholen würde.

Jetzt standen Maxi, Chris und ich am Gepäckband und warteten auf unsere Taschen. Ich war immer noch von der schieren Größe des JFK- Flughafens beeindruckt. Auch im Terminal war alles gigantisch groß und weitläufig.

„Bitte lasst uns zusammen bleiben. Hier ist alles etwas größer als wir es gewohnt sind“, warnte uns Chris und ging voraus.

Mit unseren Taschen bepackt verließen wir das Flughafengebäude. Chris schritt direkt auf ein New Yorker Taxi zu. Natürlich war es gelb. Hier nannte man sie nur 'yellow cab'.

Der Fahrer stieg aus und öffnete uns den Kofferraum, damit wir unsere Taschen hineinlegen konnten. Chris nahm auf dem Beifahrersitz platz und Maxi und ich hinten. Chris nannte die Adresse und fragte wie lang der Weg sein würde.

Zwanzig bis dreißig Minuten meinte der Fahrer und fuhr los.

Wenige Momente später schauten Maxi und ich staunend aus dem Fenster. Alles war unglaublich groß und hektisch. Chris hatte sein Handy genommen und telefonierte mit jemandem. Ich konnte nicht hören mit wem, aber ich vermutete mit Jan, denn sie sprachen Deutsch.

Jede weitere Minute wurde ich aufgeregter, aber auch der Respekt vor der Größe der Stadt wuchs von Straße zu Straße.

„Na, Jungs. Was sagt ihr zu den Eindrücken? Ist auch beim zweiten Mal beeindruckend, oder?“

Chris hatte sich nach hinten zu uns umgedreht und grinste.

„Es ist beängstigend groß. Schade, dass wir wohl wenig Zeit haben werden, uns etwas mehr von der Stadt anzusehen“, antwortete ich nachdenklich.

Chris lächelte und seine Antwort war typisch:

„Ich werde mich auch nie an diese Megacities gewöhnen. Aber ein bisschen werden wir uns mit Sicherheit auch wieder anschauen. Kann euch aber nicht versprechen was und wieviel genau. Gleich im Hotel möchte ich euch bitten, dass wir uns erst einmal einrichten. Wie es danach weitergehen wird, muss ich mit Jan noch absprechen.“

Meine Gedanken kreisten natürlich jetzt um die Situation mit meinem Schatz. Vermutlich hatte er sich bislang mit Justin ein Zimmer geteilt. Hoffentlich konnte ich jetzt mit Dustin zusammenkommen.

Die Fahrt durch die Stadt war beeindruckend und beängstigend zugleich. Irgendwann hielt das Taxi vor einem Hotel. Chris bezahlte das Taxi. Wir stiegen aus und betraten mit unseren Taschen die Lobby. Chris ging direkt zur Rezeption und meldete uns an. In dieser Zeit schauten Maxi und ich uns um. Trotz der Größe von New York wirkte die Lobby gemütlich.

Chris sprach einige Minuten mit dem Concierge, bevor er wieder zu uns kam.

„So Jungs, wir haben unsere Zimmer bekommen. Sie liegen direkt in der Nähe von Justin und Dustin. Und bevor mich Fynn löchert, klärt das untereinander wer umzieht und ob Fynn und Dustin zusammenziehen. Da halte ich mich raus. Jan hat mir gerade geschrieben, dass sie auf dem Rückweg vom Training sind. Wir werden zusammen essen und dann den weiteren Verlauf klären.“

Wir begaben uns zu den Zimmern und ich stellte meine Taschen nur in das neue Zimmer. Natürlich hatte ich große Hoffnungen, dass ich mit meinem Schatz in ein Zimmer ziehen könnte. Maxi grinste schon als wir uns das Zimmer anschauten.

„Hey Fynn, ich denke Justin wird nichts dagegen haben, dass wir die Zimmer so tauschen, dass du mit Dustin zusammenkommst. Wir können ja nicht verantworten, dass ihr unter einem Samenkoller leiden werdet. Hihihi.“

Dieser flapsige Spruch gefiel mir. Allerdings hatte er auch etwas Wahres, denn mir fehlte die Nähe zu meinem Schatz deutlich.

„Naja, so schlimm ist es auch nicht, aber du hast schon recht. Ich wünsche mir die Nähe zu Dustin zurück. Er fehlt mir.“

„Ich verstehe dich gut. Deshalb glaube ich ganz sicher, dass wir da eine Lösung finden werden. Dustin brauchen wir eh nicht zu fragen und Justin fragst du einfach gleich. Jetzt lass uns aber wieder mit Chris treffen. Die anderen werden ja auch bald zurück sein.“

Wir klopften an Chris Zimmertür, aber er öffnete nicht. Also gingen wir nach unten in die Lobby wo Chris bereits auf uns wartete.

Er wirkte recht entspannt und meinte:

„Sehr schön, dann sind wir ja komplett. Jan dürfte jeden Moment mit Justin und Dustin eintreffen. Dann können wir gemeinsam essen.“

Mein Puls stieg nach Chris Worten an. Endlich wäre ich wieder mit Dustin zusammen. Wir setzten uns zu Chris in die Lounge und dann passierte es. Jan betrat zuerst das Hotel und Justin und Dustin kamen kurz hinter ihm. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und meinem Schatz entgegengelaufen, traute mich aber nicht. Auch Dustin blieb hinter Jan.

Erst, als sie bei uns waren konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und es folgte eine innige Umarmung mit meinem Schatz. Endlich! Es war ein unglaubliches Gefühl, das sich in meinem Körper ausbreitete und wir hielten uns einfach nur fest umschlungen. Keiner von uns bemerkte dadurch, dass sich Jan bereits mit Chris über den aktuellen Stand unterhalten hatte und sie uns zum Mitkommen aufgefordert hatten. Erst Maxis Stimme drang an mein Ohr:

„Könnt ihr euch noch etwas zügeln. Wir wollen zum Essen gehen.“

Ein wenig peinlich war das schon, aber mir auch relativ egal, denn es fühlte sich wahnsinnig toll an, dass Dustin wieder an meiner Seite war. So konnte das Essen für uns auch nicht schnell genug vorbei gehen. Dustin und ich hatten Sehnsucht aufeinander.

Chris gab uns noch einen kurzen Fahrplan für den nächsten Tag und dann durften wir uns zurückziehen. Justin hatte sich bereiterklärt zu Maxi ins Zimmer zu wechseln. Damit war unser Wiedersehen perfekt und entsprechend nutzten wir diesen ersten Abend.

Chris und Jan wollten noch den kommenden Tag besprechen.

Chris: Die große, weite Welt

Jan hatte uns sehr freundlich empfangen und auch einiges bereits vorbereitet. Für mich war das ein etwas komisches Gefühl, denn so entgegenkommend hatte ich Jan einfach noch nicht oft erlebt.

Am ersten Abend ließ er sich genauestens von mir berichten, wie wir gearbeitet hatten und was in der Base so passiert war. Erst danach sprachen wir über die Dinge, die jetzt in naher Zukunft in New York anstanden.

„Ihr könnt morgen noch einen Tag richtig trainieren, bevor es am Montag mit der Qualifikation losgeht. Kannst du dir vorstellen, dass einer der Jungs für Niko als Trainingspartner zur Verfügung stehen könnte? Oder ist das während der Qualifikation zu viel?“

„Also ich glaube ja, dass sie recht früh ausscheiden werden, von daher sollte das sicher kein Problem werden. Mittlerweile sind sie alle auf dem gleichen Niveau. Wer ausscheidet, soll für Niko bereitstehen. Alles andere besprechen wir, wenn wir den weiteren Zeitplan haben. Für morgen könnte das schwierig werden. Aber danach sollte das klappen.“

Entgegen meiner Erwartung akzeptierte mein Bruder diesen Plan ohne weitere Nachfragen.

„Gut, dann haben wir für morgen den Ablauf geklärt. Wenn du jemanden zum Einschlagen für die Jungs benötigst, dann soll Niko dafür bereitstehen. Wir arbeiten hier gleichberechtigt. Nicht, dass du denkst du musst immer für mich parat stehen. Die Auslosung hätte schlimmer sein können. Ich glaube sogar, dass Justin und Fynn ein gutes Los bekommen haben. Das sind Gegner, die ihnen liegen. Für Dustin wird es eine harte Nuss sein. Aber wenn er deine Strategie durchspielen kann, geht auch da etwas. Für Maxi sieht das etwas anders aus. Gegen die Nummer drei der Qualifikation zu spielen ist eine große Aufgabe.“

„Ja, ich stimme dir in diesem Punkt voll zu. Meine Strategie ist, Maxi von jeglichem Druck zu befreien. Er soll diese Reise genießen. Er hat immer noch mit dem Tod seines Vater zu kämpfen.“

„Wäre es besser gewesen, ihn nicht mitzunehmen?“, fragte Jan.

„Nein, auf gar keinen Fall. Wir haben das im Vorfeld besprochen und er wollte auf jeden Fall mit seinen Freunden mitfahren. Er weiß, dass es für ihn nicht einfach sein wird. Ganz ehrlich, ich habe so ein Gefühl, dass Maxi sich bald entscheiden wird, ob er seine Schwerpunkte weiter auf Tennis legt oder sich mehr um seine Mutter kümmern will. Er kann sich aus dieser Lage nicht ohne weiteres befreien.“

„Okay“, wunderte sich Jan, „hat er sich dazu schon einmal geäußert?“

„Nein, nicht direkt. Allerdings könnte ich das gut verstehen. Er wird ein sehr gutes Abitur machen und kann vermutlich damit alles studieren, was er möchte. Selbst wenn er nicht mehr Tennis als Profi anstrebt, kann er weiter gutes Tennis spielen und uns in der Bundesliga oder Regionalliga helfen. Außerdem traue ich Maxi mittlerweile sogar zu, auch im Nachwuchsbereich zu unterstützen.“

„Das finde ich einen interessanten Gedanken. Ausgerechnet Maxi soll vernünftig geworden sein und Vorbild für unseren Nachwuchs werden?“

„Ja, er ist sehr vernünftig geworden. Er arbeitet hart und zieht voll mit. Außerdem ist er ein exzellenter Teamplayer geworden.“

Jan widersprach mir nicht, sondern er nickte und dann blickte er wieder auf unser Turnier.

„Wie geht es dir persönlich mit der Situation? Hast du noch Schwierigkeiten mit mir als Teamleiter?“

Das war eine ganz schwierige und heikle Frage. Allerdings wollte ich keine diplomatischen Antworten mehr geben. Er hatte gefragt und ich antwortete genau auf diese Frage:

„Ich würde lügen, wenn es immer einfach und problemlos für mich wäre. Allerdings fühle ich mich mit jeder weiteren Woche wohler in dieser Position. Ich spüre, dass du dir Mühe gibst mich zu akzeptieren. Auch das gemeinsame Erarbeiten von Lösungen gefällt mir gut. Dennoch kann ich in bestimmten Situationen meine Erinnerungen an frühere Zeiten nicht ausblenden und spüre Ängste und Zweifel.“

Entgegen früheren Situationen, in denen Jan mich dann ausgelacht hatte, hörte er genau hin und nahm mich ernst.

„Ja, das haben mir Thorsten und auch Marco berichtet. Für mich fühlt es sich gut an, dass du nach deinem Unfall und der Therapie den richtigen Weg wiedergefunden hast. Auch mit welcher Konsequenz du deinen Weg gegangen bist, beeindruckt mich stark. Beim Alkohol machst du keinerlei Kompromisse, seit über dreißig Jahren. Das imponiert mir sehr. Auch wenn du Zweifel daran haben wirst, ich freue mich über die gute Zusammenarbeit und dass du mir diese Chance gibst. Was die Jungs über dich erzählen, spricht eh für sich. Was ich dir jetzt sage, ist meine absolute Überzeugung: Niemand sonst hätte aus diesen vier Jungs so ein starkes Team machen können wie du. Deine Lösungen von Schwierigkeiten sprechen für sich selbst. Auch die Entwicklung in der WG ist beeindruckend. Ich muss zugeben, ich habe deine Fähigkeiten lange Zeit unterschätzt. Thorsten hatte vollkommen recht, mich zu der Zusammenarbeit mit dir zu überreden. Heute bin ich froh, dass wir es so gemacht haben und wir so erfolgreich sind.“

Ein komisches Gefühl überkam mich. Ich hatte diese Worte vernommen, aber sie so richtig auch anzunehmen fiel mir schwer.

Allerdings schaute mich mein Bruder nur genau an. Er gab mir Zeit, das zu verarbeiten ohne mich unter Druck zu setzen.

Erst nachdem ich mich etwas entspannt hatte, fragte er nach:

„Wie gehst du mit der Situation aus Kitzbühel und Brighton um? Deine Jungs haben immer wieder erzählt, wie sie dich bewundern. Dass du so cool bist und keine Angst mehr hast. Nur Dustin und Fynn haben mal erwähnt, dass du mit ihnen auch über deine Angst gesprochen hast. Können wir dich in irgendeiner Sache noch mehr unterstützen?“

War das wirklich mein Bruder? So ein Gespräch hatten wir seit Jahrzehnten nicht mehr. Wieder kam das Misstrauen in mir hoch. Was wollte er von mir? War das ernst gemeint oder hatte er wieder einen Vorteil für sich im Hinterkopf?

Ich brauchte einige Momente, um das für mich zu regeln, aber meine Antwort war klar:

„Ganz ehrlich, zeig mir weiterhin, dass ich ernst genommen werde und deine Unterstützung habe. Halte mir den Rücken frei und lass mich in Ruhe mit den Jungs arbeiten. Ich möchte mit dem Team gemeinsam nach vorn schauen. Und vertrau du darauf, dass ich dich um Hilfe bitte, wenn ich sie brauche. Wenn Dustin und Fynn mit seiner Familie in Urlaub fahren, werde ich mir zwei Wochen frei machen und in die Schweiz fahren. Dort kann ich meinen Akku wieder aufladen und möchte in der Zeit von Tennis mal nichts hören.“

Was danach passierte, hätte ich mir nicht vorstellen können. Jan stand von seinem Platz auf und umarmte mich wortlos. Und es fühlte sich für mich gut an. Zum ersten Mal war ich überzeugt, dass das ehrlich gemeint und ohne Hintergedanken war.

Als wir uns nach Mitternacht auf unsere Zimmer begaben, kam in mir eine Frage auf.

War das der Beginn einer neuen Zeitrechnung? Hoffentlich!

Die Nacht verlief ruhig und ohne Albträume. Ein gutes Zeichen. Ich wollte meinem Bruder mehr Vertrauen entgegenbringen.

Auch beim gemeinsamen Frühstück hatte ich ein anderes Empfinden als noch vor einigen Wochen. Heute empfand ich die Anwesenheit von Jan und Niko als Gewinn für mich, nicht als Belastung. Anscheinend spürten meine Jungs das auch. Justin wirkte gelöster und dass Fynn und Dustin guter Stimmung waren, wunderte mich nicht. Selbst Maxi wirkte entspannt. Das waren gute Voraussetzungen für einen erfolgreichen Tag in New York.

Während des Essens blieb ich meiner Linie treu und Tennis war kein Thema. Erst als alle ihren Teller zur Seite gestellt hatten, fragte ich in die Runde:

„Gibt es von eurer Seite Fragen oder kann ich einige Informationen an euch weitergeben?“

Es gab keine Fragen, daher begann ich mit meinen Dingen.

„Wir werden gleich auf die Anlage fahren. Bitte denkt dort daran, dass ihr immer euren Spielerausweis am Mann tragt. Außerdem möchte ich darum bitten, dass ihr euer Handy dabei habt. Die Anlage ist ein wenig größer als wir das bislang kennen. Überlegt euch gut, wenn ihr aus der Umkleide auf einen Platz geht, was ihr dabei haben müsst. Die Wege sind lang und es geht sonst viel Zeit verloren. Desweiteren ist die Luft in New York anders als bei uns. Gewöhnt euch möglichst schnell daran. Fragen bis hierhin?“

Es gab keine und Jan führte fort:

„Ich möchte euch bitten, macht keine Interviews ohne mit Chris oder mir zuvor gesprochen zu haben. Hier ist die Presse ein wenig anders als bei uns in Deutschland. Wir möchten euch nicht verbieten mit der Presse zu sprechen, aber ich habe viel Erfahrung und kenne die guten und die weniger guten Journalisten. Wenn eine Anfrage kommt, lasst euch bitte den Namen geben und für wen sie arbeiten. Nehmt bitte nur das Wasser aus den Kühltruhen an den Plätzen. Keine Elektrolytgetränke, die wir nicht selbst gemischt haben. Hier gibt es strenge Dopingkontrollen und ich möchte sichergehen, dass uns nichts untergejubelt wird. Also nur verschlossene Mineralflaschen könnt ihr bedenkenlos nehmen. Chris, erklärst du bitte den Jungs noch den genauen Trainingsablauf.“

„Gern, wir werden regelmäßig mit Nikos Platz rotieren. Also wird immer einer von euch mit Niko trainieren. Damit das für euch nicht zu anstrengend wird, wechseln wir durch. Niko macht diese Woche noch ein volles Training, das wäre für euch zu viel. Daher wechseln wir alle zwanzig Minuten durch. Dazu Fragen? - Nein, gut. Dann wünsche ich uns viel Spaß am Big Apple.“

Danach verließen wir unseren Tisch und jeder holte sich seine Tasche aus dem Zimmer. Treffen war vor dem Hotel. Dort stiegen wir in zwei Taxen.

Vor der Anlage erhöhte sich tatsächlich mein Puls. Alles war abgesperrt und überall waren Security Leute positioniert und ich hatte überhaupt keine Ahnung wo es hineingehen würde.

Jan ging mit Niko vorweg und ich entschloss mich einfach, ihnen mit den Jungs zu folgen. Vor dem Eingang drehte sich Jan um und verteilte die Spieler- und Trainerpässe.

Ab jetzt begann das Abenteuer US Open für uns.

Jan gab mir einen kleinen Lageplan aus seiner Tasche. Damit konnte ich mich gut orientieren, denn das Gelände war riesig. Ich war zwar bereits zweimal bei den US Open, aber immer nur als Zuschauer bzw. Gast von Jan. Jetzt war die Situation ein wenig anders.

Auch die vielen Zuschauer, die bereits heute über das Gelände liefen, beeindruckten mich. Plötzlich kamen etwa zehn Jugendliche auf einmal auf uns zu. Ich fühlte mich unwohl und schaute mich nach einem Fluchtweg um. Erst da erkannte ich eine georgische Fahne bei einem dieser Menschen. Es waren Fans von Niko, die um ein Autogramm baten. Mein Puls normalisierte sich schnell wieder.

Ich war nach etwa fünfzehn Minuten Fußweg über die Anlage froh, dass wir am Turnierbüro angekommen waren. Wobei Büro untertrieben war. Es war ein großes Zelt mit bestimmt zwanzig Computerplätzen, hinter denen jeweils ein Offizieller saß. Jan ging auf einen bestimmten Platz zu und begrüßte die junge Dame freundlich, fast schon freundschaftlich. Sie sprachen einige Sätze, dann winkte mich Jan heran.

„Darf ich vorstellen, das ist mein Bruder. Er wird mich ab sofort hier unterstützen und sich um die vier Jungs in der Qualifikation kümmern.“

Die junge Dame nickte mir freundlich zu und ich bekam für alle ein Begrüßungsgeschenk. Damit war ich gut bepackt und verteilte die Tüten sofort an meine Jungs. Erst danach ging es auf die Trainingsplätze.

Auf jedem Platz an dem wir vorübergingen herrschte bereits Trainingsbetrieb. Nach etwa zehn Minuten Fußweg erreichten wir unsere beiden reservierten Plätze. Schnell verteilten wir die Jungs. Die Zeit war begrenzt und Jan und ich wollten sie komplett ausnutzen.

Nach kurzer Aufwärmphase ging es rund. Schnell waren meine Jungs nur noch auf den Ball fokussiert und ich hatte ein gutes Gefühl. Es wirkte so, als ob sie nicht mehr im Kopf hatten wo sie gerade waren. Entsprechend gut sah das aus. Ich bemerkte auch nicht, dass Jan mittlerweile einige Minuten bei mir am Platz stand und uns beobachtete.

Als ich zu einer Trinkpause bat, reagierte Fynn auf Jans Anwesenheit:

„Bist du zufrieden mit uns? Aber musst du nicht bei Niko sein, wenn er trainiert? Du stehst schon ziemlich lange bei uns.“

Jan fing an zu lachen und mir war Fynns Reaktion ein wenig unangenehm.

„Niko kann auch mal ohne mich gut arbeiten. Ich habe einfach noch nicht viele Gelegenheiten gehabt, euch zuzusehen. Es interessiert mich sehr, wie ihr euch entwickelt habt. Und bevor Fynn sich den Kopf zerbricht, das sieht gut aus was ich zu sehen bekomme.“

Erneut staunte ich über meinen Bruder. Solche positiven Aussagen hatte ich sonst nur sehr selten von ihm gehört. Vor allem, dass er Fynns Art damit respektierte, freute mich sehr. Entsprechend fröhlich war die Reaktion von den Jungs.

Mein Quartett war allerdings auch nach zwei weiteren Stunden richtig kaputt und froh, dass unsere Zeit abgelaufen war. Am Nachmittag hatte ich noch eine leichte Matchtrainingseinheit angesetzt.

In der trainingsfreien Zeit hatte Jan um einen Pressetermin mit mir gebeten. Ohne die Jungs. Das wunderte mich etwas, aber akzeptierte es mittlerweile ohne Misstrauen.

Dustin und Fynn zogen sich nach der Massage bis zum gemeinsamen Essen in ihr Zimmer zurück. Maxi und Justin wollten sich ein wenig in der Umgebung des Hotels umschauen. Nachdem sie mir versprachen sowohl jeder sein Handy mitzunehmen und sich auf keinen Fall zu trennen, ließ ich sie gehen.

Jan und ich trafen uns in der Hotellobby. Ich hatte keinen Plan was Jan für einen Pressetermin vorbereitet hatte. Daher trug ich Teamkleidung als ich aus dem Fahrstuhl ging.

Jan kam mir direkt entgegen und zeigte mir den Daumen hoch.

„Sehr gut mitgedacht, dass du Teamkleidung anhast. Wir können auch direkt los. Treffpunkt ist in einem lokalen TV-Sender.“

Zu Fuß durch die Straßen New Yorks. Das behagte mir gar nicht. Jan schien damit keinerlei Probleme zu haben, denn wir gingen einfach aus dem Hotel auf die Straße.

Ständig scannten meine Augen mein Umfeld. Da spürte ich auch wieder das Unwohlsein und wie befürchtet kamen Bilder aus Kitzbühel wieder hoch.

„Wie weit ist der Weg dorthin noch?“, fragte ich meinen Bruder.

„Nicht mehr weit, vielleicht zehn Minuten. Warum fragst du?“

Er schaute zu mir und plötzlich konnte ich einen Ruck durch seinen Körper erkennen. Jan blieb stehen und schaute mich an:

„Was ist? Dir geht es gerade gar nicht gut. Warum?“

„Ganz ehrlich, ich habe Angst. Ich fühle mich überhaupt nicht wohl in dieser Situation. Ich muss ständig mein Umfeld scannen und nach Bedrohungen schauen. Und die Bilder aus Kitzbühel sind plötzlich wieder in meinem Kopf.“

Jan atmete tief ein und ich hatte jetzt wieder seine Art sich über mich lustig zu machen erwartet, aber nichts dergleichen kam.

„Scheiße, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Geht es trotzdem noch bis zum Studio oder sollen wir zurückgehen?“

„Nein, nein, es geht schon. Aber gut fühle ich mich im Moment nicht.“

Die restlichen Minuten des Weges versuchte Jan mich abzulenken und wir sprachen über die Jungs. Als wir am Ziel ankamen, meldete er uns am Empfang an. Ich war froh, wieder in einem Gebäude zu sein. Diese Angst hatte ich schon lange nicht mehr so intensiv gespürt und das verunsicherte mich. Jan hingegen reagierte ruhig und bestimmt. Er hatte uns für den Rückweg ein Taxi bestellen lassen.

Im Fahrstuhl fragte er mich:

„Geht es dir wieder besser? Es tut mir leid, aber ich habe das überhaupt nicht in meinem Kopf gehabt, dass diese Situation für dich ein Problem sein könnte. Bitte sag mir auch in Zukunft gleich, wenn etwas für dich schwierig sein könnte.“

„Ja, passt schon. Ich bin selbst überrascht über die Heftigkeit gewesen. Ganz so einfach wie ich gehofft habe, scheint es nicht zu sein. Ich brauche wohl doch mehr Zeit, diese Dinge zu verarbeiten.“

„Die musst du dir aber auch nehmen. Vielleicht denkst du noch einmal über eine Hilfe von einem Experten nach.“

Schweigend nickte ich nur. In meinem Kopf musste ich mir eingestehen, dass diese Hilfe wohl sinnvoll sein würde. Ich beschloss, mir bei Marc und Sabine in meinem Urlaub einen Rat zu holen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich und Jan ging voraus.

Wir wurden von einem jungen Mann in Empfang genommen und wurden in die Maske gebracht. Dort begrüßte uns eine junge Dame, die Jan bereits kannte. Sie sollte das Interview mit uns machen. Jan besprach mit ihr ein paar Themen und dann ging sie wieder hinaus.

Komisch, ich war jetzt deutlich angespannter als vor einem Match meiner Jungs. Dabei war es nur ein Interview.

Nachdem wir für das TV Studio hergerichtet waren, wurden wir ins Studio gebracht. Dort wies man uns die Plätze zu und die Moderatorin kam zu uns. Es entwickelte sich ein lockeres Gespräch und meine Nervosität wich eher gespannter Aufmerksamkeit.

Jan wirkte die ganze Zeit entspannt und souverän. Die Scheinwerfer gingen an und das Interview begann. Glücklicherweise begann Jan das Gespräch und ich konnte in der Zuhörerrolle bleiben. Erst als die Frage nach meinen Jungs, insbesondere nach Dustin und Fynn aufkam, spielte mir Jan den Ball zu.

„Sie sind seit einiger Zeit mit diesen Spielern unterwegs und haben bereits mächtig die Tennisszene aufgewirbelt. Hier in den USA haben sie mit John McEnroe einen großen Unterstützer für die Gleichberechtigung aller Spieler gefunden. Wie haben sie sich kennengelernt?“

„Das ist eine nette Anekdote, die sich vor einigen Monaten ereignet hat.“

Ich schilderte ihr diese Begebenheit und insbesondere die wichtige Ansprache am Ende des Turnieres von ihm wurde noch einmal Gesprächsthema. Hier hatte John McEnroe Legendenstatus.

Als das Interview zu Ende ging, bedankte sich die Crew und wir konnten gehen.

„Weshalb sind diese Art von Terminen für dich so wichtig?“, fragte ich Jan.

„Sie machen unsere Arbeit bekannter und dadurch kommen auch Sponsoren auf die Idee uns zu unterstützen. Gerade jetzt, wo Fynn und Dustin vor dem Durchbruch stehen, ist eine öffentliche Wahrnehmung von schwulen Leistungssportlern wichtig. Ich bin mir sicher, dass wir das noch im weiteren Verlauf spüren werden.“

Der Rückweg war für mich deutlich entspannter im Taxi. Jan sprach offen darüber.

„Kannst du mir bitte einen Gefallen tun und beim nächsten Mal sofort Bescheid sagen, wenn du mit einer Situation Probleme bekommst. Ich nehme dich sehr ernst. Es tut mir leid, dass dich die Erinnerungen manchmal so überrennen.“

„Danke, ich versuche es. Aber so wie heute war es schon lange nicht mehr. Ich komme sonst gut mit der Sache zurecht. Aber ich werde mit Sabine und Marc darüber sprechen. Vielleicht sollte ich es doch noch mit einem Psychologen bearbeiten.“

„Mach das bitte. Und wenn du dich entschieden hast es zu tun, dann mach dir bitte keine Gedanken über die Kosten. Wenn es deine Krankenkasse nicht übernehmen sollte, werden wir es übernehmen. Ohne Diskussion.“

Damit beendete Jan dieses Thema. Im Hotel hatte ich es abgehakt und mein Fokus ging nach vorn wieder zum Turnier.

Vor allem, weil mich meine Jungs direkt mit neuen Informationen in Empfang nahmen. Sie berichteten, dass sie Sergio mit Marcelo getroffen hatten. Sergio spielte ebenfalls in der Qualifikation mit. Jan hatte mir das schon angedeutet, dass es hier in den USA auch wieder einen Austausch mit der Nadal Base geben würde.

„Das finde ich eine gute Sache. Schön, dann werden wir sicher auch noch ein paar interessante Gespräche haben. Wie sieht das bei euch aus? Seid ihr für den Nachmittag wieder fit?“

Meine Jungs schauten sich an und sie hatten Justin als denjenigen ausgesucht, der antworten sollte:

„Ja, wir gehen motiviert auf den Platz. Allerdings haben wir ein wenig Sorge, dass wir morgen dann ziemlich müde sein werden, wenn wir noch so eine Einheit wie am Morgen haben.“

„Hihi, in Ordnung. Aber davon war doch auch gar nicht die Rede. Heute Nachmittag gibt es Matchtraining. Und ihr seid mittlerweile so fit, dass ihr keine Bange haben müsst. Was ist denn los? Sonst vertraut ihr doch auch auf mein Training.“

Betretenes Schweigen in der Runde. Allerdings konnte ich die Anspannung spüren. Ich beschloss daher, mit den Jungs eine Gesprächsrunde zu machen.

„Es stimmt ja auch was du sagst. Dennoch ist es für mich gerade echt schwierig, den Fokus nur auf den gelben Filzball zu legen“, erwiderte Maxi.

Bevor ich darauf antworten konnte, ergänzte Fynn:

„Ich fühle mich auch nicht wirklich gut. Ich habe das Gefühl, dass ich hier etwas Besonderes abliefern müsste. Es sind die US Open und ich spiele mit. Das ist ein Traum für jeden Tennisspieler, der aber auch schnell zum Albtraum werden kann. Davor habe ich Angst.“

Es wurde Zeit, dass ich darauf reagierte.

„Leute, entspannt euch. Es ist ein Bonusturnier für euch. Niemand, auch Jan nicht, erwartet hier irgendein Ergebnis. Genießt es und belohnt euch für die harte Arbeit der letzten Monate. Für Maxi gelten sowieso andere Regeln. Es ist nahezu unmöglich, dass du nur Tennis im Kopf haben kannst. Aber deshalb haben wir dich ja mitgenommen, damit du den Kopf zwischendurch mal frei bekommst. Rede mit uns über deine Empfindungen und lass die Trauer zu. Sie ist da, also nimm sie ernst. Ich tue das jedenfalls und bin immer für euch alle vier ansprechbar und völlig unabhängig davon, wo wir gerade sind.“

Es waren diese Gespräche, die für meine Jungs immer wieder so wichtig waren. Allerdings stellte ich fest, dass diese Diskussionen auch für mich wichtig waren. Sie waren Indikatoren für die Befindlichkeit. Sowohl für mich als auch für die Jungs.

Jan und ich nahmen noch ein gemeinsames Essen ein und dann ging es auch schon wieder zurück auf die Anlage. Das Matchtraining stellte mich sehr zufrieden. Alle waren konzentriert und auch der Spaß kam nicht zu kurz. Selbst Jan machte den einen oder anderen Spaß mit.

Mit einem guten Gefühl kam ich am Abend zurück ins Hotel. Morgen würde für uns mit der ersten Runde in der Qualifikation die US Open beginnen.

Fynn: Was für ein Erlebnis

Heute war es endlich soweit. Ein Kindheitstraum ging in Erfüllung. Erstaunlicherweise war die Nacht ruhig und erholsam. Von der großen Aufregung konnte ich erst etwas verspüren als wir uns bei der Turnierleitung angemeldet hatten. Chris gab mir noch die letzten Hinweise für mein Spiel und dann wurde es ernst. Aber bevor ich auf den Platz ging, gab mir Dustin noch einen dicken Kuss mit auf den Weg. Das tat mir gut.

Chris hatte mit mir die strategische Ausrichtung besprochen und sogar etwas von Siegchancen erzählt. Obwohl Chris bislang immer eine präzise Analyse gemacht hatte, konnte ich es nicht wirklich glauben. Wir waren alle Außenseiter, aber Chris meinte, dass genau diese Situation unsere Chance sein könnte. Deshalb hatte er mich auch sehr offensiv eingestellt und mich aufgefordert ohne Angst zu spielen.

Mein Gegner stand in der Rangliste etwa einhundert Plätze besser als ich. Beim Einschlagen hatte ich allerdings nicht mehr das Gefühl, chancenlos zu sein.

Vor allem weil sich Chris wie immer an seiner Position aufhielt und meine Nervosität wie weggeblasen war. Die Freude auf dieses Match war plötzlich riesengroß.

Selbst das „Time“ des Schiedsrichters nahm ich nur am Rande wahr. So fokussiert war ich auf meinen Gegner und dieses Match.

Die ersten Spiele verliefen ohne Break und meine innere Unruhe wich einem tollen Gefühl. Mit jedem weiteren Spiel wuchs mein Selbstvertrauen. Ich begann den Return offensiver und aggressiver zu spielen. Damit stieg zwar auch das Risiko einen Fehler zu machen, aber mein Gegner musste schneller reagieren und hatte weniger Zeit sich zu überlegen, was er nun spielen möchte.

Bei 4:4 im ersten Satz hatte ich ein 0:30 erzwungen und ich schaute zu Chris. Er forderte mich auf, noch näher an die Grundlinie zu gehen und jetzt das Break zu versuchen.

Erstaunlicherweise hatte ich ein geiles Gefühl dabei in der Brust. Ich wollte meinem Gegner zeigen, dass ich ein ebenbürtiger Gegner bin. Also stellte ich mich auf die Grundlinie und erwartete seinen Aufschlag.

In seinem Gesicht sah ich plötzlich ungläubiges Staunen und Verwunderung. Er versuchte einen sehr harten Aufschlag zu spielen, aber der erste Service landete im Aus. Zweiter Aufschlag und ich rückte noch einen weiteren Schritt ins Feld. Damit wuchs der Druck noch mehr auf den Gegner. Er brachte den Ball zwar ins Spiel, aber ich returnierte mit vollem Risiko und der Ball schlug unerreichbar im Feld meines Gegners ein.

Ich ballte die Faust und sofort ging mein Blick nach oben zu Chris. Er stand sogar und applaudierte. Ich hatte drei Breakbälle. Was sollte ich machen? Abwarten und auf den Fehler des Gegners jetzt warten. Ich hatte ja drei Chancen. Wieder ging mein Blick nach oben und Chris Handbewegung nahm mir jeden weiteren Gedanken ab. Volle Attacke forderte er.

Das gefiel mir und wieder schoss ich ein Return mit vollem Risiko in sein Feld. Er bekam zwar den Schläger noch an den Ball, aber ich war ans Netz gerückt und machte mit einem einfachen Volley das Break perfekt.

Ein lautes „Yes“ schallte über den Platz. Woher kam das denn? Von Chris kam es jedenfalls nicht. Ich schaute mich irritiert um als ich zur Bank ging.

Erst jetzt registrierte ich die Zuschauer an unserem Platz. Es standen etwa hundert Personen am Platz und schauten uns zu. Bei der ersten Runde der Qualifikation. Aber das laute „Yes“ kam von Dustin, der jetzt nicht mehr bei Chris stand, sondern mit seiner Tasche auf dem Gang zum Nebenplatz. Dass er jetzt auch spielen musste war für mich damit klar.

Plötzlich konnte ich meine Anspannung für einen winzigen Augenblick lösen und die Situation genießen. Das „Time“ des Schiedsrichters holte mich zurück in die Realität. Ich hatte mit eigenem Aufschlag die Chance den ersten Satz zu gewinnen. Aber ich hatte schon lange begriffen, dass jeder Gedanke an den Satzgewinn schädlich und gefährlich war.

Also ließ ich mir die Bälle zuwerfen und fokussierte mich nur auf Chris, den Ball und den Gegner. Chris saß wieder vollkommen ruhig auf seinem Platz und nickte mir nur zu. Was für eine Sicherheit er damit ausstrahlte, einfach unglaublich. Ich spürte die Energie in meinen Arm fließen und begann mit zwei sehr guten Aufschlägen, die mir zwei leichte Punkte einbrachten. Noch zwei Punkte und der Satz wäre meiner. Aber jetzt musste ich mich zwingen, darüber nicht nachdenken zu müssen.

Natürlich hatte Chris aufgepasst und sein durchdringender Pfiff drang in mein Ohr. Das war die Erinnerung an mich, einfach den nächsten Punkt zu spielen. Als ich zu ihm blickte, musste ich einfach lachen. Wir waren wieder auf einer Gedankenlinie und Chris stand hinter mir. Einfach ein geiles Gefühl.

Die nächsten beiden Punkte liefen fast von selbst für mich. Damit hatte ich den ersten Satz in New York bei der Qualifikation zu den US Open gewonnen.

Chris: Mein Nervenkostüm litt erheblich

Fynns erster Satz war nur das erste Match von noch drei folgenden an diesem Tag und ich fühlte mich bereits jetzt schon um Jahre gealtert. Fynn präsentierte sich bis zu diesem Punkt wirklich sehr gut. Lediglich einige Kleinigkeiten in der Konzentration waren hier noch zu verbessern. Aber da ich ja grundsätzlich immer jeden Ball im Geiste mitspielte und damit im Gedächtnis auch abspeicherte, war es in Kombination mit dem Wissen im Hinterkopf, dass ich noch drei weitere Spiele zu betreuen hatte, was an meinem Nervenkostüm nagte.

Das Dustin parallel spielen musste, vereinfachte die Sache nicht wirklich. Fynn hatte es tatsächlich geschafft, nach dem gewonnenen Satz einen guten Start in den zweiten Durchgang zu finden und legte gleich ein Break vor.

Justin und Maxi saßen vollkommen gebannt neben mir, aber einer von beiden sollte jetzt unbedingt zu Dustin gehen.

„Sorry, Jungs. Aber einer von euch muss bitte jetzt zu Dustin an den Platz gehen. Wer ist mir egal. Natürlich dürft ihr auch beide gehen. Aber einer muss jetzt direkt los.“

Sie schauten sich an und standen gleichzeitig von ihren Plätzen auf.

Wir vereinbarten, dass sie mich per Whatsapp informieren würden. Die Anlage war so riesig, dass man mehrere Minuten von unserem jetzigen Platz bis zu Dustins Court benötigte.

Sofort tauchte ich wieder in das Match von Fynn ein. Es stand mittlerweile 2:1 für Fynn bei eigenem Aufschlag. Über das starke, selbstbewusste Auftreten konnte ich mich nur wundern. Gerade in den letzten Wochen hatte Fynn im Kopf enorm zugelegt. So spielte er jetzt auch. Sein Gegner hatte kaum Möglichkeiten, zu einem Rebreak zu kommen. Und wenn es einmal einen Breakball gab, dann spielte Fynn einfach einen guten Ball und wehrte diese Chance ab.

Unsere Verbindung auf dem Platz wurde immer perfekter. Fynn konnte meine Anwesenheit immer stärker für sich nutzen. Dadurch wurde er freier in seinen eigenen Entscheidungen auf dem Platz. Er holte sich eigentlich nur noch meine Bestätigung ab. Das gab mir ein gutes Gefühl und bestärkte mich in meiner Art, mit den Jungs zu arbeiten.

Es dauerte nicht mehr lange und Fynn hatte tatsächlich seinen ersten Matchball verwandelt. Er stand in der zweiten Runde der Qualifikation zu den US Open.

Entsprechend groß fiel der Jubel von Fynn aus, als er den Platz verlassen hatte und wir uns auf dem Weg in die Umkleide begegneten. Freudestrahlend kam er auf mich zu und umarmte mich.

„Mensch Chris, wie geil ist das denn? Es ist unbeschreiblich schön, hier auf dem Platz zu sein und nie das Gefühl zu haben, dass ich etwas falsch machen könnte. Du gibst mir so viel Sicherheit, dass ich einfach nur spielen kann. Ich denke viel weniger über das nach, was alles schiefgehen kann.“

So euphorisch und positiv habe ich Fynn selten erlebt. Vor allem blieb er dabei sachlich und analytisch. Wir konnten direkt in die Analyse gehen und mit einem guten Gefühl schickte ich ihn zum Auslaufen.

Mein nächster Weg führte mich zu Dustin. Dort erwartete ich eher eine Niederlage, da der Gegner für Dustin schwierig zu spielen war.

Allerdings staunte ich über die Situation, die ich dort vorfand. Es standen viele Zuschauer am Platz und machten laut Stimmung. Vor allem für Dustin. Ich suchte nach Maxi und Justin und stellte mich zu ihnen. An diesem Außenplatz gab es keine Sitzplätze und daher schaute ich nach einer Position wo mich Dustin gut sehen konnte.

Nach einem kurzen Blickkontakt hatte er mich verstanden und ich nahm meine Position neu ein. Natürlich hatte er mich auch mit Zeichen gefragt wie Fynn gespielt hat. Mit einer geballten Faust und einem Freudenhopser auf dem Platz reagierte er auf diese Situation. Sicher nicht optimal, während eines Spieles sich damit zu beschäftigen, aber für Dustin war es wichtig.

Es dauerte auch nicht lange und Fynn tauchte bei mir auf. Allerdings die Kontaktaufnahme der beiden war schon speziell. Dustin zeigte seinem Freund offen wie sehr er sich über den Erfolg freute.

Das löste bei mir Sorge aus, dass Dustin dadurch den Fokus auf sein Match verlieren könnte. Daher forderte ich ihn mit Nachdruck auf, sich nur noch mit seinem Gegner zu befassen. Im Gegensatz zu früher, nickte Dustin mit einem Lächeln und legte den Schalter wieder um. Ein weiterer Schritt in Richtung professionelles Tennis. Konzentriert und sehr diszipliniert spielte er sein Spiel weiter. Mein Herz machte Freudensprünge über diesen Entwicklungsschritt.

Früher hätte sich Dustin viel eher provozieren lassen und hätte häufiger den strategischen Weg verlassen. Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Er kämpfte verbissen um jeden Punkt und spielte auch die langen Ballwechsel bis zum Ende konzentriert mit. Das forderte enorm viel Kraft und Energie. Ein richtig gutes Match bis dahin. Egal wie es ausging, Dustin zeigte mir deutlich, dass er sich weiterentwickelt hatte.

Plötzlich kam während des Seitenwechsels etwas Unruhe unter den Zuschauern auf. Dustin führte mit 5:4 im ersten Satz, aber sein Gegner hatte Aufschlag. Ich konnte die Ursache für die Unruhe nicht feststellen. Erst als der Schiedsrichter nach der „Time“- Aufforderung um mehr Ruhe gebeten hatte, wurde es wieder still am Platz.

Für mich war gut zu beobachten, dass der Gegner jetzt mehr Druck spürte, seinen Aufschlag gewinnen zu müssen. Entsprechend zögerlich spielte er. Dustin hatte diese Situation nicht gut erkannt und spielte genauso vorsichtig mit. Er wollte halt nicht zu früh das Risiko erhöhen, aber in dieser Spielsituation war dies sicher falsch.

Beim Stand von 15:15 machte ich deutliche Signale, um mehr Aggressivität zu fordern, wieder mutiger nach vorn zu spielen. Zuerst schaute mich Dustin fragend an, aber als ich erneut die Richtung nach vorn vorgab, nickte er und ballte seine Faust.

Jetzt war ich gespannt was passieren würde. Und es passierte etwas. Dustin stellte sich einen Schritt näher an die Grundlinie beim Return und baute dadurch mehr Druck auf den Aufschläger auf.

Sein Gegner brachte erneut nur den zweiten Aufschlag ins Spiel und Dustin returnierte hart, rückte sofort ans Netz vor und spielte einen unfassbaren Volleystop. Wie cool war das denn bitte? Mein Herz raste und ich applaudierte für diesen genialen Spielzug. Dustin pumpte sich auf als er zu mir schaute. Noch zwei Punkte und auch er würde den ersten Satz gewonnen haben.

Diese zwei Punkte entwickelten sich zu einem kleinen Drama, denn beim ersten Satzball für Dustin machte der Schiedsrichter aus meiner Sicht eine klare Fehlentscheidung, denn er überstimmte den Linienrichter nicht. Aber das gehörte auch zum professionellen Tennis, zu akzeptieren, dass auch Schiedsrichter Fehler machen.

Für mich war auch nicht diese Fehlentscheidung das Problem, sondern wie Dustin damit umgehen würde. Erstaunlicherweise diskutierte er nur wenige Sätze mit dem Stuhlschiedsrichter, bevor er sich erneut zum Return hinstellen wollte. Er schaute zu mir und ich signalisierte ihm Zustimmung und dass er sich Zeit nehmen sollte.

Dustin drehte sich noch einmal vom Gegner weg und handelte sich eine Zeitverwarnung ein. Jetzt stieg mein Blutdruck doch erheblich. Natürlich war das korrekt vom Schiedsrichter und es hatte auch keinerlei Konsequenzen, aber wie würde Dustin damit umgehen?

Souverän, wie ich gleich feststellen konnte. Er schlug den Return dermaßen hart ins Feld, dass sein Gegner den Ball nur noch zurückspielen konnte und Dustin einen direkten Winner spielte. Also kam jetzt der zweite Satzball. Wieder nahm sich Dustin viel Zeit, um sich zu konzentrieren. Diese Coolness erstaunte mich maßlos. Aber es zeigte auch die Entwicklung von Dustin. Die Turniersiege und guten Leistungen in den letzten Wochen traten jetzt hervor.

Dustin gewann den ersten Satz und natürlich flippte auch Fynn neben mir dabei aus. Er wollte schon zur Bank laufen, um seinem Freund zum Satzgewinn zu gratulieren.

„Stopp, du musst hierbleiben. Hier darf niemand mehr in die Nähe der Spielerbänke gehen. Die Security würde dich nicht durchlassen.“

Fynn schaute mich enttäuscht an, blieb aber ohne sich aufzuregen bei mir.

„Boah, Chris. Da hatte ich nicht mehr dran gedacht. Aber dann freue mich eben hier mit dir und meinen Freunden. Hihihi.“

Ich nickte ihm lachend zu und dann konnte ich Dustin noch ein paar Dinge für den zweiten Satz mitgeben. Ich war gespannt, ob er schon in der Lage war, jetzt ruhig und fokussiert weiter zu spielen.

Und wie er das konnte. Er begann den zweiten Satz sehr konzentriert und hielt seinen Gegner immer wieder an der Grundlinie fest. So beherrschte er die Ballwechsel und geriet selten in Bedrängnis. Allerdings geriet das frühe Break beim Stand von 3:1 noch einmal ins Wanken, als Dustins Kräfte zu schwinden begannen. Bei 5:4 musste er zwei Breakbälle abwehren und mir wurde bewusst, sollte Dustin den Satz noch verlieren, würde er es im dritten Satz ganz schwer haben. Da stieg mein Puls noch einmal an und ich spielte jeden Ball im Kopf mit. Auch Fynn und Justin zitterten mit. Maxi musste sich mittlerweile aufwärmen, da er auf Platz neun gehen würde, sollte dort das Match zu Ende sein.

Also war mein Tag heute wieder sehr lang und anstrengend. Meine Gedanken waren jetzt aber schnell wieder nur bei Dustin. Er hatte Matchball und machte im dritten Versuch den Sieg perfekt. Jetzt musste ich einfach mit einem lauten „Yes“ Druck abbauen. Fynn neben mir fiel mir um den Hals und auch Justin freute sich für Dustin. Was für ein Einstand für das „Breakpoint-Team“.

Leider konnte ich nicht ohne Probleme Dustin zum grandiosen Spiel gratulieren. Die Wege waren hier immer sehr weit und kompliziert. Allerdings ließ ich Fynn zu seinem Freund gehen und Dustin ausrichten, dass er bitte zu Platz neun kommen möge. Das sollte mein nächster Zielort werden. Justin würde ebenfalls bald auf den Platz müssen. Deshalb schickte ich den zum Aufwärmen und ging allein zum Platz neun.

Dort konnte ich sehr schnell erkennen, dass es Maxi sehr schwer haben würde. Sein Gegner spielte mit einem extrem hohen Grundtempo beim Einschlagen. Von der Spielanlage lag das Maxi, aber ihm fehlte einfach die Matchpraxis auf diesem Niveau. Mal schauen wie sich Maxi da aus der Affäre ziehen würde.

Mir fehlte definitiv eine Pause zwischen den Partien. Ich hatte keine Zeit mal für ein paar Minuten runterzufahren und entsprechenden Druck spürte ich in meinen Lungen. Kein gutes Zeichen. Da musste ich aufpassen, um nicht in Probleme zu geraten.

Plötzlich hörte ich eine mir bekannte Stimme:

„Na, Chris. Das läuft doch mega gut mit den Jungs. Schon zwei in der zweiten Runde. Das sieht nach großem Kino aus. Und jetzt kannst du etwas entspannen, denn ich werde dich nun unterstützen. Niko ist fertig mit dem Training.“

Mein Bruder stand neben mir und klopfte mir auf die Schulter. Komisch, vor einigen Monaten wäre mir das sehr unangenehm gewesen, aber heute fühlte sich das gut an. Nicht mehr ganz allein für alles verantwortlich zu sein.

„Gib mir bitte eine kurze Lageeinweisung. Justin wird auch bald auf den Platz gehen. Ich könnte dir anbieten, bei einem der beiden Spieler zu bleiben. Dann brauchst du nicht ständig zu wechseln.“

„Sehr gern, ich würde gern bei Maxi bleiben. Er ist zurzeit in einer schwierigen Phase. Da möchte ich bei ihm sein. Wenn du Justin vorher noch informierst, dann dürfte das am wenigsten problematisch werden. Oder warte, ich werde ihm die Situation selbst erklären. Bleibst du so lange bei Maxi?“

„Gern, du kennst deine Jungs am besten und ich möchte dich unterstützen. Also mach das so. Ich bleibe so lange hier bei Maxi.“

Im Laufschritt machte ich mich auf die Suche nach Justin. Auf einem der Bereiche für die Spieler erwischte ich ihn noch beim Seilspringen. Verwundert schaute er mich an:

„Nanu, Chris. Bist du nicht bei Maxi am Platz? Er dürfte doch bereits begonnen haben.“

„Ja, das ist korrekt. Aber es gibt eine neue Situation. Jan ist zu mir gekommen und hat mir angeboten, mich zu unterstützen. Ich würde es gut finden, wenn ich heute bei Maxi bleiben kann und Jan zu dir an den Platz kommt. Sobald Maxi fertig ist, komme ich selbstverständlich auch zu dir. Wäre das für dich in Ordnung?“

„Du fragst mich, ob das in Ordnung wäre? Wow, das hätte ich nicht erwartet. Immerhin ist Jan dein Chef und kann schließlich entscheiden, wer wo am Platz sitzt. Aber ich habe damit kein großes Problem, wenn Jan mich begleitet. Würde es aber gut finden, wenn ich mit ihm noch vor dem Match etwas Zeit hätte. Ich habe zu ihm nicht die Verbindung wie zu dir.“

„Danke, Justin. Ich hoffe du verstehst, dass ich in Anbetracht von Maxis Situation bei ihm bleiben möchte. Jan werde ich sofort zu dir schicken, damit ihr noch etwas sprechen könnt.“

Wir klatschten uns noch einmal ab und dann joggte ich zurück. Jan saß immer noch an derselben Stelle bei Maxi am Platz. Das Match hatte gerade begonnen.

„So, Justin ist einverstanden, aber er bittet dich um ein Gespräch vor dem Match. Er möchte gern mit dir ein paar Dinge absprechen. Wie ist Maxi ins Match gestartet?“

„Natürlich gehe ich zu Justin und rede noch vor dem Spiel mit ihm. Hat er sonst etwas gesagt?“

„Naja, er macht sich etwas Sorgen, da er mich besser kennt und wir halt eine eigene Kommunikation entwickelt haben.“

„Kann ich verstehen. Maxi ist übrigens gut gestartet. Er wird es sicher sehr schwer haben, aber er soll einfach frei spielen. Du wirst ihm die Sicherheit geben, die er braucht. Ich gehe rüber zu Justin. Dustin und Fynn werden sicher auch gleich zu dir kommen.“

„Danke, ich schicke sie dann zu dir. Sie kennen Justin gut und könnten dich unterstützen. Was meinst du dazu?“

„Ja, das halte ich für eine gute Idee. Bis gleich dann.“

Danach machte sich Jan auf den Weg. Ich hatte keine Zeit über dieses Gespräch lange nachzudenken, denn Maxi brauchte mich auf dem Platz. Dennoch hatte ich ein tolles Gefühl in der Brust. Ein Gespräch dieser Art mit meinem Bruder war für mich immer noch etwas Besonderes, nämlich eine gleichberechtigte Position zu haben.

Maxi musste sich von Beginn an quälen. Er hatte eine richtige Ballwand als Gegner bekommen. Außerdem war sein Gegner an Position drei gesetzt.

Es gab für mich aber keinerlei Kritik an seinem Spiel und vor allem an seiner Haltung. Er spielte mit vollem Einsatz und zeigte das Maximale, was er momentan zu leisten im Stande war. Dennoch sollte das heute nicht für einen Sieg ausreichen.

Maxis Haltung in der Niederlage verlangte von mir großen Respekt. Er gratulierte und wirkte nicht frustriert. Im Gegenteil, in der Matchanalyse gab er mir eindeutig zu verstehen, dass er heute nicht besser spielen konnte. Er war also nicht einmal unzufrieden mit seinem Spiel. Lediglich etwas enttäuscht über die Auslosung.

Seine Persönlichkeitsentwicklung hatte klare, positive Fortschritte gemacht. Das freute mich und damit dauerte die Nachbesprechung auch nur wenige Minuten. Im Anschluss daran schickte ich Maxi nur noch zum Auslaufen und zur Massage.

Ohne große Pause ging ich zu Justin an den Platz. Ich war sehr gespannt wie sich das Spiel dort entwickelt hatte. Jan saß in unserer Coaching-Box, umrahmt von Dustin und Fynn. Auch Niko saß mittlerweile in der Box. Und alle hatten dieselbe Teamkleidung an. Ein eindrucksvolles Bild.

Dustin und Fynn wollten natürlich zuerst wissen wie Maxi gespielt hatte. Zuerst waren sie enttäuscht über die Niederlage, aber als ich ihnen meine Einschätzung erklärt hatte, waren sie beruhigt. Dennoch hatten sie es Maxi besonders gegönnt.

Justins Spiel entwickelte sich komplett anders als ich das erwartet hatte. Jan wirkte sogar ein wenig ratlos. Das hatte ich so auch noch nicht bei ihm erlebt.

„Kannst du mir sagen wie ich Justin klarmachen kann, dass er seine Strategie komplett ändern muss? Ich finde einfach keinen Zugang zu ihm“, seufzte Jan.

Ich war erstaunt. Jan war ratlos und bat mich um Hilfe. Ich ließ mir den Spielverlauf erläutern und nach einem gesehenen, weiteren Spiel hatte ich die Situation begriffen. Justin konnte sich nicht von der vorher besprochenen Linie lösen.

Beim nächsten Seitenwechsel hatte Justin realisiert, dass ich wieder an seinem Platz stand und ich ihm etwas mitteilen wollte. Zuerst war er nicht aufnahmebereit, aber als ich ihm mit Nachdruck deutlich gemacht hatte, dass er sein Spiel deutlich verändern musste, nickte er mit einem Lächeln und pustete einmal kräftig durch.

Was danach passierte, überraschte sogar mich. Jan saß auch nur noch staunend auf seinem Platz, während sich Dustin und Fynn diebisch freuten über die Wendung. Justin begann sein typisches Feuerwerk abzubrennen und die Bälle schlugen bei seinem Gegner gefühlt doppelt so schnell ein wie zuvor.

Sehr schnell machte sich beim Gegner Erstaunen bis Unmut breit. Er wirkte schlicht nicht auf diese Reaktion vorbereitet. Das musste Justin nun nutzen, bevor sein Gegenüber sich wieder fangen würde.

Mittlerweile war ich in einem regen Austausch mit Justin und pushte ihn nach jedem Punkt und musste ihn aber auch hin und wieder beruhigen, wenn er auf dem Weg war, den Druck zu übertreiben.

Was ich zu sehen bekam war jedenfalls ganz großes Tennis und ich war beeindruckt. So beeindruckt, dass ich den Satzball erst realisiert hatte als er gespielt war. Jan stand auf und applaudierte offen über den Gewinn des Satzes. Dustin und Fynn tobten natürlich viel euphorischer in unserer Box. Sie klatschten sich gegenseitig ab und auch Jan gab ihnen „high five“.

Als die Satzpause beendet war, fragte mich mein Bruder:

„Was habe ich übersehen in der Kontaktaufnahme? Im Grunde habe ich nicht viel Anderes probiert. Warum funktioniert das bei dir und bei mir nicht?“

„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte ich schmunzelnd, „das solltest du Justin nach dem Match fragen. Aber er darf gerne so weiter spielen.“

Niko lachte sich kaputt über meine Antwort und Jan fing auch an zu grinsen. Das kam sehr selten vor, dass mein Bruder am Platz lächelte.

Und das total verrückte war, dass Justin tatsächlich auch im zweiten Satz vollkommen losgelöst von Spielstand und Situation sein Spiel fortsetzte. Damit war sein Gegner überfordert und Justin gewann auch den zweiten Satz.

Damit hatten wir drei Spieler in der zweiten Runde. Für mich fast unglaublich. Vor allem mit welcher Lockerheit das geschah.

Jan stand nach dem Matchball neben mir und nickte anerkennend.

„Wow, das war großes Kino. Ich glaube, die Jungs können noch viel mehr als wir glauben. So wie du Justin befreit hast, das war überzeugend. Sehr stark. Jetzt geht auch noch mehr. Warte ab, deine Jungs werden uns noch ganz tolles Tennis zeigen. Wir sollten sie nur entsprechend von der Leine lassen.“

Fynn: Zweite Runde und Big Mac

Nachdem Justin auch noch gewonnen hatte, äußerte Jan seine Bitte, dass Maxi ab sofort für Niko zur Verfügung stehen und mit ihm trainieren sollte. Maxi wirkte einerseits erfreut, aber andererseits wurde ihm dabei bewusst, dass er dann unseren Spielen nicht unbedingt zuschauen konnte, wenn Niko trainieren musste.

Dustin und ich hatten Chris gefragt, ob wir uns am Abend mit Sergio und Marcelo treffen dürften. Chris hätte uns das genehmigt, aber es gab noch einen anderen Termin. Von dem wussten wir aber noch nichts. Deshalb hatte Jan uns gebeten am Abend mit ihm und Niko zu einer Veranstaltung zu gehen.

Ich war ein wenig enttäuscht, hatte allerdings auch Verständnis für Jans Bitte. Chris machte keine Anstalten dagegen zu sein, daher stimmten wir natürlich zu. Im Hotel hatte uns Chris dann mitgeteilt, dass sowohl Sergio und Marcelo als auch Carlos Moya an diesem Termin ebenfalls teilnehmen würden. Damit hatte Chris uns neugierig gemacht.

Dustin und ich waren gerade dabei uns passend umzuziehen, Chris hatte um Teamkleidung gebeten, als mich mein Schatz fragte:

„Was wird uns da heute Abend wohl erwarten? Es scheint ja eine größere Veranstaltung zu werden.“

„Ich habe keine Ahnung, aber wenn Chris uns darum bittet, dann wird es einen Sinn haben. Ich vertraue ihm da total.“

Ich hatte meinen Freund scheinbar falsch verstanden, denn er konterte leicht genervt:

„Das tue ich ganz sicher auch. So wollte ich das auch gar nicht gemeint haben. Ich bin einfach etwas aufgeregt. Sonst ist doch Chris gar kein Freund von irgendwelchen Veranstaltungen.“

„Das stimmt, aber Jan scheint es wichtig zu sein. Außerdem sind ja unsere spanischen Freunde auch dabei. Da werden wir also nicht allein sein.“

Daraufhin bekam ich von meinem Schatz einen Kuss.

Ein kleiner elektrischer Impuls durchströmte meinen Körper und so entwickelte sich ein wenig mehr aus dieser Situation.

Leider hatten wir nicht bemerkt, dass Chris zu uns ins Zimmer gekommen war.

„Ähm, ihr solltet vielleicht die Tür verschließen, wenn ihr ungestört sein wollt.“

Was mich freute, Dustin blieb mittlerweile sehr entspann in solchen Situationen. Keine Panik mehr, sondern ein lockerer Text und dann machten wir uns auf den Weg. Chris grinste noch während wir mit Justin und Maxi im Fahrstuhl standen. Justin schaute irritiert zu Chris, traute sich aber nicht zu fragen.

„Ich möchte jetzt nicht wissen, was Chris gerade über euch denkt. So ein Grinsen im Gesicht habe ich noch nicht häufig erlebt“, übernahm Maxi den Kommentar.

Chris zuckte nur kurz mit den Schultern, aber Dustin setzte noch einen drauf.

„Er hat gute Laune und er hat sich überzeugt, dass unsere Beziehung noch bestens in Schuss ist.“

Ich drehte meinen Kopf schlagartig zu Dustin, der mich lachend anschaute.

Plötzlich brach Chris in lautes Gelächter aus. Er zeigte Dustin den Daumen hoch und erwiderte:

„Spätestens jetzt solltest du akzeptieren, dass du verloren hast.“

Die Fahrstuhltüren gingen auf und schnell hatte sich Chris wieder beruhigt. Jan wartete bereits auf uns in der Lobby mit Niko.

Auch sie hatten die gleiche Kleidung wie wir an. Also war mir klar, dass das ein offizieller Termin sein musste. Jan umarmte seinen Bruder zur Begrüßung, nickte uns lächelnd zu und ging dann voraus Richtung Ausgang. Was er mit Chris auf dem Weg nach draußen sprach, konnten wir nicht verstehen, aber umso verwunderter schauten wir, als vor dem Hotel ein großer amerikanischer Van stand.

Jan öffnete die Türen und Chris stieg hinten direkt ein. Also folgten wir umgehend und wenige Augenblicke später fuhr unser Fahrer nahezu geräuschlos los.

So langsam stieg meine Unruhe. Irgendetwas Außergewöhnliches würde auf uns warten. Soviel war mir schon klar geworden.

„Bevor ihr euch unnötig aufregt oder Chris gleich mit Fragen den Bauch löchert, gebe ich euch mal eine kurze Information wo wir jetzt hinfahren“, meldete sich Jan zu Wort.

„Wir haben heute Abend eine Veranstaltung unseres Teamsponsors 'Solinco'. Da sie auch ein wichtiger Sponsor bei den US Open sind, wurden wir gebeten heute dabei zu sein, wenn die neue Schlägerkollektion vorgestellt wird. Ihr werdet diese Serie vermutlich auch bald zur Verfügung bekommen. Aber keine Angst, ihr müsst nichts tun was ihr nicht möchtet. Vermutlich wird es eine kurze Vorstellung von euch geben, damit die Markenbotschafter von Solinco euch einmal kennenlernen. Immerhin hat eure Entwicklung bereits erhebliche Resonanz in der Tennisszene ausgelöst.“

Das hörte sich zwar spannend an, aber ich hatte jetzt ein wenig Angst, dass dieser Abend für uns länger dauern würde. Wir hatten am nächsten Tag noch eine weitere Runde Qualifikation zu spielen.

Chris schaute uns nur kurz an, fing an zu schmunzeln und gab mir direkt eine Antwort, ohne dass ich etwas gesagt hatte:

„Keine Sorge Jungs, ihr seid garantiert zeitig wieder im Hotel. Die Qualifikation ist vorrangig. Allerdings dürft ihr morgen etwas später frühstücken. Um zehn reicht uns auch, danach geht es dann direkt auf die Anlage. Aber ein wenig dürfen wir uns heute auch präsentieren.“

Und wenige Minuten später hielten wir vor einem Hotel in der Stadt. Nervosität machte sich bei mir bemerkbar, denn es war ein sehr nobles Haus mit Doorman und einem üppigen Empfang in der Lobby. Überall Anzugträger und nur wenige Sportler wie wir.

Plötzlich kamen zwei junge Männer auf uns zu. Irgendwo hatte ich diese Gesichter schon einmal gesehen. Meine Verwirrung wurde umso größer, als wir freundlich auf Deutsch begrüßt wurden. Jan schien sie gut zu kennen, denn sie duzten sich.

„Hallo und herzlich willkommen bei 'Solinco' in New York. Ihr habt ja einen tollen Start bei den US Open hingelegt. Respekt!“

Ich hatte keine Ahnung wer uns da gerade gegenüberstand, aber Jan klärte die Situation:

„Bevor ihr euch noch länger verunsichert fragt wer das ist, dies sind die CEO Deutschland von 'Solinco'. Ihr habt euch in Halle schon einmal kennengelernt.“

Ohja, jetzt dämmerte es mir. Wie peinlich. Das waren wichtige Sponsoren für uns und wir haben sie nicht einmal mehr erkannt.

Wir gaben ihnen die Hand und ich war mir nicht sicher, ob wir uns nicht entschuldigen sollten, aber Chris nahm die Situation in die Hand:

„Seid ihnen nicht böse. Die Jungs haben noch wenig Erfahrung mit so wichtigen Personen in ihrem Umfeld. Außerdem sollen sie sich ja auf ihr Spiel konzentrieren. Es war sicherlich nicht böse gemeint, dass sie so unsicher reagiert haben. Sonst sind sie nicht so zurückhaltend.“

Dabei hatte Chris schon wieder ein Grinsen im Gesicht und auch die beiden Herren von 'Solinco' lachten. Gut, das mussten wir nun aushalten, aber Chris hatte die Situation gerettet. Jetzt kam der größere der beiden Herren auf mich zu und sagte:

„Ich vermute, ihr habt noch keine Erfahrung mit derartigen Veranstaltungen. Ich möchte euch gerne mit auf die Bühne nehmen, um euch den anderen vorzustellen. Aber keine Angst, hier tut euch niemand etwas. Jan und Chris werden euch mit Niko begleiten. Ihr seid also nicht allein auf der Bühne. Wollen wir rüber gehen?“

Ich hatte überhaupt keine Ahnung, um was es hier gehen würde. Allerdings ging Jan mit Chris einfach in Richtung Bühne. Da folgten wir einfach, denn es wäre noch peinlicher gewesen, jetzt stehen zu bleiben.

Wir wurden auf die Bühne geleitet und bekamen dort einen Sessel zugewiesen. Dort stand für jeden etwas zu trinken und dann kam ein Moderator auf die Bühne. Ein Sessel blieb noch leer. Dennoch begann der Moderator mit der Begrüßung.

Wir wurden als Team aus Deutschland vorgestellt und zuerst ging es natürlich um Jan und Niko. Sie waren die Aushängeschilder und spielten auf der großen ATP-Tour seit Jahren sehr erfolgreich. Jan wurde zu den Erwartungen bei den US Open gefragt:

„Also meine Erwartungen Niko betreffend sind schon etwas anders als bei unseren Youngstern. Niko kann hier sicher etwas bewegen, aber auch die Jungs hier können in der Qualifikation für gute Leistungen sorgen. Sie sollen Erfahrungen sammeln und ihr Potenzial zeigen. Was dann passiert, sehen wir uns an.“

Der Moderator fragte nach:

„Also wären frühe Niederlagen in der Qualifikation kein Problem? Was hat 'Solinco' für einen Einfluss auf die Spieler?“

„Gutes Material ist wichtig. Kein Handwerker benutzt schlechtes Werkzeug. Also spielen gute Spieler auch nur mit guten Sportgeräten. Da gerade unsere Nachwuchsabteilung noch keine eigenen Preisgelder erspielt, ist diese Unterstützung von „Solinco“ enorm wichtig. Gerade bei den vier Jungs hier sind die Kosten zurzeit sehr hoch. Allerdings liegen sie komplett vor dem Plan. Sie brauchen noch keine Gelder einzuspielen, haben es aber mit einigen Erfolgen bereits getan. Umso besser. Da hat auch mein Bruder Chris enormen Anteil daran. Seinem Engagement ist es zu verdanken, dass diese vier Spieler jetzt schon da sind wo sie gerade stehen. Vielleicht fragen Sie einen der Jungs einmal, wie er die Entwicklung sieht?“

Jetzt stieg mein Puls doch deutlich an, denn ich konnte sehen, dass vielleicht hundert Leute vor dem Podium saßen. Vermutlich Journalisten und Händler.

Der Moderator widmete sich nun uns und glücklicherweise suchte er sich Justin als ersten aus.

„Justin, du bist als letzter in dieses Team gekommen. Wie empfindest du das Leben in der WG in Halle? Ist die Umstellung auf die deutschen Tugenden schwierig?“

Justin schaute etwas irritiert und musste lachen.

„Nein, es ist überhaupt nicht schwierig, in Deutschland zu sein. Mit diesem Team und diesen Freunden macht es Spaß in Halle zu leben. Und ich möchte noch etwas zu Jans Aussage ergänzen. Das Team unterstützt uns in allen Lebensfragen. Nicht nur beim Tennis. Gerade ich habe noch häufiger meine Probleme mit den deutschen Gepflogenheiten. Aber meine Freunde passen auf mich auf und ich habe nie das Gefühl alleingelassen zu sein. Die Firma Solinco hat uns durch das Sponsoring einiges erleichtert. Abgesehen davon, dass ich die Schläger auch als sehr angenehm zu spielen empfinde. Chris sorgt immer dafür, dass wir optimal gefördert und auch gefordert werden. Hier in New York ist es für mich zum Beispiel so, dass ich kaum noch Angst spüre zu versagen. In Deutschland waren meine Zweifel doch sehr groß, ob die US Open nicht viel zu früh für uns wären. Chris hat uns einfach an die Hand genommen und gesagt, macht doch einfach mal. Das war richtig cool.“

Der Moderator schmunzelte nach dem letzten Satz, fragte jetzt aber doch zur Situation von Dustin und mir.

„ Solinco hat als eine der ersten großen Firmen nach Gerry Weber ein homosexuelles Paar im professionellen Tennis unter Vertrag genommen. Ihr habt sozusagen eine Vorreiterrolle für andere schwule Tennisspieler übernommen. Spürt ihr das manchmal bei den Turnieren? Eure Erfahrungen waren nicht nur positiv seit eurem Outing.“

„Ja, Solinco ist auf uns zugekommen und hat uns diese Unterstützung angeboten. Das war für mich schon etwas Außergewöhnliches. Ich meine, wir sind noch siebzehn und weit entfernt vom richtigen Profisport. Allerdings nähern wir uns schrittweise dem Ziel, dort hinzukommen. Unsere Erfahrungen mit unserer offenen Beziehung waren sicherlich nicht nur positiv, aber die positiven Erfahrungen überwiegen deutlich. Und mit den Erfahrungen heute würde ich es jederzeit wieder genauso tun. Sich verstecken zu müssen, nur um seinen geliebten Sport ausüben zu können, das ist furchtbar und unmenschlich. Wir haben mittlerweile einige andere Spieler kennengelernt, die auch wie wir schwul sind. Sie trauen sich aber nicht zu outen, weil sie Sorge haben, dann ihre Sponsoren zu verlieren. Das finde ich traurig und da muss sich noch ganz viel in der Haltung der Gesellschaft verändern. Wir spielen kein schlechteres Tennis als die heterosexuellen Spieler.“

Mein Puls raste, als ich geendet hatte. Mir war viel mehr herausgerutscht als ich sagen wollte. Plötzlich hörte man eine Stimme hinter der Bühne über die Lautsprecher, die sofort auf meine Aussage reagierte und sich nun uns auf der Bühne näherte.

„Lasst euch bloß nicht mehr einschüchtern. Ihr seid richtig gut und mischt endlich diese verkalkte Tennisszene auf. Schwule Spieler gehören genauso dazu wie die Lesben bei den Frauen. Martina Navratilova hat es schon in den Achtzigern gezeigt, wie gut man sein kann. Jetzt, fast vierzig Jahre danach, kommen zwei deutsche Jungs in die Tenniswelt und zeigen den Funktionären, dass sie erstens tolles Tennis spielen können und zweitens auch noch sehr nett sind. Ihr seid hier bei den US Open genau richtig. Also lasst euch nicht einreden, dass ihr klein und unbedeutend seid.“

Sofort entstand etwas Unruhe in den Zuschauern unten, denn mittlerweile hatte sich diese Person auf den noch verbliebenen freien Sessel gesetzt. Kein Geringerer als John McEnroe war zu uns gekommen und nahm ab jetzt an dieser Veranstaltung teil.

Der Moderator stellte ihn zwar noch kurz vor, aber ich hatte das Gefühl, dass das überflüssig war.

„Wie kommt ein ehemaliger Weltklassespieler dazu, sich ausgerechnet hier zu engagieren?“, wurde John McEnroe nun gefragt.

„Ganz einfach. Es gibt viel mehr gute Sportler, die schwul sind. Aber Fynn hat es eben schon gesagt, die Sponsoren haben oft Schiss, sich eine blutige Nase damit zu holen. Schwachsinn! Umso bemerkenswerter, dass sich 'Solinco' davon nicht beeindrucken lässt und genau wie Gerhard Weber in Deutschland, nur die Leistung beurteilt. Und die Leistung dieser Truppe mit ihrem Coach Chris ist außergewöhnlich gut.“

„Was genau ist deine Aufgabe in den USA in dieser Sache?“

„Mit dem „Breakpoint-Team“ habe ich direkt wenig zu tun. Allerdings habe ich hier in New York Anteile an einer Bar, in der viele schwule Sportler verkehren und dort vor allem auch ihre Ruhe haben. Das Team von Jan habe ich bereits zu Gast gehabt und muss sagen, es sind sehr nette Jungs. Sie verdienen es, eine echte Chance auf der Tour zu bekommen. Daher habe ich ihnen diese Wild Cards für die US Open Qualifikation gegeben. Sie haben den Mut, offen an diese Sache heranzugehen und sich nicht mehr länger einschüchtern zu lassen. Vielleicht haben sie eine Vorreiterrolle in der Szene und das will und werde ich weiterhin auch unterstützen. Gerade hier in den Staaten kann es von Vorteil sein, wenn ich ihnen behilflich bin. Jan und ich haben jedenfalls bereits einige Dinge besprochen und geplant. Ich bin mir sicher, das wird gut werden. Und die ATP und vor allem die Landesverbände müssen sich in Zukunft darauf einstellen, dass Fynn und Dustin nicht allein bleiben werden.“

So langsam wurde mir diese Sache unheimlich. John McEnroe hatte bereits mit Jan im Vorfeld einiges vorbesprochen. Warum wusste Chris nichts davon? Oder hatte er uns nur nichts davon gesagt?

Jetzt wurde Chris vom Moderator gefragt, ob er es manchmal bereut hätte, so offensiv an diese Sache herangegangen zu sein. Zumal er ja in Kitzbühel fast ums Leben gekommen war. Das war definitiv für Chris eine Provokation, die nicht unbeantwortet bleiben würde. Entsprechend konnte ich Spannung in seinem Körper erkennen. Als der Moderator ausgesprochen hatte, grätschte Jan dazwischen bevor Chris antworten konnte.

„Bevor sich mein Bruder aufregt, möchte ich dazu etwas vorab sagen. Niemand in meinem Team hat es bislang eine Minute bereut, diese Jungs aufgenommen zu haben und ohne Einschränkungen zu unterstützen. Mit Chris habe ich jemanden an meiner Seite, wie er nicht besser dafür geeignet sein kann. Gerade im Umgang mit den Medien. Sie werden sicher gleich spüren, dass Ihre Frage nicht sonderlich geschickt formuliert war.“

Dann blickte Jan zu seinem Bruder und was nun folgte war ein Schauspiel besonderer Art.

„Ich muss mich gerade sehr zurücknehmen, um hier nicht vielleicht etwas über das Ziel hinauszuschießen, aber Ihre Frage wirkt sehr provokant. Was glauben Sie, wird mein Beweggrund damals gewesen sein, sich vor meine Jungs zu stellen? Ich wusste, dass sie es immer schwerer als andere haben werden, die nicht schwul sind. Warum? Weil unsere Gesellschaft und insbesondere die amerikanische Gesellschaft für schwule Sportler noch nicht bereit ist. Warum stellen Sie diese Frage in einer Präsentation für Sportgeräte von der Firma 'Solinco'? Ich bin hier als Gast eingeladen worden und stehe hier fast auf der Anklagebank und soll mich für mein Verhalten rechtfertigen? Nein, diesen Gefallen werde ich Ihnen nicht tun. Meine Jungs geben ihre Antwort auf dem Platz. John McEnroe hat es eben sehr gut angemahnt. Lasst euch nicht einschüchtern, ihr seid gut. Und genau das sind sie auch. Sie sind gut, wenn nicht sogar sehr gut. Ich habe die Aufgabe, sie ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten. Genau das mache ich und bin meinem Bruder auch sehr dankbar für diese Chance. Ich bin davon überzeugt, dass sie alle das Potenzial haben, in die erweiterte Weltklasse zu kommen. Und Solinco hat erkannt, dass die Jungs für ihre Firma ein guter Werbeträger sind. Dafür bin ich Solinco sehr dankbar. Mehr sage ich dazu nicht.“

Während Chris sprach, spürte ich bei Dustin eine große Unruhe aufkommen. Hoffentlich würde er jetzt nicht explodieren. Denn wenn es jemand wagte Chris zu attackieren, konnte ich für nichts mehr garantieren. Ich nahm seine Hand und drückte sie ganz fest. Die Spannung war für mich sofort spürbar.

Plötzlich passierte aber etwas ganz anderes, Überraschendes. Ein Gast im Zuschauerraum rief nach oben:

„Es ist genau so richtig. Ihr habt begriffen, was es bedeutet schwul zu sein und wie sehr eure Spieler da noch Unterstützung brauchen. Solinco hat es ebenfalls erkannt, wenn sie sich jetzt engagieren, können sie etwas Großes bewegen. Ich habe bei uns in Spanien gesehen, wie toll man mit diesem Team arbeiten kann. Auch wir haben in unserem Team schwule Sportler, die bislang noch nicht den Mut hatten, sich zu öffnen. Aber als Fynn und Dustin bei uns waren, haben sie etwas in Bewegung gebracht. Lasst euch nicht einschüchtern. Geht euren Weg weiter und auch wir in Manacor werden euch begleiten und unterstützen. Früher oder später werden schwule Tennisspieler genauso erfolgreich sein, wie heterosexuelle Spieler.“

Alle Augen waren jetzt auf diese Person gerichtet. Ich konnte nicht genau erkennen, um wen es sich handelte. Aber mir war klar, es war jemand der Nadal Akademie. Jan hatte ihn wohl schon erkannt, denn er reagierte zuerst.

„Danke, Carlos. Du sprichst mir aus der Seele mit dem, was du gesagt hast. Und was glauben eigentlich manche Medien? Dass sich Chris aus Spaß an der Freude niederstechen ließ? Manchmal glaube ich einfach, einige Journalisten sind nicht mehr Herr ihrer geistigen Fähigkeiten. Ich bin sehr froh, dass Chris damals nicht noch schwerer verletzt worden ist. Die seelischen Folgen sind selbst heute noch nicht abschließend zu beurteilen. Bislang bin ich sehr glücklich, dass es meinem Bruder gut geht. Und ich werde alles dafür tun, dass dies auch so bleibt. Chris soll in Ruhe mit den Jungs arbeiten und sie weiterentwickeln. Auch gegen immer wieder auftretende Widerstände. Die Zeit wird für uns arbeiten. Solinco hat als einer der ersten gespürt, dass es richtig ist nach vorne zu schauen. Dafür haben sie meinen größten Respekt und Dank. Ich bin davon überzeugt, dass in zwei Jahren diese Diskussion über Fynn und Dustin überflüssig sein wird. Weil sie erfolgreich in der Weltspitze spielen werden.“

Chris atmete tief aus und Jan schaute sich seinen Bruder ganz genau an. Der General Manager von Solinco erbat sich jetzt das Wort. Chris sollte besser noch nichts dazu sagen, denn das wäre sicher eine deutliche Steigerung in der Wortwahl geworden.

„Bevor hier noch mehr Gift und Provokation versprüht wird, möchte ich dazu etwas sagen. Wir haben dieses Team heute eingeladen, um deutlich zu zeigen, dass wir als Sportartikelkonzern hinter den homosexuellen Sportlern stehen, wenn sie die gleichen Leistungen bringen wie andere Athleten. Und genau das machen Fynn und Dustin. Chris ist ihr Mentor und Leitwolf. Er gibt ihnen eine Perspektive und eine Richtung vor. Mit viel Engagement und Fingerspitzengefühl führt das „Breakpoint-Team“ diese Talente nach vorn. Wir unterstützen das Projekt auch weiterhin sehr gerne. An Chris gerichtet, ich möchte mich für die vielleicht ungeschickte und provokante Frage des Moderators entschuldigen. Ich würde mich freuen, wenn du uns noch etwas von deiner erfolgreichen Arbeit schildern würdest. Denn das ist das beste Argument für alle homophoben Menschen. Fynn und Dustin haben mit deiner Hilfe Erfolg.“

Mein Blick ging hinüber zu Chris. Er saß verspannt und verärgert in seinem Sessel. Ob er dieser Bitte noch nachkommen würde? Ich war mir nicht mehr sicher ob es gut war, heute hierher zu kommen. Chris nahm Blickkontakt zu Jan auf und ließ sich das Mikrofon geben.

„Meine Arbeit besteht darin, die Jungs zu begleiten und ihnen Wege aufzuzeigen, die möglich sind. Welchen Weg sie gehen, entscheiden sie mittlerweile selbst. Sie haben bereits genug Erfahrungen gesammelt und können entscheiden, wohin sie gehen möchten. Ich begleite sie und leite sie auch an. Auf dem Platz kann ich ihnen noch einige Impulse geben, aber auch dort haben sie bereits viel Selbstständigkeit erreicht. Momentan macht es einfach Freude zu beobachten, wie sie nach vorn marschieren und viele der etablierten Spieler ärgern können. Ich glaube an ihre Entwicklung und ihre Fähigkeiten und wenn wir weiterhin in Ruhe arbeiten können, werden wir diese Truppe in naher Zukunft auch regelmäßig bei den großen Turnieren sehen können.“

Der Moderator übernahm wieder das Wort.

„Vielen Dank für die erklärenden Worte. Ich glaube, damit wird deutlich, dass 'Solinco' eine gute Rolle in dieser Entwicklung übernommen hat und sich der Verantwortung stellt. Gibt es jetzt noch Fragen an das Podium?“

Es kamen noch einige Fragen zu Niko und Jans Turnierplanung für das Jahr und als die Veranstaltung eigentlich zu Ende gehen sollte, meldete sich noch ein amerikanischer Journalist mit einer Frage an Chris:

„Denken Sie, dass Dustin und Fynn mit Justin und Maxi auch weiterhin gemeinsam von Ihnen trainiert werden können? Ihr Bruder trainiert immer nur einen Spieler auf der ATP-Tour. Sie würden das mit drei oder gar vier Spielern zur gleichen Zeit machen. Ist das realistisch?“

Chris schaute erneut zu Jan. Der nickte ihm zu. Also sollte wohl Chris dazu antworten.

„Gut, das ist eine Frage, die ich heute nicht beantworten kann. Sie haben sicherlich recht, mit vier Spielern auf der großen ATP-Tour allein zu sein, dürfte nahezu unmöglich werden. Aber noch ist es auch nicht soweit. So lange es Sinn macht, diese vier zu betreuen, werde ich das weiterhin machen. Was passiert, sollten alle vier den Sprung schaffen, werden wir dann entscheiden. Aber das liegt in erster Linie in der Entscheidung vom Team und meinem Bruder.“

„Falsch“, ging Jan dazwischen, „diese Entscheidung obliegt in erster Linie dir. Du hast den besten Überblick über die Situation und ich werde mich hüten, dir da reinzureden. Allerdings bin ich sofort zur Stelle, wenn es deiner Meinung nach Veränderungen geben soll. Es ist sicher richtig, dass es auf Dauer allein unmöglich sein wird, das zu bewältigen. Aber wer sagt denn, dass das auch so sein wird. Ein weiterer Coach kann jederzeit hinzugezogen werden und mit Chris gemeinsam arbeiten. Also da ist alles offen. Momentan gibt es allerdings gar keinen Grund, irgendetwas zu verändern. Außer, dass ich in Zukunft mehr auf meinen Bruder achten werde. Ich brauche ihn noch.“

Dabei musste Chris schmunzeln und auch John McEnroe applaudierte spontan.

Mit diesem Statement endete diese Podiumsrunde. Im Anschluss gab es noch einen Empfang ohne die Presse. Nur mit den Solinco-Leuten, dem „Breakpoint-Team“ und der „Nadal Base“.

Dabei hatten wir doch noch einige entspannte Gespräche mit den Managern von Solinco. Auch Chris konnte wieder lachen und einige gelöste Scherze machen. Dennoch beobachtete Jan immer wieder seinen Bruder.

Gegen zehn Uhr standen Jan, John McEnroe, Carlos Moya und die CEOs von Solinco zusammen. Sie hatten eine angeregte Unterhaltung, während ich mit Dustin, Justin und Maxi und unseren spanischen Freunden an der Bar einige alkoholfreie Cocktails tranken.

Marcelo und Sergio waren sichtlich beeindruckt über unser Auftreten. Wobei wir ja eher wenig dazu beigetragen hatten.

Chris: Versöhnlicher Abschluss und eine außergewöhnliche Qualifikation

Während dieser Veranstaltung hatte ich mich mehrfach gefragt, warum mussten wir uns das antun? Warum hatte Jan darauf bestanden, dass wir uns hier präsentierten?

Mittlerweile hatte es ein versöhnliches Ende gegeben und ich stand mit Jan und John McEnroe und Carlos Moya mit den beiden deutschen CEOs von Solinco zusammen. John war immer noch sichtlich erbost über den Moderator und ließ das auch die Solinco-Leute spüren. Er wetterte in deutlichen Worten:

„Ihr könnt froh sein, dass Chris sich so diplomatisch mit seinen Jungs verhalten hat. Wenn das jetzt eskaliert wäre, hättet ihr euch nicht beschweren können. Wer hat denn diesen Knallfrosch engagiert?“

„Eine Agentur. Wir haben darauf keinen Einfluss gehabt. Das war einfach nicht gut. Da muss ich dir zustimmen. Vor allem müssen wir uns bei Chris und den Jungs entschuldigen. Die Jungs müssen ja denken, was für einen bescheuerten Sponsor sie haben, der sie so auflaufen lässt.“

„Allerdings“, mischte ich mich jetzt ein, „diese Frage habe ich mir mehrfach gestellt. Und ganz ehrlich, große Lust auf weitere, derartige Veranstaltungen habe ich momentan nicht. Mir ist schon bewusst, dass es wichtig ist, mit dem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen, aber nicht so.“

„Stopp“, meldete sich Jan.

„Wir haben deutlich gezeigt, dass wir uns wehren können und eben nicht alles mit uns machen lassen. Dank Chris haben wir die Sache bestens vertreten und eine gute Performance abgeliefert. John hat den lokalen Medien auch eine klare Botschaft mit auf den Weg gegeben. Damit haben wir doch unser Ziel erreicht. Dass der Weg dorthin nicht besonders schön war, muss ich leider zugeben. Da hoffe ich auf Besserung seitens Solinco. Wir dürfen Dustin und Fynn solche Dinge nicht mehr zumuten. Sie sollen ein positives Erleben ihrer Situation haben.“

„Vor allem denke ich da auch einmal an Sergio und Marcelo. Die haben neben mir gesessen und gesagt, dass sie so eine Anfeindung auf einer Bühne nicht haben möchten. Chris hat sich toll gegen diesen Dummkopf gewehrt und ihm seine Grenzen aufgezeigt. Wir in der Nadal Akademie werden uns in Zukunft da auch noch deutlicher positionieren. Es wird höchste Zeit für Veränderungen im Herrentennis“, ergänzte Carlos Moya.

„Damit wir das nach außen auch klarer zeigen, sollten wir vielleicht morgen ein gemeinsames Training machen. Vielleicht sogar ein öffentliches Training? Was denkst du, Chris?“

Jan konnte wohl Gedanken lesen. Ein gemeinsames Training beider Teams wäre ein starkes Signal. Aber auch gleich mit Medienvertretern? Da hatte ich noch keine rechte Lust drauf.

„Gemeinsames Training oder Einschlagen ist gut. Aber ob ich das gleich mit der Presse und Zuschauern möchte? Momentan habe ich noch die Nase ziemlich voll davon.“

„Kann ich verstehen. Dann lasst uns für morgen erst einmal ein gemeinsames Einschlagen machen. Die Jungs sollen sich in Ruhe auf die Qualifikation vorbereiten. Wenn der Tag vorbei ist, sprechen wir noch einmal über die neue Situation. Bist du damit einverstanden, Chris?“

Wieder eine neue Situation für mich. Mein Bruder wollte meine Zustimmung dafür. Aber mit dieser Idee konnte ich einverstanden sein.

„Gut, damit kann ich leben. Lasst uns das so machen. Sollte keiner der Jungs mehr im Wettbewerb sein, könnten wir ja mit Niko ein öffentliches Training begleiten. Da wäre der Druck für meine Truppe dann weg.“

„Welcher Druck denn? Sie haben doch jetzt auch überhaupt keinen Druck. Sie sollen sich auf ihre Matches freuen.“

Das war auch typisch für meinen Bruder. Natürlich hatten meine Jungs keinen Druck vom Team, aber sie machten sich genug Druck selbst. Da Jan aber anfing zu lachen, begriff ich den Scherz etwas zu spät.

„Kommt, lasst uns rübergehen. Sonst denken die Jungs noch, wir würden schon wieder neue Pläne aushecken“, meinte Carlos dann.

Dafür war ich ihm sehr dankbar, denn ich hatte schon bemerkt, dass gerade Dustin sehr oft zu uns herüberblickte.

Entsprechend erleichtert wurde ich von meinen Jungs empfangen.

„Endlich, ich dachte, du kommst gar nicht mehr zu uns. Diese Veranstaltung hat meine Nerven ordentlich strapaziert. Was habt ihr jetzt noch besprochen? Haben wir etwas falsch gemacht?“

Da war er wieder. Der alte Dustin. Ängstlich und zerbrechlich. Ich musste sofort gegensteuern und dieses Erlebnis in ein positives Ergebnis umwandeln.

„Warum solltet ihr etwas falsch gemacht haben? Nur weil der Moderator ein Vollpfosten war und uns provoziert hat? Ich glaube, ich habe unsere Haltung sehr klar gemacht und John hat ihm zu verstehen gegeben, dass eine derartige Polemik und Provokation absolut unangebracht war. Wir werden unseren Weg nicht einen Millimeter verlassen. Und in Zukunft werde ich prüfen, was uns bei derartigen Veranstaltungen erwartet.“

Justin hatte am besten von meinen Jungs erkannt, was aus dieser Sache werden könnte. Er setzte nach:

„Richtig! Chris hat recht. Wir haben unsere Position gut vertreten und der Presse gezeigt, dass wir geschlossen zusammen stehen. Das Carlos uns unterstützt hat, war doch nur noch das I-Tüpfelchen. Jetzt zeigen wir ihnen auf dem Platz wie gut wir sind. Dann werden diese Leute immer leiser werden. Überzeugen können wir sie doch eh nur mit guter Leistung.“

„Und diese gute Leistung habt ihr schon mehrfach gezeigt. Ich werde auch nicht zulassen, dass so etwas erneut passiert. Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal bei euch entschuldigen. Wir von Solinco haben uns auf die Agentur verlassen, die das vorbereitet hatte. Beim nächsten Mal werden wir die Vorgaben klarer und viel enger ansagen. Wir sind weiterhin voll von euch und dem Team überzeugt.“

Der Manager von Solinco wirkte ehrlich erbost über diese Veranstaltung. Jedenfalls nahm ich ihm seine Aussage ab.

Jan versuchte jetzt wieder in den Alltag zu kommen. Er erläuterte den Jungs seinen Plan für morgen. Das gemeinsame Einschlagen mit der Nadal Akademie. Damit fand er natürlich gerade bei Dustin und Fynn offene Ohren, die sich auf Sergio freuten.

Mittlerweile war es schon fast halb zwölf geworden. Wir wollten schnellstmöglich ins Hotel zurück. Der morgige Tag würde anstrengend werden. Jan hatte schnell einen Fahrdienst organisiert und somit waren wir kurz nach Mitternacht im Hotel.

Allerdings benötigte ich noch einige Zeit, um einschlafen zu können. Zu viele Dinge gingen mir noch durch den Kopf.

Der nächste Morgen gestaltete sich für mich etwas schwieriger, da sich mein Rücken nicht in guter Form präsentierte. Ich beschloss daher, zuerst eine heiße Dusche zu nehmen und im Anschluss etwas länger meine Übungen zu machen.

Zumindest war das Frühstück dadurch nicht eingeschränkt. Hoffentlich würde es den Tag über nicht zu schlimm werden. Meine Jungs waren angespannt, aber guter Dinge. Besonders Justin schien gut gelaunt zu sein, denn er erzählte von Aaron einige Anekdoten, die insbesondere seinem Vater nicht gefallen hatten. Ich fand es lustig, da es allesamt harmlose Dinge waren.

Auch auf dem Weg zur Anlage herrschte bei meiner Combo eine gewisse Ausgelassenheit. Das erstaunte mich doch ein wenig. Allerdings änderte sich das mit dem Betreten der großen Anlage im Central Park. Insbesondere Dustin wirkte nachdenklich als wir mit Sergio, Jan und Niko zusammentrafen. Rafa Nadal würde mit Carlos Moya später hinzustoßen.

„Guten Morgen Sergio, guten Morgen Marcelo“, begrüßte ich die beiden Spanier.

Mit einem Lächeln und einer Umarmung erwiderten beide meine Begrüßung. Natürlich wurden meine Jungs genauso herzlich empfangen.

„Wie hast du dich hier in New York eingelebt?“, fragte ich Marcelo. Er spielte ja nicht mit, sondern begleitete nur seinen Freund.

„Eigentlich ganz gut. Ich bin nur unheimlich aufgeregt, weil Sergio gleich wieder spielen muss. Und wir wurden ein wenig argwöhnisch betrachtet als wir im Hotel eingecheckt hatten.“

„Ach, ganz was Neues“, lachte Fynn daraufhin, „das kommt uns bekannt vor. Aber mittlerweile interessiert es uns nicht mehr.“

„Also macht ihr das so wie ihr das möchtet, unabhängig von den Reaktionen der anderen?“

„Genau so“, mischte ich mich ein, „ und nur so muss es gemacht werden. Sonst würden die Leute es nie begreifen, dass es halt vollkommen normal ist. Wenn ich mit einem heterosexuellen Paar unterwegs sein würde, hätte sich keiner auch nur einmal dafür interessiert. Also warum sollen wir das jetzt anders machen? Nein, Dustin und Fynn sind genauso normal wie alle anderen Spieler.“

„Und wehe du änderst an deiner Haltung dazu etwas, dann gibt es richtig Ärger.“

Ich drehte mich überrascht um, denn dieser Satz stammte von meinem Bruder. Der grinste mich danach frech an und klopfte mir auf die Schultern.

„Aber ich weiß ganz sicher, das wirst du nicht ändern. Hihihi.“

„Das wollen wir Chris auch geraten haben. Hahaha“, ergänzten meine Jungs.

Heute war ich also mal das Opfer der Scherze.

„In Ordnung, da ich von Dustin und Fynn nicht verprügelt werden möchte, mache ich das mal ausnahmsweise genau so wie sie das möchten.“

Dieses kurze Herumblödeln tat allen gut. Es nahm viel von dem sich aufbauenden Druck. Auch konnte ich mit Justin, Fynn und Dustin in Ruhe die Vorbesprechung machen. Niko stellte sich zum Einschlagen zur Verfügung, da alle drei parallel spielen mussten. Justin ging also mit Niko auf den Aufwärmplatz während sich Dustin und Fynn gemeinsam warm machten.

Jan kam einige Minuten nachdem wir auf den Platz gegangen waren zu mir:

„Wie sollten wir das Coaching machen? Ich habe die Idee, du gehst zu Dustin und ich zu Fynn. Niko geht zu Justin. Dann sind alle versorgt. Was denkst du?“

„Ich würde die Jungs dazu befragen. Sie sollen das entscheiden, wer bei wem am Platz steht. Wenn sie das in Ordnung finden, dann gerne.“

„Gut, dann sollten wir das besser jetzt besprechen.“

Jan wollte daraufhin Dustin auf den anderen Platz zu Justin schicken, aber das übernahm ich lieber selbst. Als ich an ihrem Platz ankam und sie an die Bank bat, fragte Justin:

„Was ist passiert? Gibt es eine Änderung?“

„Nein, aber Jan und ich möchten mit euch über die Situation des Coachings sprechen. Deshalb möchte ich dich bitten, mit mir auf den anderen Platz zu kommen.“

Justin und Niko folgten mir zu den anderen. Dort lief bereits ein angeregtes Gespräch mit Jan und Dustin und Fynn. Maxi hielt sich deutlich im Hintergrund.

„Da kommt Chris mit Justin. Lasst uns jetzt offen über die Situation sprechen“, hörte ich Jan noch sagen.

„So“, begann ich das Gespräch, „jetzt soll jeder sagen, wer bei ihm am Platz stehen soll. Da ihr alle parallel spielt, kann ich nur bei einem von euch sein. Jan, Niko und Maxi unterstützen aber. Also wie möchtet ihr das machen?“

Fynn und Dustin schauten zu Justin. Dieser schien allerdings keine Anstalten zu machen, sich dazu äußern zu wollen. Also warteten Jan und ich einen Augenblick. Jan wollte schon eine Ansage machen, als Dustin sich äußerte:

„Wenn ich wählen darf, möchte ich Chris an meinem Platz haben. Aber ich vermute, dass Justin und Fynn ebenso Chris an ihrem Platz haben möchten.“

Die Reaktion der anderen erstaunte mich allerdings jetzt. Justin reagierte als erster:

„Klar hätte ich auch gern Chris bei mir, aber das geht ja nicht. Daher ist es mir auch recht, wenn Niko bei mir ist. Wir kennen uns ja schon recht gut. In der nächsten Runde können wir ja wieder tauschen.“

Ich schaute Fynn an und der nickte nur mit den Worten:

„Einverstanden. Und die Idee, in der nächsten Runde zu wechseln, finde ich auch gut.“

Ich wunderte mich nur über die Gedanken an eine mögliche nächste Runde. Das war nahezu ausgeschlossen, aber andererseits zeigte es auch das gesteigerte Selbstbewusstsein meiner Jungs.

„Gut, ich bin mit dieser Variante einverstanden und dann lasst uns starten. Heute stehen harte Matches an.“

Ich hielt meine Hand nach vorn und es dauerte nur Sekunden bis alle Hände, auch die von Sergio, Jan und Niko, auf meiner lagen und ein „Let´s go“ folgte.

Die Zeit bis zum Spielbeginn verrann wie im Fluge und als ich an Dustins Platz saß und das „Time“ des Schiedsrichters folgte, stieg mein Puls wieder stark an. Dustins Gegner stand etwa einhundert Plätze besser in der Rangliste und das war auf diesem Niveau doch schon ein großer Sprung.

Dustin blickte zu mir und wir nickten uns zu. Das war unser Startsignal. Der Kampf war damit offiziell für uns eröffnet.

Und 'Kampf' traf diese Bezeichnung absolut. Sofort wurde um jeden Punkt hart gekämpft. Keiner gab auch nur einen Ball verloren. Obwohl auf einem Hartplatz gespielt wurde, entstanden lange Ballwechsel. Dustin konnte mithalten und geriet nicht sofort ins Hintertreffen. Das allein schon beeindruckte mich. Immer wieder zeigte Dustin hervorragende Spielzüge und machte damit Punkte. Insbesondere zeigte sich sein Aufschlag heute als wertvolle Waffe. Sein Gegner hatte bis zum Ende des ersten Satzes keine einzige Breakchance. Dadurch musste der Tie-break entscheiden. Damit war nicht zu rechnen gewesen. Allerdings schien Dustin selbst damit am wenigsten Probleme zu haben. Er spielte jeden Punkt, als ob es ein 'gewöhnlicher' Ball war. So konnte ich ihn recht einfach unterstützen und eine winzige Konzentrationslücke seines Gegners genügte: Dustin hatte den ersten Satz gewonnen.

Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Umso emotionaler fiel mein Jubel nach dem Satzball aus. Dustin ballte die Faust und stürmte zur Bank für die Satzpause.

„Das läuft ja geil bei Dustin“, hörte ich hinter mir.

Ich zuckte zusammen, denn ich hatte nicht bemerkt, dass Maxi zu mir gekommen war und anscheinend bereits einige Spiele beobachtet hatte.

„Mensch Maxi. Denk an meinen Blutdruck. Wie kannst du dich nur so anschleichen.“

„Hahaha, ich glaube eher, dass dein Blutdruck durch das Spiel zu hoch ist. Ich trage dazu nur wenig bei.“

„Sehr witzig. Aber du kannst auch etwas zu meinem Blutdruck beitragen, indem du mir etwas Positives über die anderen beiden Plätze berichtest.“

„Hm, naja. Fynn spielt gut, aber hat kaum Chancen, das Spiel zu gewinnen. Aber Justin spielt ähnlich gut wie Dustin. Da könnte vielleicht noch mehr gehen.“

Mittlerweile war die Satzpause beendet und Dustin wieder auf dem Platz. Meine Sorge war, dass er nicht ausreichend Aufmerksamkeit auf den Beginn des Satzes legen würde. Innerhalb von fünf Minuten hatte Dustin diese Angst widerlegt. Ein furioser Start in den zweiten Satz bescherte ihm ein frühes Break. Hier bahnte sich aus meiner Sicht eine echte Sensation an. Maxi war mittlerweile wieder in Richtung Justin verschwunden.

Immer mehr Zuschauer standen hinter Dustin und seinem sehenswerten Spiel. Ich konnte es kaum glauben. Vor wenigen Wochen hätte Dustin vor Angst kaum die Trainingsleistung bestätigen können und heute zeigte er Tennis am Rande der Weltklasse. Dennoch blieb ich skeptisch und erwartete noch einen körperlichen Einbruch, denn dieses Niveau kostete enorm viel Kraft.

Dustin ließ ich das natürlich nicht spüren. Weiterhin pushte ich ihn nach jedem Ball vorwärts. Er sollte einfach weiterspielen und alles aus sich herausholen so lange es ging. Und Dustin hatte anscheinend den gleichen Gedanken, denn er marschierte weiter vorwärts ohne auf seine Reserven zu achten. Und für mich ersichtlich, es machte ihm großen Spaß, seinen Gegner derart ärgern zu können.

Wieder tauchte ich in das Spiel ein und bemerkte nicht, dass Jan an meinen Platz gekommen war. Erst beim Seitenwechsel zum 5:4 für Dustin bemerkte ich meinen Bruder.

„Nanu, seit wann bist schon hier? Fynn hat vermutlich verloren, wenn du schon hier bist.“

„Ja, verloren hat er, aber ein tolles Match gezeigt. Ich bin sehr zufrieden mit seiner Leistung. Leider ist er sehr enttäuscht über die Niederlage. Da wird auf dich noch etwas Aufbauarbeit warten. Hier scheint Dustin nicht nur gut zu spielen, sondern auch noch das Ergebnis zu passen.“

„Abwarten. Noch ist nichts gewonnen. Allerdings bislang zeigt Dustin Tennis auf sehr hohem Niveau.“

Der Begriff Weltklassetennis ging mir noch nicht über die Lippen. Für mich war das noch weit weg. Jan hingegen schaute sich das folgende Spiel zum möglichen Matchgewinn an und beim Stand von 30:30 bei Dustins Aufschlag, sagte er trocken:

„Dustin wird dieses Match gewinnen. Er ist der bessere Spieler. Du wirst sehen, das geht nicht mehr schief.“

So viel Optimismus von meinem Bruder zu hören war sehr selten. Entsprechend sprachlos schaute ich ihn an und bekam fast gar nicht mit, dass Dustin gerade seinen ersten Matchball hatte. Leider wehrte sein Gegner diesen ab und erspielte sich sogar noch einen Breakball. Mein Puls stieg in unangenehme Höhen, aber Jan blieb ruhig neben mir. Dustin schaute zu mir und ich beruhigte ihn, obwohl ich überhaupt nicht ruhig war.

Dustin stellte sich erneut zum Aufschlag und als er fast wütend den ersten Aufschlag unerreichbar ins Feld hämmerte, musste ich mit einem lauten „Yes“ Druck abbauen. Verwundert schaute Dustin zu mir und dann grinste er frech zu mir nach oben. Unglaublich.

Die beiden nächsten Punkte erspielte er sich erneut mit einer Leichtigkeit, die mir den Atem raubten. Dieser Sieg machte mich sprachlos. Einfach nur sprachlos. Seit seinem Turniersieg hatte Dustin ein enormes Selbstbewusstsein entwickelt. Sehr zu seinem Vorteil. Nicht nur auf dem Platz, auch außerhalb wirkte er ruhiger und selbstbestimmter.

„Wow, Chris. Das war eine enorme Leistung und verdient gewonnen. Ich wusste ja, dass deine Jungs sich stark verbessert haben, aber bereits so nah an der Weltspitze zu sein, das hatte ich noch nicht erwartet. Ich glaube, da geht noch viel mehr. Hoffentlich kannst du das Nachdenken noch ein wenig fernhalten. Hihihi.“

„Ich bemühe mich, aber wenn ich jetzt nicht sofort zu Dustin gehe und ihm gratuliere, dann werde ich vermutlich böse verhauen werden. Das kann ich nicht zulassen. Entschuldige mich bitte.“

Jan blieb nicht zurück sondern er begleitete mich im Laufschritt zum Treffpunkt mit Dustin. Natürlich wurde ich bereits ungeduldig erwartet. Und bevor ich etwas sagen konnte, lief Dustin auf mich zu und umarmte mich.

„Wie geil ist das hier? Ich kann es gar nicht glauben, dass ich schon wieder so ein gutes Match gezeigt habe.“

Erst jetzt bemerkte er Jan hinter mir. Etwas erschrocken löste er sich von mir, aber ich drückte ihn erneut fest an mich.

Diese Entwicklung berührte mich emotional sehr. In diesem Augenblick kam Fynn von der Massage zurück und seine Gratulation sollten sie ungestört genießen. Dennoch gratulierte Jan noch zuvor. Er sparte auch nicht mit dem Lob an Dustin. Das gab mir ein gutes Gefühl, als wir die beiden zurückließen, um jetzt zu Justin zu gehen. Dort war es ja auch ein enges Match gewesen.

Und es war weiterhin sehr eng. Als ich mit Jan dort ankam, herrschte fast eine Stadionatmosphäre. Und Justin hatte deutlich die Mehrheit der Zuschauer hinter sich. Niko stand gerade nach einem guten Punkt und applaudierte.

„Was geht denn hier ab?“, fragte ich staunend.

Niko drehte sich um grinste, als er antwortete:

„So genau kann ich dir das nicht sagen, aber es ist mega geil was Justin hier zeigt und die Zuschauer sind auf unserer Seite. Und das gegen einen Amerikaner.“

Ich schaute zuerst auf die Anzeigentafel, um den Spielstand abzulesen. Dort stand 4:0 im dritten Satz für Justin. Das konnte ich bei den knappen ersten Sätzen gar nicht glauben.

„Stimmt das was da steht?“, fragte ich ungläubig.

„Hahaha, ja. Das stimmt“, lachte Niko.

In diesem Augenblick hatte mich Justin erblickt. Er ballte seine Faust in meine Richtung und tänzelte wieder in Richtung Returnposition. Sein Gegner schlug bei 15:30 auf.

Ich kam aus dem Staunen kaum heraus, denn Justin spielte genauso konsequent wie im Training. Er machte nicht den Eindruck, dass es ihn beeindrucken würde bei der Qualifikation der US Open zu sein.

Plötzlich drehte sich Niko zu mir und meinte:

„Du solltest ab jetzt wieder sein Coaching übernehmen. Ich war ja nur deine Vertretung.“

Kopfschüttelnd antwortete ich:

„Warum das denn? Du hast doch bislang hervorragend mit Justin kommuniziert. Oder gibt es Probleme?“

„Manchmal denke ich, dass er mich nicht direkt versteht. Er schaut mich dann fragend an.“

In diesem Moment hörte man ein lautes Krachen vom Platz. Justin hatte einen Vorhandreturn gespielt und hielt nur noch einen völlig zerstörten Schläger in der Hand. Dadurch hatte er den Punkt zum 30:30 verloren und regte sich tierisch auf. Fluchend ging er zur Tasche, nahm sich ein neues Racket und stellte sich wieder zum Return.

Sofort ging bei mir die Stimmung in den Alarmzustand. Justin hatte noch Probleme beim Wechseln eines Schlägers während eines Aufschlagspieles.

Ohne weiter mit Niko zu sprechen, ging ich einen Schritt nach vorn und gab ihm mit einigen Handzeichen zu verstehen, dass er nur auf den Ball schauen soll.

Leider half das nur mit einer leichten Verzögerung, denn den ersten Ball schoss er direkt mit einem lauten Fluch in den Zaun hinter seinem Gegner. Ein lauter Pfiff von mir unterstützte meine Ansage von zuvor.

Jetzt wurde Justin nämlich richtig zornig. Zornig auf sich selbst und das bedeutete für seinen Gegner zusätzliche Gefahr.

Entsprechend schlugen die gelben Geschosse auf der gegnerischen Seite ein. Und bevor der Amerikaner begriffen hatte was gerade passierte, war das Match beendet und Justin hatte gewonnen. Das war einfach unglaublich mit welch einer Coolness Justin hier auftrat.

„Los, sieh zu dass du zu Justin kommst. Wir sammeln in der Zeit mal den Rest der Truppe ein. Treffen ist vor dem Turnierbüro. Dort bekommen wir den Zeitplan für morgen.“

Jan war sofort in den Modus Vorbereitung für den nächsten Tag gewechselt.

Aber ich ließ mich nicht von ihm hetzen, sondern nahm mir die Zeit für Justin. So eine Leistung musste entsprechend gelobt werden. So langsam machte mir das Angst. Eigentlich hatte ich geplant, morgen wieder nach Hause zu fliegen. Jetzt sah die Planung etwas anders aus.

Aber wie sollte ich das einordnen? Waren meine Jungs wirklich schon so nah an der Weltklasse? Oder war das ein zufälliges Ereignis?

Justin wirkte müde, aber sehr glücklich. Entsprechend schnell wollte ich mit allen wieder in das Hotel zurück.

Am Treffpunkt warteten die anderen schon auf mich. Justin sollte allerdings noch auslaufen und duschen können. Die Massage würde es im Hotel geben. Jan nahm mich an die Seite und fragte:

„Wer von uns beiden bucht jetzt eure Flüge um? Ich würde sagen, du rufst bei Thorsten an, machst eine Lagemeldung und bittest ihn um die Umbuchungen. In der Zeit werde ich mit den Jungs den Zeitplan für morgen besprechen. Justin wird auch bald fertig sein, dann können wir uns einen gemütlichen Abend im Hotel machen.“

Damit war ich einverstanden. Das Gespräch mit Thorsten verlief allerdings etwas merkwürdig. Er fragte zweimal nach ob wir wirklich noch im Wettbewerb seien. Erst dann wollte er sich um die Flüge kümmern. Ich hatte ein komisches Gefühl. Irgendetwas war da im Busch.

Besonders gut gefiel mir, dass sich Sergio mit Marcelo am Abend in unserem Hotel eingefunden hatten. Für Dustin und Fynn natürlich ein zusätzliches Highlight. Es gab ein gemeinsames Abendessen und genau da saßen wir nun und ich hatte gerade mit Jan und Niko den kommenden Tag besprochen.

„Chris“, fragte Fynn, „stimmt das, dass Sergio und Raphael bei uns in Halle trainieren werden?“

„Ja, das ist korrekt. Allerdings ist der Zeitpunkt dafür noch nicht genau geklärt. Warum fragst du?“

„Naja, wir finden das mega gut. Aber Dustin und ich fahren ja bald mit meinen Eltern in den Urlaub. Das wäre dann blöd, wenn Sergio genau in dieser Zeit zu uns kommen würde.“

Dustin schien über diese Bemerkung nicht begeistert zu sein. Er verdrehte die Augen, während Justin den Kopf schüttelte.

Ich schaute zu meinem Bruder, der mir zuzwinkerte als er antwortete:

„Du musst Chris schon echt für sehr eingeschränkt halten. Glaubst du ernsthaft, dass Chris das nicht im Kopf hätte? Du enttäuschst mich. Natürlich kommen eure spanischen Freunde, wenn ihr auch in Halle seid. Aber das sollte euch eigentlich klar sein.“

Fynns Gesichtsfarbe zeigte ein tiefes Rot. Dustin schien das sehr unangenehm zu sein und wollte seinem Freund jetzt auch noch einen Spruch geben. Das war mir nicht recht.

„Stopp, Dustin. Spar dir den Kommentar. Ich glaube es ist genug dazu gesagt. Fynn denkt beim nächsten Mal besser nach und alles ist gut. Momentan möchte ich einfach nicht über diese unwichtigen Dinge nachdenken. Justin und Dustin stehen in der dritten Runde der Qualifikation zum größten Tennisturnier der Welt, ihr habt bereits ordentlich Preisgeld gesammelt und etliche Ranglistenpunkte. Darauf sollte der Fokus liegen und nicht auf Nebensächlichkeiten.“

Dustin nickte nur und schwieg, genau wie Fynn.

Danach wurde die Stimmung noch sehr lustig und entspannt. Dustin und Fynn baten mich, mit Sergio und Marcelo auf ihr Zimmer gehen zu dürfen. Das forderte natürlich von Maxi sofort eine Bemerkung.

„Aber keine Schweinereien zu viert. Ihr sollt morgen topfit sein und ich habe mein Zimmer direkt neben euch. Ich möchte heute Nacht nicht von euch gestört werden.“

„Keine Angst Maxi, du bekommst deinen Schönheitsschlaf. Aber wir werden trotzdem unseren Spaß haben. Nicht so wie du in deinem Kopfkino denkst, aber auch sehr lustig.“

Wow, das von Dustin. Ich musste laut lachen und auch Jan empfand diesen Konter gut und zeigte ihm den Daumen hoch.

Dustin: Endlich wieder mit Sergio und Marcelo Zeit verbringen

Kaum waren wir mit unseren spanischen Freunden in unserem Zimmer, fragten sie uns Löcher in den Bauch. Vor allem Sergio fragte immer wieder Dinge zu Jan und dem Umgang mit ihm. Irgendwann wurde es meinem Schatz zuviel:

„Ich will jetzt nicht mehr über Tennis reden. Lasst uns den Abend nett ausklingen lassen. Eines zum Abschluss, momentan finde ich die Zusammenarbeit von Chris und Jan ziemlich geil. Hier habe ich schon ganz viel gelernt und gerade die Arbeit mit Niko und Jan hat mir viel gebracht. Aber jetzt ist Entspannung angesagt.“

Fynn holte zwei Flaschen Wasser und füllte die Gläser. Anschließend gab er ein Pulver hinzu, das er von zu Hause mitgebracht hatte.

„Was ist das denn?“, fragte Marcelo.

„Probiert es einfach. Das habe ich von Chris bekommen. Es ist ein Elektrolytpulver, aber schmeckt echt cool.“

Da wir im Hotel waren, wollten wir die kleine Minibar nicht nutzen. Die Getränke hatten entweder Alkohol oder waren sehr teuer. Dennoch wurde es noch sehr lustig.

Sergio berichtete uns von der letzten Zeit in Manacor und wie sich ihre Situation verändert hatte.

„Also haben die anderen Spieler es mittlerweile auch begriffen, dass ihr nicht nur gute Freunde seid?“, fragte Fynn grinsend.

„Ähm, ja ich glaube schon. Und wisst ihr was kurios dabei ist? Je jünger die Spieler bei uns sind, desto weniger ist das problematisch. Gerade bei Roberto in der Gruppe stehen sie voll hinter uns.“

„Ein guter Anfang. Darauf lässt sich doch aufbauen. Und vor allem müsst ihr weiter offen zu euch selbst stehen. Bleibt euch treu. Es wird noch Zeit brauchen, aber irgendwann wird es auch bei euch normal sein, dass zwei Jungs zusammen sind.“

Dafür bekam ich von meinem Schatz einen dicken Kuss. Das hatte ich den Tag über schon vermisst. Hier in den USA waren selbst wir nicht so offen wie bei uns in Deutschland.

„Wie oft habe ich euch für diese Dinge beneidet. Sich einfach küssen dürfen, wenn man das möchte“, seufzte Sergio.

„Ihr dürft es doch. Niemand wird euch das verbieten können. Und ihr müsst es nur klar und deutlich zeigen, dass ihr zusammen sein wollt. Die anderen müssen sich daran gewöhnen und sollten euch nicht davon abhalten können. Das Problem ist doch die Gesellschaft und die Sponsoren, die es noch nicht begriffen haben. Aber auch die werden es akzeptieren müssen, denn wenn du gutes Tennis spielst, wird es ihnen egal sein. Sie brauchen euch als Werbeträger. Und genau das hat Solinco zum Beispiel bei uns erkannt. Wir sind für sie Markenbotschafter und machen sie bekannt in der Tennisszene. Allein weil wir schwul sind, achten viele TV Stationen mehr auf uns. Dadurch haben sie mehr Werbezeit in den Medien.“

Fynn schaute mich mit großen Augen an. Sergio wirkte ratlos und mein Schatz fragte:

„Wer hat dir denn diesen Text gegeben? So habe ich das noch nie gesehen.“

„Chris hat mir das mal nach einem Training so erklärt. Erst habe ich ihn für ziemlich verrückt gehalten, aber irgendwie ist doch viel Wahrheit dabei. Letztlich profitiert der Sponsor doch sehr durch uns. Dadurch, dass wir eben oft ein Gesprächsthema sind, kommt der Sponsor dadurch auch viel häufiger in den Medien zur Geltung. Wir müssen nur, wie alle anderen auch, die Leistung bringen. Also schwul allein reicht nicht. Hihihi.“

Das führte bei uns zu einem Lachanfall und sehr schnell stieg wieder die Stimmung und auch Sergio und Marcelo vergaßen immer mehr, dass wir in unserem Hotelzimmer saßen. Immer wieder tauschten sie auch Liebkosungen aus. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen und auch bei uns stieg die Lust. Aber mehr möchte ich an dieser Stelle jetzt nicht beschreiben, dies sollte schon unsere Privatsphäre bleiben.

Dadurch wurde es allerdings auch deutlich später als es für mich und Sergio gut war. Aber das war es mir wert. Ein schlechtes Gewissen hatte ich jedenfalls am nächsten Morgen nicht als wir zum Frühstück erschienen.

Was allerdings zum Problem werden konnte: Sergio und Marcelo hatten es nicht mehr in ihr Hotel geschafft. Nicht etwa wegen Alkohol, wir hatten selbstverständlich nichts getrunken, sondern weil es deutlich nach Mitternacht geworden war und sie deshalb kurzerhand gar nicht mehr in ihr Hotel zurückgegangen waren.

Als wir an den Tisch kamen, schaute uns Chris verwundert an. Aber es gab kein Donnerwetter. Im Gegenteil, er begrüßte unsere Freunde und bat sie, bei uns Platz zu nehmen. Irgendwie war ich irritiert. Auch von Maxi kam kein dummer Spruch. Niemand ging auf diese Situation ein. Hier stimmte also etwas nicht. Um so mehr, als alle anderen nach dem Frühstück vom Tisch aufstanden, außer Chris.

Da wusste ich, ein Donnerwetter würde jetzt über uns hereinbrechen. Mein Puls ging sofort steil nach oben. Chris holte sich noch einen frischen Kaffee vom Buffet. Das nutzte Fynn, um mir zu sagen:

„Ich glaube, das gibt jetzt richtig Ärger.“

„Ja, das könnte sein. Also Sergio, macht euch auf eine Ansage gefasst. Chris scheint über unseren gestrigen Abend nicht begeistert zu sein.“

„Sollen wir nicht besser gehen?“, fragte Marcelo.

„Auf keinen Fall. Jedenfalls nicht bis Chris euch dazu auffordert.“

Mittlerweile kam Chris mit einem Becher frischen Kaffee zurück an den Tisch und setzte sich wieder.

„Sagt mal ihr vier, was habt ihr euch letzte Nacht bei dieser Nummer gedacht? Heute ist ein vorentscheidendes Spiel in der Qualifikation und ihr seid bis mitten in der Nacht noch zusammen. Außerdem sind Sergio und Marcelo nicht in ihr Quartier zurück, sondern haben bei euch geschlafen. Was glaubt ihr, wird bei Carlos Moya wohl los sein? Ein Spieler kommt nicht ins Hotel zurück. Ich würde alle Hebel in Bewegung setzen und nach ihm suchen. Wir sind in New York. Einer der größten Metropolen der Welt. Da kann ja nichts passieren, oder? Und da ihr auch noch Justin im Schlaf gestört habt, empfinde ich das ziemlich unfair euren Freunden gegenüber. Abgesehen von der Missachtung unserer Absprache, zeitig ins Bett zu gehen. Und ich meine nicht damit, dass ihr gemeinsam ins Bett gegangen seid. Das ihr euren Spaß hattet, war nicht zu überhören. Es sei euch gegönnt, aber nicht um diese Uhrzeit. Ich bin absolut nicht begeistert.“

Chris war die ganze Zeit ruhig geblieben, aber in seiner Stimme war der Ärger deutlich zu spüren. Wir hatten den Bogen überspannt und das musste ich wohl einsehen. Es fühlte sich unangenehm an.

Sergio wäre vermutlich am liebsten im Boden versunken. Fynn und ich hatten diese Sache angeschoben, also mussten wir das auch ausbaden.

„Ja, es stimmt. Wir haben uns nicht so diszipliniert verhalten wie wir es besprochen hatten. Allerdings haben Sergio und Marcelo bei ihrem Team Bescheid gesagt, dass sie im Hotel bei uns bleiben. Es ist aber so, dass wir einen tollen, gemeinsamen Abend hatten, der mir leider etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Wir hätten das anders machen können, aber es hat auch enorm viel Spaß gemacht mit unseren Freunden.“

Chris blieb auch hier äußerlich nahezu regungslos. Lediglich seine rechte Augenbraue bewegte sich hin und wieder. Mein Puls raste und auch Fynn schien überhaupt nicht mehr so sicher zu sein. Aber ich hatte mich entschieden. Diesen Fehler hatten wir gemacht und mussten jetzt dafür gerade stehen.

„Ich habe auch überhaupt kein Problem damit, dass ihr gemeinsam euren Spaß gehabt habt. Ich fühle mich von euch aber ein wenig hintergangen. Ich soll für euch die Verantwortung tragen, aber ihr lasst mich im Unklaren über eure Verhaltensweisen. Ich möchte für die Zukunft einfordern, dass ich von euch Informiert werde was passiert. Und nicht erst am nächsten Morgen von Justin die Beschwerde bekommen, dass er nicht ruhig schlafen konnte. Ich finde es respektlos Justin gegenüber. Zumal sie euch am Abend noch daran erinnert haben.“

Das fühlte sich für mich gerade sehr unangenehm an. Darauf konnte ich auch nichts erwidern. Es war einfach so. Wir haben unsere Gefühle und Lust nicht mehr kontrollieren wollen. Das war nicht korrekt. Aber was sollten wir jetzt tun?

Sergio wirkte vollkommen verunsichert und auch Marcelo machte keinen guten Eindruck in dieser Situation. Chris setzte nach:

„Damit das ein für allemal klar ist. So eine Nummer geht einfach nicht. Ich bin der letzte, der euch eure Zeiten mit Sergio und Marcelo nicht gönnt. Allerdings nicht ohne sich an Absprachen zu halten. Passiert das erneut, dann muss ich über weitere Dinge nachdenken. Heute möchte ich von euch einen Vorschlag hören, wie das jetzt weitergeht.“

Fynn und ich schauten uns an. Wir hatten anscheinend beide dieselbe Idee und Fynn äußerte sie zuerst:

„Wir sollten als erstes zu Justin gehen und uns entschuldigen. Danach sehen wir weiter. Außerdem sollten wir uns in Zukunft anders verhalten.“

Chris nickte und erwiderte:

„Gut, damit bin ich soweit einverstanden. Für Sergio und Marcelo, ich kann euch nicht reglementieren, aber seid euch sicher, dass ich in Zukunft mit diesen Dingen genauer sein werde. Ich mag solche Alleingänge überhaupt nicht. Gerade in einer fremden Stadt. Ihr seid beide bereits volljährig, aber meine Jungs sind das noch nicht. Also trage ich für sie die volle Verantwortung. Damit ist das für mich erledigt und ich wünsche euch einen schönen Tag. Bitte ohne weitere böse Überraschungen. Dass ich auf dem Platz von Dustin ein absolut korrektes Auftreten erwarte, möchte ich nur am Rande erwähnen. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten zur Abfahrt in der Lobby.“

Danach stand Chris auf und ging zum Fahrstuhl in der Lobby. Wir standen ziemlich bedröppelt vom Tisch auf und schauten uns fragend an.

„Wie kommt ihr jetzt zurück ins Hotel?“, fragte ich Sergio.

„Ich habe uns bereits vorhin ein Taxi geordert. Das sollte in zehn Minuten hier sein. Und wir sollten bereits unterwegs sein, bevor ihr euch hier trefft. Es tut mir leid, dass es jetzt Stress gibt. Wir haben genauso Verantwortung dafür. Auch wenn uns Chris das jetzt nicht gesagt hat.“

„Gut, dann sollten wir uns jetzt schnellstens vorbereiten und uns hier verabschieden. Wir sehen uns später auf der Anlage. Und macht euch jetzt nicht verrückt. Wenn Chris richtig böse gewesen wäre, hätte das ein anderes Ergebnis gegeben. Allerdings weiß ich nicht, was euch in eurem Team erwarten wird.“

„Das sollte kein Problem sein. Sie haben ja gewusst, dass wir bei euch sind und es uns erlaubt. Allerdings könnte es Probleme geben, wenn Chris mit Carlos darüber spricht. Carlos erwartet, dass wir uns an eure Regeln halten wenn wir bei euch sind.“

Fynn reagierte darauf:

„Gut, das sehen wir dann ja. Ganz ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, dass Chris von sich aus mit Carlos darüber sprechen wird. Er hat uns klar gesagt, was er von dieser Sache gehalten hat und danach ist es jetzt an uns, zu zeigen dass wir das so nicht noch einmal machen. Dustin sollte sich ab jetzt nur noch auf sein kommendes Match vorbereiten. Ich gehe zu Justin, er muss ja auch noch spielen.“

„Du gehst nicht allein zu Justin. Ich bin genauso daran beteiligt. Da möchte ich dabei sein.“

Mein Schatz versucht auch nicht, mich daran zu hindern. Er nickte nur und dann holten Sergio und Marcelo noch ihre Sachen aus unserem Zimmer. Dort trennten sich unsere Wege erst einmal bis zur Anlage.

Als wir vor Justins Zimmertür standen, klopfte mein Herz spürbar. Justin wirkte überrascht als er uns die Tür öffnete.

„Nanu, was verschafft mir die Ehre? Und dann auch gleich zu zweit.“

„Ähm, ja“, begann ich, „wir möchte mit dir etwas klären. Dürfen wir hereinkommen?“

Justin ging einen Schritt zur Seite und ließ uns eintreten. Es war recht eng in seinem Zimmer. Maxi hatte auf der anderen Flurseite sein Zimmer.

„Also, was liegt an?“, fragte Justin.

„Naja, wie du dir ja denken kannst hatten wir gerade ein Gespräch mit Chris.“

Justin fing an zu grinsen.

„Hihihi, ja. Ich kann mir denken, worum es gegangen ist.“

Ich wäre am liebsten gerade im Boden verschwunden, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Also, es tut uns leid, dass wir uns gestern nicht gut verhalten haben. Es war bestimmt nicht unsere Absicht, dich in deiner Nachtruhe zu stören. Wir haben uns gerade einen Elfmeter von Chris abgeholt und möchten uns bei dir entschuldigen.“

Justin schaute uns an, versuchte ernst zu bleiben, aber nach einigen Sekunden fing er an zu kichern und dann laut zu lachen.

„Hihihi, ich wäre gern bei dem Gespräch mit Chris dabei gewesen. Als ich ihm heute früh von eurer Nachtparty berichtet habe, hatte ich echt nicht gedacht, dass er das so übel finden würde. So angepisst habe ich Chris noch nicht oft erlebt. Wenn ich gewusst hätte, dass das für euch Folgen hat, wäre ich zuerst zu euch gekommen. Also ich nehme natürlich eure Entschuldigung an, aber denkt in Zukunft an die Absprachen. Chris fand das wohl gar nicht witzig.“

„Nein, nicht wirklich“, erwiderte Fynn, „aber auch zurecht. Es tut uns leid, wenn wir dich in deiner Vorbereitung gestört haben. Wir haben uns mit Sergio und Marcelo sehr gut unterhalten und naja, dann ist es etwas ausgeufert.“

Hoffentlich würde Fynn nicht weiter ins Detail gehen. Es war gerade mega peinlich. Aber Justin hob nur seine Hand und meinte:

„Leute, lasst gut sein. Ich habe es verstanden. Was hat Chris euch aufgebrummt? Wir müssen gleich zur Anlage aufbrechen und heute noch spielen.“

Wir erklärten Justin kurz den Verlauf des Gespräches und dann verließen wir Justins Zimmer wieder. In unserem Zimmer packten wir unsere Taschen noch fertig und machten uns auf den Weg zum Treffpunkt.

Dort empfing uns Chris mit Maxi in gewohnter Manier. Kein Wort fiel zum Vorgefallenen. Im Gegenteil, Chris erkundigte sich wie immer nach unserem Befinden. Erst danach gingen wir durch das Portal zum Taxi, das uns zur Anlage brachte.

Mir gingen immer noch der gestrige Abend und die Folgen durch den Kopf. Allerdings ließ uns Chris komplett in Ruhe. Auch Justin wirkte konzentriert und bereits im Tunnel für sein Match.

Ich bemerkte nicht einmal, dass wir an der Anlage bereits angekommen waren und aussteigen mussten.

„Na“, feixte Chris, „wo bist du denn mit deinen Gedanken? Du bist schon die ganze Zeit so abwesend gewesen.“

Meine Gedanken gingen an den Abend zurück und das war mir unangenehm. Wir hatten das Vertrauen von Chris missbraucht. Das machte mir Kopfschmerzen. Aber sagen konnte ich das jetzt nicht. Chris hätte mich garantiert zum Gespräch gebeten und vielleicht hätte ich dann etwas von dem verraten, was wir zu viert gemacht hatten. Das wollte ich auf keinen Fall.

„Es geht schon, Chris. Ich ärgere mich noch über meinen Fehler gestern. Aber jetzt werde ich mich nur noch auf mein kommendes Match konzentrieren.“

„Das ist ein guter Plan. Du kannst die Zeit ja nicht zurückdrehen. Also nach vorn schauen und nur noch den Gegner im Kopf haben. Los, ihr beiden. Macht euch bereit und in einer halben Stunde sehen wir uns auf Platz dreizehn zum Einschlagen mit Niko.“

Ich hatte überhaupt keine Zeit mehr mich mit dem gestrigen Abend zu beschäftigen. Gerade weil Niko bereits auf mich wartete. Sergio spielte sich mit Justin warm und Niko hetzte mich über den Court, so dass ich bereits nach wenigen Minuten auf Betriebstemperatur war.

Maxi und Chris saßen entspannt mit meinem Schatz und unterhielten sich. Ich hatte aber keine Gelegenheit, dort häufiger hinzuschauen. Niko schickte mich über den Platz und manchmal hatte ich den Gedanken, dass Chris absichtlich für diese hohe Schlagzahl gesorgt hatte.

Nach zwanzig Minuten kam von Chris ein Zeichen. Wir sollten zur Bank kommen. Er ging ein paar Meter dorthin und meinte zu mir:

„Sehr schön. Das sah gut aus. Danke, Niko. Jetzt kannst du gut auf dein Match warten, Dustin. Es wird nicht mehr lange dauern bis du aufgerufen wirst. Also bereite dich zu Ende vor. Wir treffen uns gleich am Platz wieder.“

Ich nahm meine Tasche und ging in die Umkleide, um mir frische Sachen anzuziehen. Neue Griffbänder wickelte ich auch gleich und überprüfte meine Tasche. Alles war bereit als ein junger Mann neu in die Umkleide kam. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig und er sah ziemlich athletisch aus. Viel mehr Muskeln als ich und einen breiten Oberkörper. Das sah eher nach Schwimmer denn nach Tennisspieler aus.

Aber er grüßte freundlich und fragte mich nach meinem Namen. Nach meiner Antwort reagierte er lachend:

„Na, dann spielen wir jetzt gegeneinander. Ich wünsche ein gutes Spiel.“

Danach streckte er mir seine Hand entgegen und ich schlug gern ab. Gemeinsam verließen wir die Kabinen und machten uns auf den Weg zum Platz.

Auf dem Weg dorthin sprachen wir nicht mehr miteinander. Ich versuchte mich bereits nur auf das kommende Spiel zu konzentrieren.

Allerdings hatte ich heute Schwierigkeiten, mich nur mit dem Gegner und dem Match zu befassen. Immer wieder kehrte ich gedanklich an den heutigen Morgen zurück. Das Gespräch mit Chris wirkte nach. Leider.

Während des Einschlagens spürte ich das nicht, aber als die ersten Spiele gespielt waren. Innerhalb von zehn Minuten stand es 0:3 und ich stand komplett neben mir.

Von der Bank ging mein Blick zu Chris. Auch Fynn stand unruhig neben ihm. Chris tippte nur ganz ruhig mit Finger gegen die Schläfe und nickte mir zu. Klar, ich musste meinen Kopf sortieren. Aber wie?

Ich ging wieder auf den Platz und traf wieder keinen vernünftigen Ball. Es war zum Kotzen. Ich fühlte mich schlecht und wusste nicht wie ich das ändern könnte.

Bei 1:4 machte Chris mir deutlichere Zeichen in Richtung Konzentration und forderte mehr Aggressivität.

Ich ging auf den Platz zurück und versuchte mehr Druck aufzubauen und mich mehr zu pushen. Leider ging das nach hinten los und die Fehlerquote stieg noch weiter an. Frustrierend.

Ich war so niedergeschlagen, dass ich mich nicht einmal mehr aufregen konnte. Das Spiel lief komplett an mir vorbei. Mit 2:6 und 1:6 kam ich zum Handshake ans Netz. Mir war zum Heulen zumute.

Schnell weg hier, dachte ich und raffte schnell meine Sachen zusammen. So mies hatte ich mich nach einem Match schon lange nicht mehr gefühlt.

Entsprechend frustriert ging ich in die Umkleide. Eigentlich kam Chris immer nach einem Match zu mir und wir sprachen kurz über das Spiel. Heute blieb ich allein und ging gedankenversunken zum Auslaufen.

Allerdings stand Chris bei meiner Rückkehr vor dem Eingang zur Umkleide. Mit einem Lächeln im Gesicht. Kaum zu glauben.

„Na, du verwirrtes Huhn. Das ist heute aber mal richtig in die Hose gegangen. Wo hast du denn wohl deinen Kopf gehabt? Jedenfalls nicht auf dem Platz. Aber bevor du dich zu sehr aufregst oder gar zweifelst, ich finde es gar nicht so schlimm. Mich überraschte das nicht wirklich.“

Dann hielt er mir die Hand hin und ich schlug ab. Ein komisches Gefühl. Ich war frustriert und wütend auf mich selbst und Chris stand vor mir und hatte das Match anscheinend bereits abgehakt.

„Pass auf, Dustin. Du gehst jetzt in Ruhe duschen und kommst dann bitte zu Platz drei. Dort spielt Justin gleich. Wir sprechen später in Ruhe über den Tag. Mach dir bitte keinen Kopf. Ich glaube es bereits begriffen zu haben was bei dir passiert ist. Aber wir haben genug Zeit, dass zu besprechen.“

Dann umarmte er mich kurz und zwinkerte mir zu bevor er zu Justin ging.

Chris: Ein Rückschlag mit Ansage

Diese deutliche Niederlage stellte sich für mich nicht als Problem dar. Schon nach wenigen Minuten war mir klargeworden, dass Dustin heute nicht gewinnen konnte. Er war überhaupt nicht auf dem Platz.

Auch mein Bruder hatte das Match verfolgt und das war mein eigentliches Problem. Er blieb ruhig und mischte sich überhaupt nicht in das Spielgeschehen ein. Erst als ich aus der Umkleide zurückkam sprach er mich an:

„Was hat er gesagt zu der Situation? Du musst Dustin auffangen. Da muss einiges in seinem Kopf vorgegangen sein. Ich glaube ja, dass irgendetwas vorgefallen sein muss. So verwirrt habe ich ihn schon ganz lange nicht mehr erlebt.“

Da fiel mir ein, Jan hatte ja überhaupt keine Ahnung was heute früh im Hotel passiert war. Er kannte auch die Aktion aus der Nacht nicht.

Ich zögerte einen Moment ob ich ihm das erzählen sollte oder eher nicht. Aber ich entschied mich, ihn zu informieren.

Nachdem ich berichtet hatte, schaute mich mein Bruder an und fing an zu lachen.

„Hahaha, das ist ja kurios. Aber gut, dann wird mir einiges klar. Da zeigt sich eben auch deutlich, dass sie noch sehr jung sind. Aber ich bin mir sicher, dass du es schaffen wirst, ihm das schnell wieder aus dem Kopf zu holen. Was habt ihr jetzt vereinbart?“

„Ja, da habe ich noch etwas Arbeit vor mir. Allerdings ist es vielleicht auch einmal gut, dass er jetzt auf die Nase gefallen ist. Ich bin mir sicher, das wird ihm so nicht wieder passieren. Er soll sich jetzt runterfahren und zum Spiel von Justin kommen. Ich nehme mir nach den Spielen für Fynn und Dustin genug Zeit für ein Gespräch. Und mal schauen wie sich Justin jetzt anstellt.“

„Das hört sich gut an. Ich gehe mit Niko und Maxi eine Runde trainieren. Wir sprechen später noch einmal über die weiteren Dinge.“

Als ich bei Justin am Platz ankam, war von Fynn noch nichts zu sehen. Eigentlich hatte ich klar formuliert, dass er dort schnellstmöglich hinkommt und sich nicht noch lange mit seinem Freund beschäftigen soll.

Justin schoss wie immer auf alles was sich bewegte. Allerdings hatte dieses Mal einen Gegner, der seine Bälle genauso schnell zurückspielte und keine Fehler machte.

Aber Justin blieb ruhig und spielte konzentriert weiter. Obwohl er bald spüren musste, heute war sein Gegner noch nicht zu bezwingen, hing er sich voll rein und kämpfte um jeden Punkt. Auch pushte er sich wie immer nach vorn. Das beeindruckte mich.

Plötzlich stand Fynn neben mir.

„Justin spielt geil, oder? Er versucht alles aus sich herauszuholen. Obwohl sein Gegner zu gut ist. Ich weiß nicht ob ich das auch so konsequent könnte.“

„Hi Fynn. Ja, da hast du recht. Aber ich denke, du würdest dich auch genauso zerreißen in diesem Turnier. Nicht so negativ werden, nur weil du schon recht früh verloren hast. Auch, dass Dustin heute eine Lehrstunde bekommen hat, ist für mich kein Drama.“

„Aber du bist sauer gewesen auf uns. Gerade heute beim Frühstück. Und du hast genau einkalkuliert, dass Dustin dafür heute richtig einen drauf bekommt. Warum?“

Schon interessant, wie gut Fynn die Situation analysiert hatte.

„Damit ihr einen möglichst großen Lerneffekt habt. Ihr seid so jung und unerfahren. Da wurde es Zeit, dass ihr auch spüren könnt wie wichtig eine gute Vorbereitung ist. Nicht nur körperlich, auch mental. Ich hoffe, Dustin hat es jetzt begriffen. Aber wir sprechen noch in Ruhe über diese Dinge. Mach dir keinen Kopf darüber. Das passt schon.“

Fynn war das sichtlich unangenehm. Am liebsten hätte er sich bei mir entschuldigt. Aber Justins Spiel lief noch. Die Situation war ihm nicht passend. Das war für mich auch in Ordnung.

Justin präsentierte bis zum Ende ein tolles Spiel. Ein deutliches 2:6 und 3:6 stand auf dem Papier. Das war mir vollkommen egal. Alle Jungs hatten eine gute Leistung gezeigt. Dustin und Fynn werden sicher zusätzlich noch etwas gelernt und begriffen haben. Von daher konnte ich beruhigt das Abenteuer US Open auf dem Platz beenden.

Eine Überraschung präsentierten mir Justin, Fynn und Dustin aber doch noch. Obwohl ihr Turniertag beendet war, wollten sie noch bei Maxi und Niko beim Training zuschauen. Das wollte ich ihnen auch gönnen. Es spielte für mich keine Rolle ob wir etwas später ins Hotel zurückkamen. Der Rückflug sollte am nächsten Abend stattfinden. So konnten wir Nikos erstes Match im Hauptfeld auch noch vor Ort schauen.

Am Trainingsplatz war viel los. Überall trainierten die Spieler vom Hauptfeld und auch Rafael Nadal stand auf dem Nebenplatz von Niko und trainierte mit Carlos Moya. Sergio und Marcelo konnte ich allerdings nicht sehen. Ich hatte auch noch gar nicht gefragt wie Sergio heute gespielt hatte. Das wollte ich aber jetzt schnell noch nachholen.

„Sag mal, Fynn. Wie hat Sergio heute gespielt? Er musste doch auch noch sein letztes Qualifikationsspiel bestreiten.“

„Noch gar nicht. Er ist erst heute Abend angesetzt. Schade eigentlich, denn jetzt könnten wir uns das zeitlich ansehen, sind aber dann schon im Hotel.“

„Ja, würdet ihr euch das denn gerne anschauen?“, fragte ich in die Runde.

„Ja, eigentlich schon. Sergio hat ja auch bei uns geschaut. Da wäre es bestimmt gut, wenn wir auch bei ihm gucken würden.“

„Sergio und Marcelo haben bei euch zugesehen?“

„Ja, aber sie haben sich nicht getraut zu dir zu kommen. Sie hatten wohl etwas Schiss nach heute Morgen“, erklärte mir Fynn.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Habt ihr ihnen das nicht erklären können? Ihr wisst doch, dass ich nicht nachtragend bin. Wenn es besprochen ist, dann ist das erledigt.“

„Uns ist das mittlerweile klar, aber Sergio kennt dich noch nicht so gut. Ich konnte es verstehen. Ob ich bei Carlos Moya gestanden hätte, wenn er mich einige Stunden zuvor einen Kopf kürzer gemacht hat, wüsste ich auch nicht.“

Mittlerweile war Niko auch mit dem Training fertig und Jan kam zu uns.

„Na ihr, seid ihr mit allem durch für heute?“

„Im Prinzip ja, aber die Jungs wollen wohl noch gern bei Sergio in der Abendsession zuschauen. Ich denke, dass ich das nicht ablehnen kann. Also bleiben wir noch etwas hier. Vielleicht können wir ja auch hier zusammen etwas essen?“

„Niko fährt auf jeden Fall ins Hotel zurück und ich wahrscheinlich auch“, meinte mein Bruder, „aber ihr könnt ja gerne noch bleiben. Von euch muss morgen ja niemand mehr spielen. Wir sehen uns dann morgen früh vor Nikos Match. Wer von euch kann sich mit Niko einschlagen?“

Ich schaute meine Jungs an. Das wollte ich nicht festlegen. Fynn meldete sich als erster und damit war das geklärt.

Das gemeinsame Abendessen auf der Anlage gestaltete sich zu einem kleinen Erlebnis. Mittlerweile waren wir durch die Medienauftritte bereits bekannter als noch vor drei Wochen. Durch die Teamkleidung fielen wir auch überall auf.

Im Cateringbereich hatten wir uns einen Tisch ausgesucht und dort bereits Platz genommen, als zwei Ballkinder zu uns an den Tisch kamen.

Sie baten die Jungs um Autogramme und wollten auch mit uns allen ein Foto machen. Das war für uns noch immer ungewohnt. Aber das Gespräch mit den beiden Jungs entwickelte sich sehr lustig. Entsprechend aufmerksam wurden die anderen Gäste in diesem Bereich.

Es war immer wieder schön zu erleben, dass die jungen Menschen so gut wie keine Probleme mehr mit Homosexualität hatten.

Bevor wir zum Platz von Sergio aufbrachen, fragte mich Dustin:

„Können wir noch einmal über das heutige Match und den heutigen Tag sprechen?“

„Natürlich können wir das. Möchtest du mit mir allein reden oder gemeinsam mit Fynn?“

Bevor Dustin antworten konnte reagierte Fynn:

„Ich gehe schon zu Sergio. Ich glaube, dass es ohne mich einfacher wird.“

Dustin nickte nur und für mich war das damit eindeutig. Die beiden hatten sich bereits abgesprochen.

Also machten Dustin und ich einen kleinen Umweg über die Anlage.

„Warum hast du mich heute ins offene Messer laufen lassen? Du hättest mich heute früh auch vorwarnen können. Dass ich so schlecht gespielt habe, hat dich doch nicht überrascht. Vermutlich hast du es sogar genau so erwartet.“

„Ja, das ist korrekt. Ich habe es erwartet. Allerdings hatte ich gehofft, es würde nicht so heftig werden.“

„Aber warum hast du mich nicht gewarnt? Ich hätte vielleicht dann gewonnen.“

„Nur zum Verständnis für dich. Ich hatte dich bereits gestern gewarnt. Und heute wollte ich, dass du am eigenen Leib spüren kannst wie dumm euer Verhalten gewesen ist. Learning by losing war heute mal angesagt. Es musste vielleicht einmal weh tun, damit es auch in deinem Kopf ankommen kann.“

Dustins Körperhaltung sprach Bände. Es war ihm sichtlich unangenehm.

„Jaja, es tut mir auch weh. Aber irgendwie habe ich mich gestern nicht so unter Kontrolle gehabt. Auch Fynn hat mich nicht zurückgehalten.“

„Muss er das? Er war nicht mehr im Turnier und du kennst die Abläufe. Also ich bin davon überzeugt, dass ihr beide es gestern genau so haben wolltet. Nur dass du nicht gedacht hattest, dass es solch garvierende Folgen haben könnte.“

Dustin zögerte und überlegte wie er antworten sollte.

„Es war aber auch einfach mega geil mit den beiden. So etwas haben wir noch nie zuvor erlebt. Und ja, ich wollte gestern nicht darauf verzichten. Kannst du das vielleicht ein wenig verstehen?“

„Natürlich, nicht nur ein wenig. Es ist mir absolut klar was da gestern passiert ist. Und ich finde es ganz natürlich. Allerdings solltest du dir jetzt im Klaren darüber sein, welche Konsequenzen ein solches Verhalten auf dein Tennis am nächsten Tag hat. Also ziehe bitte die richtigen Schlüsse daraus.“

„Du bist heute früh sauer gewesen, oder? Ausgerechnet bei den US Open müssen wir das austesten. Nicht sehr geschickt, oder?“

„Hahaha, sehr guter Spruch. Aber hattet ihr zuvor schon eine andere Gelegenheit dazu? Ich glaube nicht. Und ja, heute früh habe ich mich über euch geärgert. Allerdings nicht über die Tatsache, dass ihr vier beim Sex euren Spaß hattet. Justin in seiner Vorbereitung auf sein Match zu stören war mein Problem. Es war kein Teamplay. Darin gründete mein Ärger.“

„Das ist mir mittlerweile klar. Wir haben uns bei Justin entschuldigt und ich muss zugeben, es war mir peinlich. Schließlich dürfte jetzt allen klar geworden sein, was gestern bei uns abgegangen ist. Nun ja, wir sind auch selber schuld. Das Teamplay ist uns genauso wichtig wie dir oder Jan. Und ich verspreche dir, so ein Egotrip wird nicht mehr vorkommen. Jedenfalls nicht mehr in einer Turniersituation. Aber geil war es deshalb trotzdem.“

„Gut, also dann müssen wir beim Besuch von den drei Spaniern in Halle dafür sorgen, dass ihr nicht in der WG übernachtet. Ihr müsst dann zu ihnen ins Sportpark Hotel gehen, wenn ihr euren Spaß haben wollt.“

Jetzt hatte ich Dustin verwirrt. Und als es bei ihm „Klick“ gemacht hatte, fing er an zu protestieren:

„Hey, wir sind keine notgeilen Hengste. Und das wir das nicht in der WG wiederholen, dürfte vollkommen klar sein. Ich möchte nicht wissen was Tim und Carlo von uns denken würden. Hihihi.“

„Vermutlich dasselbe was ich momentan dazu denke. Hahaha.“

Danach hielt ich ihm meine Hand hin und wollte das Thema damit beenden. Er schlug ein, aber eine Frage tauchte noch auf.

„Müssen wir von Jan noch etwas befürchten? Er mag solche Disziplinlosigkeiten auch überhaupt nicht. Ich möchte darauf vorbereitet sein.“

„Das glaube ich nicht. Er hat mir gesagt, dass es meine Verantwortung sei, das mit euch zu klären. Allerdings war er über deine Leistung nicht begeistert. Das dürfte dir aber auch klar sein.“

„Ja, ist es. Danke und noch einmal Sorry. Es tut mir wirklich leid. Ich werde etwas daraus lernen.“

Danach gingen wir direkt zu Sergio an den Platz. Marcelo saß neben Carlos Moya und die anderen Jungs standen hinter ihnen. Als wir bemerkt wurden, gab mir Justin eine kurze Lageeinweisung.

„Sergio spielt richtig gut, aber ich befürchte dass er nicht gewinnen kann. Sein Gegner hat immer den besseren Ball zur Verfügung. Das ist ein Match wie bei mir. Ich finde es aber mega gut wie Sergio alles zeigt was er spielen kann.“

Wenige Minuten des Spieles reichten mir, um die Beschreibung von Justin bestätigt zu finden. Ein gutes Match, aber heute nicht zu gewinnen.

Marcelo wirkte nach dem Matchball enttäuscht. Allerdings musste ich mich nicht einmischen. Dustin und Fynn kümmerten sich um ihren Freund und erklärten ihm, dass Sergio ein gutes Match gezeigt hatte.

Carlos Moya und ich gingen noch gemeinsam in den Cateringbereich und tranken einen Kaffee zusammen. Für ihn begann morgen das Turnier mit Rafael Nadal. Für Jan ging es auch los mit Niko.

Carlos und ich sprachen noch über ihren Besuch bei uns in Halle. Am Ende legten wir einen Termin fest. Nach dem Urlaub von Fynn und Dustin sollten sie für eine Woche nach Halle kommen und zum Abschluss der Woche am Sparkassen Cup teilnehmen. Insbesondere für Rafael war das ein gutes Turnier. Für Sergio und meine Jungs eigentlich nicht mehr so besonders interessant. Aber wir hatten eine harte Trainingswoche zuvor und da war es sicher eine gute Gelegenheit, sich unseren Zuschauern und Sponsoren zu präsentieren.

Tim und Carlo werden sich bestimmt freuen, wenn ich sie mal wieder auf einem Turnier begleiten könnte.

Bevor wir zurück ins Hotel fuhren, bekam ich von Jan noch eine Nachricht. Er bat mich für die Jungs für den nächsten Tag einen Coaching Pass im Turnierbüro abzuholen. Sie waren aus dem Turnier ausgeschieden und damit war ihre Akkreditierung abgelaufen.

Auf der Rückfahrt ins Hotel konnte ich doch so etwas wie Enttäuschung spüren. Alle waren ausgeschieden und die Realität hatte sie eingeholt. Wobei das ihre subjektive Empfindung war. Objektiv gesehen hatten alle eine gute bis sehr gute Leistung gezeigt. Ich, und auch mein Bruder, war sehr zufrieden. Die Jungs waren nicht mehr weit weg von den richtigen Weltklassespielern. Weiter hart arbeiten und sie würden weitere Schritte nach vorn machen.

Mittlerweile konnte ich sogar Jan folgen mit seinem Gedanken an eine mögliche Profilaufbahn der Jungs. Aber noch war es ein weiter Weg.

Im Hotel hatte ich mir etwas ausgedacht. Eine Überraschung zum Ende des Turnieres.

Wir saßen noch im Taxi, als ich ihnen mitteilte:

„Bevor ihr auf euren Zimmern verschwindet, um euch etwas zu entspannen, möchte ich euch bitten in dreißig Minuten wieder in der Lobby zu erscheinen. Ganz locker, jeder so wie er mag. Die offiziellen Termine sind für heute erledigt.“

Das irritierte alle. Ich konnte es an den fragenden Gesichtern sehen. Aber genau das war auch mein Plan. Etwas Abwechslung und wieder mehr der Freund und nicht nur der Coach zu sein.

Die Verwirrung wurde komplett als wir uns gemeinsam aus dem Hotel in ein Taxi setzten und ich dem Fahrer das Ziel nannte. Fynn hatte es als erster begriffen.

„Hey Chris, das ist die Adresse von der coolen Sportler Bar wo wir auch John McEnroe getroffen haben.“

Da musste ich grinsen und alle hatten begriffen was heute noch mein Plan war.

„Ja, das ist korrekt. John hat uns eingeladen nach dem Turnier vorbeizukommen. Wir werden dort gemeinsam noch ein Nachtessen einnehmen und dann noch etwas den Abschluss unserer Amerikareise feiern. Ich bin der Meinung, dass wir uns das verdient haben.“

„Wow, dann wird das ja wieder ein spannender Abend und vor allem haben wir morgen keine Spiele mehr. Wir können also auch ein wenig tanzen gehen.“

„Die Betonung liegt auf ein wenig“, warf ich direkt ein, „Jan erwartet uns morgen zur Unterstützung von Niko. Also reißt euch etwas zusammen.“

Justin hatte wieder Probleme die Ironie dabei zu sehen. Er wollte sich sofort rechtfertigen. Allerdings stoppte ihn Fynn:

„Hey, Justin. Lass gut sein. Ich glaube, jedem von uns ist klar, kein Alkohol und keine verrückten Dinge mehr. Das muss uns Chris nicht noch einmal erklären.“

Dieser Abend verlief entspannt und lustig. Insbesondere die erneute Begegnung mit John McEnroe war wieder ein Highlight. Er hatte das Turnier bereits gut verfolgt und sich auch Justin und Dustins Spiele angesehen. Das erstaunte meine Jungs dann doch.

Aber der Spaß kam auch nicht zu kurz. Sogar getanzt haben die Jungs noch. Ich habe mich da eher zurückgehalten und mit John noch einige Dinge besprochen.

Gegen eins bestand ich dann aber auf dem Aufbruch ins Hotel. Ohne Widerspruch kamen meine Jungs mit und es herrschte im Taxi eine ausgelassene Stimmung.

„Boah Chris, das war ein cooler Abend. Mega gute Musik und Stimmung. Danke, dass du mit uns das gemacht hast“, freute sich Fynn. Sein Freund nickte, wirkte aber deutlich nachdenklicher. Justin hingegen war glücklich, aber auch todmüde. Er gähnte bereits auf der Rückfahrt immer häufiger.

Als wir am Hotel ankamen, konnte ich mir eine kleine Bemerkung nicht verkneifen:

„Also, Fynn und Dustin, kommt nicht mehr auf komische Ideen heute. Justin ist jetzt schon fast eingeschlafen. Höre ich morgen früh wieder eine Beschwerde…“

Weiter kam ich nicht, denn Fynn unterbrach mich lachend.

„Jaja, schon gut. Ich habe es begriffen. Aber den Fehler machen wir sicherlich nicht erneut.“

Dustin musste jetzt auch grinsen und nahm seinen Freund in den Arm und ergänzte:

„Nein, aber unseren Spaß werden wir dennoch haben. Nur sind wir dieses Mal etwas leiser, damit Justin seinen Schönheitsschlaf bekommt, hihihi.“

Dann gab er Fynn einen Kuss und die beiden verabschiedeten sich mit einem Gute-Nacht- Wunsch. Maxi und Justin verschwanden auch sehr schnell, ich selbst ging noch kurz an die Bar und ließ mir einen Ipanema servieren.

In dieser Situation schaute ich mir den Spielplan für den ersten Turniertag des Hauptfeldes an. Mit freudiger Erwartung stellte ich fest, Niko war gegen einen jungen Amerikaner im Arthur Ashe Stadium angesetzt. Morgens das zweite Spiel. Das würde noch ein Highlight für meine Jungs werden. Dustin und Fynn hatten mir bereits im Vorfeld erzählt, wie sehr sie sich wünschen würden, dort einmal ein Match life zu sehen. Dass sie vielleicht einmal selbst dort spielen, davon redeten sie noch nicht. Es war das größte Tennisstadion der Welt.

Nachdem ich meinen Ipanema ausgetrunken hatte, schloss ich den Laptop und legte mich auch zur Nachtruhe.

Fynn: Das Arthur Ashe Stadium als krönender Abschluss

Der letzte Tag in New York hatte ein weiteres Highlight für uns parat. Es ging zur ersten Runde im Hauptfeld und wir durften bei Jan und Chris in der Box sitzen. Das wäre an sich schon etwas Besonderes. Aber Nikos Einzel war das zweite im Arthur Ashe Stadium. Damit erfüllte sich für mich ein Traum. Ich kannte das Stadion bislang nur von außen bzw. von Fotos.

Entsprechend aufgeregt war ich vor dem Eingangsbereich. Chris hatte uns noch einmal eingehend erklärt wie dort die Regeln waren und darauf hingewiesen unsere Handys auf lautlos zu stellen.

„Hier sind eure Zugangspässe. Bitte passt gut darauf auf. Hier wird viel schärfer kontrolliert als irgendwo sonst. Und den Anweisungen des Sicherheitspersonals ist unbedingt zu folgen. Niemand von euch geht irgendwo allein hin. Auch nicht zur Toilette. Noch Fragen von euch?“

„Nein, aber können wir endlich reingehen?“

Ich konnte meine Aufregung nicht mehr verheimlichen. Dustin schaute mich kopfschüttelnd an.

„Ja, wir können los. Aber denkt auch daran, euch möglichst ruhig zu verhalten in der Box. Jan muss immer mit Niko in Kontakt bleiben können.“

„Boah, Chris. Wir sind keine Vollidioten. Das ist schon klar, dass wir dort keine Party feiern.“

Ich schaute vollkommen entsetzt zu Maxi, der jetzt breit grinsend vor Chris stand. Chris nutzte die zur Gelegenheit Maxi einmal durchzukitzeln. Das hatte sofort Erfolg. Maxi war genauso empfindlich wie ich. Entsprechend kreischte er auch vor dem Eingang herum.

Ich kam mir gerade vor wie im Kindergarten und Justin schaute auch schon etwas komisch.

„Haben wir es jetzt?“, fragte Dustin genervt, „ich möchte endlich in das Stadion gehen.“

Chris drehte sich lachend um und erwiderte:

„Na gut, ich habe Mitleid mit euch. Eigentlich müsste ich Maxi noch etwas länger kitzeln.“

Er ließ von Maxi ab und endlich kamen wir in das riesige Stadion hinein. Unsere Ausweise wurden genauestens geprüft und ein Sicherheitsmann begleitete uns zu Jan in der Coaching-box. Niko spielte sich bereits mit seinem Gegner warm.

Mein Blick ging in das Stadion und obwohl es noch recht leer war, beeindruckte es mich. Für einige Momente blieb ich noch vor meinem Platz stehen und bemerkte so gar nicht die Ansage des Schiedsrichters, dass das Spiel beginnen musste. Erst mein Freund zog mich auf den Stuhl und meinte leicht genervt:

„Hey, du musst dich hinsetzen. Das Spiel beginnt und deinetwegen mussten die Spieler warten.“

Sofort schoss mir das Blut ins Gesicht. Mein Kopf war vermutlich so rot wie eine Tomate. Chris schaute zu mir und musste grinsen. Aber glücklicherweise begann Niko direkt mit einem tollen Punkt und damit war ich die Aufmerksamkeit schnell wieder los.

Unsere Plätze waren ideal zum Zuschauen. Ich konnte sogar die Gesichter der Spieler noch erkennen.

Selbst Chris schien von der Atmosphäre beeindruckt zu sein. Er schaute sich auch immer wieder um.

Jan hingegen hatte nur den Blick für Niko und das Spiel. Ich konnte einige Gemeinsamkeiten erkennen. Jan hatte in einigen Situationen die gleichen Zeichen und Reaktionen wie Chris. Das wunderte mich etwas. Chris hatte uns ja erklärt, dass sich beide in ihrer Trainerarbeit vollkommen unabhängig entwickelt hatten.

Was wir allerdings von Niko auf dem Platz zu sehen bekamen war eine Demonstration seiner Stärke. Innerhalb einer Stunde stand es 6:2; 5:1 für Niko. Nichts, aber auch gar nichts sah noch nach einer Wende des Spieles aus. Aber Jan blieb voll fokussiert. Es stand 40:15 und Niko schlug auf zum Matchgewinn. So einfach hatte ich das nicht erwartet in der ersten Runde eines Grand Slams. Mit einem Service Winner beendete Niko das Spiel. Ich stand von meinem Platz auf und applaudierte. Aber was war das jetzt? Niko ging zur Bank und nicht zum Netz. Ich war irritiert und schaute zu Dustin, der bereits wieder Platz genommen hatte.

„Was ist? Worauf wartest du jetzt?“, fragte mich mein Schatz.

„Äh, warum hast du dich wieder hingesetzt?“

„Vielleicht weil ich den dritten Satz sehen möchte?“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Fuck, ich hatte vergessen, dass in den Grand Slams drei Gewinnsätze gespielt wurden. Nur in der Qualifikation noch nicht. Wie peinlich war das denn? Natürlich hatten Jan und Chris das auch mitbekommen und lachten sich gerade auf meine Kosten kaputt.

Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, stellte ich die Frage in die Runde:

„Also ich bin mir jetzt gar nicht mehr so sicher ob ich überhaupt so ein Match überstehen könnte. Ich habe noch nie ein Fünfsatzspiel gemacht.“

Gott sei Dank war noch Satzpause und die Zuschauer waren recht laut, sonst wäre es erneut sehr peinlich geworden, denn Jan begann laut zu lachen und auch Chris schaute mich grinsend an.

„Immerhin hast du es noch bemerkt. Das Match fängt jetzt erst an interessant zu werden. Und ihr werdet natürlich auch in der Lage sein irgendwann ein Best of five Match zu spielen. Vielleicht noch nicht heute, aber sehr bald.“

Chris blieb wieder ruhig und drehte sich danach wieder dem Spiel zu. Ich nahm neben meinem Freund wieder Platz und das Spiel wurde fortgesetzt. Allerdings hatte ich bislang keine Bedenken, dass sich die Situation noch stark verändern könnte.

Das tat es auch nicht mehr. Niko spielte es souverän zu Ende und gewann glatt in drei Sätzen. Dennoch hatte das Match fast drei Stunden gedauert. Und das Stadion hatte sich noch gut gefüllt. Entsprechend war die Stimmung beim Matchball.

Es war einfach ein beeindruckendes Stadion und ich war glücklich, dass uns Jan und Chris diese Gelegenheit noch gegeben hatten. Allerdings hieß es jetzt zurück ins Hotel und Sachen packen für den Rückflug nach Deutschland.

Jan begleitete uns noch aus dem Stadion, aber wir verabschiedeten uns schon auf der Anlage. Für ihn würde das Turnier hoffentlich noch einige Tage weitergehen.

Was Dustin und mir auffiel, Chris und Jan hatten von Tag zu Tag ein lockereres Verhältnis zueinander. Ich hatte sogar das Gefühl, dass es beiden schwerfiel sich zu verabschieden.

Sogar im Hotel wirkte Chris nachdenklicher als sonst. Dustin und ich hatten noch mit Sergio telefoniert, um uns von ihnen zu verabschieden. Der Termin für die Trainingswoche war mittlerweile geklärt und sie freuten sich auch auf diese Woche.

Dustin und ich hatten unsere Taschen gepackt und das Zimmer noch einmal kontrolliert, als es bei uns klopfte:

„Herein“, rief Dustin und die Tür öffnete sich.

Da standen Maxi und Justin und sie hatten ein Päckchen in der Hand.

„Seid ihr fertig? Maxi und ich haben für Chris ein kleines Geschenk gefunden und wollten fragen, ob ihr euch daran beteiligen wollt. Und ob ihr dann mitkommt es ihm zu überreichen. Wir finden, dass Chris das verdient hat. Immerhin haben wir hier so viele Punkte und Dollar gewonnen, wie noch nie.“

Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Dustin bereits reagiert:

„Coole Idee, auch wenn ich noch nicht weiß, was ihr euch ausgedacht habt, aber da machen wir mit. Ich finde es eh längst mal wieder an der Zeit für ein Dankeschön.“

Erst danach schaute er mich fragend an. Aber ich hatte natürlich nichts einzuwenden.

„Klar bin ich auch dabei, aber was habt ihr denn da besorgt?“, fragte ich.

Justin nahm das Geschenk und schüttelte es. Dabei raschelte es etwas. Erst danach erwiderte er:

„Wir haben von Jan erfahren, dass Chris neben Fassbrause auch sehr gern Salzlackritz mag. Da haben wir eine Kistchen mit verschiedenen Sorten zusammengestellt. Und da es in Halle auch ein süßes Kaufhaus gibt, noch einen Gutschein für ein Kilo Salzlakritz beigelgt, den ihr aber noch mit unterschreiben müsst.“

„Coole Idee. Das wussten wir noch gar nicht. Wann wollt ihr das übergeben?“, fragte ich.

„Am besten jetzt. Ich glaube er rechnet überhaupt nicht mit so einer Überraschung. Und im Flugzeug passt das nicht so gut.“

Also ließen wir unsere Taschen im Zimmer und gingen den Gang entlang zu Chris Zimmer.

Zuerst traute sich keiner von uns zu klopfen, aber Justin übernahm glücklicherweise die Führung. Das war komisch, obwohl wir Chris schon so lange kannten, war ich nervös wie er wohl reagieren würde. Zuerst tat sich nichts und wir hatten schon Sorge, dass er vielleicht schon hinuntergegangen war wegen der Abrechnung, aber plötzlich öffnete sich die Tür und Chris stand irritiert vor uns.

„Hallo? Alle auf einmal? Was ist passiert?“, stutzte Chris.

„Nichts“, übernahm Justin das Gespräch, „wir haben nur ein kleines Anliegen.“

Chris schaute auf das kleine Geschenk im Regenbogenpapier, schmunzelte und ließ uns in sein Zimmer. Schnell hatten wir uns verteilt und schauten jetzt auf Justin. Allerdings war der nun der Meinung einer von uns sollte das fortführen. Aber sie hatten das ausgesucht und sollten daher das auch überreichen. Justin übernahm das jetzt doch und begann:

„Also wir haben uns gedacht, dass wir dir etwas Gutes tun sollten. Du bist immer für uns da und hast mit uns schon viel durchmachen müssen. Daher haben wir uns gedacht, dir hiermit Danke zu sagen. Wir haben aus gutunterrichteten Kreisen erfahren, dass du nicht nur Fassbrause als Nervennahrung verwendest.“

Dann übergab Justin Chris das Päckchen. Chris wirkte überrascht und auch etwas bewegt. Damit hatte er mit Sicherheit nicht gerechnet. Entsprechend gespannt war ich auf seine Reaktion, wenn er es ausgepackt hatte.

Natürlich schüttelte er es vorsichtig und hörte das Rascheln. Dann machte er das Papier weg und stutzte. Plötzlich fing er an zu grinsen und meinte:

„Wow, Leute. Das ist ja cool. Euer Informant ist wirklich gut informiert. Wer auch immer das gewesen ist, er hat euch einen guten Tipp gegeben.“

Dann erst sah er die kleine Karte mit dem Gutschein. Auf dieser Karte hatten wir vier noch in unserem Zimmer unterschrieben. Chris freute sich ehrlich über das Geschenk und dann ging er auf jeden von uns zu und bedankte sich mit einer Umarmung und folgenden Worten:

„Vielen Dank und ich möchte das Kompliment an euch zurückgeben. Ihr habt es mir hier sehr angenehm gemacht und ich bin froh, dass ihr euch so gut entwickelt und wir gemeinsam nach vorne schauen können. Aber wir müssen uns auf den Weg zum Flughafen machen. Wir müssen rechtzeitig einchecken. Sind eure Taschen schon gepackt?“

„Na klar, ich freue mich tierisch auf das Deutsche Essen. Endlich wieder richtige Brötchen zum Frühstück.“

Das war so typisch für meinen Schatz. Dustin liebte Frühstück.

Wir holten unsere Taschen, gaben unsere Schlüssel an der Rezeption ab und ließen uns mit einem Taxi zum Flughafen bringen.

Das Einchecken lief ohne Probleme. Lediglich unsere Taschen mit den Schlägern erregte etwas Aufsehen. Wir mussten eine Tasche aufmachen und zeigen, dass es wirklich Sportgeräte und keine Schlagwaffen waren. Ich fand das komisch, aber nun gut.

Was allerdings dann nach dem Boarding passierte, hatte ich überhaupt nicht erwartet. Innerhalb weniger Minuten hatten wir drei deutsche Familien um uns herum, die Autogramme haben wollten. Im Flugzeug. Nicht zu glauben. Die sechs Kinder fragten uns Löcher in den Bauch und plötzlich meinte Chris:

„Ihr merkt aber auch gar nichts mehr, oder? Was meint ihr wohl, warum ihr so angesagt seid?“

Dabei zeigte er mit der Hand auf die beiden ältesten Jungs. Ich hatte keinen Schimmer was Chris gemeint haben könnte. Allerdings Dustin bekam plötzlich große Augen und lachte.

„Boah, da hätten wir auch selbst drauf kommen können. Schau mal Schatz.“

Dabei zeigte er auf die Regenbogenflagge auf dem Rucksack der beiden. Er fragte:

„Seid ihr von unserem Ufer? Oder habt ihr nur kein Problem mit Schwulen?“

Da gab einer der beiden dem anderen einen Kuss und alles war geklärt. Dieser Rückflug wurde noch sehr spannend und lustig. Sie hatten uns sogar im Fernsehen schon gesehen und waren jetzt mit ihren Eltern auf dem Rückflug nach Deutschland. Auch die Eltern der beiden waren sehr nett und aufgeschlossen. Wir hatten jedenfalls noch einigen Spaß im Flugzeug.

Nach der Landung am nächsten Morgen trennten sich unsere Wege in der Ankunfthalle, nachdem wir zuvor noch unsere Handynummern ausgetauscht hatten. Wir waren in der Heimat wieder gelandet und der Weg nach Hause auch nicht mehr weit. Besonders habe ich mich gefreut, als ich meine Familie in der Ankunftshalle entdeckte. Das war eine große Überraschung und insbesondere Patrick freute sich sehr über unsere Rückkehr. Chris hatte uns ja erlaubt, zu meinen Eltern zu fahren und dort eine Nacht zu bleiben. Maxis Mutter holte ihren Sohn ebenfalls ab. Damit blieben nur Justin und Chris am Flughafen zurück. Irgendwie fand ich das zwar nicht so toll, aber ich konnte es vorher ja auch nicht wissen. Chris verabschiedete sich von uns mit dem Hinweis, dass wir uns dann ja in zwei Tagen beim Training wiedersehen würden.

Durch die Zeitverschiebung waren wir noch ziemlich müde durch die relativ kurze Nacht im Flieger und verkrochen uns zuhause schnell in mein Bett. Dennoch kam ich nicht wirklich zur Ruhe und auch Dustin konnte mich nicht beruhigen. Zu viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Allerdings ließ ich mir am frühen Nachmittag die Zweisamkeit mit meinem Freund nicht nehmen und konnte meine Lust auf meinen Freund nicht mehr bändigen. Entsprechend geil wurde es noch im Bett. Allerdings passierte uns erneut der Fehler, nicht besonders leise gewesen zu sein.

Gott sei Dank kam Patrick erst ins Zimmer als der Druck schon weg war. Sein Grinsen im Gesicht ließ aber erkennen, dass er es mitbekommen hatte. Aber er blieb freundlich und fragte einfach nur:

„Mama fragt, ob ihr noch zu Kaffee und Kuchen runter kommen wollt oder nicht?“

„Doch, das ist gut. Aber wir gehen grad erst noch schnell unter die Dusche. Danach kommen wir runter.“

Wenige Minuten später erschienen wir im Esszimmer und wurden von meinen Eltern begrüßt. Besonders überrascht war ich von meinem Vater. Er schien nicht arbeiten zu müssen.

Er war es auch, der uns freudig mit einer Umarmung begrüßte.

„Hallo ihr beiden. Ich hoffe, ihr seid einigermaßen fit aus den USA zurückgekommen. Die Zeitumstellung ist auch nicht zu verachten. Von daher lasst uns den Rest des Tages in Ruhe verbringen. Dann kommt ihr bestimmt auch schnell wieder zu Kräften nach der kurzen Schlafphase am Vormittag.“

Dabei legte er ein ganz bestimmtes Lächeln auf. Mir schoss dabei das Blut in den Kopf und auch Dustin hatte diese Anspielung bemerkt. Meine Mama ließ sich nichts anmerken, aber ich hatte das Gefühl, dass wir hier noch die eine oder andere Überraschung erleben würden.

Auch Patrick war verdächtig still. Meine Mutter fragte uns nach unseren Plänen für den kurzen Aufenthalt. Darüber war ich verwundert, denn morgen würden wir ja schon wieder zum Training nach Halle zurückfahren.

„Mama, ich möchte einfach gern mal den Rest von heute und morgen ohne festen Plan verbringen. Einfach mal nichts tun. Morgen Abend müssen wir doch schon wieder ins Training zurück.“

Jetzt blickte mein Vater von seinem Teller hoch und runzelte seine Stirn:

„Warum wollt ihr schon morgen zurück? Wollt ihr allein trainieren?“

Das verwirrte mich komplett.

„Wieso allein?“, fragte ich entsprechend.

Jetzt meldete sich Mama zu Wort:

„Na, weil Chris in dieser Woche nicht mehr in Halle sein wird. Er ist bereits heute Nachmittag wieder unterwegs und Thorsten hat euch die Woche trainingsfrei gegeben. Ihr könnt also mit uns bis Sonntag einen kleinen Ausflug machen.“

Was sollte das denn? Chris hatte uns davon gar nichts gesagt. Das war absolut untypisch. Also entweder wusste er es gestern am Flughafen selbst noch nicht oder auf uns wartete noch eine größere Überraschung, denn wir würden ja Ende der nächsten Woche auch mit meinen Eltern in den Urlaub fahren.

„Thorsten gibt uns trainingsfrei? Was ist das denn für ein komisches Ding?“, fragte Dustin deshalb sofort nach.

„Leute beruhigt euch wieder. Es ist alles bestens. Hier hat sich einiges in eurer Abwesenheit entwickelt. Und Chris hat einen wichtigen Termin ab Donnerstag. Da die Anfahrt etwas weiter ist, sind sie heute bereits aufgebrochen. Daher habt ihr in dieser Woche kein Training. Es ist nämlich keiner mehr in Halle, der mit euch trainieren könnte.“

So langsam wurde diese Sache merkwürdig. Ich versuchte mich an die Wochen vor der USA-Reise zu erinnern. Gab es dort ein Thema, was jetzt wichtig sein könnte? Mir fiel absolut nichts ein. Aber ich kannte meine Eltern und wusste, sie würden es mir jetzt nicht sagen. Daher beschloss ich, in Ruhe meinen Kaffee weiter zu trinken, nahm mir auch noch ein zweites Stück von der leckeren Torte und wartete einfach ab was kommen würde.

Auch Patrick blieb ruhig am Tisch sitzen gleichwohl er bereits fertig war. Er beobachtete uns nur mit einem ständigen Grinsen im Gesicht. Alles komische Dinge, die mir durch den Kopf gingen. Irgendeine Information fehlte mir noch.

Dann sagte meine Mutter noch etwas Erstaunliches:

„Falls ihr vorhabt, gleich das Haus verlassen zu wollen, denkt bitte daran, spätestens um fünf wieder hier zu sein. Dann kommen Stef und Luc und holen uns ab.“

„Häh, wie bitte? Luc und Stef kommen und holen uns ab? Was ist hier eigentlich los? Ich möchte jetzt endlich wissen, was wir verpasst haben.“

Meine Geduld ging zur Neige und irgendwie hatte ich das Gefühl, Dustin und ich waren die einzigen, die keinen Plan hatten.

Mein Vater bemerkte das natürlich und begann zu lachen. So heftig, wie ich es schon ewig nicht mehr erlebt hatte. Es half nichts, es war genauso ansteckend wie früher als ich noch klein war. Also dauerte es nicht mehr lange und alle saßen lachend am Tisch und schauten zu meinem Vater.

„Also gut“, hustete er noch leicht, „ich will euch dann mal aufklären was passieren wird.“

„Ich bitte darum“, maulte ich etwas genervt.

Dennoch lief mir noch eine Lachträne aus dem Auge.

„Ihr habt wohl schon wieder vergessen, dass am Wochenende das 24h Rennen auf dem Nürburgring stattfinden wird. Da Marc selten seine Ideen wieder verwirft, muss Chris natürlich auch am Donnerstag zur Abnahme an der Strecke sein. Sonst kann er nicht fahren. Damit sich Chris das nicht noch anders überlegen kann, hat Marc ihn einfach heute in Halle abgeholt und ist mit ihm zur Strecke gefahren. Daher ist Chris nicht mehr in Halle.“

„Geil“, flüsterte Dustin und grinste.

„Thorsten war der Meinung, dieses Event sei eine gute Gelegenheit für einen Teamausflug. Daher hat er allen bis Montag trainingsfrei gegeben. Da wir dann aber in den Urlaub starten, braucht ihr vorher nicht mehr zum Training.“

Das wurde ja immer verrückter. Alle aus dem Team waren auch vor Ort.

„Das heißt, Marc macht wirklich ernst mit seiner Ankündigung, dass er mit Luc und Chris in einem Auto fahren will? Ich kann das kaum glauben. Marc weiß aber, dass Chris nicht mehr in bester Kondition ist, oder?“

Meine Mutter übernahm nun das Kommando. Das hieß aber auch, dass im Prinzip schon alles vorgeplant war und wir nicht mehr viel zu entscheiden brauchten.

„Mein Sohn, wie gut kennst du Chris mittlerweile? Er würde sicher freiwillig nicht mehr so eine Aktion machen, weil er sehr auf seine Gesundheit achtet. Aber Sabine würde Marc vierteilen, sollte irgendetwas bei diesem Rennen schiefgehen. Schließlich fährt Luc auch mit. Und Marc ist Perfektionist, genau wie Chris. Wir müssen Chris und auch Marc vertrauen, so wie er das euch auch tut.“

„Ihr wusstet also schon Bescheid?“, fragte Dustin.

„Ja, wir wussten alle Bescheid und es tut mir leid, dass wir euch nichts gesagt haben, aber wir mussten Marc das versprechen. Und dass Luc und Stef uns abholen und wir gemeinsam zur Nordschleife fahren, entschädigt ja auch ein wenig, oder?“

Ich war genauso sprachlos wie aufgeregt. Dustin blieb auch still und schaute mich nur ungläubig und kopfschüttelnd an. Dann klingelte es plötzlich und Patrick ging die Tür öffnen.

Ich hörte mir sehr bekannte Stimmen und stutzte, denn da waren auch noch andere Stimmen dabei. Schon ging die Tür auf und vier Köpfe schauten uns an.

„Hallo, das ist aber eine Überraschung“, sprang Dustin auf und umarmte Luc und Stef sehr lange und intensiv.

„Wolltet ihr nicht erst um fünf hier sein?“, fragte ich.

Als die beiden einen Schritt zur Seite machten, stutzte ich erneut. Das breite Grinsen im Gesicht von Justin und Maxi war eindeutig. Sie freuten sich ebenso wie wir und das hieß, wir würden gemeinsam aufbrechen. Aber schon baute sich in mir der nächste Gedanke als Frage auf. Wie sollten wir alle gemeinsam in ein Auto passen?

Das klärte sich allerdings auch umgehend. Marc hatte sich wieder etwas ausgedacht und von Thorsten zwei VW Busse vom Team bekommen. Damit hatten wir mehr als ausreichend Platz in den beiden Autos. Luc fuhr den einen Bus und Papa den anderen.

Wir durften ja leider noch nicht fahren. Aber für Luc war das jetzt eine zusätzliche Belastung. Er sollte schließlich auch am Rennen teilnehmen. Als wir unterwegs eine Rast machten, fragte Mama Luc:

„Soll ich dich beim Fahren ablösen? Dann kannst du dich etwas ausruhen und entspannen.“

Luc zögerte nicht lange und so kam es, dass meine Eltern beide Busse im Fahrerlager parkten, nachdem unsere Zugangsberechtigungen überprüft worden waren.

Aber was hier abging war unbeschreiblich. So viele Menschen schon Mitten in der Woche vor dem Rennen. Wie ich sehr bald feststellte, lief hier das who is who des Rennsports herum. Stef und Luc kannten sich bereits bestens aus und so kamen wir zügig in die große Box von Chris und Marc. Dort standen sie dann, die beiden SF90 Ferrari in GT3 Konfiguration.

Mit großer Freude wurden wir von der gesamten Steevens Familie empfangen. Allerdings fehlte mir Chris in dem Moment. Wo war der denn jetzt?

Meine Aufregung stieg von Sekunde zu Sekunde.

Ein spannendes und aufregendes Wochenende wartete auf uns.

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