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Auf der Tour

Teil 10

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Inhaltsverzeichnis

Chris: Tim und Carlo

Nach der freien Woche hatte ich wieder die Trainingsleitung übernommen. Tim und Carlo freuten sich, dass ich wieder mehr Zeit für ihr Training hatte. Jan hatte ihnen noch nicht mitgeteilt, dass sie in Zukunft häufiger mit uns auf die Turniere fahren würden. Tim hatte endlich seine Therapie mit einem Jugendpsychologen begonnen und machte bereits Fortschritte. Er hatte begriffen, dass es sich lohnt Hilfe anzunehmen. Seine schulischen Leistungen stabilisierten sich und auch Carlo entwickelte sich spielerisch sehr gut.

Es waren schon wieder drei Wochen vergangen, seit wir aus England zurück waren. Die ersten Planungen für die USA Reise waren abgeschlossen und ich kannte unseren genauen Turnierplan.

Am heutigen Donnerstag war bereits letzter Trainingstag für diese Woche. Das Team hatte sich entschieden ein Fahrertraining für alle Coaches zu machen. Die erste Hälfte würde an diesem Wochenende beginnen und die andere Hälfte nach den Sommerferien.

Dass bedeutete, Marc würde mit Luc und Stef nach Halle kommen. Er hatte diese Idee und war als Instruktor dabei. Ich war sehr gespannt und neugierig, ob ich noch einige Dinge aus meiner Zeit als Rallyepilot beherrschte oder schon eingerostet war.

Ich hatte meine Tasche über der Schulter und wollte gerade die Treppe zum Clubhaus hochgehen, als Carlo und Tim auf dem Rad an mir vorbeirauschten.

Sie sprangen geradezu von ihren Rädern als sie mich sahen und begrüßten mich freudig.

„Hey, Chris. Heute ist so ein geiles Wetter und du kommst mit dem Auto? Oder übst du schon für das Wochenende?“

„Hi Jungs. Nein, ich hatte nur so viele Sachen zu transportieren. Da musste ich das Auto nehmen. Heute ist noch ein richtiges Training angesagt. Also macht euch gut warm, damit ihr euch nicht noch verletzt.“

„Klar, machen wir doch immer. Wir haben begriffen, dass es erstens für uns von Vorteil ist und zweitens, uns eine Menge Ärger erspart. Also gehen wir uns gut aufwärmen.“

Diese kleine Spitze war nicht zu überhören, aber das war in Ordnung. Ich wusste, dass sie das nur bei mir machten. Es war nicht ganz ernst gemeint.

Als ich mit meinem Equipment zum Platz kam, sah ich noch, wie sie beim Seilspringen waren. Das sah auch ernsthaft aus. Also gab es keinen Grund für mich zu meckern. Heute wollte ich Tim ein wenig auf die Probe stellen. Er sollte einen Trainingsgegner bekommen, der für ihn noch zu stark sein würde. Aber ich wollte sehen, wie er mit dieser Situation umging und hatte zuvor Justin gebeten, mich zu unterstützen. Während des Matches wollte ich mit Carlo an seinem Volleyspiel arbeiten. Da hatte er noch Defizite, die deutlich auffielen.

„Sehr schön, wie das aussieht. So möchte ich das haben. Tim darf schon aufhören, weil ich dir deine heutige Trainingsaufgabe erklären möchte.“

Tim stoppte sein Seil und kam zu mir. Er hatte Schweiß auf der Stirn, das war nach dem Aufwärmen noch nicht oft so.

„Was hast du dir für mich ausgedacht? Und warum bekomme ich eine besondere Aufgabe? Habe ich etwas falsch gemacht?“

„Nein Tim, du musst nicht immer gleich denken, dass es etwas Negatives bedeutet, wenn jemand eine spezielle Aufgabe erhält.“

„Okay, sorry. Es sollte ein Spaß sein. Scheint nicht so angekommen sein.“

„Ah, in Ordnung. Dann habe ich das falsch verstanden. Aber gut, dass du es sagst. So, du gehst jetzt gleich auf den Center 2 und wirst dort ein Match spielen. Ich habe dir deinen Trainingsgegner bereits besorgt und möchte vollen Einsatz bei dir sehen. Du sollst strategisch spielen. Wir sprechen im Anschluss darüber. Hier werde ich mit Carlo trainieren.“

„Wie kannst du dann mein Match beobachten? Du kannst schlecht auf zwei Plätzen zugleich sein.“

„Hihi, nein. Das kann ich nicht, aber ich kann erst hier mit Carlo arbeiten, dann bekommt Carlo seinen Trainingspartner und ich kann bei dir schauen. Also geht alles.“

„Ich hätte es eigentlich wissen müssen, dass du dir darüber Gedanken gemacht hast. Wieder nicht nachgedacht. Ich sollte doch häufiger erst meinen Kopf einschalten, bevor ich den Mund aufmache.“

„Passt schon. Ich finde es gut, dass du Kritik mittlerweile besser annehmen kannst. Los, dann beweg dich mal auf den Nebenplatz. Justin wird vermutlich schon warten.“

„Justin? Da hab ich ja gar keine Chancen. Der haut mich doch weg.“

„Nun warte es doch mal ab. Und selbst wenn das so wäre, ist das kein Grund zu resignieren. Es muss jedes Spiel erst gespielt werden.“

„Okee, okee. Ich kann ja auch etwas lernen von ihm. Ich geh dann mal rüber.“

Ich nickte ihm zu und widmete mich dann Carlo. Die Übungen liefen sehr gut und er hing sich in jede Einheit voll rein. Erst nach zwanzig Minuten Vollgas ohne Pause, ließ seine Konzentration etwas nach. Die Fehlerquote stieg und ich stoppte die Übung.

„Okay, Pause.“

Carlo ging zur Bank und ließ den Kopf hängen.

„Hey, nicht so negativ. Du hast gut gearbeitet.“

„Aber ich habe die Übung nicht durchgehalten.“

„Wer sagt das denn? Du weißt doch gar nicht, was das Ziel war. Und wenn ich etwas zu meckern habe, wirst du das schon hören. Momentan habe ich nur auszusetzen, dass du nicht von dir aus eine Pause eingefordert hast, als deine Konzentration nachließ.“

„Das heißt, wenn ich „Stopp“ gesagt hätte und dass ich eine Pause brauche, wäre es besser gewesen?“

„Genau, wir sind doch im Training. Da ist es wichtig, dass du lernst, wo deine Grenzen liegen. Wir werden jetzt immer häufiger an das Limit gehen. Damit wird deine Leistungsfähigkeit steigen. Aber das braucht Zeit und Geduld. Du bist auf einem richtig guten Weg. Mir hat das sehr gut gefallen.“

Es war schon erstaunlich, mit welch einfachen Mitteln wieder ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern war.

„Chris, ist das eigentlich schwierig, immer von uns zu den großen Jungs zu wechseln? Mit Max, Fynn, Dustin und Justin arbeitest du doch sicher schon ganz anders.“

„Nein, da ist der Unterschied gar nicht mehr so groß. Ihr seid körperlich noch nicht so weit entwickelt. Entsprechend ist eure Kraft etwas geringer, aber für das Training ist das nicht mehr relevant. Das wirst du auch gleich selbst merken, denn für dich habe ich Dustin gebeten, früher zu kommen. Du wirst mit Dustin einen Satz spielen. Geh also mutig in das Spiel. Du hast nichts zu verlieren und darfst alles ausprobieren. Nur vorher aufgeben, das ist nicht erwünscht.“

Carlo schaute mich an, zwinkerte mir zu und erwiderte:

„Ich bin nicht so wie Tim. Ich will immer etwas dazu lernen. Auch wenn ich hoch verliere, will ich alles geben und Erfahrungen machen.“

„Klasse, das wollte ich hören. Dann ruhe dich einen Moment aus und wenn Dustin kommt, fangt ihr an. Habt ihr eigentlich heute nach dem Training noch Termine?“

„Ja, wir sollen zu Kolja gehen.“

„Gut, dann kümmere ich mich darum, dass ihr heute erst mit den großen Jungs zusammen kommen werdet. Ich möchte, dass ihr noch eine Einheit mit den großen Jungs macht.“

„Echt jetzt? Das ist cool. Aber sind die damit einverstanden? Immerhin haben wir noch nicht ihr Niveau.“

„Carlo, wenn ich eine Entscheidung treffe, dann darfst du mir vertrauen, dass ich weiß was ich mache. Sollte einer von den Jungs eine dumme Bemerkung machen, werden sie das merken. Aber ich bin ganz sicher, dass das nicht passiert. Sie wissen auch, dass ihr mittlerweile nah dran seid. Ihr habt in meiner Abwesenheit sehr gut gearbeitet.“

„Danke, Chris. Aber es ist schön, dass ihr wieder zurück seid und wir wieder mit dir trainieren können. Das macht einfach mehr Spaß.“

Ich musste ihm insofern zustimmen, dass ich zu oft unterwegs gewesen bin und es jetzt gut war, dass sie die USA Reise mitmachen sollten. Ich war sehr gespannt, wie sich das entwickeln würde.

Auf dem Weg zu Tims Platz traf ich Toto.

„Hi Chris. Na, wie läuft es mit Tim und Carlo? Haben sie sich wieder an dich gewöhnt?“

„Hi, Toto. Ja, und sie haben sich bei dir gut entwickelt. Ihr habt echt gut gearbeitet. Ich freue mich über die Fortschritte. Jetzt bin ich mal sehr gespannt, wie ihre Reaktion sein wird, wenn ich ihnen erkläre, dass sie mit uns über den großen Teich fliegen werden.“

„Ach, das wissen sie noch gar nicht? Na, das wird bestimmt ein großes 'Hurra' geben. Wird dir das nicht langsam zu viel?“

„Ach, das geht schon. Die Großen sind ja inzwischen sehr selbständig. Da muss ich nicht mehr ständig daneben stehen. Sie wissen, was zu tun und vor allem, was zu lassen ist. Außerdem wird uns dort ja Justins Vater auch einen Großteil begleiten. Also bin ich nicht allein vor Ort.“

„Das ist cool. Der hat ja auch ganz viel Ahnung. War lange auf der Tour als Coach unterwegs.“

„Darum glaube ich, dass auch ich davon profitieren kann.“

„Das ist bestimmt so. Sag mal, weißt du, wie das morgen mit dem Fahrertraining laufen wird? Ich weiß nur, dass ich um acht hier sein soll. Mehr hat Thorsten uns nicht verraten. Wir wissen nicht einmal, wer das mit uns machen wird.“

„Hihi, ich weiß auch nur so viel. Gut, ich weiß noch wer das leiten wird. Das darf ich aber noch nicht verraten. Sonst würdest du nur nervös werden. Es wird aber mit Sicherheit ein spannendes Wochenende.“

„Okay, dann lassen wir uns mal überraschen. Mit welchen Autos sollen wir das machen? Doch nicht mit unseren privaten Fahrzeugen, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Mit den Teamfahrzeugen. Damit sind wir ja auch immer unterwegs. Sonst macht das doch keinen Sinn. So, jetzt muss ich aber rüber zu Tim. Ich will noch einiges von seinem Spiel sehen. Wir sehen uns dann morgen früh zum Frühstück im Sportparkhotel.“

„Alles klar, bis morgen.“

Jetzt stand ich oben zwischen den Plätzen auf der Tribüne und konnte auf den Platz von Tim herunterschauen. Er hatte mich noch nicht bemerkt, aber beim nächsten Seitenwechsel schaute er hoch und winkte mir fröhlich zu. Das war doch ein gutes Zeichen. So etwas war vor unserer Englandreise eine Seltenheit.

Was ich auf dem Platz zu sehen bekam, gab mir ein gutes Gefühl. Justin ließ ihm keine Chance, aber er schlachtete ihn auch nicht ab. Er zeigte sehr deutlich, dass Tim ihn nicht gefährden konnte, aber ließ ihn mitspielen. Tim resignierte auch überhaupt nicht und das war für mich das Wichtige was ich sehen wollte. An dieser Stelle hatte er einen tollen Schritt vorwärts gemacht.

Ich schaute mir den Satz zu Ende an und ging nach unten an die Bank.

„Kommt ihr beide bitte einmal zu mir. Ich möchte kurz mit euch etwas besprechen.“

Sie standen von der Bank auf und kamen mit ihrer Trinkflasche zu mir.

„Das sah sehr ordentlich aus. Vielen Dank an dich, Justin. Du hast meine Vorgaben sehr gut umgesetzt und Tim hat im Rahmen seiner Möglichkeiten ein sehr gutes Spiel gezeigt. Vor allem hast du nicht wie früher gleich aufgegeben, sondern immer weiter alles gegeben. Sehr gut. Jetzt habe ich für Tim noch eine Mitteilung. Du gehst jetzt nicht mit Carlo zur Physio, sondern rüber auf den anderen Platz, machst eine kleine Pause und dann eine Trainingseinheit noch mit den großen Jungs. Erst danach geht ihr gemeinsam zu Kolja.“

„Puh, ich weiß nicht, ob ich das noch schaffe. Das war schon sehr anstrengend gerade, aber ich werde es versuchen.“

„Sehr gut, genau das wollte ich hören. Wenn es wirklich nicht mehr geht, hörst du auf. Aber da geht noch was, das weiß ich. Zeigt den Großen, dass ihr nicht mehr so weit weg seid.“

Ein Lächeln auf Tims Gesicht sprach mehr als jedes Wort. Es gab mir ein gutes Gefühl, wie sich Tim momentan entwickelte. Ich wollte vor der USA Reise auf jeden Fall noch ein Einzelgespräch mit ihm führen.

Jetzt stand aber noch eine Trainingseinheit mit allen USA Jungs an.

Neunzig Minuten später hatte ich alle zusammengeholt und wollte das Training mit einer Besprechung beenden.

„So, Leute. Heute bin ich mit euren Leistungen sehr zufrieden. Insbesondere für Carlo und Tim war es bestimmt anstrengender als sonst, aber da werdet ihr euch dran gewöhnen müssen. Es gibt jetzt eine kleine Planänderung für Tim und Carlo. Ihr habt euch ja darüber beschwert, dass ich in letzter Zeit zu wenig Zeit für euer Training hatte. Das muss ich leider zugeben. Ich war viel unterwegs. Also werden wir das in Zukunft anders machen.“

„Aber du bist doch schon Ende der kommenden Woche wieder für mindestens drei Wochen weg. Ihr fliegt doch auf die US-Tour.“

„Richtig, aber das heißt ja nicht, dass ihr nicht von mir trainiert werden könnt.“

Ich wollte mir jetzt einen kleinen Spaß erlauben und sie ein wenig auf die Folter spannen. Und natürlich waren jetzt sofort die Großen am Meckern. Fynn regte sich gleich auf.

„Was? Heißt das jetzt, du fährst nicht mit uns mit? Es wird uns jemand anderes betreuen? Das finde ich aber total mies.“

Es entstand eine gewisse Unruhe, aber ich blieb ruhig und ließ sie sich ein wenig austoben. Bis Justin irgendwann sagte:

„Hey, merkt ihr gar nicht, dass uns Chris gerade mal so richtig auf den Arm nimmt. Schaut euch doch mal sein Gesicht an. Er kann doch sein Grinsen kaum noch verbergen.“

Schlagartig wurde es still und alle schauten mich an.

„Das ist nett von euch, dass ich jetzt weiterreden kann. Fynn, deine Schlussfolgerung ist falsch. Ich kann sehr wohl Tim und Carlo trainieren und gleichzeitig mit euch auf der USA Reise sein. Tim und Carlo werden nämlich mit uns mit fliegen. Sie werden dort Erfahrungen sammeln können und von mir betreut werden. Justins Vater wird uns dort ja auch begleiten und unterstützen. Also sollte das kein so großes Problem für mich werden.“

Damit hatte ich die Überraschung aus dem Sack gelassen und entsprechend groß war der Jubel bei Carlo und Tim. Auch bei den Großen gab es echte Freude für die beiden. Somit beendete ich diese Trainingswoche und entließ sie zur Physio.

Am Abend hatte ich noch die Aufgabe, Marc vom Flughafen in Paderborn abzuholen. Wie ich fast erwartet hatte, waren Luc und Stef auch mitgekommen. Sie wollten das Wochenende nutzen und Fynn und Dustin besuchen. Mir war allerdings auch klar, dass sie mit Sicherheit nicht nur in Halle bleiben wollten. Vermutlich würden sie auch am Bilster Berg auftauchen und dort zuschauen. Aber das war auch in Ordnung. Für Marc hatten wir bereits ein Zimmer im Sportparkhotel gebucht. Jetzt brauchten wir natürlich noch ein Doppelzimmer mehr, aber das war kein großes Problem. Marc hatte mich noch gebeten für Luc ein Auto zu organisieren. Das klärte ich mit Thorsten. Er bekam eines von unseren Teamfahrzeugen.

Marc und ich waren am Abend gemeinsam essen, während sich die Jungs mit Dustin und Fynn trafen. Justin nahmen sie auch mit ins Kino während Maxi bei seinen Eltern war. Er würde sie schließlich erneut einige Zeit nicht sehen können.

Marc schien mir sein Vorhaben nicht vollständig erklärt zu haben. Mein Gefühl sagte mir jedenfalls, dass er sich für das Wochenende noch einige Überraschungen auf der Piste ausgedacht hatte.

Entsprechend aufgeregt fuhr ich am frühen Morgen auf den Parkplatz an der Tennis-Base. Ich hatte meinen Dienstwagen dabei, da wir damit ja üben sollten. Der Bilster Berg war eine relativ neue Rennstrecke in der Nähe. Wir hatten etwa neunzig Minuten Anfahrt zur Strecke. Für das Wochenende war die gesamte Strecke für uns reserviert. Somit konnten wir uns frei entfalten, ohne von anderen gestört zu werden.

Als ich den Clubraum zum Frühstück betrat, waren schon einige der Coaches und Betreuer anwesend. Thorsten fehlte noch. Er wollte die Begrüßung und eine Einleitung machen, bevor Marc das Zepter in die Hand nahm.

Ich setzte mich mit an den Tisch von Toto und Burghard. Sie waren bereits in angeregten Gesprächen vertieft und hatten sich bereits mit Kaffee und Brötchen eingedeckt.

„Moin zusammen. Schon am frühen Morgen in Fachgesprächen?“

„Hallo Chris.“, antwortete Toto, „ Was machen deine Jungs? Alle fit für den großen Sprung in die USA?“

„Momentan werden sie vermutlich noch im Bett liegen. Aber fit sind alle, bis heute jedenfalls und hoffen wir mal, dass das auch so bleibt.“

„Vielleicht bist du ja nach dem Wochenende reif für die Physio. Schließlich bist du ja nicht mehr ganz so fit im Rücken. Wer weiß, was wir so für Stunts machen müssen.“

„Also Stunts wohl gar keine. Wir sollen lernen, wie man Gefahrensituationen besser vermeidet und entschärft. Das soll ja kein Renntraining werden.“

Toto schien enttäuscht zu sein. Er hatte wohl gedacht, es würde ein lustiges Wochenende auf der Rennstrecke werden.

Wir saßen gemeinsam am Tisch und redeten über die unterschiedlichen Teamfahrzeuge. Es sollten auch die großen Team Busse mitgenommen werden. Da war ich selbst sehr neugierig, wie schwierig das wohl sein würde, mit einem T6 VW Bus einen Elchtest zu machen. Hoffentlich würde nicht einer umkippen.

Plötzlich betrat Thorsten mit Marc den Raum und die Kollegen staunten, als sie erkannten, wen Thorsten dabei hatte.

„Oha“, sagte Toto, „da bekommen wir wohl richtig gezeigt, wie schlecht wir Autofahren.“

„Ich finde das gut. Schließlich möchte ich ja gezeigt bekommen, was ich falsch mache und entsprechend verbessern kann.“, erwiderte Kolja.

„Genau das soll das Ziel werden. Jeder kann etwas dazulernen und sich verbessern durch Vermeidung von Gefahrensituationen.“

Thorsten hob kurz die Hand, weil er etwas sagen wollte. Es wurde still.

„Guten Morgen zusammen. Ich begrüße euch zu unserem ersten Fahrertraining und möchte euch für dieses Wochenende unseren Lehrmeister vorstellen.“

Er zeigte auf Marc neben sich und Marc nickte mit einem Lächeln.

„Vorstellen muss ich euch Marc wohl nicht mehr. Ich möchte euch nur um eine Sache bitten. Egal was an diesem Wochenende auf uns an Aufgaben wartet, macht bitte genau das, was Marc sagt. Es soll sich keiner verletzen. Marc, möchtest du jetzt noch etwas sagen?“

„Nein, lasst uns in Ruhe frühstücken und alles Weitere erkläre ich später direkt an der Strecke.“

Marc kam zu uns an den Tisch und setzte sich zu mir.

„Hi, Chris. Wie geht es dir und deinen Jungs? Seid ihr schon aufgeregt wegen der USA Reise?“

„Moin, Marc. Wir sind gut im Soll. Ich nehme dieses Mal auch Tim und Carlo mit. Justin freut sich tierisch auf seine Eltern und dann schauen wir mal. Ich nehme an, dass es Dustin und Fynn heute besonders gut gehen wird. Ihre Freude war riesig, als sie hörten, dass Luc und Stef auch hier sind.“

„Haha, ja. Das kann ich mir vorstellen. Stef wollte erst nicht mit, weil er am Montag noch einen wichtigen Termin hat, aber den konnten wir verschieben.“

„Sehr schön. Gerade für Dustin sind diese Treffen immer noch ganz, ganz wichtig. Und ich freue mich auch, weil ich dich mal erlebe, ohne dass wir ein Problem zu lösen haben.“

„Gutes Stichwort. Wie geht es dir mit den Erlebnissen aus Brighton und Kitzbühel? Hast du das gut verarbeitet?“

„Danke, ich denke schon. Manchmal kommen nachts besonders die Bilder aus Kitzbühel wieder hoch, aber damit kann ich ganz gut leben. Das ist wie mit meinem eigenen Unfall, je länger es her ist, desto seltener kommen diese Bilder.“

„Gut, dann hoffe ich mal, dass wir viel Spaß am Wochenende haben werden. Ich glaube, dass du deine Erfahrungen gut nutzen kannst. Warten wir mal ab. Das klappt schon.“

Es war schön, Marc neben sich zu haben ohne Stress oder eine kritische Situation. Vielleicht sollte ich meinen nächsten Urlaub mal in diese Richtung planen.

Zwei Stunden später standen alle Autos aufgereiht im Fahrerlager der Rennstrecke. Marc hatte als Fahrzeug den Wiesmann von Jan bekommen. Damit sollte sportliches Fahren wohl möglich sein.

Insgesamt waren zehn Fahrzeuge dabei. Darunter ein VW Bus vom Typ T6, alle anderen Fahrzeuge waren BMWs der 3er Serie. Ich hatte einen Diesel mit 170 PS und der war mir für den Alltag ausreichend motorisiert.

Marc holte zuerst alle Fahrer im Schulungsraum zusammen. Dort erklärte er uns den Ablauf. Am Vormittag war Theorie und die Strecke kennenlernen angesagt. Erst nach dem Mittagessen sollte es an die Fahrübungen gehen.

Ich hatte mir einen Block zum Notizenmachen mitgebracht. Die anderen schienen das nicht so akribisch machen zu wollen und spielten auch hin und wieder mit ihren Handys. Irgendwie fühlte ich mich an meine Zeit der Rallyemeisterschaften erinnert.

Theoretisch wusste ich nun den Streckenverlauf und welche Übungen uns heute erwarten würden. Es fing recht simpel an und die Königsdisziplin kam zum Ende des ersten Tages. Die Schleuderplatte. Ich war sehr gespannt, ob es einem von uns gelang, diese Übung zu bewältigen.

Während der Mittagspause saß ich mit Thorsten und Marc in der Sonne am Rande der Boxengasse.

„Du hast viel mitgeschrieben. Im Gegensatz zu den meisten anderen scheinst du das sehr ernst zu nehmen.“, fragte mich Marc.

Thorsten schien das nicht zu gefallen, denn ihm war dieses Wochenende sehr ernst und er hatte auch an die Mannschaft entsprechende Erwartungen.

„Was die anderen machen, kann ich nicht beeinflussen. Aber es stimmt, ich möchte möglichst viel aus dieser Veranstaltung mitnehmen. Schließlich geht es um unsere eigene Sicherheit und um die der uns anvertrauten Jugendlichen.“

„Sehr gut, Chris. Es hätte mich auch gewundert, wenn das bei dir anders wäre. Ich werde mir immer sicherer, dass du besser abschneiden wirst, als die meisten anderen hier. Ich habe Thorsten schon gesagt, dass er bei seinen Mitarbeitern mal etwas mehr Disziplin einfordern könnte.“

Thorsten seufzte, aber erwiderte:

„Das werde ich nicht tun. Ich finde es viel besser, wenn unsere 'Experten' auf der Strecke scheitern und von dir richtig die Leviten gelesen bekommen. Das wirkt besser als jedes mahnende Wort von mir. Bei Chris war ich mir vorher schon sicher, dass er das ernsthaft angeht. Er weiß ja schließlich worauf es ankommt. Er hat früher Motorsport gemacht, da wird noch einiges hängen geblieben sein.“

„Hihi, da bin ich auch schon sehr gespannt, was Chris noch kann. Schauen wir doch mal. Ich bin dafür, dass wir jetzt die Pause beenden und auf die Übungsstrecke gehen. Thorsten, holst du die Truppe zusammen und wir treffen uns auf der Kreisbahn mit den Autos.“

Thorsten machte sich auf den Weg, während ich mit Marc bereits in Richtung Autos ging.

„Ich habe echt überhaupt keine Ahnung, ob ich noch irgendetwas von damals kann. Also erwarte nicht zu viel von mir.“

„Haha, mach dir keinen Kopf und versuche es so gut wie du kannst. Deine Kollegen wissen ja gar nicht, dass du eine Motorsportvergangenheit hast. Außerdem geht es um Fahrzeugbeherrschung und Fahrgefühl. Ich habe ein gutes Gefühl bei dir. Du hast dich gut vorbereitet und bist offen an die Sache herangegangen. Deine Kollegen unterschätzen das hier ganz gewaltig. Sie werden gleich merken, wie es ist, die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren. Ob sie dann immer noch so cool sind, werden wir sehen. Lass mich mal machen.“

Sein Grinsen kannte ich bereits und wusste jetzt, dass es für meine Kollegen, die das nicht ernst nahmen, heftig werden würde. Wenn es um die Sicherheit ging, verstand Marc keinen Spaß.

Marc stieg in den Wiesmann und bat mich, ihm zu folgen. Wir waren die ersten an der Kreisbahn. Marc stellte seinen Wagen mitten in den Kreis und bat mich außerhalb zu parken.

Wir stellten uns in die Mitte des großen Kreises dessen Asphalt durch eine Berieselungsanlage bewässert wurde. Mir war klar, dass es jetzt um das Erfahren des Grenzbereiches ging. Was würde das Auto machen, wenn die Fliehkräfte größer als die Haftung würden.

Als die anderen auch bei uns standen, erklärte uns Marc die Aufgabe. Zuerst sollte sich jeder in sein Auto setzen und dann wollte Marc die Sitzposition checken. Die meisten saßen zu weit vom Lenkrad entfernt mit viel zu flach gestellter Lehne.

Ein klassischer Fehler der Möchtegernrennfahrer. Wenn ich schnell am Lenkrad drehen will, muss ich passend sitzen, sonst fährt das Auto mit mir und nicht umgekehrt.

Dann ging es los. Marc erklärte, dass immer nur zwei Fahrzeuge gleichzeitig im Kreis fahren und das mit konstanter Geschwindigkeit. Marc gab über Funk Anweisungen und ließ die Geschwindigkeit peu à peu erhöhen, so lange, bis die Fliehkräfte die Haftung der Reifen nahezu ausglich. Dann begann das Auto instabil zu werden und nur ganz wenigen gelang es, ohne Probleme das Auto einzufangen.

Komischerweise war ich in der letzten Gruppe an der Reihe. Als der Moment kam, in dem das Heck nach außen drängte, war ich vorbereitet und fing das Auto mit einem schnellen Gegenlenkimpuls wieder ein. Marc meldete sich über Funk:

„Sehr gute Reaktion, Chris. Bitte jetzt langsam zum Treffpunkt fahren. Dort machen wir weiter.“

Ich rollte neben die anderen geparkten Autos und stieg aus. Thorsten kam zu mir und flüsterte:

„Du hast noch nicht viel verlernt. Respekt. So lässig hat das kaum einer von uns geschafft.“

Ich zuckte mit den Schultern und hörte schon den Worten von Marc zu.

„Leute, wenn ihr zu schnell seid, hilft nicht mehr viel. Ihr müsst lernen, wann wird das Auto instabil und vor dem Ausbrechen reagieren. Wenn das Auto bereits außer Kontrolle ist, wird es nahezu unmöglich, sicher zum Stehen zu kommen. Also diesen Durchgang noch einmal für alle. Lediglich Chris und Burghard können schon einmal zum Elchtest fahren und euch das anschauen. Die anderen kommen gleich dorthin, wenn sie hier fertig sind.“

Ich stieg in meinen Wagen und rollte zur nächsten Aufgabe. Dort warteten zwei Instruktoren der Strecke auf uns. Sie hatten die klassische Ausweichgasse aufgebaut und somit konnten wir bereits ein paar Probedurchläufe machen. Bis zum Tempo von siebzig Stundenkilometern war das recht einfach und entspannt. Dann brachen die Instruktoren unsere Läufe ab und baten uns, auf die anderen zu warten. Burghard und ich standen neben seinem BMW und er fragte mich:

„Bei dir sieht das unglaublich locker aus. Hast du schon Erfahrungen mit so einem Training?“

„Ja, schon. Allerdings ist das in dieser Form schon lange her. Ich mache das aber alle zwei Jahre mit dem Motorrad.“

„Oha, ist das nicht sehr gefährlich?“

„Nein, gar nicht. Du musst dich nur an die Anweisungen halten. Dann lernst du viel dazu.“

Mittlerweile waren die beiden Instruktoren wieder bei uns und einer forderte uns auf, wieder ins Auto zu steigen, da es hier gleich weitergehen würde.

Über Funk hörte ich Marcs Stimme. Er gab uns die Anweisungen, den anderen Teilnehmern den Ablauf einmal vorzuführen. Also fuhr ich mit fünfzig Kilometern pro Stunde in den abgesteckten Bereich und wich, ohne zu bremsen, aus. Das Auto machte eine schnelle Bewegung nach links und dann nach rechts. Anschließend musste ich das Fahrzeug noch vor Ende des Parcours zum Stehen bringen. Bei dieser Geschwindigkeit war das eigentlich einfach.

Marc gab die Anweisung, ich sollte mein Auto an der Seite parken und auf weitere Funksprüche warten. Ich stellte mein Auto so hin, dass ich das Geschehen gut beobachten konnte, ohne auszusteigen. Teilweise flogen schon bei 60km/h einzelne Pylonen durch die Gegend. Auch kam es vor, dass ein Fahrzeug die Gasse komplett verließ, weil der Fahrer zu zaghaft lenkte. Es zeigte mir, wie dringend dieses Training nötig war. Auch Thorsten hatte bei 70 km/h seine Schwierigkeiten und räumte gleich drei Hütchen weg. Plötzlich knackte es in meinem Funkgerät und Marc sprach:

„Chris, du fährst jetzt bitte mit siebzig einmal auf die Gasse zu und fährst den Ausweichtest. Bitte erst bremsen wenn du wieder geradeaus in der Gasse bist.“

Ich startete den Motor und konzentrierte mich. Dann steuerte ich die Gasse an und lenkte beherzt in die eine Richtung und dann in die andere Richtung. Das Auto rutschte ganz leicht seitlich weg, aber das ESP regelte und somit blieb das Fahrzeug unter Kontrolle. Dennoch herrschten schon erhebliche Fliehkräfte.

Ich wollte mich bereits wieder anstellen, als Marc sich meldete:

„Sehr gut gemacht. Du kannst du schon auf die Schleuderplatte fahren und dich etwas einschießen. Die anderen werden hier noch etwas mehr Zeit brauchen.“

Ich bestätigte seine Anweisung und fuhr zur Schleuderplatte. Dort wurde ich bereits von den beiden Instruktoren erwartet. Marc war jetzt bei der Ausweichübung und somit konnten die beiden mich auf der Schleuderplatte einweisen.

Damit die Reifen nicht zu sehr abnutzten, war alles bewässert und entsprechend rutschig.

Es tat mir gut, einmal aus dem Fahrzeug zu steigen und mit den Instruktoren die Abläufe zu besprechen. Alles in allem fühlte ich langsam die Konzentration schwinden. Deshalb war die frische Luft sehr angenehm.

Die ersten Versuche waren kläglich gescheitert das Auto abzufangen. Ich war einfach zu langsam in meinen Reaktionen. Und das bei gerade einmal fünfzig Kilometern. Aber nach zehn Versuchen hatte ich den Punkt gefunden und dann lief es wie von selbst. Als die anderen kamen, hatte ich bestimmt schon zwanzig Versuche gemacht und das Tempo auf sechzig gesteigert.

Jetzt sollte ich einmal vorführen wie es aussehen sollte. Ich fuhr auf die Schleuderplatte und das Heck drehte sich nach links weg. Mit einem schnellen Lenkimpuls und dem Auskuppeln fing ich das Auto ein und kam sicher zum Stehen.

Das Schauspiel der anderen konnte ich mir in Ruhe ansehen und mich etwas amüsieren. Gerade unsere jungen Heißsporne scheiterten heftig. Immer wieder drehten sie sich und hatten keine Kontrolle mehr über das Fahrzeug. Es war bei einigen auch wirklich kein Fortschritt erkennbar. Sie machten einfach immer wieder den gleichen Fehler und bald waren nur noch drei Leute übrig geblieben, die es noch versuchten. Marc blieb hart und forderte sie auf weiterzumachen.

Es war sinnlos. Sie schafften es einfach nicht. Also unterbrach Marc die Übung und holte uns zusammen.

„Leute, ihr müsst einfach entspannt sein. Je mehr ihr das erzwingen wollt, desto schwerer wird das. Ich zeige es einmal, dann wird es vielleicht einfacher. Jeder darf einmal mit mir mitfahren. Danach versuchen wir es noch einmal zum Abschluss für heute.“

Eine halbe Stunde später war ich an der Reihe bei Marc einzusteigen. Er grinste mich an und er gab direkt Gas und fuhr sehr zügig auf die Schleuderplatte zu. Mit guten neunzig Stundenkilometern und als ob es nichts wäre, fing er den Wiesmann wieder ein. Ganz locker. Das war beeindruckend wie gut Marc tatsächlich war.

Um das für den Laien noch einmal zu erklären. Diese Platte war in den Asphalt eingelassen und wurde über einen Sensor ausgelöst. Der Fahrer wusste also nicht, ob sie nach rechts oder nach links auslöste. Entsprechend schnell musste der Pilot reagieren.

Als wir wieder bei den anderen ankamen und ich ausstieg, staunten meine Kollegen ganz gut.

„Sag mal, wie schnell ist er gefahren. Das war doch deutlich schneller als bei uns.“, fragte mich Toto.

„Gute neunzig.“, gab ich knapp zur Antwort.

„Puh, ich fürchte, damit würden wir uns gewaltig den Hals brechen. Wir sind wohl einfach zu schlecht dafür. Wie schnell warst du bei deinen Versuchen?“

„Sechzig, aber ich hatte auch mehr Versuche als ihr. Ich war ja früher an der Platte.“

„Du schaffst das mit sechzig? Wir scheitern bei vierzig. Das ist bitter. Wie machst du das?“

„Er hat das nötige Gefühl für das Auto. Chris fährt viel weicher als ihr. Chris, mach ihnen das noch einmal vor.“

Marc hatte sich zu uns gestellt und mir war das jetzt etwas unangenehm. Hoffentlich würde es jetzt nicht schiefgehen.

Ich stellte mich auf die Position und wusste, dass mir jetzt alle zuschauten. Ein wenig nervös war ich jetzt doch. Ich legte den ersten Gang ein und fuhr los. Der erste Versuch klappte bei fünfzig Kilometern pro Stunde. Ich ballte im Auto die Faust und freute mich. Das Knacken im Funk ließ mich aufhorchen.

„Sehr gut, Chris. Jetzt steigerst du bitte bei jedem Versuch die Geschwindigkeit bis es zu schwer wird. Und denk dran, wenn das Auto sich dreht, voll auf die Bremse und nicht mehr versuchen, es einzufangen. Ich möchte nicht, dass du dich überschlägst.“

„Ok, ich geb mir Mühe.“, bestätigte ich seine Anweisungen und legte erneut den ersten Gang ein und fuhr los.

Ich wurde immer sicherer und fing das Auto ab. Sogar bei siebzig km/h konnte ich einen Dreher vermeiden. Jetzt hatte mich wieder der Ehrgeiz gepackt und ich fuhr mit achtzig km/h auf die Platte zu. Es gab einen Ruck und dann war es zu schnell. Das Auto brach komplett nach links aus und trotz Gegenlenken und auskuppeln konnte ich meinen Kombi nicht mehr einfangen. Nach zwei Drehungen und einer Vollbremsung stand ich rückwärts zur Fahrtrichtung. Ich benötigte ein oder zwei Sekunden zum Orientieren, dann legte ich den ersten Gang ein und fuhr langsam zu den anderen zurück.

Marc grinste mich an und kopfschüttelnd sagte er:

„Also du willst dein Auto nicht komplett beherrschen? Bei dieser Geschwindigkeit scheitert sogar manch Profifahrer. Großen Respekt. Mit dir kann man was anfangen. Hihi.“

Mir war richtig warm geworden, trotz Klimaanlage im Auto.

Jetzt machten auch die anderen deutliche Fortschritte und nur noch wenige Kollegen kreiselten von der Strecke. Nach einigen weiteren Durchgängen holte uns Marc zusammen.

„So, Leute. Genug gefahren für heute. Jetzt gehen wir zur Nachbesprechung in den Schulungsraum und dann ist für heute Feierabend. Morgen geht es dann ans Fahren auf der Piste.“

Als ich wieder zu Hause war, spürte ich, wie anstrengend dieser Tag war. Ich war erschöpft und froh, früh ins Bett steigen zu können. Der nächste Tag würde mit Sicherheit nicht weniger anstrengend werden.

Luc: Ein schöner Abend mit Freunden

Chris war mit seinen Kollegen zum Fahrertraining und Papa hatte mir eins von den Teamfahrzeugen besorgt, das wir nutzen durften. Also hatten wir uns überlegt, heute Abend mal die örtliche Partyszene zu besuchen. Fynn und Dustin hatten in Bielefeld einen Pub ausgemacht, der in der schwulen Szene Legendenstatus hatte. Er hieß 'Muttis Bierstube', ein komischer Name für ein schwules Lokal.

Klasse war, dass uns Justin begleiten wollte. Maxi war zu seinen Eltern gefahren. Er hatte nicht so oft Gelegenheit, sie zu besuchen.

Tagsüber mussten unsere Freunde allerdings ein normales Training absolvieren, auch ohne Chris wurde intensiv gearbeitet.

Stef und ich waren den ganzen Tag auf der Anlage und durften auch selbst etwas spielen. Diese Bewegung tat mir gut. Fynn und Dustin hatten sich überlegt, am Nachmittag nicht in den Kraftraum zu gehen, sondern sich mit uns an der Kletterwand zu versuchen.

Obwohl ich immer der Meinung war, eine gute Fitness zu haben, taten mir jetzt nach dem Abendessen die Arme weh. Klettern war anstrengender als ich gedacht hatte. Fynn und Dustin hatten heute schon viel trainiert und kannten die Wand auch gut, dennoch waren sie noch immer deutlich lockerer als ich.

Wir saßen bei unseren Freunden in der WG und Martina hatte auch für uns gekocht. Es schmeckte vorzüglich, dennoch tat mir jede Bewegung mit meinen Armen weh. Das kannte ich so überhaupt nicht.

„Hey, was hast du Luc? Du bewegst dich wie ein alter Mann.“, frotzelte Justin.

„So fühle ich mich auch gerade. Irgendwie bin ich nicht so fit wie ihr. Das Klettern macht zwar tierisch viel Spaß, aber meine Arme und Schultern tun jetzt weh.“

Stef wollte mir etwas Gutes tun und stellte sich hinter mich und begann, mir die Schultern leicht zu massieren.

„Ahh, das tut gut, weitermachen bitte.“

„Hihi, das hört sich aber etwas unanständig an.“

Ups, Justin grinste, als Martina das gesagt hatte. Ich wurde rot und auch Stef zuckte für eine Sekunde, aber dann konterte er:

„Das täuscht. Wenn du magst, mach ich das bei dir auch mal.“

Martina lachte und erwiderte:

„Bitte, sehr gern. Ich hoffe, du hast genügend Ausdauer, denn ich lasse mich gern etwas verwöhnen.“

Alle lachten laut und es herrschte eine tolle Stimmung. Auch Tim und Carlo saßen bei uns, denn sie hatten ihr erstes offizielles Training mit den Großen gemacht. Chris hatte ihnen heute mitgeteilt, dass sie mit in die Staaten fliegen würden. Entsprechend gut war die Laune bei den beiden. Tim hatte jedoch auch mitbekommen, dass wir gleich in Richtung Bielefeld aufbrechen wollten.

„Was wollt ihr eigentlich in Bielefeld machen?“

Ich schaute Stef an und sein Blick ging zu Fynn. Keiner wollte genau darauf antworten, als Justin plötzlich trocken antwortete:

„Wir fahren in einen Szene-Club. Der hat im Internet Legendenstatus. Er heißt 'Muttis Bierbar'.“

Damit gaben sich Carlo und Tim glücklicherweise zufrieden. Sonst hätten wir mit Sicherheit noch einige Erklärungen abgeben müssen. Justin hatte zumindest mit unseren Plänen keine Probleme, sonst hätte er nicht so deutlich gesagt, was wir vorhatten. Lediglich Martina schaute ihn komisch an. Als Tim und Carlo nach oben gegangen waren, fragte sie:

„Sag mal, Justin. Bist du dir sicher, dass du dahin mitgehen willst? Das ist eine schwule Szene Bar.“

„Jap, ich habe damit keine Probleme. Auch wenn es schön wäre, nicht wieder von einem Jungen angegraben zu werden.“

Jetzt begann Martina laut zu lachen.

Fynn erzählte uns die Geschichte aus Brighton und wir mussten erneut darüber lachen.

„Okay, aber du hast es ja gut verkraftet. Außerdem ist es doch auch ein Kompliment, wenn man angeflirtet wird. Auch wenn du es vielleicht lieber von einem netten Mädchen gehabt hättest.“

Justin zuckte zwar mit den Schultern, wurde aber dennoch leicht rot. Umso neugieriger war ich, mit den dreien loszuziehen.

Eine Stunde später hatte ich den Wagen in einem Parkhaus abgestellt und wir machten uns zu fünft auf den Weg in dieses Lokal. Unterwegs hatte uns Fynn einiges darüber erzählt. Je mehr er erzählte, desto gespannter wurde ich. Das Lokal hatte einen Legendenstatus in der schwulen Szene. Und wir waren hier immerhin nicht in einem Ballungsraum oder einer Großstadt.

Als wir vor der Tür standen, wurden wir doch etwas nervös. Was würde uns erwarten? Justin ließ uns aber gar nicht lange überlegen, er ging voran und öffnete uns die Tür.

„Los, rein mit euch. Ich will hier keine Wurzeln schlagen.“

Also Schluss mit dem Zögern und einfach hinein. Stef und ich betraten als erste den Raum.

Das sah niedlich und urgemütlich aus. Ein ganz normaler Kneipenraum, allerdings mit vielen Fotos an den Wänden von bekannten Größen der schwulen Szene. Einige Tische waren bereits besetzt, aber rechts von der Tür war noch ein großer Tisch frei. Dort setzten wir uns hin. Im Hintergrund spielte Musik. War das jetzt dieses berühmte Szenelokal? Auf Bildern konnte man schließlich einen großen Tanzsaal mit Lichteffekten sehen. Das sah hier nun aber gar nicht danach aus.

Wir bekamen Getränkekarten und der nette Junge, der an unseren Tisch kam für die Bestellung fragte:

„Hi, was darf ich euch bringen? Ihr seid neu hier, oder?“

„Zwei Wodka-Lemon, eine Cola, und zwei Cuba-Libre bitte. Und ja, wir sind das erste Mal hier.“, antwortete Fynn.

„Sehr schön. Das bringe ich euch sofort. Und wenn ihr die Disko sucht, dann müsst ihr durch den Gang dort drüben in den Keller gehen.“

Aha, das war also das kleine Geheimnis. Hier oben konnte man in Ruhe etwas trinken und sogar Kleinigkeiten essen. Aber die Party ging im Keller ab. Wie wir erfuhren war allerdings nur Freitag und Samstag Disko. Also waren wir genau richtig gekommen. Für den echten Partybetrieb war es vermutlich noch zu früh. Also blieben wir an unserem Tisch sitzen und tranken noch den ein oder anderen Cocktail. Wobei ich bei Cola blieb, da ich ja der Fahrer war.

Erstaunt war ich allerdings über unsere drei Freunde. Sie legten eine ordentliche Schlagzahl an Cocktails vor. Als wir gegen Mitternacht dann in den Keller wechselten, hatten wir vier Runden getrunken und bei Stef merkte ich eine deutliche Wirkung des Alkohols.

Auch bei Fynn, Dustin und Justin stieg die Stimmung deutlich. Hoffentlich würde das kein böses Ende nehmen. Aber meine Sorge war unbegründet, denn unten im Keller stiegen alle wieder auf alkoholfreie Getränke um.

Die Musik war grandios. Der DJ hatte es wirklich drauf und ich war viel mit Stef auf der Tanzfläche. Lediglich Justin traute sich nicht so recht. Okay, er war auch ohne Partnerin hier. Überhaupt war das Publikum sehr gemischt. Eine tolle, freundliche Atmosphäre herrschte den ganzen Abend.

Ich brauchte mal frische Luft und gab Stef ein Zeichen, dass ich nach oben vor die Tür gehen würde. Innerhalb weniger Minuten waren wir wieder alle im Freien versammelt. Fynn strahlte über das ganze Gesicht, als er sagte:

„Wow, das ist echt ein geiler Schuppen. Hier fahren wir wieder her, wenn ich mal den Führerschein habe. Sonst kommen wir ja nicht hier hin.“

„Stimmt, ihr dürft ja noch nicht fahren. Aber meint ihr nicht, dass euch Chris mal herbringen würde und ihr nehmt euch ein Taxi zurück? Durch drei oder vier geteilt wird das ja nicht so teuer werden.“

„Weißt du“, erwiderte Dustin, „Chris würde das vermutlich sogar machen und uns hier herbringen, aber ich weiß nicht, ob wir ihn das wirklich fragen sollten. Er macht schon so viel für uns in seiner Freizeit, da fänd ich das jetzt etwas unverschämt.“

„Außerdem ist es ja nicht mehr so lang, bis ich achtzehn werde. Das halten wir noch so lange aus. Vor allem haben wir ja eh nicht allzu oft Gelegenheit, abends wegzugehen. Deshalb lasst uns wieder runtergehen. Ich will noch etwas tanzen.“

Das taten wir auch noch sehr ausgiebig. Obwohl ich eigentlich eine gute Kondition hatte, war ich gegen drei Uhr morgens einfach kaputt und hatte den Wunsch, nach Halle zurückzufahren. Aber Fynn und Justin hatten noch nicht genug. Gerade Justin hatte sich zum Dauertänzer entwickelt. Er fegte über die Tanzfläche, als ob ihn das nicht die Bohne interessierte, dass er in einer Schwulendisko tanzte. Entsprechend zog er wieder die Blicke anderer Jungs auf sich. Da es mittlerweile halb vier in der Frühe war, meine Freunde noch nicht volljährig waren, beschloss ich, sie einzusammeln und nach Halle zurück zu fahren.

Wir waren alle komplett verschwitzt, aber bester Laune als wir in das Auto stiegen. Da ich mich nicht auskannte, bat ich Fynn vorne zu sitzen. Er lotste mich sicher nach Halle. Dort setzte ich sie an der WG ab und fuhr mit Stef weiter ins Sportparkhotel.

„Sag mal Schatz, meinst du nicht, dass das Ärger gibt. Wir sind viel zu spät zurückgefahren. Wenn Chris das erfährt, wird er bestimmt ein Straftraining ansetzen.“

„Mensch Stef, was können wir dafür. Ich wollte ja schon früher fahren. Außerdem sind sie alt genug, um zu wissen, was sie dürfen und was nicht. Da mache ich mir heute keinen Kopf mehr drüber. Ich möchte nur noch schnell ins Bett. Schließlich wollen wir heute noch Papa an der Rennstrecke besuchen. Sonst wird das nichts.“

„Ja, das stimmt sicher. Aber ich fand es total cool in dieser Kneipe. Das war ein absolut geiler Laden und der DJ wusste was er tat.“

Dem konnte ich nur zustimmen. Es war ein toller Abend. Nachdem wir im Hotel unter die Dusche gesprungen waren, fiel ich todmüde mit meinem Schatz ins Bett.

Entsprechend spät waren wir am nächsten Morgen beim Frühstück. Erst gegen zehn betraten Stef und ich den Frühstücksraum. Wir nahmen uns vom Buffet unsere Sachen und setzten uns an einen Tisch.

„Ob Dustin, Fynn und Justin wohl schon wach sind?“

„Keine Ahnung Stef, aber ich glaube nicht, dass sie bis mittags schlafen können. Wir können sie ja mal anschreiben, wann wir losfahren in Richtung Rennstrecke. Papa hat mir aufgeschrieben wie die Adresse ist. Er meinte, wir brauchen etwa neunzig Minuten bis wir dort sind.“

Stef nahm sein Smartphone und tippte eine Nachricht ein. Währenddessen trank ich einen großen Schluck von der heißen Schokolade. Wir nahmen uns Zeit für das Frühstück und als wir nach draußen kamen, schien die Sonne von einem fast wolkenlosen Himmel. Ideales Wetter für einen Fahrerlehrgang. Ich war sehr gespannt, wie sich Chris anstellen würde. Ich hatte so das Gefühl, dass Papa ernsthaft vorhatte, Chris zu testen. Vielleicht wollte er ihn in unser Team für ein 24h Rennen auf der Nordschleife holen. Allerdings hatte ich Zweifel, ob Chris sich das überhaupt noch zutrauen würde. Seine Rückenverletzungen waren schließlich erheblich und schränkten ihn doch stark ein.

Während ich meinen Gedanken nachhing, kam Stef auf die Idee, auf der Anlage vorbeizuschauen. Vielleicht wären unsere Freunde ja auch dort.

„Okay, aber wir sollten nicht zu lange dort bleiben. Denn der Tag ist voll mit unserer Planung.“

„Ja, Schatz. Aber wir müssen doch eh auf die drei warten. Oder wollen wir sie nicht mitnehmen?“

„Doch, natürlich nehmen wir sie mit. Sie haben sich ja extra von Chris für heute Nachmittag vom Training freigeben lassen.“

„Aber sie haben Chris hoffentlich nicht gesagt, dass wir sie besuchen wollen? Sonst ist ja unsere Überraschung kaputt.“

„Das hoffe ich mal. Wir werden es erst wissen, wenn wir sie treffen. Haben sie sich schon gemeldet?“

„Nein, aber vielleicht sind sie ja auf der Anlage. Wir sollten uns umschauen und sie suchen.“

Das taten wir auch, bis wir von zwei Jungs angesprochen wurden.

„Hi, ihr seid doch die Freunde von Dustin, Fynn, Maxi und Justin, oder?“

„Äh ja, richtig.“, antwortete ich.

„Ach ja, ihr seid Tim und Carlo. Wir haben uns schon mal kurz bei euch in der WG gesehen.“

Sie lachten und ich fragte sie, ob unsere Freunde wohl schon wach wären.

„Hihi, da könnt ihr von ausgehen. Sie hatten heute früh um neun schon eine Konditionseinheit mit uns. Und jetzt sind sie auf dem Center 2 und spielen mit Holger. Ihr könnt ja mal hingehen. Wir gehen schon zur Physio.“

Ich bedankte mich für die Information und musste innerlich lachen. Das war bestimmt nicht witzig, heute früh schon wieder ein hartes Training. Mal sehen, ob wir wohl auf schlecht gelaunte Freunde treffen würden.

Wir stiegen die Treppe zum Center 2 hinauf und standen oberhalb der beiden Plätze Center 2 und Center 1. Von dort schauten wir auf die Plätze und tatsächlich scheuchte sie ein Coach ordentlich über das Feld. Ich hatte nicht erwartet, dass unsere Freunde nach dieser Nacht so früh wieder auf dem Platz arbeiten würden.

Es dauerte auch nicht lange, da hatte uns Fynn entdeckt. Er winkte uns nach unten an den Platz.

„Hi, ihr beiden. Seid ihr auch endlich wach. Wir sind schon zwei Stunden am arbeiten.“

Wir begrüßten uns mit einer Umarmung und der Coach schaute irritiert. Dustin erklärte ihm:

„Das sind unsere Freunde aus der Schweiz, Holger. Luc und Stef. Sie besuchen uns an diesem Wochenende. Marc macht mit Chris und den anderen das Fahrertraining.“

„Ah, ok. Dann bist du Luc Steevens?“

Er kam auf mich zu und gab uns die Hand. Er wurde jetzt freundlicher und wir durften noch etwas zuschauen. Aber nach einer Viertelstunde war das Training dann auch vorbei. Fynn kam zu uns, während die anderen ihre Tasche bereits schulterten und den Platz verließen. Dustin wartete ebenfalls.

„Wir gehen schnell duschen und dann können wir auch direkt los. Könnten wir noch einmal an der WG halten? Dann können wir dort noch unsere Taschen abstellen.“

„Klar, kein Problem. Wie geht es euch heute? Wir haben ein schlechtes Gewissen, dass wir so lange mit euch weg waren. Das war bestimmt hart für euch.“

„Ach, geht so. Ihr seid ja nicht jedes Wochenende hier. Da können wir das schon mal verkraften. Außerdem hat es tierisch Spaß gemacht.“

Zwanzig Minuten später hatten alle geduscht und waren abfahrbereit. Fynn war bester Laune und auch Dustin schien ihm zuzustimmen, denn ein Kuss sagte alles von ihm. Justin sah etwas blass aus. Deshalb fragte Stef:

„Was ist mit dir? Alles in Ordnung?“

„Geht so, mir fehlen ein paar Stunden Schlaf. Und das Training war heftig, aber geht schon. Muss ich heute mal früher ins Bett gehen. Ich fand es trotzdem cool mit euch.“

„Weiß Chris das eigentlich? Oder sollten wir besser gleich nicht darüber sprechen?“

„Klar weiß Chris das. Er hatte auch nichts gegen unseren Ausflug. Allerdings weiß er nicht, dass wir ihn heute besuchen kommen. Da könnte er schon eher nicht begeistert sein.“

„Da muss er durch. Wir wollen doch sichergehen, dass er auch von Papa noch etwas lernt. Schließlich wollt ihr ja weiterhin sicher über die Straßen fahren.“

„Das passiert auch ganz sicher. Chris versteht bei der Sicherheit überhaupt keinen Spaß. Ich habe mich noch nie unsicher gefühlt, wenn Chris gefahren ist. Er fährt richtig gut.“

Dustin hatte es wohl als Kritik empfunden, während ich es eher als kleinen Spaß gesagt hatte. Aber bevor ich etwas erklären konnte, stand mir Fynn sofort zur Seite:

„Lass gut sein, Schatz. Luc hat das nicht ernst gemeint. Chris fährt richtig gut und Luc weiß das auch. Sonst würde ihn Marc auch nicht seine Autos fahren lassen.“

Ich wollte so bald wie möglich aufbrechen. Deshalb bat ich nun meine Freunde sich zu beeilen.

Chris: Ein anstrengendes Wochenende

Wir hatten bereits den ganzen Vormittag im Auto gesessen und die verschiedensten Dinge geübt. Ich spürte, dass meine Konzentration nachließ. Wir sollten als letzte Übung vor dem Mittagessen, aus hoher Geschwindigkeit in den Stand bremsen. Mit maximaler Bremswirkung. Natürlich hatte Marc sich einen Wettstreit ausgedacht, denn er baute eine Kartonwand auf. Alle, die diese Wand durchbrachen waren sofort ausgeschieden. Da wir aus über 130 km/h abbremsen sollten, war das auch für die Autos eine große Belastung.

Die ersten Kartons flogen durch die Gegend und schnell waren vier Leute raus, bevor es eigentlich richtig losging.

Derjenige, der so nah wie möglich an die Kartons heranbremste, sie aber nicht berührte, hatte gewonnen. Bei meinem fünften Versuch spürte ich bereits eine deutlich nachlassende Bremswirkung. Für derartige Belastungen ist eine Serienbremsanlage auch nicht ausgelegt. Also machten wir eine kleine Pause, um die Bremsen sich abkühlen zu lassen.

Unsere Gruppe teilte sich in zwei Lager auf. Auf der einen Seite die Risiko Fahrer und auf der anderen Seite, die ruhigen, besonnenen Piloten. Zu diesen zählte ich mich auch. Deshalb waren wir auch noch ohne Verlust im Rennen, während die Möchtegern-Rennfahrergruppe bereits vier Leute Verlust hatte.

In der Pause genehmigten wir uns ein paar kalte Getränke und Marc hatte für jeden ein paar Tipps parat. Irgendwann war ich an der Reihe. Er gab mir den Rat:

„Versuche den vollen Pedaldruck zu Beginn aufzubauen. Dann nachlassen, wenn es geht. Den Druck zu steigern, verschenkt viel Raum. Außerdem kann sich das im Ernstfall vielleicht auch mal negativ auswirken. Also lieber zu früh voll aufs Pedal und dann den Druck wegnehmen, als plötzlich zu merken, dass einem die Straße ausgeht.“

Ich kannte mein Problem. Das war damals in der Ralleyzeit schon so. Aber dadurch konnte ich den Wagen instabil halten und besser driften. Gut, das war hier überhaupt nicht das Ziel, aber das saß so tief drin, dass es mir schwer fiel, das zu ändern.

Dennoch versuchte ich mich mental auf diesen veränderten Bremsablauf einzustellen. Ich wollte das lernen.

Es ging weiter. Die nächste Wand aus Kartons wurde aufgebaut und einer nach dem anderen fuhr los. Plötzlich flogen die Kartons wieder durch die Luft. Dieses Mal hatte es Toto erwischt. Er hatte seinen Bremspunkt verpasst und war richtig durch die Wand gerauscht. Entsprechend hämischen Applaus bekam er von uns. Jetzt war ich an der Reihe und dieses Mal hatte ich mit voller Kraft ins Pedal getreten und entsprechend viel zu früh kam ich zum Stehen. Wow, damit hatte ich nicht gerechnet, dass ich so viele Meter damit einsparen konnte. Beim nächsten Durchlauf bremste ich später. Dieses Mal wurde es eine Punktlandung. Etwa fünfzig Zentimeter vor den Kartons stand mein Wagen.

Über Funk hörte ich Marcs Lob:

„Sehr gute Aktion. Perfekt gemacht. Du hast es verstanden. Der nächste bitte.“

Ich fuhr an die Seite und stieg mit leichtem Herzklopfen aus. So eine Gewaltbremsung ist doch eine erhebliche Belastung auch auf den Körper.

Wir waren die ganze Zeit in Aktion und es wurde nicht langweilig.

Marc gab zum Abschluss noch ein paar Hinweise und sparte auch nicht mit Lob. Immerhin hatten wir noch nicht einen Schaden an einem der Autos. Damit hatte ich eigentlich gerechnet, dass doch das ein oder andere kaputt gehen würde.

Als nächstes ging es dann auf einzelne Streckenabschnitte. Dort sollten wir lernen, eine saubere Linie zu fahren und das richtige Lenken. Es wurden drei Abschnitte gebildet, je ein Instruktor und Marc nahmen eine Gruppe. Marc teilte die Piloten ein und ich durfte von ihm meine Lehrstunden erhalten. Wir hatten einen Abschnitt mit einer schnellen Passage und zwei schwierigen Kurven.

Aber als wir uns auf die einzelnen Streckenabschnitte verteilten, tauchte plötzlich noch ein schwarzer BMW Touring auf, der das Logo der Breakpoint Base auf der Tür hatte. Marc schaute mich an und dann musste er lachen.

„Ach ne, da hätte ich ja auch dran denken können. Ich weiß jetzt, wer unser Neuer ist. Schau mal, Chris. Du kennst diese Combo glaube ich am besten.“

Das konnte ja nicht wahr sein. Als die Türen aufgingen, stiegen Luc, Stef, Dustin, Fynn und Justin aus dem Auto.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte ich.

„Gucken, ob ihr das auch richtig macht und wir in Zukunft keine Angst haben müssen, wenn wir mit euch unterwegs sind.“

Typisch Fynn. Seit einiger Zeit wurde er immer selbstbewusster und manchmal auch ein wenig frech. Allerdings im positiven Sinne. Mir gefiel diese Art viel besser, als das schüchterne und ängstliche Verhalten.

Thorsten stand neben mir und flüsterte mir zu:

„Ist das noch derselbe Fynn, der mal so verängstigt und schüchtern war? Sein Lachen ist einfach klasse. Aber wir sollten sie vielleicht auch einmal einbremsen. Nicht, dass sie abheben.“

„Nein, keine Sorge. Das wird nicht passieren. Dafür kenne ich sie mittlerweile zu gut. Aber eine kleine Lektion kann vielleicht nicht schaden. Wir lassen Luc einfach mal bei uns mitfahren. Marc soll ihn genauso rannehmen wie uns. Mal sehen, ob sie dann immer noch so entspannt kluge Sprüche raushauen.“

Ich ging zu Marc und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er schaute für einen Moment etwas irritiert, fing dann aber an zu grinsen und sprach zu seinem Sohn:

„Okay, wenn ihr nun schon mal hier seid, könnt ihr auch mitmachen. Luc, du bist ab sofort als Teilnehmer dabei und zeigst uns, dass du was gelernt hast. Also nicht nur Sprüche klopfen, sondern auch gutes Autofahren.“

Luc wurde etwas blass, aber als lauter Applaus aufkam, konnte er schlecht kneifen. Marc setzte noch einen drauf:

„Und damit es für die anderen Jungs nicht zu langweilig wird, verteile ich euch auf die anderen Autos. Ihr müsst also als Beifahrer mitmachen.“

„Boah, Luc. Was hast du uns mit deiner Idee eingebrockt. Wenn mir schlecht wird, bist du Schuld.“

Justin fühlte sich plötzlich gar nicht mehr so wohl. Hatte er wirklich Angst? Das musste ich abklären und bei einer günstigen Gelegenheit nahm ich ihn an die Seite.

„Was ist, Justin? Hast du wirklich etwas Angst?“

„Ja, ein wenig schon. Ich kenne die anderen noch nicht so gut. Klar, ich weiß schon, dass es nicht gefährlich ist, aber… “

„Okay, du musst es nicht weiter erklären. Wenn ich dafür sorge, dass du zu mir ins Auto kommst, wäre es dann für dich in Ordnung?“

„Ja, damit könnte ich leben. Aber kannst du das so drehen, dass es nicht auffällt?“

Natürlich konnte ich das. Ich hatte Marc einen Hinweis gegeben und Justin kam zu mir ins Auto. Ich fand es gut, dass er seine Angst geäußert hatte.

Dann stand die erste Aufgabe an. Marc erklärte uns den Streckenabschnitt genau und dafür gingen wir zu Fuß die Strecke ab. Bei den beiden schwierigen Kurven wies er uns darauf hin, was auf keinen Fall passieren durfte. Er hat allen sehr deutlich klar gemacht, dass er zu hohe Geschwindigkeit nicht akzeptieren würde.

Als der Fußmarsch beendet war, fuhr Marc mit dem Wiesmann vorweg und zeigte uns bei langsamem Tempo die Ideallinie. Wie an einer Perlenschnur folgten wir ihm. Über Funk gab er uns Hinweise. Mir wurde sehr schnell klar, dass die Kurvenpassage kniffelig sein würde. Wenn man den Eingang der ersten Kurve nicht optimal treffen würde, wäre auch die zweite Kurve nicht sauber zu fahren. Ich war sehr gespannt, wie ich das hinbekommen würde und vor allem, wie sich die Kollegen anstellen würden. Jetzt wurde es doch noch richtig anspruchsvoll.

Die ersten Versuche ging ich sehr behutsam an. Ich versuchte nur auf die saubere Linie zu achten und nicht auf die Geschwindigkeit. Die Kurvenkombination erwies sich als eine echte Herausforderung und ich ahnte, dass Marc die Gruppe ganz bewusst so gewählt hatte. Wir waren alle sehr darauf bedacht, sauber zu fahren und nicht auf Geschwindigkeit zu gehen. Nach den ersten zehn Versuchen holte uns Marc in der ersten Kurve zusammen. Er erklärte noch einmal, wie wichtig es sei, den Einlenkpunkt genau zu treffen. Nur dann wäre eine saubere Durchfahrt möglich.

Nach einer Stunde intensiven Übens wurde es deutlich besser und Marc gab jedem frei, die Geschwindigkeit wählen zu können. Allerdings war es klar, wer das zweite Mal von der Strecke abkam, musste zehn Minuten Pause machen.

Ich steigerte mich von Runde zu Runde. Mich hatte der Ehrgeiz gepackt und es fing an, mir wieder richtig Spaß zu machen. Justin merkte das auch und sein Lächeln im Gesicht spiegelte seine Freude wieder. Es machte ihm Spaß, mit mir immer schneller zu fahren.

„Du meldest dich aber, wenn es dir zu schnell werden sollte. Nicht dass dir schlecht wird.“

„Keine Sorge, ich sag Bescheid. Aber momentan fühlt sich das gut an. Das macht Laune.“

Der Samstag ging mit einer Abschlussbesprechung und dem Ausblick auf den Sonntag zu Ende. Marc teilte uns mit, dass die Hälfte der Teilnehmer gut genug wäre, am Sonntag ein paar Runden auf der gesamten Strecke zu fahren. Die anderen würden das Erlernte noch einmal mit den Instruktoren vertiefen. Ich durfte am Sonntag auf die ganze Strecke und darüber freute ich mich. Allerdings spürte ich auf der Heimfahrt die Anstrengungen des Tages. Meine Konzentration war am Limit und es war schön, als wir mit Marc, Luc, Stef und meinen Jungs im Sportparkhotel beim Abendessen saßen. Jetzt konnte ich endgültig entspannen. Bis auf eine Sache, die ich noch klären musste.

„Habt ihr heute Morgen noch trainiert, oder seid ihr gestern versumpft?“

„Wir haben normal trainiert. Auch wenn es gestern sehr spät geworden ist. Wir wissen, dass du uns nur losziehen lässt, wenn wir im Anschluss auch arbeiten.“

„Sehr schön, Dustin. Und wie hat es euch hier gefallen? War das nicht langweilig für euch?“

„Nein, auf keinen Fall. Jetzt verstehe ich viel besser, wie schwierig es ist, auf einer Rennstrecke zu fahren. Von wegen, einfach nur Gas geben.“

„Hihihi, ja, da sagst du etwas Wahres, Fynn. Kommt ihr morgen auch wieder mit oder müsst ihr trainieren?“

„Wir müssen trainieren, leider. Sonst würde ich gerne noch einmal mitkommen.“

Dabei schaute mich Justin fragend an. Ich blickte einmal in die Runde und da wusste ich, hier konnte ich jetzt schlecht nein sagen.

„Wollt ihr alle mitkommen?“

Ein einstimmiges „Ja“ folgte und damit lag es an Marc eine Entscheidung zu treffen.

„Meinetwegen kein Problem. Aber nur, wenn es Chris wirklich genehmigt.“

„Ja, das geht schon in Ordnung. Die Jungs sind sonst so fleißig und arbeiten hart, da darf so etwas als Belohnung mal drin sein. Aber wir fahren schon um halb acht los. Ihr müsstet also früh aufstehen.“

Todmüde fiel ich abends ins Bett. Zuvor hatte mir Marc noch ein paar Ideen mitgegeben, was das Fitnesstraining für meinen Rücken betraf. Sein Physio Heikki hatte extra für mich einen Arbeitsplan erstellt. Damit sollte ich die Muskulatur besser festigen können, ohne die Wirbelsäule zu sehr zu belasten. Ich hatte zwar keinen Plan, warum sich Marc ausgerechnet jetzt darum Gedanken machte, aber ich nahm es gerne an.

Am nächsten Morgen spürte ich bereits meine Muskulatur im Rücken. Diese Form der Belastung war ich nicht mehr gewohnt. Vor allem hatte ich keinen Spezialsitz wie die Rennfahrer. Es waren Seriensitze, die für den normalen Betrieb ausgelegt waren. Da beneidete ich Marc ein wenig. Im Wiesmann waren Rennsportschalensitze verbaut.

Bevor ich nach Halle fuhr, machte ich noch ein paar Übungen, um den Tag gut zu überstehen.

Was mir besonders gut gefiel war das gemeinsame Frühstück in Halle. Bereits hier wurde die Teambildung gefördert und Marc gab uns einen Überblick über das Tagesprogramm.

Mit den Worten:

„Guten Morgen zusammen.“, bat Marc um Ruhe.

„Heute ist bereits der letzte Tag unseres Fahrwochenendes. Ich hoffe, ihr habt bereits einiges gelernt. Bei einigen von euch sehe ich große Fortschritte und bei einigen noch großes Potenzial sich zu verbessern. Insgesamt bin ich sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf. Heute steht folgendes auf dem Programm. Für die Gruppe A wird es noch einmal einige Fahrübungen geben, um das Erlernte zu vertiefen. Das übernehmen die Instruktoren des Sicherheitszentrums. Die Gruppe B wird unter meiner Führung, sich mit dem Fahren auf einer Rennstrecke beschäftigen. Um es klar zu sagen, es geht nicht um eine Bestzeit. Es geht um eine saubere, konstante Linie. Das würde dann automatisch zu einer guten Zeit führen. Aber das ist nicht das Ziel. Wir wollen heute noch einmal Spaß haben und etwas lernen. Ich wünsche uns viel Spaß und nun lasst uns aufbrechen. Wer in der Gruppe A und wer in der Gruppe B ist, habe ich ja bereits gestern gesagt. Habt ihr noch Fragen?“

Das war nicht der Fall und somit löste sich unsere Gruppe in Halle auf und machte sich auf den Weg. Meine Jungs waren auch alle pünktlich zum Frühstück erschienen. Marc hatte Luc allerdings in die Gruppe A eingeteilt. Er war der Meinung, dass Luc dort mehr für den Alltag lernen könnte. Er war ja noch Fahranfänger. Das stieß erwartungsgemäß nicht auf Begeisterung. Aber Marc ließ sich da auf keine Diskussionen ein. Ich vermutete auch, dass Marc noch genug Gelegenheiten haben würde, mit Luc auf eine Rennstrecke zu gehen.

Was mich dann an der Strecke wunderte, nur Justin blieb bei mir. Die anderen Jungs verteilten sich bei Luc in der Gruppe. Das zeigte schon etwas von der mittlerweile tiefen Verbundenheit der Jungs. Ich war darum nicht böse, verspürte ich dadurch doch selbst weniger Druck, weil ich nicht so unter deren direkten Beobachtung stand.

„Du hast wohl ziemliches Vertrauen in mich, Justin. Oder weshalb bist du nicht mit den Jungs mit?“, fragte ich ihn als wir wieder im Auto saßen und darauf warteten, dass Marc die erste Runde vorweg fuhr.

„Ja, habe ich. Außerdem kann ich hier viel mehr lernen für meinen eigenen Führerschein. In Kanada darf ich ja bereits mit sechzehn den Führerschein machen. Naja, und da ist natürlich auch noch ein weiterer Punkt, es macht einfach richtig Bock, mit dir zu fahren.“

Dabei fing er an zu lachen und freute sich wie ein kleiner Junge. Es machte ihm sichtlich Freude mit mir um die Strecke zu fahren. Marc begann mit geringem Tempo und erklärte im Vorfeld wie die Linie zu wählen ist. Das war simpel und ich versuchte, mir dabei die Strecke einzuprägen.

Mit jeder weiteren Runde erhöhte er das Tempo, immer darauf achtend, dass die Linie eingehalten wurde und nach der zehnten Runde bog er in die Boxengasse ab. Nicht, dass jetzt der Eindruck entsteht, wir seien um die Strecke gerast, das bewegte sich immer noch sehr nahe an normalem Landstraßentempo.

Als alle ausgestiegen waren und sich um Marc versammelt hatten, erklärte er den nächsten Schritt.

„So, ihr habt jetzt hoffentlich die Strecke kennengelernt und wisst, was ihr auf keinen Fall machen dürft. Ich werde mich jetzt in die Streckenüberwachung begeben und kann von dort jeden Winkel der Piste überwachen. Sollte ich erkennen, dass jemand unsauber fährt, hole ich ihn sofort von der Strecke. Das Tempo könnt ihr frei wählen, aber fahrt eine saubere Linie. Disziplin ist gefragt, nicht Geschwindigkeit.“

Damit ließ er uns wieder einsteigen und los ging es. Ich schaute zu Justin und dann rollte ich aus der Boxengasse wieder auf die Strecke. Meine ersten beiden Runden empfand ich als gelungen und erhöhte leicht das Tempo. Auf den Geraden gab ich aber schon richtig Gas. Nur an den schwierigen Stellen achtete ich auf eine saubere Linie.

Das ganze wurde anstrengend und nach zwanzig Runden fuhr ich an die Boxen, um etwas zu trinken und etwas auszuruhen. Die anderen blieben alle auf der Strecke. Marc sprach mich über Funk an:

„Bei dir alles in Ordnung?“

„Ja, alles gut. Ich muss nur etwas trinken und mich etwas entspannen. Das ist anstrengend für einen alten Mann wie mich.“

„Hahaha, nein. Du machst das genau richtig.“

In der Tat. Als ich nach etwa fünfzehn Minuten wieder auf die Strecke gehen wollte, kam Justin mit einem Grinsen im Gesicht zurück.

„Es sind schon vier Leute von Marc aus dem Verkehr gezogen worden, weil sie die Linie bzw. sogar die Strecke verlassen hatten.“

„Na, dann haben wir jetzt weniger Autos auf die ich achten muss. Los, einsteigen, anschnallen und auf die Piste.“

Mittlerweile kannte ich die Strecke auswendig und mich hatte die Neugier gepackt. Wie schnell könnte ich wohl werden, ohne Fehler zu machen. Also fuhr ich die ersten Runden wieder nur auf Präzision und steigerte dann die Geschwindigkeit. Ich bekam einen Rhythmus und irgendwann konnte ich sogar in der einen engen Kehre, einen Drift sauber und konstant fahren. Es fing an, richtig Spaß zu machen. Auch über Funk hörte ich Marc, wie er mich anspornte. Nach zwanzig Minuten spürte ich aber wieder, wie meine Konzentration nachließ. Erneut verließ ich die Strecke und steuerte in die Boxen.

Mittlerweile stand Marc in der Box und nahm mich mit einem Grinsen im Gesicht in Empfang.

Ich stieg zufrieden, aber auch verschwitzt und im Kopf etwas müde aus dem Auto. Justin wirkte beeindruckt, denn er sagte nicht viel. Er ging nur ein paar Schritte und stellte sich an die Boxenmauer, um auf die Strecke zu schauen.

Nachdem ich etwas ruhiger geworden war, fragte mich Marc:

„Na, was macht dein Rücken? Alles in Ordnung?“

„Ja, danke. Ich denke schon. Die Strecke ist schön eben, da geht das ohne gravierende Probleme. Und mit den Serienautos sind die Querbeschleunigungen ja auch nicht so hoch.“

„Sehr schön. Das hört sich so an, als ob ich dir noch eine letzte Herausforderung geben könnte. Deine Kollegen schwächeln alle in der Ausdauer. Sie wollen trotz Müdigkeit noch schnelle Zeiten fahren. Das passt aber nicht zusammen. Deshalb habe ich sie von der Strecke geholt, du warst der letzte, der noch eine gute Linie fahren konnte.“

„Ja, der alte Drache hat uns heute gezeigt, dass er noch nicht viel verlernt hat. Sehr beeindruckende Vorstellung, Chris.“

Ich drehte mich um und schaute in das Gesicht von Thorsten.

„So“, meldete sich Marc, „bevor du wieder kalt wirst, steigst du jetzt mit mir in den Wiesmann. Ich möchte mit dir noch ein paar Runden unter Rennbedingungen fahren. Damit das nicht gefährlich wird, sitze ich neben dir und unterstütze dich. Du musst nur das machen, was ich sage, dann kann nichts passieren. Das Auto bist du ja schon gefahren.“

„Gefahren ja, aber noch nie auf einer Rennstrecke am Limit. Aber irgendwie juckt es gerade in den Händen mit der Rakete mal richtig anzugasen.“

„Hihi, siehst du. Das habe ich mir doch gedacht, der Rennbazillus ist wieder erwacht. Dann mal los, du fährst.“

Der Wiesmann war ein völlig anderes Fahrzeug. Ein Supersportwagen der Extraklasse mit mehr als genug Leistung. Entsprechend ging es vorwärts. Die ersten Runden waren sicher schneller als meine letzten, aber dennoch weit weg vom Limit des Autos. Marc gab mir zu Beginn viele kleine Hinweise zur Linie und den Bremspunkten. Ich versuchte mir das zu merken, damit ich ohne seine Hilfe gut zurechtkommen würde.

Zu Beginn ließen wir auch alle Fahrhilfen drin, die Marc aber mit jeder schnellen Runde herausnahm.

„Das sieht richtig gut aus, was du machst. Wir fahren noch fünf Runden. Versuche dich mit jeder Runde zu steigern, aber ohne Risiko. Wenn du an dein Limit kommst, lass es gut sein.“

Ich nickte nur, weil ich schon vollkommen im Fahrmodus abgetaucht war. Ich wollte es jetzt wissen, wie weit konnte ich noch schnell fahren.

Auf der langen Geraden erreichten wir über 270 km/h. Das war schon ganz schön schnell und es war wichtig, den Bremspunkt genau zu treffen. In der vierten Runde war ich dann auf den Punkt auf der Bremse und die Runde wurde grandios. Ich wusste, besser kann ich das heute nicht mehr hinbekommen und hörte danach auf. Ich nahm Gas raus und rollte die fünfte Runde nur noch zu Ende, um in die Box zu fahren.

Marc schaute mich nur wortlos an, als ich den Motor abstellte.

Thorsten kam zu uns und gab seinen Kommentar ab:

„Also wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, könnte ich das kaum glauben. Das waren geile Runden. Du kannst es immer noch verdammt gut. Was denkst du, Marc?“

„Absolut. Ich bin sehr überrascht wie gut Chris das noch drauf hat.“

Mir ging das etwas auf den Keks, denn mir war definitiv klar:

„Leute, bleibt mal locker. Ich habe jetzt vier schnelle Runden geschafft. Mit Marcs Hilfe und jetzt bin ich komplett platt. Also das reicht bei weitem nicht, um wieder an ein Rennen zu denken. Außerdem möchte ich nicht wissen, was morgen mein Rücken zu dieser Belastung sagen wird. Ich hoffe, es wird nicht zu schlimm.“

Marc schwieg erstaunlicherweise, aber ich konnte erkennen, dass er gedanklich schon wieder bei einem anderen Projekt war.

Fynn: Besuch vor der Abreise in die USA

Es wurde ernst mit dem Projekt USA. Morgen früh würde uns Thorsten zum Flughafen bringen und wir mit einem A380 über den großen Teich fliegen. Deshalb hatte meine Familie darauf bestanden, dass wir uns noch einmal vorher sehen. Dieses Mal kam auch mein Vater wieder mit und besuchte uns in Halle. Patrick war fast aufgeregter als ich, zumindest als es um das Thema fliegen ging.

„Wie kommst du mit dem Englisch klar?“, fragte mich mein Vater im Garten der WG.

„Gut, wir haben fleißig in der Schule gelernt und England war auch ein gutes Trainingsfeld. Die Sprache sollte echt kein Problem werden.“

„Sondern?“, fragte meine Mutter nach.

„Naja“, antwortete Dustin, „wir wissen überhaupt nicht, was für Spieler uns dort erwarten. Welches Niveau dort gespielt wird. Außerdem spielen wir nicht nur Future Turniere, sondern auch viele Challenger Turniere. Da ist die Wahrscheinlichkeit erfolgreich zu sein eher gering.“

„Chris und das Team werden sich sicher genau überlegt haben, warum sie mit euch das machen wollen. Seht es nicht so kritisch. Ihr seid gut und habt hart gearbeitet. Nehmt euch die Chance nicht selbst. Geht positiv an die Sache heran.“

„Genau das wollen wir machen, Papa. Aber dennoch bin ich nervös. Das Team wird irgendwann auch Erfolge erwarten. Chris weiß was wir können, aber reicht das für das Team auch?“

In diesem Moment betrat ausgerechnet Chris den Garten. Er hatte den letzten Satz noch mitbekommen und grinste, sagte aber nichts. Er begrüßte meine Familie und fragte dann:

„Na, seid ihr soweit startklar für morgen?“

„Klar, aber was machst du denn hier? Haben wir Training?“

„Haha, nein. Alles gut. Ich habe nur auf dem Heimweg Tim und Carlo nach dem Training weggebracht. Da hab ich gedacht, ich sage mal guten Tag.“

„Cool, hast du Zeit, dich zu uns zu setzen. Wir sprechen gerade über die Reise.“

Chris nahm sich einfach die Zeit und setzte sich zu uns. Meine Mutter richtete sich direkt an Chris.

„Wie sehen Sie die Erfolgschancen für die Jungs? Ist es nicht vielleicht noch zu früh, so eine Reise zu machen und so viel Geld zu investieren?“

„Diese Entscheidung habe ich nicht allein gefällt. Das Team, insbesondere mein Bruder, ist der Ansicht, dass die Truppe jetzt diese Erfahrungen machen soll. Sie haben noch keinen Erfolgsdruck. Sie befinden sich in der Lernphase. Erst danach werden sie auch am Erfolg gemessen. Aber ich sehe dem gelassen entgegen, weil ich weiß, wie gut sie bereits sind. Also, ein klares „Nein“ auf Ihre Frage. Es ist nicht zu früh.“

Allerdings stellte Patrick jetzt eine Frage, mit der ich nicht gerechnet hatte. Zumindest nicht von ihm:

„Ist es denn nicht noch gefährlicher für ein schwules Paar in den USA? Ich meine, hier in Europa habt ihr schon einige Sachen erlebt. Dort wird mittlerweile jeder Veranstalter wissen, dass ihr ein Paar und außerdem noch erfolgreich seid.“

„Ist mir echt mittlerweile egal. Wir müssen damit rechnen, dass wir nicht nur auf Zustimmung stoßen werden. Dennoch ist der Zuspruch der meisten anderen Spieler viel größer. Ich werde mich nicht mehr verstecken, nur weil andere mit meiner Homosexualität nicht klar kommen. Ich mache ihr Problem nicht zu meinem.“

„Guter Spruch.“, meldete sich Chris zu Wort.

„Es ist wirklich so, dass wir nur mit Leistung die Anerkennung bekommen werden. Letztlich spielt es im Profibereich keine Rolle wer du bist. Du musst deine Leistung abliefern, dann wirst du akzeptiert. Außerdem bin ich mir sicher, dass wir anderen schwulen Sportlern damit eine Hilfestellung geben, sich ebenfalls zu outen. Je mehr sich offen zeigen, desto normaler wird das werden. Wobei es ja normal ist, nur die Leute reagieren nicht normal.“

Mein Vater hörte sehr aufmerksam zu und bald fragte er Chris:

„Können wir noch mehr tun? Ich würde gern aus meinen Fehlern in der Vergangenheit etwas lernen und wiedergutmachen.“

Chris nickte lächelnd und es kam eine typische Antwort:

„Ja, unterstützen Sie Fynn und Dustin weiterhin. Geben Sie ihnen das Gefühl, bei Ihnen akzeptiert zu sein. Wenn sie nach Hause kommen, brauchen sie einen Bereich, in dem sie sich wohlfühlen können. Und nicht mehr aufpassen müssen, was sie tun. Stehen Sie zu ihnen, immer und überall. Sportlich werden sie von uns gut betreut. Was wir nicht immer leisten können ist, die Familie zu ersetzen. Da brauchen wir Sie mehr denn je. Und es freut mich wirklich, dass wir Sie mittlerweile fest in unserem Boot haben.“

Es war ein cooles Gefühl für mich, dass mein Vater nicht mehr versuchte, mich kritisch zu hinterfragen. Er hatte uns akzeptiert, so wie wir waren. Selbst Dustin gab mir mittlerweile auch vor meinen Eltern einen Kuss. Das war die schönste Belohnung für die letzten Monate harter Arbeit.

Dieser Besuch war für mich etwas Besonderes und sehr Schönes. Leider blieb die Zeit nicht stehen und meine Familie musste aufbrechen. Chris hatte sich schon vor einer Stunde verabschiedet, da er seine Taschen noch packen musste.

Zum Abschied umarmte ich meine Familie und bei meinem Vater fühlte es sich nicht mehr komisch an. Es wurde wieder normal. Sogar mein kleiner Bruder bemerkte das und lächelte dabei.

„Hier, dafür habt ihr vielleicht Verwendung in den USA.“

Mein Vater reichte mir einen Briefumschlag, den ich sofort öffnen wollte. Aber Mama warf dazu ein:

„Nicht jetzt öffnen. Das bringt Unglück. Erst aufmachen, wenn ihr in den USA gelandet seid.“

Also steckte ich ihn in die Tasche und Dustin und ich begleiteten meine Familie zum Auto. Es tat mir schon etwas weh, sie zu verabschieden. Für die nächsten Wochen würden wir uns wieder nicht sehen.

Das Abendbrot stand ganz im Zeichen unserer Reise. Tim und Carlo waren total unruhig und Martina musste sie sogar zweimal auffordern, sich zu beruhigen. Den letzten Abend in Deutschland wollten Dustin und ich ganz ruhig und gemütlich allein verbringen. Maxi kam erst morgen früh zur Abfahrt hinzu. Er durfte bei seinen Eltern schlafen.

Nach einer wunderschönen Nacht, die leider viel zu früh zu Ende war, saßen wir beim Frühstück, als Chris plötzlich auftauchte. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir hatten gedacht, er würde uns mit Thorsten gemeinsam abholen.

Martina hatte ihn wohl erwartet, denn sie hatte Tee vorbereitet. Grünen Tee trank bei uns niemand, außer halt Chris.

„Moin Chris, setz dich bitte. Dein Tee ist schon fertig und ist in der silbernen Kanne.“

„Danke, sehr nett von dir, Martina. Moin Jungs. Wie ist die Stimmung bei euch?“

Chris schaute insbesondere bei Tim und Carlo genau hin. Selbst Carlo war heute noch nicht sehr gesprächig. Das war ungewöhnlich. Mir fiel das erst jetzt auf, dass Carlo heute noch keinen Witz gemacht hatte.

„Gut, aber etwas aufgeregt. So einen langen Flug habe ich bislang noch nicht gemacht. Ich hoffe, es geht alles gut.“

„Ach, ganz bestimmt. Das Flugzeug ist das sicherste Transportmittel. Das wird schon gutgehen. Habt ihr alle eure Taschen gepackt? Wir müssen das Gepäck rechtzeitig einchecken.“

Carlo und Tim nickten nur. Wieder sprachen sie kein Wort. Irgendwas kam mir doch komisch vor. Auch Chris schaute wieder zu den beiden.

Chris nahm sich seinen Tee und warf einen Blick in die Zeitung, während wir weiter frühstückten.

„Chris? Wir haben mal eine Frage.“, kam jetzt von Tim.

Chris nahm die Zeitung runter und schaute ihn an:

„Schieß los. Wo brennt es?“

„Na ja. Ich habe gelesen, dass es in den USA ganz strenge Gesetze für Jugendliche gibt. Was ist, wenn wir mal einkaufen wollen oder so?“

„Wo hast du denn diesen Unsinn her. Wenn du ganz normal im Supermarkt oder in der Stadt etwas einkaufen willst, wäre das gar kein Problem. Nur gibt es einige Dinge eben erst ab einundzwanzig zu kaufen. Bier zum Beispiel. Aber da wir dort zum Arbeiten sind, gibt es eh kein Bier oder Sekt. Also kein Problem.“

Chris versuchte so ernst wie möglich zu bleiben, aber er musste sich beherrschen, um nicht lachen zu müssen.

Chris schaute zur Uhr und in diesem Augenblick klingelte es. Thorsten holte uns ab zum Flughafen. Also nahmen wir alle unsere Taschen und bevor wir einstiegen, verabschiedeten wir uns auch von Martina. Ich sah sie mittlerweile als Ersatzmutter. Auch Dustin hatte Vertrauen gefunden und sie bei einigen Dingen als Ratgeberin genutzt. Sie wünschte uns allen eine gute Reise und viel Erfolg.

„Hier Chris, damit du nicht den Herztod erleidest, habe ich dir ein wenig Nervennahrung mitgebracht.“

Sie gab Chris eine große Tüte mit holländischem Salzlakritz. Chris fing an zu lachen, bedankte sich herzlich mit einer Umarmung und stieg dann in den VW Bus.

Chris: USA und Kanada

Es wurde langsam ernst. Unser Kapitän hatte bereits den Landeanflug angekündigt und jetzt leuchteten die Anschnallzeichen auf. Ich war froh, dass ich bald wieder normale Luft atmen und meine Beine ausstrecken könnte.

Meine Jungs hatten die meiste Zeit geschlafen und nur Tim und Carlo waren wach geblieben. Für sie war es der erste Transatlantikflug und entsprechend spannend war das für sie.

Eine Stunde später standen wir im Terminal und warteten auf unser Gepäck. Das Laufband spuckte viele Koffer und Taschen aus. Ich bekam auch meine Reisetasche und Fynn hatte schon seinen Rucksack gegriffen. Dennoch fehlte von den anderen Gepäckstücken jede Spur.

„Was machen wir denn, wenn unsere Schläger tatsächlich weg sind? Wir können doch nicht einfach einen anderen Schläger nehmen.“

Fynn geriet langsam in Panik. Auch die anderen waren alles andere als gelassen. Ich blieb ruhig, denn einer musste ja die Lage im Griff behalten. Wir warteten noch weitere fünfzehn Minuten und dann entschied ich, dass ich mit Justin zur Gepäckstelle im New Yorker Flughafen ging. Das war natürlich alles etwas größer als in Deutschland. Aber wir wurden sehr freundlich empfangen und die Mitarbeiterin nahm sofort Kontakt mit der zuständigen Stelle auf. So mussten wir uns in Geduld üben. Eine andere Mitarbeiterin bot uns freundlicherweise ein paar Getränke an. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass man bemüht war, das Problem zu lösen.

Dennoch schien es sich nicht vor Ort klären zu lassen, wo unser Gepäck abgeblieben war. Ich entschied mich daher, in Absprache mit den Flughafenmitarbeitern, ins Hotel zu fahren. Dort würde man weitersehen.

Die Einreise- und Zollformalitäten verliefen ohne Probleme. Ich orderte uns ein Taxi, das uns ins Hotel brachte. Die Stimmung war bei den Jungs nicht besonders gut. Nur Justin schien sehr gelassen zu sein.

„Dich scheint das nicht sonderlich zu belasten. Hast du vielleicht ein paar Schläger in Reserve?“, fragte Maxi.

„Richtig. Ich habe zu Hause noch genug Schläger. Zwar ein anderes Modell, aber damit habe ich bis zuletzt gespielt. Besser als gar keinen Schläger zu haben.“

„Na toll“, warf Dustin ein, „für uns ist das jetzt echt eine Katastrophe. Wir können ja nicht einmal trainieren ohne unsere Schläger.“

Die Stimmung bei den Jungs war fatal und ich musste jetzt ein Zeichen setzen.

„Leute, jetzt beruhigt euch mal wieder. Wir haben noch zwei Tage Zeit, bis ihr spielen müsst. Klar sollt ihr auch trainieren, aber es ist jetzt so, wie es ist. Die Sachen tauchen schon wieder auf. Wartet mal heute ab. In den meisten Fällen tauchen die Sachen innerhalb von längstens einem Tag wieder auf. Wir fahren jetzt ins Hotel, dann sehen wir weiter. Es gibt keinen Grund in Weltuntergangsstimmung zu verfallen.“

„Richtig. Chris hat recht. Bislang hat er immer für uns eine Lösung parat gehabt. Das wird auch jetzt so sein.“

Da war er wieder. Carlo wie er leibt und lebt. Ich musste einfach lachen. Seine Art das zu beschreiben war köstlich. Allerdings waren Fynn und Dustin davon nicht sonderlich begeistert. Sie sahen das dramatischer. Bevor sie sich weiter aufregen konnten, unterband ich das jetzt deutlicher.

„Leute, Carlo hat es auf den Punkt gebracht und ich bin nicht bereit in Panik zu verfallen. Panik hat noch nie geholfen. Ich bin sicher, dass ihr mit euren Sachen trainieren werdet und auch spielen könnt. Punkt. Ist das angekommen? Auch wenn ihr euch noch so aufregt kommen die Sachen nicht schneller wieder her. Ich kümmere mich darum und das muss reichen.“

Ich hatte das ganz bewusst mit einem ärgerlichen Unterton gesagt. Fynn zuckte sogar etwas zusammen, als ich fertig war. Das war also angekommen, dass ich hier keine weitere Diskussion wollte. Außerdem waren wir am Hotel angekommen.

Nachdem wir uns angemeldet hatten, die Zimmerkarten bekommen hatten, schickte ich alle auf die Zimmer zum Duschen. Ich wollte mit ihnen im Anschluss den weiteren Ablauf klären. Justin sollte seinen Vater anrufen, dass wir in New York gelandet waren. Das zweite Turnier würde in Montreal sein. Dort würde ich dann mit seinem Vater gemeinsam die Jungs betreuen.

Für alle Fälle nahm ich mit Thorsten Kontakt auf. Ich schilderte ihm das Problem und wir verblieben so, dass ich bis morgen abwarten würde. Sollte bis dahin kein Schläger aufgetaucht sein, würden wir mit unseren Ausrüstern Kontakt aufnehmen.

Bald saßen wir unten in der Lobby des Hotels und ich konnte die Anspannung spüren. Tim und Carlo waren sichtlich verunsichert. Justin war immer noch recht gelassen, aber ich musste jetzt aufpassen, dass mir die Jungs nicht abdrehten. Außerdem kam die Zeitverschiebung hinzu.

Aus genau diesem Grund waren wir zwei Tage früher angereist. Ich hatte eh kein Training auf dem Platz angesetzt. Eine leichte Laufeinheit morgen sollte reichen. Erst mit Beginn des Turnieres sollten die Jungs wieder auf den Platz gehen.

„So, mal eine Frage in die Runde. Wie habt ihr den Flug überstanden? Seid ihr sehr müde?“

„Geht so. Ich denke die Müdigkeit wird noch kommen. Müssen wir heute noch trainieren?“, fragte Maxi.

„Ich fühle mich schlapp. Aber ich bin auch noch nie zuvor so lange geflogen. Außerdem können wir doch ohne Schläger gar nicht trainieren. Deine Frage war überflüssig, Maxi.“

Typisch unser Carlo. Allerdings machte er in der Tat einen schlappen Eindruck.

„Okay, haben die anderen noch etwas zu sagen?“

Das war nicht der Fall.

„Gut, dann gebe ich mal einen kurzen Ablaufplan. Ihr bewegt euch immer mindestens zu zweit außerhalb des Hotels. Tim und Carlo nehmen immer einen der großen Jungs mit. Darüber möchte ich auch nicht diskutieren. Das ist hier meine klare Vorgabe. Wenn wir auf der Anlage sind, ist das wieder etwas anderes. Ich möchte mit euch gleich ein wenig auf Erkundungstour gehen. Heute wird nicht mehr trainiert. Morgen machen wir eine Laufeinheit im Park. Auf den Platz geht es erst übermorgen. Fragen?“

Tim meldete sich.

„Ja, Tim. Was hast du für eine Frage?“

„Wie groß ist die Zeitverschiebung zu Deutschland? Ich habe das Gefühl, gleich einschlafen zu können.“

„Berechtigte Frage. Wir sind sechs Stunden zurück. Das heißt, in Deutschland ist es schon sechs Stunden später. Ihr dürft also auch bereits müde sein. Trotzdem geht aber bitte nicht vor acht schlafen. Sonst kommt ihr nicht aus dem Jetlag.“

„Boah, das ist noch lang hin. Was machen wir bis dahin?“

„Ich wollte mit euch zur Feier des Tages auf die Statue of Liberty fahren. Was meint ihr? Habt ihr Lust?“

Damit hatte ich genau ins Schwarze getroffen. Ich wusste zwar, dass das etwas dauern würde, aber so schnell würden wir nicht wieder nach New York kommen.

Einige Zeit später hatte ich meine Truppe oben auf der Aussichtsplattform versammelt und mit großen, staunenden Augen schauten wir uns diese Metropole von oben an. Alle waren sehr beeindruckt von der Größe dieser Weltstadt. Sogar das Thema verschollenes Gepäck war jetzt vergessen. Alle schauten fasziniert in die Runde. Tim und Carlo waren wie immer unzertrennlich und bald kamen sie zu mir, weil sie etwas entdeckt hatten.

„Da hinten das große Stadion, ist das das Arthur Ashe Stadium?“

Ich schaute mir das an und musste zustimmen. Das könnte tatsächlich das größte Tennisstadion der Welt sein. Dort fanden die Finals der US Open statt.

„Ob wir da mal reinkommen? Das wäre so cool.“

„Naja, warum denn nicht? Oder meinst du als Spieler im Finale der US Open?“

„Na klar, als Spieler bei den US Open. Quatsch. Ich möchte einfach nur einmal dort auf der Tribüne sitzen und die Atmosphäre spüren. Im Fernsehen ist das schon gigantisch. Wie muss das in der Realität sein?“

Auch die großen Jungs waren sichtlich beeindruckt von der Größe New Yorks. Sie schauten immer wieder in unterschiedliche Richtungen.

„Chris, ist das normal, dass man von der Größe beeindruckt ist? Ich habe noch nie eine so große Stadt erlebt.“

„Oh ja, Fynn. Solche Städte gibt es bei uns so gut wie überhaupt nicht. Da ist das schon beeindruckend, wenn man das erste Mal hier ist. In den USA ist vieles größer als bei uns.“

„Wie schaut es mit Hunger bei euch aus? Sollen wir im Hotel zu Abend essen oder lieber unterwegs?“

„Lass uns im Hotel essen. Dann können wir noch vorher duschen. Ich bin völlig durchgeschwitzt.“

Das kam mir entgegen, denn ich war genauso verschwitzt. Also machten wir uns wieder auf den Rückweg zum Hotel. Dort erwartete mich eine Nachricht vom Flughafen. Unser verlorengegangenes Gepäck war aufgetaucht. Allerdings nicht in New York, sondern noch in Deutschland. Es würde also morgen am Flughafen sein. Damit waren wir wieder gut im Rennen. Entsprechend löste diese Nachricht bei meinen Jungs Freude und Erleichterung aus.

Jetzt konnten auch meine Jungs beruhigt in die erste Nacht in den USA gehen. Ich bin todmüde ins Bett gefallen und habe erstaunlicherweise bis zum Klingeln des Weckers durchgeschlafen.

Am nächsten Morgen konnte ich die Folgen des Jetlags live erleben. Dustin und Fynn sahen furchterregend aus. Tim und Carlo hatten hingegen schon wieder den Schalk im Nacken. Beim Frühstück sprühten sie vor Energie, während die anderen Jungs sehr träge am Tisch saßen.

„Boah, Carlo. Kannst du mal für fünf Minuten ruhig sein? Um diese Uhrzeit ist das echt nervig.“

„Was kann ich dafür, wenn ihr die Nacht nicht zum Schlafen genutzt habt.“

Oh, jetzt wurde es interessant. Das war eine ziemlich freche Antwort.

„Ey, pass auf. Wir müssen zusammen heute noch trainieren. Außerdem sind wir schon alt, also nimm mal etwas Rücksicht.“

Dieser Text kam ausgerechnet von Dustin. Damit hatte er verhindert, dass Maxi und Fynn sauer wurden und Carlo schaute zu mir und zögerte. Er schien mich nach einer Meinung zu fragen.

„Wenn du klug bist, Carlo, dann sagst du jetzt besser nichts mehr. Ich muss jetzt mal für die großen Jungs Partei ergreifen. Ich hänge auch noch in den Seilen durch die Zeitumstellung und bitte euch, uns einfach in Ruhe frühstücken zu lassen. Ihr könnt gleich beim Lauftraining eure überschüssige Energie loswerden.“

„Chris, wo sollen wir hier laufen können? Wir sind mitten in der Stadt.“

„Keine Sorge, Maxi. Wir fahren gleich zur Anlage. Dort schauen wir uns um und dort könnt ihr laufen gehen. Da gibt es einen kleinen Park.“

„Wie kommen wir eigentlich dahin? Wir haben schließlich kein Auto hier.“

„Gut erkannt, Justin. Da ich aber keine Lust habe, in New York Auto zu fahren, nehmen wir uns ein Taxi. Das nächste Turnier ist außerhalb von Montreal. Dort werde ich einen Mietwagen nehmen. Dann können wir auch Justins Eltern abends mal besuchen.“

„Oh, das wäre echt cool. Ich war schon lange nicht mehr zu Hause.“

„Na, das kann ich mir vorstellen, Justin. Deshalb möchte ich, dass du Zeit bekommst, auch außerhalb des Tennisplatzes mit deinen Eltern zusammen sein zu können.“

Das Lächeln in Justins Gesicht war Antwort genug.

Taxifahren in New York ist auch ein Erlebnis. Aber als Europäer aus der Provinz in die Weltmetropole New York zu kommen und dort selbst fahren zu wollen, das wäre glatter Selbstmord. Wir wurden sehr freundlich in einem Großraumtaxi befördert und kamen zielsicher an. Wir betraten wir die Anlage der New York Junior and Learning school. Mitten im Stadtteil Queens.

Im Gegensatz zu den Turnieren in Europa, war es etwas unübersichtlich. Die Anlage war riesig. Es gab über 20 Hartplätze und keine Hinweisschilder. Wo war die Turnierleitung? Erst nachdem wir einige Leute gefragt hatten, konnten wir uns anmelden. Auch die Frage nach einem Trainingsplatz konnte uns nicht beantwortet werden. Erst am nächsten Tag würde die offizielle Turnierleitung aktiv sein. Ich hinterlegte unsere Anfrage schriftlich für den morgigen Tag. Danach schickte ich meine Truppe auf eine Laufeinheit. Sie sollten sich an das Klima gewöhnen.

Auf einem Teil der Plätze wurde mit Jugendlichen trainiert. Die Zäune waren in einem desolaten Zustand. Auf so einer Anlage würde in Deutschland niemals ein offizielles Ranglisten Turnier stattfinden können. Aber wir waren in den USA und dort schien es anders zu sein.

Allerdings erstaunte mich dann der Zustand des Clubhauses. Die Umkleiden und sanitären Anlagen waren in einem exzellenten Zustand. Auch der große Clubraum mit der Theke war sehr gepflegt. Ich bestellte mir eine Cola und nahm auf der Terrasse Platz. Die Zeit des Wartens auf meine Jungs nutzte ich, um das Treiben auf der Anlage zu beobachten.

Es wurde zum Teil sehr professionell auf den Plätzen gearbeitet. Hier gab es alle Arten von Spielstärken. Vom Anfänger bis zum hochtalentierten Jugendspieler. Das war schon beeindruckend. Meine Jungs tauchten nach einer guten halben Stunde wieder auf. Allerdings gab es eine Sache, die mich stutzig machte. Tim und Carlo verschwanden direkt in der Umkleide. Die anderen Jungs kamen zu mir und sahen erschöpft aus. Für ein einfaches Lauftraining auch merkwürdig.

„Hey, was ist denn mit euch los? Ihr seht aus, als ob ihr einen Marathon gelaufen seid.“

„So fühle ich mich auch. Diese Luft hier ist unfassbar schlecht. Du bist nach fünfhundert Metern am Keuchen und denkst, ich kann nicht mehr. Ich bin völlig fertig. So kann ich im Leben kein ganzes Match spielen.“

Okay, dachte ich. Wenn selbst Maxi, der extrem fit war, so stöhnte, dann hatte das etwas zu bedeuten. Gut, die Luft war sehr schwül, aber es war nicht wirklich heiß.

„Was ist mit Tim und Carlo? Warum sind sie gleich in die Dusche gegangen?“

Meine Jungs schauten sich an. Da wusste ich, irgendetwas war noch vorgefallen. Jetzt musste ich aufpassen, dass mir nichts Wichtiges entging.

„Sie wollten gleich unter die Dusche. Sie haben aber die gleiche Strecke gemacht wie wir.“

Ob ich das glauben sollte, dass dies der einzige Grund war?

„Gut, dann geht ihr jetzt auch am besten unter die Dusche. Wir machen noch einen Rundgang über die Anlage und fahren dann wieder zurück ins Hotel.“

Auf der Rückfahrt im Taxi waren alle verdächtig still. Mir machte die Zeitumstellung zu schaffen und vermutlich ging es den Jungs nicht anders. Ich musste aufpassen, sie jetzt nicht zu überfordern.

Im Hotel hatten wir noch ein erfreuliches Ereignis, wir bekamen unser verlorengegangenes Gepäck vom Hotel überreicht. Die Fluggesellschaft hatte es in unser Hotel bringen lassen. Das beruhigte die Jungs und mich. Somit waren wir wieder im grünen Bereich. Allerdings war mein Akku ziemlich leer und ich beschloss, früh ins Bett zu gehen. Erstaunlicherweise waren sogar Tim und Carlo nach dem Abendessen sehr still und kaputt. Also gab es für alle eine längere Nacht und ich hatte die Hoffnung, dass es uns morgen besser gehen würde.

Meine Nacht war erholsam. Ohne einmal aufzuwachen, hatte ich durchgeschlafen. Unter der morgendlichen Dusche gingen mir allerdings ein paar Gedanken durch den Kopf. Das Klima und die Luftqualität waren deutlich anders als bei uns in Halle. Das musste ich neu in meine Vorbereitungen einfließen lassen.

Als ich aus meiner Dusche ins Zimmer trat, klopfte es bereits an meiner Zimmertür. Ich zog mir schnell eine kurze Hose und ein T-shirt an und öffnete die Tür.

„Guten Morgen, Maxi. Schon so früh wach?“

Ich ließ Maxi in mein Zimmer eintreten.

„Was liegt an? Hast du gut geschlafen?“

„Ja, Fynn, Dustin, Justin und ich haben gut geschlafen und ich fühle mich viel besser als gestern. Aber Tim und Carlo haben wir nicht wachbekommen. Wir haben geklopft, aber sie haben nicht geöffnet. Wir hatten ja vereinbart, dass wir uns bereits in fünfzehn Minuten zum Frühstück treffen. Justin versucht es gerade weiter, sie zu wecken.“

„Lasst ihnen noch etwas Zeit. Ich hatte bereits gestern den Eindruck, dass sie mehr unter dem Klima- und Zeitwechsel zu leiden haben. Wenn sie in einer halben Stunde noch nicht wach sind, werde ich sie wecken. Oder gibt es etwas, was ich noch nicht weiß?“

Maxi schien für einen Moment zu überlegen, entschied sich dann aber, mir die fehlende Information zu geben.

„Naja, Tim hatte gestern beim Laufen extreme Probleme mit dem Atmen. Vielleicht solltest du doch einmal nach ihnen schauen.“

„Danke, diese Information hat mir gefehlt. Ich gehe mal schauen.“

Ich nahm meine Notfalltasche gleich mit und verließ mit Maxi mein Zimmer in Richtung des Zimmers von Tim und Carlo.

Dort war es Justin mittlerweile gelungen in das Zimmer zu kommen. Carlo hatte ihm die Tür geöffnet. Da Tim immer noch im Bett lag, war klar, dass er ein Problem hatte.

„Guten Morgen, wie ist die Lage bei euch?“, fragte ich.

Ich gab Justin ein Zeichen, dass er mich mit Tim und Carlo allein lassen und die anderen informieren sollte.

Noch mehr Aufregung konnte ich nicht gebrauchen.

Ich setzte mich bei Tim auf die Bettkante und Tim berichtete mir vom gestrigen Laufen. Er hatte massive Probleme mit dem Atmen und fühlte sich überhaupt nicht gut. Ich beschloss, ihn erst einmal unter die Dusche zu schicken. Dann würden wir weiter sehen.

„Wenn ihr beide geduscht habt, sprechen wir über das weitere Vorgehen. Ich hoffe, dass es Tim dann besser geht.“

Carlo würde auf seinen Freund aufpassen, daher konnte ich zu den anderen in den Frühstücksraum gehen. Dort wurde ich mit gespannten Blicken empfangen.

„Guten Morgen, Jungs. Bei euch scheint alles im grünen Bereich zu sein, oder?“

Kopfnicken bestätigte mir das.

„Gut, dann eine kurze Info. Tim geht es nicht so gut. Ich vermute, dass er mehr Probleme mit der Umstellung hat. Vielleicht wird er auch krank. Wir müssen das jetzt mal abwarten. Macht euch aber keine allzu großen Sorgen. Er geht jetzt duschen und Carlo bleibt bei ihm. Nach dem Frühstück werde ich mit ihm mal in Ruhe reden. Dann sehen wir weiter.“

Ich setzte mich zu den Jungs und nahm mir erst einmal einen Kaffee und einen Stapel von dem Toastbrot. Ich wollte nicht wegen jeder Scheibe aufstehen müssen.

Erfreulicherweise tauchten Tim und Carlo nach einigen Minuten bei uns auf. Tim sah noch etwas angeschlagen aus. Seine Augen waren rot und das sah doch sehr nach einer allergischen Reaktion aus.

„Hi, alles klar bei euch?“

„Hm, guten Morgen. Geht so.“, kam von Tim.

„Setzt euch und esst erst einmal etwas. Carlo, was ist mit dir?“

„Ja, ist schon in Ordnung. Hab nur wenig geschlafen, weil es Tim so schlecht ging.“

Ich wollte das am Frühstückstisch jedoch nicht weiter thematisieren. Deshalb bat ich Tim und Carlo anschließend zu einem Gespräch in mein Zimmer. Immerhin aßen beide etwas zum Frühstück. Ein gutes Zeichen.

Während ich meinen Toast aß, dachte ich die ganze Zeit über den Grund und eine mögliche Lösung von Tim's Unpässlichkeit nach.

„Wir treffen uns in einer halben Stunde bitte mit den Tennistaschen in der Lobby. Dann geht es zum ersten Training auf dem Platz.“

Tim und Carlo nahm ich mit nach oben und wir setzten uns in mein Zimmer.

„So, Tim. Jetzt schilderst du mir bitte genau, was mit dir los ist.“

„Wenn ich das so genau wüsste. Seit wir hier sind, habe ich Probleme mit dem Atmen. Gestern beim Laufen wurde es dann ganz schlimm. Ich bekam kaum noch Luft und Carlo musste bei mir bleiben, damit die anderen weiterlaufen konnten.“

„Okay, das heißt also, dass ihr allein zurück zur Anlage gelaufen seid? Die großen Jungs haben euch nicht begleitet?“

„Nein, aber wir wollten das so. Sie sollten nicht meinetwegen auf ihr Training verzichten.“

„Was hatte ich für eine Ansage gemacht?“

Jetzt ging Carlo dazwischen.

„Ja, du hast gesagt, dass immer einer von den Großen bei uns bleibt. Aber…“

„Nichts 'aber'. Das war und ist verbindlich und ist nicht verhandelbar. Ihr seid zu jung, um hier allein herumzulaufen. Wenn was passiert, gibt das riesige Probleme. Naja, kommen wir zum eigentlichen Problem zurück. Ist es dann in der Nacht nicht besser geworden?“

„Nein, nicht wirklich. Erst heute früh wurde es besser. Ich habe wirklich keine Ahnung, was das sein könnte. Ich will aber auch nicht auf das Turnier verzichten.“

„Kann ich verstehen, aber das ist meine Entscheidung. Bist du vielleicht gegen irgendetwas allergisch?“

„Nein, nicht dass ich wüsste. Ich habe halt nur Probleme mit der Zeitumstellung und möchte unbedingt hier eine gute Leistung abliefern. Und jetzt das. Das ist so blöd.“

Ich konnte spüren, wie sehr sich Tim unter Druck gesetzt hatte. Jetzt brach einfach die pure Panik und Enttäuschung heraus.

„Hey, nun mal ganz locker bleiben. Wenn es heute früh besser geworden ist, hat sich dein Körper vielleicht etwas an die veränderte Luft gewöhnt. Lass uns einen Deal machen. Ihr fahrt mit uns zur Anlage und du versuchst dich normal vorzubereiten. Aber wenn du nur im Ansatz wieder eine Atemnot spürst, musst du mir versprechen, sofort zu mir zu kommen.“

„Okay, versprochen. Ich wollte dir einfach keinen zusätzlichen Stress machen. Das war keine böse Absicht.“

„Passt schon, Tim. Das glaube ich dir sofort. Aber hier trage ich für euch die Verantwortung und dafür brauche ich eure Mithilfe. Ich muss mich auf euch verlassen können.“

Damit war das für mich geklärt. Carlo bekam von mir noch ein Lob für sein fürsorgliches Verhalten. Danach schickte ich beide auf ihr Zimmer, um ihre Sachen zu holen. Auf Tim würde ich ein genaues Auge haben.

Eine gute Stunde später waren wir auf der Anlage und Tims Lebensgeister kehrten so langsam zurück. Er sah auch nicht mehr so verquollen aus. Die Umstellung auf den Hartplatz sollte nicht so schwierig werden, da wir in Halle ebenfalls zwei Hartplätze zur Verfügung hatten. Allerdings schien die klimatische Gewöhnung doch länger zu dauern. Für mich war es jedenfalls deutlich schwieriger als gedacht.

Tim und Carlo hatte ich in der Junioren Konkurrenz gemeldet. Die großen Jungs spielten das Future Turnier bei den Profis. Mal sehen wie sich das morgen darstellte. Mittlerweile war ich doch mehr angespannt als sonst.

Wir hatten zwei Trainingsplätze bekommen. Zwischen den Plätzen stehend, beobachtete ich meine Jungs. Der Schweiß floss in Strömen, aber ich staunte über Tim. Er zog gut mit und schien sich erholt zu haben. Selbst Fynn fragte mal bei ihm nach, ob alles okay wäre. Hoffentlich blieb das so.

Plötzlich hatte ich eine Eingebung. Die Medikamente, die Tim mittlerweile bekam - Was wäre, wenn sie diese Reaktion ausgelöst hatten? Das musste ich unbedingt mit ihm besprechen. Er bekam seit einigen Wochen ein unterstützendes Medikament gegen seine Unruhe. Vielleicht kam es hier zu einer Reaktion mit der Umstellung und dem Stress.

„Tim, kannst du bitte einmal zu mir an den Zaun kommen.“

Tim unterbrach seine Übung und kam mit seinem Schläger zu mir.

„Wie ist das mit deinen Medikamenten? Hast du die wie immer eingenommen?“

„Ähm, nicht ganz. Nach dem Flug habe ich einmal vergessen sie zu nehmen. Dafür habe ich dann beim nächsten Mal mehr genommen. Damit müsste das ausgeglichen sein.“

Jetzt musste ich schlucken und mich zwingen, mich nicht aufzuregen.

„Ahja, sag mal, hat dir deine Mutter nicht genau erklärt, wie du das Medikament einzunehmen hast? Wenn man es einmal vergisst, darfst du auf keinen Fall die Dosis erhöhen. Ich vermute, da liegt bereits die Ursache deines Problems. Kannst du mir bitte versprechen, in Zukunft solche Experimente zu lassen?“

„Sorry, aber das habe ich echt nicht gewusst. Ja, ich werde das ab jetzt anders machen und vor allem aufpassen, das Medikament immer passend zu nehmen.“

„Sehr gut, dann geh wieder auf den Platz. Aber sollte das Problem erneut auftreten, bitte sofort Bescheid sagen.“

„Danke. Mach ich.“

Und schon war er wieder auf dem Platz und hing sich richtig rein. Auch Carlo versuchte mit den großen Jungs mitzuhalten. Allerdings kamen sie an ihre körperlichen Grenzen. Deshalb stoppte ich sie.

„Tim und Carlo, für euch ist es genug. Ihr könnt auslaufen und duschen. Super gearbeitet, danke.“

Mit einem Lächeln im Gesicht schlugen die beiden sich ab und gingen gemeinsam vom Platz.

Die anderen ließ ich noch etwas schwitzen. Zum Schluss wollte ich noch eine Aufschlagübung machen. Auf Hartplatz war ein gutes Service noch wichtiger. Insbesondere Justin überzeugte hier. Er schlug mit Abstand den härtesten Aufschlag.

Nachdem Justin drei Asse in Serie geschlagen hatte, schüttelten die drei anderen Jungs resignierend den Kopf.

„Das ist echt unglaublich. Der haut uns die Kirschen um die Ohren. Wie ist das denn wohl bei den richtigen Superstars? Vor allem spielen die noch den Return gut zurück.“

Justin grinste und haute ihnen noch ein Ass um die Ohren. Dann brach ich das Training ab.

„So Leute, genug für heute. Nachher im Hotel machen wir noch die Gegneranalyse und dann ist heute früh schlafen angesagt. Morgen startet das Turnier.“

Fynn: Anspannung und Freude

Das erste richtige Training war hart. Sehr hart. Chris hatte uns nichts geschenkt und ich spürte meine Beine recht stark. Tim schien sich wieder zu stabilisieren. Das bewunderte ich an Chris, er war scheinbar durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Weder das fehlende Gepäck, noch der Zwischenfall mit Tim regte ihn äußerlich auf.

Als ich mit meinem Schatz unser Zimmer betrat, schmerzten meine Waden deutlich und ich hatte Sorge, dass ich Krämpfe bekommen könnte.

„Hast du die Magnesiumtabletten griffbereit verpackt?“

„Ja, hast du wieder Krämpfe?“

„Nein, noch nicht, aber meine Waden sind steinhart und tun weh.“

Dustin stellte seine Reisetasche aufs Bett und griff zielsicher in eine der Seitentaschen. Dann warf er mir die Packung mit den Tabletten zu. Schnell hatte ich mir mit Wasser einen Mineraliencocktail gemischt und nahm ihn in kleinen Schlucken zu mir.

Meinen Fehler, sich in den Sessel zu setzen, bemerkte ich erst, als ich wieder aufstehen wollte. Alle Muskeln taten mir weh. Ich fühlte mich wie ein alter Mann und Dustin schimpfte mit mir.

„Du bist auch echt nicht zu retten. Wie oft hat uns Chris schon gesagt, was wir nicht tun sollten, wenn die Muskeln hart werden. Aber du machst das immer wieder, Blödmann.“

Na toll, selbst mein Freund machte mich zur Schnecke. Ehrlicherweise hatte er ja auch recht.

Was mir gerade einfiel, meine Eltern hatten mir ja einen Brief mit auf die Reise gegeben. Bedingung war, ihn erst in den USA zu öffnen. Da wir mittlerweile angekommen waren, holte ich den Umschlag aus der Jacke.

„Schatz, willst du dabei sein, wenn ich den Umschlag von meinen Eltern öffne?“

„Umschlag? Was für einen Umschlag?“

„Na, den sie mir kurz vor der Abreise gegeben hatten. Ich sollte ihn doch erst öffnen, wenn wir hier sind. Jetzt sind wir ja in den USA und ich wollte nachschauen, was drin ist.“

„Ach ja. Klar, das möchte ich doch nicht verpassen.“

Ich wartete einen Augenblick bis Dustin neben mir stand und öffnete den Brief. Es befanden sich eine Karte und ein weiterer Umschlag darin. Sofort erkannte ich die Schrift meiner Mutter.

Mein lieber Fynn,

dein Vater und ich haben darüber gesprochen, dass es sicher vernünftig wäre, wenn wir euch etwas für die Reisekasse mitgeben. Wir wünschen euch eine tolle Turnierreise mit vielen neuen Erfahrungen und ohne böse Überraschungen. Passt bitte auf euch und auch auf Chris auf. Ihr braucht ihn noch. Habt ganz viel Spaß und bis bald.

Deine Eltern.

Wow, das waren tolle Worte und als ich den zweiten Umschlag öffnete, fielen mir drei hundert Dollar Scheine entgegen. Dustin fing einen in der Luft und die anderen beiden nahm ich vom Boden auf. Das war für mich richtig viel Geld.

„Boah, deine Eltern sind ja echt cool. Das ist doch total viel Geld. Was machen wir damit?“

„Ausgeben“, sagte ich spontan und musste lachen.

„Blödmann, wofür ausgeben? Wir dürften kaum Zeit haben, shoppen zu gehen.“

„Abwarten, lass mich das mit Chris klären. Vielleicht dürfen wir ja mal in die City und das Geld ausgeben. Aber ich muss auf jeden Fall etwas für meine Familie mitbringen. Vor allem für Patrick will ich etwas Besonderes finden.“

„Cool. Da wird er bestimmt nicht mit rechnen.“

„Das will ich hoffen. Es soll ja eine Überraschung werden. Schatz, könntest du mir vielleicht meine Waden etwas massieren. Das tut echt weh.“

„Ja, ja. Da kann ich ja schlecht nein sagen. Aber wann lernst du endlich, mehr auf dich zu achten. Leg dich mal auf den Boden.“

Zuerst war das richtig unangenehm, aber nach einigen Minuten entspannte sich meine Muskulatur und Dustin verstand es exzellent, mich zu entspannen.

Leider verspannte sich an anderer Stelle etwas und so wurde es doch noch etwas unanständiger. Wie gut, dass wir in unserem Hotelzimmer waren.

Leider entwickelte sich daraus ein anderes Problem. Wir kamen zur Gegneranalyse ein paar Minuten zu spät. Wir beeilten uns zwar, so schnell wie möglich zu Chris ins Zimmer zu kommen, aber es reichte nicht ganz. Als ich anklopfte, hörte ich bereits ein gereiztes „Herein“.

Dustin öffnete die Tür und alle Augen richteten sich auf uns. Chris schaute ziemlich genervt zu uns.

„Los, kommt rein. Warum seid ihr zu spät? Ihr wisst doch, dass ich Unpünktlichkeit nicht mag.“

Mir war klar, jede Ausrede würde es nur noch schlimmer machen.

„Sorry, Chris. Ich hatte wieder einmal Probleme mit den Waden. Da habe ich Dustin gebeten, mich etwas zu massieren. Dabei haben wir die Zeit vergessen.“

Chris schaute mich an, zog seine rechte Augenbraue hoch und wollte etwas sagen. Aber die anderen fingen an zu grinsen und Maxi antwortete schneller:

„Wir wollen uns gar nicht so genau vorstellen, was Dustin so alles massiert hat.“

Dann herrschte für einen Moment Stille, bis Chris laut zu lachen begann. Und dann lachten sich alle auf unsere Kosten kaputt. Aber gut, wir waren ja schließlich selbst schuld. Allerdings war Tim eher rot geworden, während Carlo grinste. Ich hatte vollkommen vergessen, dass sie auch dabei waren. Jetzt war es mir schon etwas peinlich. Was sie wohl denken würden?

„Kann ich auch mal bei Dustin vorbeikommen für eine Massage? Das scheint ja Wunder zu wirken.“

Alle schauten zu Carlo. Der grinste frech und stupste Tim von der Seite an. Alle lachten noch lauter und auch Chris konnte sich kaum beruhigen. Als es dann doch wieder etwas ruhiger wurde, fragte Chris Carlo:

„Ach, das willst du wirklich? Ich glaube, dass ich das nicht erlauben kann.“

Jetzt hatte Dustin unsere Chance erkannt, von uns abzulenken und ergänzte noch:

„Ich glaube, das sollte Tim besser bei dir übernehmen. Dann wäre es auch wieder erlaubt.“

Wieder brachen alle in Gelächter aus und innerhalb weniger Minuten war unsere Verspätung kein Thema mehr. Chris erklärte uns den Ablauf für den nächsten Tag und besprach anschließend mit jedem Einzelnen die Strategie. Ganz zum Schluss sagte er allerdings:

„Und damit das für alle klar ist, morgen werde ich nicht so nachsichtig sein, sollte erneut jemand unpünktlich sein. Und heute ist für Tim und Carlo um neun Uhr Bettruhe und für die anderen um halb elf angesagt. Noch Fragen?“

Das war nicht der Fall. Das Meeting löste sich auf. Mein Freund und ich verschwanden schnell auf unserem Zimmer. Die wenige gemeinsame Zeit wollten wir nutzen.

„Wie blöd bist du eigentlich?“, fragte mich Dustin.

„Warum? Hätte ich Chris eine Notlüge gesagt, wären wir erst recht dran gewesen.“

„Ja, aber Tim und Carlo denken doch, wir sind total versaut und denken nur an das eine.“

„Ein bisschen versaut sind wir doch auch. Du hättest dich ja auch zurückhalten können.“

Dabei musste ich lachen und Dustin umarmte mich und gab mir einen Kuss. Damit war diese Diskussion beendet und wir nutzten die gemeinsame Zeit ausgiebig. Allerdings kamen wir dadurch pünktlich in den Schlaf und waren am nächsten Morgen ausgeschlafen.

Was man von Tim und Carlo überhaupt nicht sagen konnte. Justin und Maxi waren fit wie immer, aber unsere beiden Jüngsten wirkten total müde und träge. Selbst Carlo war am Tisch ganz still. Komischerweise ließ Chris sie in Ruhe. Uns hätte er mit Sicherheit ein paar Fragen gestellt. Es wird ihm mit Sicherheit nicht entgangen sein, dass die beiden nicht gut aussahen.

Wir hatten nach dem gemeinsamen Frühstück noch eine halbe Stunde Zeit bis wir uns zur Anlage aufmachen mussten. Dustin und ich überprüften gerade noch einmal unsere Taschen. Jetzt etwas zu vergessen wäre ganz schlecht gewesen. Plötzlich klopft es an unserer Tür.

„Herein“, sagt Dustin.

Die Tür öffnet sich und Tim stand vor uns.

„Sorry, störe ich gerade oder habt ihr einen Augenblick Zeit?“

Mich erstaunte sein Verhalten. Früher hätte er mit Sicherheit nicht so freundlich gefragt.

„Klar, komm rein und setz dich.“, bot ich ihm an.

Er nahm im Sessel Platz und ich setzte mich auf das Sofa. Dustin war noch mit seiner Tasche beschäftigt, deshalb übernahm ich das Gespräch.

„Was ist denn los? Wo brennt es?“

„Carlo und ich haben seit einigen Tagen heftige Diskussionen und manchmal sogar etwas Streit. Ich möchte euch etwas fragen.“

„Du hast mit Carlo Streit? Das kann ich ja kaum glauben.“

„Ja, ich weiß. Aber momentan ist es etwas schwierig und ich möchte das wieder besser hinbekommen.“

„Okay, dann schieß mal los. Was für eine Frage hast du?“

„Wie hast du gemerkt, dass du schwul bist? Carlo behauptet, dass man das schon immer gewesen ist und es nicht plötzlich einfach so kommt. Ich bin da anderer Meinung, weil ich erst seit einiger Zeit denke, dass ich zwar auf Mädchen stehe, aber auch Jungs interessant finde.“

Ich habe für einen Moment gedacht, dass er mich auf den Arm nehmen will, aber er machte einen ganz ernsthaften Eindruck. Diese Frage schien wirklich ernst gemeint.

„Hm, schwierige Frage. Also bei mir kam diese Erkenntnis auch eher plötzlich. Obwohl ich seit meiner Pubertät mir auch immer die Jungs angeschaut habe. Dass ich mich in Dustin verliebt hatte, bemerkte ich allerdings recht schnell. Am Anfang habe ich mich dagegen gewehrt. Erst als ich das akzeptieren konnte, war ich bereit mit Dustin zusammenzukommen. Heute bin ich froh, dass ich meinen Gefühlen gefolgt bin. Allerdings hat uns Chris immer wieder unterstützt und geholfen, zu uns zu stehen.“

Tim hörte mir ganz genau zu. Allein das war schon ungewöhnlich, aber als Chris dann hereinkam, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Er beendete einfach das Gespräch und Chris bekam nicht mit, über was wir gesprochen hatten. Er fragte auch nicht, er erinnerte uns nur daran, dass wir uns so langsam auf den Weg machen sollten.

Heute wurde es ernst. Das erste Turnier auf unbekanntem Terrain. Wobei das Klima für mich die größte Umstellung bedeutete. Zusätzlich zur Zeitverschiebung.

Das Einschlagen verlief normal. Lediglich die letzten zwanzig Minuten sollte ich mit Tim und Dustin mit Carlo spielen. Justin war der erste von uns, der auf den Platz musste. Deshalb hatte sich Chris bereits mit ihm zurückgezogen. Maxi spielte sich mit mir und Tim warm.

Bald wurden wir gebeten, den Platz zu räumen und für andere Spieler freizumachen. Das bedeutete, es wurde auch für uns Zeit, sich in der Umkleide vorzubereiten. Ich wechselte noch einmal alle Griffbänder und spürte eine steigende Anspannung. Dustin versuchte mich zu beruhigen, aber er war genauso nervös. Es war unser erstes Turnier in Amerika. Bisher hatte ich gelegentlich davon geträumt, jetzt war dieser Traum Wirklichkeit geworden, aber trotzdem fühlte ich mich unwohl. Hoffentlich würde sich das geben, wenn ich auf dem Platz stand. Mir fehlte jetzt Chris, der aber war bereits bei Justin am Platz.

Und es kam so wie ich befürchtet hatte. Ich musste auf den Platz und Chris war noch immer bei Justin. Dustin kam zwar mit mir, aber das war für mich heute kein Ersatz. So waren die ersten Spiele grausam. Meine Nervosität nahm nicht ab und ich verkrampfte immer mehr und spielte entsprechend schlecht. Beim Spielstand von 2:5 im ersten Satz entdeckte ich plötzlich Chris an seinem Ort am Platz. Erst jetzt konnte ich ansatzweise frei spielen. Es hört sich bescheuert an, aber es war einfach so. Obwohl wir schon reichlich Turniererfahrungen hatten, ich fühlte mich wie ein Anfänger.

Als ich nach dem Seitenwechsel in die Nähe von Chris kam, konnte ich seine Anweisungen klar hören. Hier war es von Vorteil, auf einer so großen Anlage mit vielen Plätzen zu spielen. Es gab viele Hintergrundgeräusche, so dass der Schiedsrichter nicht alles hören konnte.

Chris gab mir direkte Hilfen an die Hand und dies ließ in mir wieder die Sicherheit wachsen, die ich so vermisst hatte. Jetzt konnte ich plötzlich wieder das spielen, was ich gelernt hatte. Die Angst und Nervosität waren komplett weg.

Im zweiten Satz konnte ich gut mithalten und wir gingen in den Tie-break, den ich mit 7:4 gewinnen konnte. In der Satzpause gab mir Chris mit Handzeichen zu verstehen, dass ich den Platz verlassen sollte. Warum fiel mir das nicht selbst ein? In der Umkleide trafen wir dann zusammen und Chris grinste mich an.

„Los, du verwirrtes Huhn. Jetzt spiel endlich mal die besprochene Strategie. Dein Gegner ist eine machbare Aufgabe. Du schlägst dich heute selbst. Du kannst um Welten besser spielen. Mach dich frei von deinen negativen Gedanken. Du bist der bessere Spieler und das möchte ich jetzt sehen.“

Er gab mir noch einen kleinen Klaps auf den Rücken und schon war er wieder verschwunden.

Entschlossen und voll motiviert ging ich wieder auf den Platz. Ich wollte Chris zeigen, dass ich genau das umsetzen konnte.

Es war unfassbar. Ich ging auf den Platz und mein Kopf war plötzlich frei von den negativen Gedanken und ich konnte den Satz mit 6:3 für mich entscheiden. Das erste Match in Amerika hatte ich gewonnen. Damit war ich im Preisgeld und bekam auch entsprechend wichtige Weltranglistenpunkte.

Chris: Zuckerbrot und Peitsche

Justin hatte mit einer großartigen Leistung seinen Gegner an die Wand gespielt, obwohl dieser deutlich höher eingestuft war. Ich war mir mittlerweile sehr sicher, dass sich Justin sehr schnell nach oben spielen würde. Ihm traute ich tatsächlich zu, auch auf der großen ATP-Tour Fuß zu fassen.

Für meine Jungs konnte ich das noch nicht wirklich einschätzen. Aber das war auch noch gar nicht wichtig. Wenn es reichen würde, gut, wenn nicht,wäre es auch nicht schlimm, denn sie würden eh eine berufliche Ausbildung bei uns machen. Keiner würde so früh ausschließlich auf Tennis setzen können, solange er im break-point Team sein würde.

Fynn hatte wieder einmal mit seinen Nerven zu kämpfen. Erst, als ich vor dem dritten Satz mit ihm gesprochen hatte, gelang es ihm sich freizuspielen. Dustin hatte in der ersten Runde einen übermächtigen Gegner. Aber er gab sich nicht auf und probierte Vieles aus. Das imponierte mir. Bei ihm sah ich vor allem eine enorme Persönlichkeitsentwicklung. Maxi hingegen hatte sein Match komplett verschlafen. Er ging sang- und klanglos unter. Das ärgerte mich. Diese Art und Weise ging überhaupt nicht und da hatte ich Gesprächsbedarf.

Tim und Carlo waren in der Juniorenkonkurrenz gut dabei. Hier waren sie erstaunlicherweise zu den Titelanwärtern zu zählen. Ob sie das umsetzen konnten, würde ich abwarten müssen. Die erste Runde überstanden beide jedenfalls ohne Probleme. Für mich war erkennbar, dass die teilnehmenden Amerikaner nicht das Niveau hatten, auf welchem sich mittlerweile Carlo und Tim befanden.

Mir machte diese schwüle Luft zu schaffen und ich war froh, dass ich nach den ersten Spielen im klimatisierten Clubhaus sitzen konnte. Meine Jungs waren entweder beim Auslaufen oder schon bei der Physio. Maxi hatte ich zu einem Vieraugengespräch gebeten. Was mich freute, meinen Jungs war mittlerweile klar, dass ich bei solchen Gesprächen nicht gestört werden wollte. Ich wartete noch auf Maxi, als mich ein anderer Spieler ansprach. Er bat mich um ein Autogramm. Ich musste ziemlich verdutzt geschaut haben, denn er fragte nach:

„Du bist doch der Coach von Dustin und Fynn, oder nicht? Ihr seid in der Schwulenszene mittlerweile ziemlich bekannt.“

Er stellte sich mir kurz vor, aber mit seinem Namen verband ich allerdings etwas anderes. Dooley hieß er mit Familiennamen.

„Dann darf ich wohl annehmen, dass du auch einer von uns bist. Sonst würdest du das wohl nicht so sagen.“

„Das stimmt. Allerdings noch nicht geoutet. Das kann ich mir wegen der Sponsoren nicht leisten.“

Das alte Thema wieder. Leider immer noch Alltag im Profisport. Es wurde mir wieder vor Augen geführt, in welch außergewöhnlich guter Lage wir uns in Halle befanden.

„Es gibt eine Schwulenszene im Tennis?“, fragte ich erstaunt?

„Oh ja. Gerade hier in den Staaten ist euer Projekt in Halle bekannt. Es gibt einige Spieler, die eure Entwicklung aufmerksam verfolgen und euch beneiden.“

„Warum beneiden? Wir arbeiten genauso hart wie alle anderen, vielleicht sogar noch etwas härter, weil es nicht immer einfach ist, die Leute nur mit Leistung zu überzeugen.“

„Weil ihr ein Team habt, das hinter euch steht und mit Jan einen bekannten Coach an der Spitze. Das würde ich mir hier auch wünschen.“

„Hm, ja. Das stimmt. Es ist eine große Hilfe so ein Team hinter sich zu wissen. Hast du einen Überblick wie groß die schwule Gemeinschaft im Tennis ist?“

„Nein, nicht komplett. Aber hier in New York kenne ich allein fünf Spieler auf College Niveau und einen außer mir, der auch bei den Profis Turniere spielt.“

„Wow, dann seid ihr schon weiter als wir. Denn außer uns kenne ich noch keine weiteren Spieler, die ebenfalls schwul sind. Die Angst ist vermutlich zu groß.“

„Ja, die Abhängigkeit von den Sponsoren ist sehr groß. Das kann sich kaum ein Nachwuchsspieler leisten, so ein Risiko einzugehen.“

„Das ist bedauerlich, aber wer weiß, vielleicht können wir ja mit unserem Engagement etwas bewegen. Jedenfalls wird das in Halle von allen getragen. Gerade mit Jan und Gerry Weber haben wir zwei Personen an der Spitze, die uns unterstützen.“

„Echt? Gerry Weber weiß von eurem Status? Krass, das ist ja cool.“

„Ja, er hat es von Anfang an unterstützt, ohne eine Gegenleistung zu fordern außer den vollen Einsatz der Spieler für dieses Projekt.“

„Genau so etwas bräuchte es auch hier. Eine bekannte Person, die bereit wäre, das zu unterstützen.“

„Vielleicht ist die Zeit bald reif dafür. Ich bin gespannt, was hier bei diesem Turnier passiert. Entschuldige bitte, aber Maxi kommt gerade. Wir haben etwas zu besprechen. Ich würde mich freuen, wenn wir heute Abend zusammen essen könnten.“

„Oh ja, sehr gern. Wenn ihr wollt, können wir auch in einem Szene-Lokal essen. Ich kenne den Besitzer sehr gut und das Essen ist klasse. Auch für uns Sportler.“

„Hast du keine Angst, dass du dort mal erkannt wirst?“

„Hihi, nein. Dort ganz sicher nicht. John, das ist der Besitzer, ist zwar nicht schwul, aber er hat ein offenes Ohr und kennt sich in der Szene extrem gut aus. Er weiß, was für uns auf dem Spiel steht.“

„Klasse, solche Leute braucht es. Wir sind dabei. Wo treffen wir uns? Wir kennen uns hier nicht aus.“

„Kein Problem. Wir treffen uns am besten hier. Oder in welchem Hotel seid ihr untergebracht?“

Ich nannte ihm die Adresse und er fand es dann praktischer, dass er dorthin kommen würde. Ich freute mich über dieses Kennenlernen und war sehr gespannt, was uns dort erwartete.

Ebenso gespannt war ich auf das Gespräch mit Maxi. Er schien zu ahnen, dass ich unzufrieden war. Seine Haltung auf dem Platz ist nicht zu tolerieren.

„Setz dich, Maxi. Ich bin mir sicher, dass du weißt, warum ich dich zu einem Gespräch gebeten habe.“

„Klar, es geht um mein schlechtes Spiel. Aber ich habe einfach überhaupt keinen Bezug zum Spiel gefunden. Als ob ich gar nicht auf dem Platz war. Ich ärgere mich ja selber darüber, aber momentan fehlt mir ein Ansatz.“

„Wofür ein Ansatz?“

„Für eine Lösung. Ich stand total neben mir und weiß nicht einmal warum. Ich habe keinen Lösungsansatz.“

„Okay, das ist schon einmal ein guter Startpunkt. Du beschreibst dein Empfinden auf dem Platz. Wie war es denn vor dem Spiel? Warst du nervös oder nur motiviert?“

„Auch nervös, klar. Hier ist alles anders und ich hatte keine Ahnung, was mich hier erwartete. Aber auch voll motiviert. Ich wollte zeigen, was wir gelernt haben. Und genau das ist vollkommen in die Hose gegangen. Das ist frustrierend, wenn man hart dafür gearbeitet hat und in dem Moment, wo man das abrufen soll und will, nichts davon klappt.“

Er wirkte sehr niedergeschlagen bei diesem Gespräch. Also war meine Wahrnehmung während des Spieles falsch. Er hatte nicht einfach aufgegeben, sondern war nicht in der Lage gewesen, eine Lösung zu finden.

„Das kann ich gut verstehen. Aber wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du gespürt, dass dir das Spiel aus der Hand läuft. Du warst aber nicht in der Lage, für dich eine Lösung zu finden.“

Er nickte stumm.

„Warum gibst du mir nicht ein Zeichen, dass du Hilfe möchtest. Ich kann doch nicht in deinen Kopf hineinschauen. Im Gegenteil, für mich sah es nach abschenken aus. Da hatte ich auch keine Lust, dir Hilfe anzubieten. Das ist doch blöd. Wir sind mit demselben Problem beschäftigt und finden keine Lösung, weil wir nicht miteinander sprechen. Das ist total bescheuert.“

Maxi schaute mich an und schien plötzlich zu begreifen, was ich gemeint hatte.

„Also du hast gar nicht erst versucht, mir zu helfen, weil das so aussah ich würde abschenken?“

„Genau.“

„Hm, umso bescheuerter. Hätte ich dich um Rat gefragt, wäre es vielleicht besser gelaufen und ich hätte nicht so schlecht ausgesehen.“

„So ist das. Ich finde es aber klasse, wie du mir beschreiben kannst, was auf dem Platz passiert ist. Ich hätte eigentlich auch wissen müssen, dass du nicht mehr einfach ein Spiel wegschenkst. Diese Zeiten sind vorbei.“

Diese Anspielung auf sein früheres Verhalten war ihm sichtlich unangenehm. Sein Körper spannte sich komplett an und sein Blick wich mir aus.

„Gut, dann haben wir beide nicht optimal gearbeitet. Das müssen wir besser machen. Also schauen wir nach vorn und du wirst jetzt die anderen unterstützen. Beim nächsten Turnier wird es besser laufen. Wir müssen auf dem Platz besser kommunizieren.“

Damit konnte ich das Gespräch beenden. Mir war klargeworden, dass selbst Maxi kein Spiel mehr verschenken würde. Auch für mich ein Lernprozess.

Der Abend versprach spannend zu werden, denn Mike kam wie verabredet zu uns ins Hotel. Von dort ging es mit der Subway zwei Stationen weiter. An der Haltestelle wartete ein weiterer Spieler auf uns. Mike stellte uns Hector vor. Er war Südamerikaner und kam aus Ecuador.

Nach einigen Minuten Fußweg standen wir vor einem unscheinbar aussehenden Gebäude. Nur ein kleines Schild verwies auf den Club, den wir gemeinsam betraten. Obwohl es ein Kellergeschoss war, wirkte das Lokal mit dem Restaurant hell. Dort konnte man ungestört von der Musik speisen.

Wir nahmen an einem Tisch Platz und schnell war klar, dass man sich dort auf Sportler eingestellt hatte. Es gab eine eigene Sparte für Sportleressen und meine Jungs wählten ohne mein Zutun ihr Essen ausschließlich aus diesem Bereich.

An den Wänden hingen Bilder von Sportlegenden. Aus den verschiedensten Sportarten. Allerdings war es auffällig, dass einige Tennisbilder signiert waren. Mike berichtete uns, dass John, der Besitzer, einige gute Kontakte zu den alten Legenden aus den siebziger und achtziger Jahren hätte. Ein Jimmy Connors, Björn Borg, Illie Nastase, Chris Evert und Guillermo Vilas hing an den Wänden. Alle Bilder persönlich signiert. Das beeindruckte mich schon etwas. Allerdings machte mich eine Sache stutzig. Es fehlte eine große Tennislegende der Amerikaner. Das heißt nicht ganz, denn ein recht aktuelles Bild zeigte ihn in der Bar an der Theke. John McEnroe.

Wir unterhielten uns während des Essens nur über das Turnier und irgendwann fiel mir ein, woher ich den Namen Dooley kannte.

„Sag mal, Mike, der Name Dooley kommt mir bekannt vor. Du bist nicht zufällig mit Tom Dooley verwandt?“

Bevor er antworten konnte, fragte Fynn:

„Wer ist denn Tom Dooley? Muss man den kennen?“

„Hihi, wenn man Sport mag, dann schon. Das war ein amerikanischer Fußballprofi in der Bundesliga.“

Mike schaute erstaunt in die Runde und erwiderte:

„Wow, damit habe ich nicht gerechnet, dass ihr euch daran erinnern könnt. Aber es stimmt, ich bin mit Tom Dooley verwandt. Das ist mein Vater.“

„Ach, das ist ja cool. Jungs, der Mann war in den Neunzigern eine Granate in der Fußballbundesliga.“

Meine Truppe staunte etwas, aber Mike schien das eher unangenehm zu sein, denn er warf ein:

„Aber ich möchte nicht ständig mit meinem Vater verglichen werden. Deshalb habe ich auch Tennis als meine Sportart gewählt.“

Das Essen war gut und reichhaltig. Schnell kam auch Justin gut ins Gespräch. Mike schien sich bestens mit ihm zu verstehen. Für Tim und Carlo war es zeitweise sehr schwierig unseren Gesprächen zu folgen. Sie hatten noch etwas Probleme mit der Sprache. Vor allem, wenn Mike und Hector schnell sprachen.

Heute konnten wir nicht allzu lange bleiben, denn morgen mussten die Jungs ja wieder auf den Platz. Dennoch erlaubte ich ihnen einen Blick in den Discobereich zu werfen. Ich blieb mit Mike zurück, während Hector mit meinen Jungs in die Musikhalle verschwand.

„Warum ist McEnroe nicht mit alten Bildern an den Wänden. Hat er sein Einverständnis nicht gegeben?“, fragte ich Mike.

Er schaute mich kurz an und fing an zu lachen.

„Nein, aber fast. Im Detail kann ich dir das nicht erklären, aber wenn ihr morgen Abend noch im Turnier seid, dann klärt sich das vermutlich. Du kannst ihn das selbst fragen. Er kommt nämlich morgen Abend zur Players Party.“

„Was? Echt jetzt? Das ist mal eine Überraschung. Wie kommt es dazu?“

„Das hat mit seinem Engagement für den Tennisnachwuchs zu tun. Übrigens ist er auch Mitbesitzer dieses Clubs. Daher kennt er unsere Probleme sehr gut. Vielleicht kannst du ihm ja von deinen Erlebnissen in Europa berichten. Das dürfte ihn mit Sicherheit interessieren. Ich würde ihm gern von euch berichten, wenn du erlaubst.“

„Äh, ja klar. Das ist ja noch eine Überraschung. 'Big Mac', das war sein Spitzname, unterstützt schwule Leistungssportler. Das habe ich noch nicht gewusst. Respekt.“

Diese Neuigkeit erfreute mich, denn genau solche Persönlichkeiten brauchte es, um homosexuelle Sportler zu unterstützen.

Leider war es schon an der Zeit, wieder ins Hotel zu gehen. Meine Jungs hatten einen weiteren, anstrengenden Tag vor sich.

Maxi: Chris in Hochform

Es war für mich eine Selbstverständlichkeit, Chris zu unterstützen. Ich war ausgeschieden und er gab mir verantwortliche Aufgaben. Ich sollte das Aufwärmen von Tim und Carlo beaufsichtigen.

Heute war Tim auch wieder gut drauf und somit waren wir zeitig auf der Anlage. Der gestrige Abend hatte bei uns keine negativen Folgen. Im Gegenteil, Mike und Hector waren auch heute oft mit uns zusammen. Es war schön, auch in den USA Freunde gefunden zu haben.

Es standen heute die Viertelfinals an und bei Tim und Carlo waren sogar zwei Runden zu spielen. Also ein volles Programm.

Chris hatte sich mit den anderen ins Clubhaus zurückgezogen. Dort wollte er mit ihnen die Strategie besprechen. Tim und Carlo mussten schon sehr früh anfangen und die Strategie hatte Chris bereits beim Frühstück begonnen mit den beiden zu besprechen.

Allerdings konnte ich spüren, dass auch Carlo jetzt etwas aufgeregt war. Beim Einschlagen fragte er etwas unsicher:

„Wird uns Chris heute gar nicht betreuen? Irgendwie ist das komisch, wenn er nicht da ist.“

„Erst einmal müsst ihr mit mir Vorlieb nehmen. Ich denke aber, dass er auf jeden Fall bei euch vorbeischauen wird. Konzentriert euch nur auf den nächsten Gegner.“

Tim hielt den Ball an und beide kamen zu mir an die Bank. Tim grinste mich an.

„Du hörst dich genauso an wie Chris.“

„Na, dann ist ja gut. Dann braucht er ja nicht vorbeizukommen. Wenn ich genauso gute Sprüche machen kann, ist es für euch ja kein Unterschied.“

„Sprüche ja, aber ob du genauso viel wie Chris weißt, möchte ich bezweifeln.“

Bei Tim wäre ich jetzt sauer geworden, aber Carlo grinste richtig, als er das gesagt hatte. Ich wollte ihm gerade einen Spruch zurückgeben, da stand plötzlich Chris hinter ihm:

„Muss er auch gar nicht. Er ist ja auch ein wenig jünger als ich. Also kann er gar nicht so viel wissen, aber sein Wissen wird für euch reichen.“

Carlo zuckte zusammen und auch Tim war erschrocken. Ich musste lachen, weil Chris das so gut rüberbrachte.

„Chris? Wo kommst du denn so plötzlich her?“, fragte Carlo, nachdem er sich etwas von dem Schreck erholt hatte.

„Aus der Tiefe des Raumes.“, antwortete Chris.

Auch das war eine typische Antwort von ihm. Immer wieder nahm er sich auch selbst nicht so ernst.

„Ich habe immer ein Auge auf euch, das solltet ihr aber mittlerweile auch wissen. Fühlt euch von mir nie unbeobachtet.“

„Okay, okay. Das stimmt. Hätte ich eigentlich auch wissen müssen.“

„Lass gut sein, Tim. Ist doch alles gut. Wie ist die Stimmung bei euch? Seid ihr sehr aufgeregt oder freut ihr euch, dass es gleich los geht?“

„Beides. Ich bin schon aufgeregt, aber freuen tue ich mich auch auf das Match. Vor allem, dass ich heute nicht so lange warten muss.“

Chris klopfte Tim auf die Schulter und zwinkerte Carlo zu. Sofort lockerte sich die Situation auf. Dann drehte sich Chris zu mir und fragte:

„Wie machen sich die Jungs unter deiner Führung? Bist du zufrieden?“

„Äh, wie?“, stotterte ich total überrascht.

„Na, du bist doch heute ihr verantwortlicher Coach. Da musst du doch wissen, ob du zufrieden bist.“

Toll, dachte ich. Jetzt hatte ich plötzlich die Verantwortung als Coach. Das war so nicht abgesprochen. Aber Chris erwartete von mir eine Antwort. Ich zögerte, denn wohl fühlte ich mich gerade überhaupt nicht.

„Ganz ehrlich, Chris. Ich fühle mich überhaupt nicht als verantwortlicher Coach. Ich weiß ja noch nicht einmal welche Strategie ihr besprochen habt. Vielleicht erwartest du jetzt etwas viel von mir.“

Mein Puls schlug mir gerade bis zum Hals. Obwohl ich vor Chris überhaupt keine Angst haben musste, fühlte ich mich dennoch total unwohl.

Chris drehte sich um, fing an zu grinsen und meinte:

„Maxi, du hast gerade die einzig richtige Antwort gegeben. Gefällt mir außerordentlich gut. Du hast meine Aufgaben umgesetzt und jetzt, als ich dich zum verantwortlichen Coach machen wollte, hast du mir ehrlich widersprochen. Sehr gut. Aber ich möchte, dass du für mich Aufgaben übernimmst. Wir treffen uns gleich an Platz zehn und dort werde ich dich genauestens einweisen. Dann kannst du Carlo als Coach betreuen. Tim werde ich übernehmen. Wenn die anderen vorher auf den Platz müssen, kommen sie auch ein paar Minuten ohne Coach aus.“

Heute also richtig coachen. Das hatte ich so noch nicht. Klar, wir haben uns gegenseitig unterstützt, aber richtig für ein Spiel verantwortlich sein, das war neu. Ich kam an Platz zehn an und Chris saß bei Tim am Platz. Das Match hatte noch nicht begonnen. Sie schlugen sich ein.

„Komm, setz dich. Ich erkläre dir, was ich mit Carlo besprochen habe.“

Chris gab mir sehr präzise Informationen zu dem Gegner und ich lernte schnell, wie das Spiel laufen sollte. Was mich wunderte, woher Chris all diese Informationen hatte. Es waren nahezu alles amerikanische Nachwuchsspieler.

„Woher hast du nur die ganzen Infos zu den Spielern? Wir waren doch noch nie hier.“

„Na, Jan hat eine große Datenbank und Justins Vater hat mir seine Daten zur Verfügung gestellt. Er kennt viele der US Spieler.“

Eine Stunde später staunte ich erneut, denn die Beschreibung über Carlos Gegner passte total. Ich konnte Carlo immer wieder Hinweise geben und ihn bei dem Spiel unterstützen. Chris hatte mich gut vorbereitet und so schlug Carlo seinen Gegner mit einer guten Leistung. Carlo stand damit im Viertelfinale, das noch am Nachmittag gespielt wurde.

Jetzt waren aber meine Freunde an der Reihe. Chris war heute in Bestform. Er regelte alle Abläufe und blieb wie immer ruhig und sehr souverän in seinen Anweisungen. Tim hatte übrigens sein Einzel auch gewonnen.

Ich ging zu Fynn an den Platz, Chris war bei Justin und Dustin gleichzeitig, weil sie nebeneinander spielten. Fynn ohne Dustin war hin und wieder schwierig zu betreuen. Das spürte ich auch heute. Er war ständig unzufrieden und meckerte mit sich herum. Meine Versuche, ihn zu beruhigen, waren nicht wirklich erfolgreich. Beim Stand von 3:6 und 0:1 hatte ich mich entschieden, Chris um Rat zu fragen.

„Kann ich dich mal stören? Es geht um Fynn.“

„Klar, setz dich. Was liegt an?“

„Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn noch beruhigen kann. Ständig ist er am Lamentieren und regt sich auf. Schon zweimal ist sein Schläger auf dem Platz gelandet. Irgendwie kann ich nicht das vermitteln, was du mir gesagt hast.“

Chris hörte mir genau zu, lächelte kurz und antwortete:

„Ach ja, das alte Problem wieder. Kaum ist er ohne Dustin auf dem Platz, wird es schwierig. Ich hatte gehofft, dass wir das hinter uns gelassen hätten. In Ordnung, danke. Kannst du bitte hier bleiben und Justin und Dustin im Auge behalten. Sie spielen beide gut, auch wenn Dustin zurückliegt.“

„Wie steht es bei Justin?“

Chris schaute etwas genervt, denn als ich auf den Platz sah, war der Spielstand auf einer Tafel angezeigt.

„Okay, okay. Ich habe es gesehen. Sorry.“

Chris zeigte mir den Daumen hoch und war verschwunden.

Es dauerte nicht lange und Dustin hatte realisiert, dass Chris nicht mehr bei ihm am Platz saß, sondern ich. Beim Seitenwechsel winkte er mich an seine Bank.

„Was ist los? Gab es Probleme, oder weshalb hast du Chris geholt?“

„Nein, ich wollte seinen Rat, weil ich unsicher war. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, bei Fynn ist alles okay.“

Dustin nickte.

„Wie läuft es bei dir?“

„Ich spiele gut, aber irgendwie bekomme ich den Punkt nicht. Chris meinte, ich sollte so weiter spielen, aber ich spüre, dass ich so nicht gewinnen kann. Am liebsten würde ich etwas ausprobieren. Trau mich aber nicht, weil Chris eine andere Strategie vorgegeben hat.“

„Hey, Chris sagt immer, dass wir auf dem Platz spielen und entscheiden. Er gibt nur Hinweise. Wenn du das Gefühl hast, so keine Chance mehr zu haben, dann probiere etwas aus.“

In diesem Moment kam der Supervisor vorbei und ich handelte mir einen Rüffel wegen unerlaubten Coachings ein. Also verließ ich meine Position wieder und stellte mich an Chris alte Position.

Justin spielte extrem selbstbewusst und führte deutlich gegen einen auf der Rangliste deutlich besser stehenden Spieler. Das war beeindruckend. Er spielte immer das, was er im Training zeigte. Als ob er überhaupt keine Nerven hätte.

Also konnte ich mich etwas mehr um Dustin kümmern. Er fing nun an, immer häufiger ans Netz vor zu rücken und damit seinen Gegner zu verwirren. Auch wenn er nicht jeden Volley zwingend spielte, erreichte er zumindest, dass sein Gegner unruhig wurde. Dustin gestaltete den zweiten Satz jetzt ausgeglichen und es wurde sogar spannend.

Als wenige Minuten später Chris wieder bei mir auftauchte, hatte Dustin gerade den zweiten Satz überraschend gewonnen. Chris schaute mich irritiert an und fragte:

„Was ist denn hier passiert? Ist der Gegner eingebrochen oder hat sich Dustin noch mehr gesteigert?“

„Ähm, ich glaube weder noch. Dustin hat einfach seine Strategie geändert. Er war der Meinung, er könnte nicht mehr besser spielen und käme so nicht zum Erfolg. Er würde am liebsten etwas Anderes ausprobieren.“

„Gut, und warum hat er das nicht einfach getan? Warum musste ich erst weggehen, damit er es ausprobieren konnte?“

Ich fühlte mich jetzt nicht besonders wohl, denn ich wollte Chris keinen Vorwurf machen. Aber lügen wollte ich auch nicht. Ich entschied mich, gar nichts dazu zu sagen.

„Vielleicht fragst du Dustin nachher selbst. Ich möchte nicht, dass es zu Missverständnissen kommt. Aber ich glaube, er hatte sich nicht getraut, deine Strategie zu verlassen.“

Chris schaute mich an und dann hinüber zum Platz, wo Dustin gerade seinen Aufschlag zum 2:1 im dritten Satz gewonnen hatte.

Plötzlich nickte Chris und lächelte. Er sagte aber nichts mehr und setzte sich einfach wieder auf seinen Platz. Was hatte das zu bedeuten? Hatte ich etwas Falsches gesagt? War er jetzt sauer auf uns?

Ich wollte wieder zu Fynn gehen, aber Chris hielt mich zurück:

„Du kannst ruhig hierbleiben. Fynn hat verloren. Ich habe bereits mit ihm gesprochen und einiges klären können. Ich glaube, er ist einfach in sein altes Verhalten gefallen und hat es nicht bemerkt. Erst als ich ihn zur Ordnung gerufen hatte, wurde er wieder klar im Kopf. Das war allerdings zu spät, so hat er leider verloren. Ich denke, er wird gleich zu uns kommen wenn er auslaufen war.“

Ich setzte mich neben Chris. Irgendwie fühlte ich mich unwohl. Sollte ich Chris das sagen? Ich entschied mich, offen mit ihm zu sprechen.

„Kann ich dich etwas fragen?“

„Klar, raus damit. Was arbeitet gerade in dir? Ich habe es schon die ganze Zeit bemerkt, dass dich etwas bewegt.“

„Warum hat Dustin sich nicht getraut, in deinem Beisein die Strategie zu verändern? Wieso sagt er mir das dann, als du weg warst? Ich fühle mich gerade etwas blöd.“

„Ah, okay. Ich verstehe. Also warum er das nicht gemacht hat, weiß ich nicht. Das müssten wir ihn nach dem Spiel fragen. Aber warum fühlst du dich gerade etwas blöd? Du hast doch gar keinen Grund dafür.“

„Naja, doch. Ich habe Dustin Mut gemacht, seine Idee auszuprobieren obwohl du eine andere Strategie vorgegeben hast. Aber du hast auch immer wieder gesagt, wir entscheiden auf dem Platz was passiert. Du würdest uns nur Ideen geben. Da habe ich gedacht, es wäre richtig, Dustin zu sagen, dass er es testen sollte. Er hatte nämlich nicht mehr das Gefühl, auf deine Art eine Chance zu haben.“

Chris ließ mich ausreden, obwohl ich spürte, dass er gerne direkt etwas gesagt hätte. Als ich fertig war, holte er tief Luft.

„Du hast es genau richtig gemacht. Es macht doch keinen Sinn so weiterzuspielen, wenn er selbst das Gefühl hat, nicht mehr besser spielen zu können und damit nicht zum Erfolg zu kommen. Von daher erwarte ich dann von euch, eigene Ideen zu entwickeln und auch umzusetzen. Ich bin nicht unfehlbar und schon gar nicht allwissend. Ihr sollt eigenständige Entscheidungen treffen können. Wenn ich euch Hinweise oder Vorgaben gebe, dann sind das Vorschläge, aber keine Gesetze. Vielleicht sollten wir darüber noch einmal gemeinsam sprechen.“

„Aber du hast bislang immer die richtigen Dinge gesagt und uns schon so oft vor Niederlagen bewahrt. Ich kann Dustin gut verstehen, denn ich weiß auch nicht, ob ich in der gleichen Situation mich gegen deine Vorgaben entschieden hätte.“

„Ihr entscheidet euch doch gar nicht gegen mich, sondern für eure Idee. Wenn es schief geht, dann reiße ich euch doch nicht den Kopf ab. Ich möchte nur wissen, warum ihr euch so entschieden habt. Ich werde ja nicht ewig bei euch sein können. Irgendwann seid ihr vielleicht allein unterwegs und müsst alleine entscheiden. Ich kann gut damit leben, wenn ich mal etwas übersehen habe und ihr mir das erklären könnt.“

In diesem Moment kam Fynn und setzte sich neben Chris. Er hatte wohl den letzten Teil des Gespräches schon mitbekommen.

„Aber du machst eben selten Fehler. Da ist es manchmal schwierig, deine Entscheidungen zu hinterfragen.“

„Stopp.“, unterbracht Chris sofort.

„Eine Entscheidung sollte immer hinterfragt werden, wenn man Zweifel hat oder Gegenargumente. Ich möchte mit euch offen darüber diskutieren. Justin, zum Beispiel, hat mir ein paar Dinge gesagt, die ich noch nicht so wahrgenommen hatte. Da war es gut, dass er seine Meinung vertreten hatte. Ihr sollt eigenständig werden. Da gehören Fehler und Niederlagen genauso dazu wie Siege und Erfolge. Nur mit allen Erfahrungen wird man weiterkommen. Also macht es euch nicht so einfach, sondern bleibt kritisch und wissbegierig. Wenn ihr etwas hinterfragt, habt ihr das Recht, meine Entscheidungen von mir begründet zu bekommen. Wenn ihr bessere Argumente habt, werde ich mich nicht dagegen wehren.“

Chris: Es wird spannend

Dustins eigene Idee, mehr ans Netz vorzurücken und damit den Gegner zu verwirren, schien zumindest momentan erfolgreich zu sein. Er hatte im dritten Satz sogar ein Break erreicht und seinen Gegner total verunsichert. Das würde noch spannend werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sein erfahrener Gegner keine Änderungen in seinem Spiel vornehmen würde. Er müsste bemerken, dass er in seinem Spiel etwas verändern musste.

Mittlerweile saßen wir alle an Dustins Platz und unterstützten ihn so gut es ging. Justin hatte klar gewonnen und Tim und Carlo mussten noch ihr Viertelfinale am Nachmittag spielen. Auch dieses Turnier entwickelte sich erfolgreicher als gedacht.

Dustin erstaunte mich je länger das Spiel dauerte. Er fightete für jeden Punkt und spielte clever. Er entwickelte seine eigene Strategie. Dennoch schaute er hin und wieder zu mir auf und wollte eine Reaktion von mir. Die bekam er natürlich, ich unterstützte ihn wo ich konnte, auch wenn er überhaupt nicht mehr auf der besprochenen Strategie wandelte.

Es ging im entscheidenden dritten Satz in den Tie-Break. Hier zählte jeder Punkt und ich war nicht sicher, ob Dustin seinen Weg konsequent weitergehen würde. Aber er lehrte mich eines Besseren und spielte überzeugend sein Spiel weiter. Schnell führte er 4:1 und sein Gegner wurde wieder deutlich nervöser und ungehaltener. Sogar der Schläger flog einmal über den Platz.

Ich fokussierte meinen Blick nur auf den Ball und Dustin. Suchte den Blickkontakt mit ihm und bei jedem Punkt pumpte er sich mehr auf. Er strotzte nur noch vor Selbstbewusstsein. Da hatte ich Fynn nicht mehr im Blick. Plötzlich war das Match vorbei und Fynn war direkt auf den Platz gelaufen, um seinen Freund zu umarmen, bevor der dem Gegner die Hand reichen konnte. Eigentlich war das eine grobe Unsportlichkeit. Aber sein Gegner zeigte jetzt die Größe, ihm dennoch fair zu gratulieren.

Von einer großen Last befreit, gratulierte ich Dustin und musste dann ein paar Minuten allein wieder runter kommen. Meine Nerven hatten etwas gelitten.

Jetzt hatten wir zwei Spieler im Halbfinale und Tim und Carlo mussten ihre Viertelfinals noch spielen. Was für ein Erfolg. Auf jeden Fall hatten wir unsere Reisekosten schon wieder amortisiert. Gut, es war nicht zwingend erforderlich, aber das Geld konnte zusätzlich investiert werden. Vor allem für Justin würde es viele Ranglistenpunkte geben und somit würde er auch bei höher eingestuften Turnieren nicht mehr in die Qualifikation müssen.

Zwei Stunden später saßen wir geschlossen bei Tim und Carlo und unterstützten sie nach Kräften. Interessant und auffallend war das Verhalten von Dustin und Fynn. Sie waren erstaunlich zurückhaltend was ihre Beziehung betraf. Es sah fast so aus, als ob sie sich hier nicht richtig trauten, offen ihre Zuneigung füreinander zu zeigen.

Erst als sich die Entwicklung der Matches positiv zeigte und ich mir sicher war, dass beide ihre Spiele gewinnen würden, wurden sie wieder mutiger und gaben sich auch mal einen offenen Kuss.

Überhaupt hatte ich das Gefühl, hier plötzlich wieder mehr unter Beobachtung zu stehen. Das war in den ersten Tagen anders. Zumindest hatte ich das nicht wahrgenommen. Plötzlich tauchte Mike bei uns auf. Er war ebenfalls im Halbfinale und würde nun gegen Justin spielen müssen.

„Na, ihr wirbelt die örtliche Konkurrenz aber ganz schön auf. Auch eure beiden Youngster sind schon Gesprächsthema. Damit hat hier kaum jemand gerechnet, dass eine Truppe aus Deutschland nach Amerika kommt und hier alles in Grund und Boden spielt. Und dann auch noch ein schwules Pärchen dabei hat.“

Fynn und Dustin fühlten sich angegriffen und gingen direkt in ihre Angriffshaltung.

„Bleibt locker. Mike meint das nicht abwertend. Im Gegenteil, also entspannt euch.“

„Oh, sorry. Das war eher ein Kompliment. Ich finde es ganz stark, dass ihr aus eurer Beziehung kein Geheimnis mehr macht. Diesen Mut habe ich nicht. Dafür würde hier für mich zuviel auf dem Spiel stehen.“

Fynn entspannte sich und erwiderte:

„Okay, das ist schade. Wir haben einfach riesiges Glück, dass wir mit Chris und dem Team eine perfekte Unterstützung haben. Allein wären wir heute nie dort, wo wir schon stehen. Aber verstecken kommt auch nicht mehr in Frage. Auch wenn Chris dafür einmal fast mit dem Leben bezahlt hatte.“

Mike zuckte zusammen, als er diese Aussage hörte. Er ließ sich die Geschehnisse aus Kitzbühel von Dustin und Fynn erzählen. Dann antwortete er:

„Puh, das ist heftig. Umso wichtiger wäre es, wenn ihr heute Abend auf der Players Party mit John zusammenkommt. Erzählt ihm diese Geschichte. Er wird euch hier in den Staaten vielleicht helfen können. Er hat viele gute Verbindungen.“

Ich war mir nicht sicher, ob wir in den USA so viel Aufsehen erregen sollten. Wenn unsere Geschichte hier in der Presse bekannt gemacht würde, hätten wir wahrscheinlich nicht mehr unsere Ruhe und würden häufig von der Presse belästigt werden. Allerdings wäre der Kontakt zu einem John McEnroe sicherlich von Vorteil.

Umso neugieriger war ich dann am Abend, als wir uns zur Players Party aufmachten. Der Veranstalter hatte sich große Mühe gegeben. Die Musik lief bereits und wir wurden mit Begrüßungscocktails empfangen. Außergewöhnlich war, dass die Cocktails nur auf Wunsch mit Alkohol versehen wurden. Also konnten wir zugreifen und auch Tim und Carlo ließen sich das nicht zweimal sagen.

Gedanklich war ich allerdings bereits beim Halbfinaltag. Justin hatte die Aufgabe, gegen Mike spielen zu müssen. Das war die deutlich härtere Nuss, die ich zu knacken hatte. Mike war bereits sehr erfahren und hatte keine wirkliche Schwäche. Da musste ich mir noch ein paar taktische Tricks ausdenken. Dustins Gegner war einfach zu lesen. Also die Strategie war klar, aber ob sie umzusetzen war, würde sich morgen dann zeigen. Beide hatte keinerlei Druck, aber ich wusste, dass sie vor Ehrgeiz brannten.

Ich stand etwas abseits und schaute in den Sternenhimmel, als mich jemand ansprach. Ich zuckte leicht zusammen.

„Boah, Mike. Musst du mich so erschrecken?“

„Sorry, aber ich habe dich schon gesucht. Ich habe jemanden mitgebracht, dem ich von euch erzählt habe. Darf ich dir vorstellen, John McEnroe.“

Ups, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Aber John gab mir die Hand und er zeigte keinerlei Allüren. Irgendwie hatte ich ihn mir viel komplizierter vorgestellt. Auf dem Platz war er ein Ekelpaket, wie es schlimmer kaum sein konnte. Er war der klassische 'Bad Guy'. Hier zeigte er sich aber locker und sehr fachwissend. Er war gut über uns informiert, stellte ein paar direkte Fragen und so kamen wir schnell in ein gutes Gespräch. Er kannte übrigens meinen Bruder sehr gut. Komisch, wie klein die Welt doch manchmal ist. Sie hatten sich bei den US Open kennengelernt.

„Wo ist denn Jan gerade unterwegs?“, fragte er mich.

„Soweit ich weiß ist gerade das große Turnier in Indian Wells. Also auch in den Staaten. Was ist eigentlich deine Aufgabe bei diesem Turnier hier?“

Er lächelte.

„Ganz einfach. Ich arbeite als Scout für den Amerikanischen Tennisverband. Außerdem ist das hier meine Heimat. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, für den Nachwuchs etwas zu tun. Mike hast du ja schon kennengelernt. Dann weißt du sicher auch über das Projekt mit dem Club Bescheid. Wir müssen das Thema Homosexualität im Leistungssport etablieren. Wie Mike mir berichtet hat, habt ihr in Deutschland ja auch eure schmerzlichen Erfahrungen gemacht. Ich finde es bewundernswert wie du damit umgehst. Viele hätten sofort mit diesem Projekt aufgehört. Aber du machst weiter und bist für Dustin und Fynn die Gallionsfigur. Davor habe ich großen Respekt.“

„Danke, aber das geht nur, weil wir ein tolles Team im Hintergrund haben. Es steht bedingungslos hinter uns und ich habe auch viel Unterstützung bekommen, um das Trauma zu überwinden. Die Entwicklung der Jungs entschädigt dann für die Arbeit. Ich freue mich sehr, wenn sie solche Leistungen wie hier zeigen können.“

„Allerdings, da kommt ein Nachwuchsteam aus Halle, mischt hier die Konkurrenz auf und hat noch dazu ein offen schwules Spielerpärchen dabei. Das ist hier eingeschlagen wie eine Bombe. Mal sehen, was deine Jungs morgen hier noch zeigen können. Wo spielt ihr im Anschluss?“

„Danke für dein Lob. Wir gehen von hier nach Montreal. Justin kommt von dort und wird seine Eltern dort treffen. Das Turnier ist für ihn etwas Besonderes. Er muss dort nicht in die Qualifikation, weil er eine Wildcard vom Veranstalter bekommen hat. Das ist ja ein Challenger, also Dustin muss auch in die Qualifikation, wenn nicht jemand noch zurückzieht. Fynn ist im Hauptfeld.“

„Ja, das hört sich doch gut an. Ihr seid auf dem richtigen Weg. Vor allem auch, weil du nicht nur ihr Trainer bist. Ich habe euch heute den Tag über beobachtet. Ihr seid wie eine große Familie. Das tut den Jungs sehr gut. Macht weiter so. Ihr werdet Erfolg haben, wenn sie gesund bleiben. Da bin ich mir sehr sicher.“

„Danke, ich hoffe es. Aber wenn es keiner schafft, dann geht die Welt auch nicht unter. Das Leben als Profispieler ist sehr hart. Nur die wirklich besten haben ein gutes Leben. Wir legen auch großen Wert auf eine Ausbildung der Spieler neben Tennis.“

„Ja, ich weiß. Ich kenne euer Konzept der Break-Point-Base. Jan hat das gut aufgebaut. Ich war bereits bei den Gerry Weber Open mal Trainingsgast dort.“

Unser Gespräch wurde noch sehr interessant und John hatte mir seine Idee präsentiert für die Siegerehrung, falls einer unserer Spieler in das Finale kommen würde. Darüber musste ich noch nachdenken. Vor allem wollte ich meine Spieler erst fragen, sollte einer tatsächlich das Finale erreichen.

Die Players Party wurde noch sehr unterhaltsam. Justin stellte sich als echter Entertainer heraus. Beim Karaoke Wettbewerb zeigte er neue Talente und gewann mit deutlichem Vorsprung. Der Veranstalter hatte den Zeitplan für den Halbfinaltag so gelegt, dass erst ab 14 Uhr gespielt werden sollte. Deshalb erlaubte ich meinen Spielern einen Besuch bis Mitternacht. Auch Tim und Carlo durften ausnahmsweise so lange bleiben.

Als ich endlich in meinem Hotelbett lag, war ich zwar hundemüde, konnte aber dennoch nicht einschlafen. Mir gingen viele der neuen Eindrücke durch den Kopf. Auch der Gedanke, mit einer Legende gesprochen zu haben und ein Angebot der Unterstützung bekommen zu haben beschäftigte mich.

Entsprechend unausgeschlafen traf ich beim Frühstück ein. Meine Truppe schien deutlich besser geschlafen zu haben, denn bestens gelaunt saßen sie am Frühstückstisch. Nur Justin hielt sich merklich zurück. Er war bereits auf sein Match fokussiert. Da war Justin schon sehr selbstständig und den anderen etwas voraus. Manchmal hatte ich aber auch den Eindruck, dass er mit seiner Vorbereitung über das Ziel hinaus schoss. Etwas mehr Gelassenheit in der Vorbereitung würde ihm gut tun.

Für Tim und Carlo war es ein besonderer Tag. Sie spielten ein Halbfinale in den USA. Die Anspannung war deutlich spürbar. Erstaunlich für mich war das Verhalten von Tim. Erwartet hatte ich eigentlich, dass er richtig am Rad drehen würde. Aber eher das Gegenteil war der Fall. Er frühstückte sehr ruhig und unterhielt sich leise mit Carlo.

Gesprochen wurde sonst während des Essens nicht viel. Ich wollte den Tag mit der nötigen Ruhe beginnen. Erst, als ich nur noch meinen Kaffee trank, legte mir Fynn sein Handy auf den Tisch.

„Schau mal Chris. Wir haben aus Deutschland und der Schweiz ein paar Nachrichten erhalten.“

Erfreut las ich von Fynns Eltern nette Grüße an alle und auch die Familie Steevens hatte sich gemeldet. Das war doch ein schönes Gefühl für mich. Unsere Freunde interessierten sich für unsere Aktivitäten auch in den USA.

Auf der Fahrt zur Anlage nahm ich mir Tim und Carlo vor. Ihre Nervosität war spürbar und die wollte ich ihnen so gut wie es ging nehmen. Deshalb ließ ich sie sich mit Justin aufwärmen. Justin war wie immer gut gelaunt und machte einige kleine Scherze, die das Ganze auflockerten.

Bevor die Halbfinals begannen, hatte ich noch Besuch von John McEnroe am Trainingsplatz. Er hatte sich erkundigt, ob alles gut sei und wünschte uns viel Erfolg. Er blieb einige Minuten bei uns und schaute sich insbesondere Dustin an.

Wir hatten noch vier Eisen im Feuer. Vielleicht würde ja einer ein Finale erreichen. Wenn nicht, wäre es dennoch ein großer Erfolg für das Team. Je näher wir der Spielansetzung kamen, desto angespannter wurde ich und versuchte, mich mit Dustin noch einmal in Ruhe zu unterhalten.

„Wie geht es dir jetzt unmittelbar vor dem Spiel?“

„Puh, so langsam soll es losgehen. Ich möchte endlich auf den Platz. Auch wenn ich einen super schweren Gegner habe, ich freue mich auf das Match.“

„Das ist gut. Freude ist immer gut. Mach dir keinen Druck. Du hast bis jetzt ein mega Turnier gespielt. Geh raus und genieße es. Dein Vorteil ist, dass er dich nicht kennt, während du ziemlich gut vorbereitet bist. Das könnte gerade zu Beginn ein Vorteil werden.“

Eine Stunde später hatte ich Stress. Dustin hatte sich durch eine umstrittene Schiedsrichterentscheidung dermaßen aufgeregt, dass er sich aus dem Spiel gebracht hatte. Da war ich jetzt gefragt, ihn zu beruhigen und gleichzeitig gab es bei Carlo eine ganz spannende Spielphase.

Tim war etwas später auf den Platz gegangen und von daher war es dort noch nicht so spannend. Ich entschied mich, Justin zu Carlo zu schicken während ich versuchen wollte, Dustin wieder einzufangen.

Erst, als ich Dustin sehr bestimmt zu verstehen gab, dass ich weitere Entgleisungen nicht mehr tolerieren würde, beruhigte er sich wieder. Der erste Satz ging daher mit 2:6 verloren. In der Satzpause sagte Dustin dem Schiedsrichter, dass er kurz den Platz verlassen würde. Ich war erstaunt, dass er heute diese taktische Variante eigenständig ins Spiel brachte. Also machte ich mich schleunigst auf den Weg, um ihn in der Umkleide zu treffen. Ich öffnete die Tür zu den Umkleiden und Dustin wartete bereits.

„Gut, dass du mich verstanden hast. Ich dachte schon, du würdest jetzt nicht kommen.“

„Blödsinn. Ich finde es gut, dass du von selbst auf diese Idee gekommen bist. Also, was ist los mit dir? Warum machst du dir das Leben so schwer?“

„Keine Ahnung, aber der Schiedsrichter hat einfach keine Ahnung von dem was er tut. Das regt mich auf.“

„Gut, kann ich verstehen. Was hilft dir das Aufregen? Bist du dadurch besser geworden? Nein, oder?“

„Nein, ich weiß. Sorry, ich habe es verkackt. Aber kannst du mir helfen, wieder ins Spiel zu kommen?“

„Dann musst du diesen Satz abhaken und aufhören mit dem Schiedsrichter zu diskutieren. Du machst ihn nicht anders. Spiel dein Spiel und zeig dem Gegner, dass du kämpfen kannst. Ich glaube an dich und deine Intelligenz. Los, geh auf den Platz und gib alles.“

Dustin schaute mich fragend an. Er zögerte einen Moment, schlug mir dann in die Hand und sagte noch, als er die Umkleide verließ:

„Danke, Chris. Ich werde mich zusammenreißen. Das Spiel ist noch nicht zu Ende.“

Ich wusste, dass er sich über sich selbst am meisten ärgern würde, hätte ich jetzt noch gemeckert. Das konnte ich nach dem Spiel immer noch tun, denn sein Verhalten war bislang indiskutabel. Jetzt zählte aber nur das Spiel und dass er sich aus diesem Tief befreite. Aber bevor ich zurück zu Dustin an den Platz ging, machte ich eine Visite bei Justin, der Carlos Match beobachtete. Fynn war ja auch bei Dustin mit Maxi am Platz.

„Hi, Chris. Carlo spielt richtig gut. Er hat seinen Gegner gut im Griff. Ich glaube, dass Carlo das gewinnen wird. Er ist viel cleverer auf dem Platz. Wie sieht es bei Dustin aus?“

„Das hört sich doch gut an. Sehr schön. Dustin hat leichte Probleme mit sich selbst und dem Schiedsrichter. Ich hoffe, er hat jetzt verstanden was er tun muss. Dann sehen wir weiter. Er hat den ersten Satz deutlich verloren.“

„Hm, okay. Warst du schon bei Tim? Ich könnte mir vorstellen, dass er dich gerade zu Beginn braucht. Du gibst ihm immer viel Sicherheit.“

„Ich kann nicht überall gleichzeitig sein, aber ich gehe mal bei ihm vorbei. Gehst du dich rechtzeitig aufwärmen. Nicht, dass du zu spät anfängst. Wenn du gehst, sag bitte Maxi, er soll dich hier ersetzen.“

„Keine Sorge, ich achte darauf. Carlo würde auch ohne Coaching gewinnen.“

Justins Optimismus war grandios. Ich hatte ganz selten eine negative Stimmung bei ihm erlebt. Bei Tim hingegen musste ich immer mit allem rechnen. Entsprechend neugierig war ich, was mich jetzt erwarten würde. Dort stellte ich mich an meinen Standardplatz und sehr schnell hatte mich Tim erspäht. Mit einem Lächeln zeigte er mir, dass er mich bemerkt hatte.

Nach einigen gespielten Punkten konnte ich durchatmen. Er spielte ruhig und besonnen, machte Punkt um Punkt und ließ sich auch nicht durch das manchmal provozierende Verhalten seines Gegners aus der Ruhe bringen. Das gefiel mir richtig gut. Das gab ich Tim auch mit verschiedenen Gesten zu verstehen. Dass Tim mal auf dem Platz lachen würde, hätte ich so schnell auch nicht erwartet. Seinen Spaß am Spiel konnte ich deutlich sehen und mit einem beruhigendem Gefühl konnte ich wieder zu Dustin gehen.

Dort hatte sich einiges getan. Maxi war mittlerweile zu Carlo gegangen, da Justin sich aufwärmen musste. Fynn feuerte seinen Freund nach jedem Punkt an. Damit war mir sofort klar, dass es ein wichtiger Spielstand sein musste. Dustin führte 4:2 im zweiten Satz und eigenem Aufschlag. Allerdings hatte er soeben einen Breakball abgewehrt. Als er vor seinem nächsten Service zu mir schaute, kniff er die Augen zusammen und konzentrierte sich lange. Dann warf er den Ball hoch und schlug einen Servicewinner. Somit hatte er jetzt selbst Spielball und erneut konzentrierte er sich länger als sonst. Dieses Mal haute er dem Gegner ein Ass um die Ohren. Fynn flippte fast aus und jubelte laut. Ich setzte mich ruhig auf meinen Sitz am Platz und freute mich innerlich über die Wendung in diesem Spiel.

Dustin zog sein Spiel konsequent durch und spielte sich in einen Rausch. Der zweite Satz ging mit 6:2 an Dustin und auch im dritten Durchgang gab er weiter Gas. Carlo kam mittlerweile auch zu uns. Er hatte gewonnen und ich umarmte ihn kurz für diese tolle Leistung. Dann entließ ich ihn zu seinem Kumpel Tim. Für Carlo war es interessanter, dort zu schauen als bei Dustin. Das war auch in Ordnung für mich.

Ich fand Dustins Leistung einfach nur beeindruckend. Nach diesem verkorksten ersten Satz, so eine mentale Stärke zu entwickeln und sich nur noch von Punkt zu Punkt zu spielen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Das war grandios. Sein Gegner konnte nichts mehr gegen ihn aufbieten und musste in eine Niederlage einwilligen. Jetzt war es Fynn, der mich erneut überraschte. Er blieb bis zur Gratulation hinter dem Zaun und erst danach stürmte er zu seinem Freund und umarmte ihn überschwänglich. Der obligatorische Kuss folgte auf dem Fuße.

Dieses Mal hatte ich das Bedürfnis Dustin direkt nach dem Spiel ein paar Sätze zu sagen.

„Gratulation. Ich bin schwer beeindruckt von deiner Leistung. Nach diesem ersten Satz so etwas zu präsentieren ist großes Kino. Respekt!“

Dustin strahlte und freute sich wie ein kleines Kind. Besonders gut gefiel mir, dass Fynn seinen Freund immer wieder umarmte und gar nicht mehr loslassen wollte. Ich beschloss, die beiden für einen Moment allein zu lassen und mich um Justin zu kümmern.

Maxi erwartete mich bereits und fragte neugierig:

„Hat Dustin noch gewonnen? Du siehst zufrieden aus.“

„Ja, er hat gewonnen. Und das verdammt überzeugend. Ich bin sehr zufrieden. Wie sieht das bei Justin aus? Ich denke mal, Mike ist ein harter Brocken.“

„Ja, das stimmt. Aber Justin ist einfach so cool. Er spielt gut mit und macht einfach den Punkt. Mike ist momentan ziemlich ratlos. Aber wenn er seine Taktik ändert, wüsste ich nicht, was ich Justin darauf sagen würde. Kannst du jetzt bleiben?“

„Klar, sonst spielt ja keiner mehr. Die anderen werden sicher auch gleich hier sein. Dustin wird auch allein auslaufen können. Schauen wir mal, was hier passiert. Vielleicht fällt uns ja gemeinsam ein Plan B ein, falls erforderlich.“

„Dir fällt auch immer was ein, oder? Warst du noch nie ratlos?“

„Doch, sicher. Ich bin ganz bestimmt nicht allwissend oder gar unfehlbar. Ich habe nur bereits etwas Erfahrung und kann mich in den Spieler hineinversetzen. Das hilft mir natürlich.“

Maxi schaute mich an und wollte noch etwas sagen, aber schüttelte nur seinen Kopf und schaute wieder auf den Platz.

Ich tat es ihm gleich und musste Maxi zustimmen. Justin spielte wie ein alter Hase und unfassbar cool. Dennoch druckvoll. Mike hatte momentan kein Mittel, um Justin gefährlich zu werden. Justin führte 6:2 und 3:2 als Mike sich beim Schiedsrichter eine Auszeit nahm. Er verließ den Platz und ich gab Justin ebenfalls ein Zeichen, dass er mit mir kommunizieren könnte, wenn er möchte. Justin nickte mir zu und verließ ebenfalls den Platz.

Ich traf ihn im Gang zu den Umkleiden.

„Hi Chris, bist du zufrieden mit dem Spiel? Oder muss ich etwas verändern?“

„Auf jeden Fall bin ich zufrieden. Du musst aber damit rechnen, dass du bald auf das sich verändernde Spiel reagieren musst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mike unverändert weiterspielen wird.“

Justin nickte und dann verschwand er auch schon wieder Richtung Platz.

Eine halbe Stunde später war meine Vorahnung eingetreten und Mike hatte die Strategie verändert. Er spielte jetzt nur defensiv und schaufelte jeden Ball zurück. Justin versuchte erst, druckvoll weiterzuspielen und das Match nach Hause zu bringen. Das misslang gründlich. Durch das hohe Risiko machte er ähnliche Fehler wie zu Beginn, nur dass Mike jetzt kaum noch Fehler machte. Damit wurden die Ballwechsel länger und die Möglichkeit für Justin Fehler zu machen, stieg an.

Der zweite Satz ging verloren und der dritte Satz musste das Spiel entscheiden. Jetzt zeigte sich unser Team von seiner besten Seite und unterstützte Justin nach Kräften. Dieser fightete um jeden Punkt, aber Mike ließ nicht nach und machte einfach keine Fehler mehr, schlug sehr gut auf und konnte das Spiel doch noch gewinnen.

Nach dieser Niederlage war ich gespannt, wie Justin damit umgehen würde. Schön war die Reaktion der anderen Jungs, die unmittelbar nach dem Spiel alle an den Platz kamen und Justin abklatschten. Etwas gequält lächelnd, ließ er das über sich ergehen. Ich bat meine Jungs danach, ihn etwas in Ruhe zu lassen. Er sollte sich allein auslaufen können und runterfahren. Danach würde ich mit ihm die Nachbesprechung machen. Für mich gab es keinen Grund unzufrieden zu sein. Mike war klarer Favorit und ist dieser Rolle auch gerecht geworden. Seine größere Routine hatte den Ausschlag gegeben. Justin fehlte die Erfahrung und hatte dieses Spiel nicht verloren, weil er der schlechtere Spieler war.

Ich wusste aber, dass würde ihn zwar ärgern, aber auch stärken. Bereits beim nächsten Turnier würden wir einen anderen Justin auf dem Platz sehen. Eine seiner größten Stärken war es, neue Erfahrungen sofort in sein Spiel zu integrieren. Jetzt war es meine Aufgabe, ihn wieder aufzubauen und sich die Fehler anzuschauen.

Wir hatten uns etwas abseits des Trubels verabredet. Dort wartete ich auf Justin, als mich John McEnroe aufsuchte.

„Hier hast du dich versteckt. Wie ist die Stimmung bei Justin?“

„Ja, ich wollte mit Justin in Ruhe reden. Wie hast du mich hier gefunden?“

„Oh, sorry. Dustin hat mich hergeschickt. Ich wollte dich auch nicht lange aufhalten. Sag Justin bitte, dass er ein gutes Spiel gemacht hat. Er wird beim nächsten Aufeinandertreffen diesen Fehler nicht wieder machen. Ich bin sicher, dass er beim nächsten Spiel gewinnen wird.

„Vielen Dank. Ich werde es ihm ausrichten, aber da kommt er schon. Sag ihm das doch selbst. Das wirkt bestimmt viel besser.“

Das tat John auch und Justin war sichtlich beeindruckt von den Worten der Tennislegende.

Das Gespräch mit Justin war sehr aufschlussreich für mich. Er war nicht über die Niederlage enttäuscht, sondern über die Art und Weise wie er verloren hatte.

„Sorry, Justin. Aber das sehe ich etwas anders. Du hast ein gutes Spiel gemacht. Was dir gefehlt hat, war die Routine. Mike hat konsequent das gespielt, mit dem du noch Probleme gehabt hast. Das macht überhaupt keinen Spaß, aber ist effektiv. Das ist professionell. Du musst das noch nicht können, aber du wirst das sehr schnell lernen. Dafür bist du viel zu ehrgeizig. Also hab Geduld und warte auf deine nächste Chance, ein Turnier zu gewinnen. Heute hast du einen clevereren Gegner gehabt. Keinen besseren Gegner.“

„Hm, das mag sein. Allerdings ist das frustrierend und irgendwie auch falsch. Es kann doch nicht sein, dass nicht der bessere Spieler gewinnt. Wie kann das sein?“

„Ja, diese Frage ist berechtigt. Ich kann dir das nur so erklären. Momentan ist er an dieser Stelle noch cleverer gewesen. Aber so ein Spieler ist nicht in der Lage auf Weltklasseniveau zu spielen. Du bist erst 16 und noch mitten in der Entwicklung. Also du wirst sehr bald über dieses Stadium hinaus sein. Dann wirst du dein druckvolles Spiel auch in diesen Spielen durchspielen können und solche Spieler zerlegen. Hab noch etwas Geduld. Dein Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft.“

„Also du meinst, ich soll nicht mein Spiel verändern, sondern einfach noch mehr Konstanz in das druckvolle Agieren bringen?“

„Genau das meine ich. Dann wird der Druck so groß, dass deine Gegner irgendwann dem nicht mehr standhalten können. Du wirst sie dann vom Platz schießen. Warte noch etwas, das wird nicht mehr lange dauern.“

„Glaubst du, dass Dustin eine Chance gegen Mike hat?“

„Ja, hat er. Auch wenn es ganz schwer wird. Dustins Spiel ist für Mike viel unangenehmer. Sollte es Dustin gelingen, ein ganzes Match durchzuhalten, hat er eine Chance. Da spielen aber auch die Nerven eine Rolle. Warten wir ab. Der Druck liegt klar bei Mike und nicht bei Dustin.“

So langsam konnte sich Justin mit der Situation abfinden und wieder positiv nach vorne schauen. Er sprach zum Ende unseres Gespräches sogar von seinen Eltern und dass er sich riesig auf das Wiedersehen freuen würde. Das war ein gutes Signal, dieses Gespräch zu beenden und nach vorn zu schauen.

Am nächsten Tag spielten Carlo und Tim gegeneinander im Finale der Junioren. Für mich war das jetzt sehr entspannend, da ich beide frei spielen ließ. Mir war es nicht wichtig, ob Carlo oder Tim gewinnen würde. Beide sollten einfach frei spielen. Somit konnte ich Dustin in Ruhe auf das Finale gegen Mike vorbereiten. Fynn war sehr angespannt und deshalb sollte Justin Dustin einschlagen und auf Mike einstellen.

Fynn und ich standen am Zaun und beobachteten Dustin. Maxi war bei Tim und Carlo am Platz. Sollte sich Tim das ganze Spiel konzentrieren können, müsste er das Match gewinnen. Aber Carlo hatte sich toll entwickelt und viel gelernt in der Strategie.

Ich war schon sehr erstaunt, wie viele Zuschauer bei den Finals waren. Thorsten hatte uns aus Halle viel Glück gewünscht und ließ beste Wünsche ausrichten. Als das Spiel von Dustin begann, spürte ich die Anspannung. Obwohl ich eigentlich schon mehr als zufrieden war, wollte ich versuchen, dieses Turnier zu gewinnen. Es wäre ein tolles Signal für alle homosexuellen Spieler, zumal John McEnroe ja auch eine Überraschung angekündigt hatte.

Fynn: Es war eine unruhige Nacht

Nachdem wir am Abend gemeinsam Essen waren, hatte Chris Dustin eine frühe Nachtruhe auferlegt. Auch Tim und Carlo mussten heute früher ins Bett. Justin war ziemlich enttäuscht, aber Chris hatte sich viel Zeit genommen, um ihn wieder aufzubauen. Maxi, Justin und Chris blieben noch in der Hotellobby und genossen den Abend. Ich hätte auch länger aufbleiben können, aber ich wollte meinen Freund nicht allein lassen. Außerdem war das eine gute Gelegenheit zum Kuscheln.

Auf unserem Zimmer gingen wir recht schnell ins Bett. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Dustin nicht so aufgeregt wäre. Chris hatte ihm deutlich gesagt, dass er überhaupt keinen Druck hätte und sich auf das Finale freuen sollte. Leider bekam Dustin das nicht so einfach hin.

Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Irgendwann war ich gegen halb zwei aufgewacht.

„Schatz, nun beruhig dich doch mal. Du bist sonst total müde auf dem Platz.“

„Boah, das sagst du so einfach. Ich habe keine Ahnung, warum ich so unruhig bin. Aber es kribbelt so im Bauch. Und mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf.“

Ich setzte mich auf.

„Dann erzähl mir doch einmal deine Gedanken. Ich versuche mal, mit dir das zu sortieren.“

Er berichtete von seinem Gefühl, jetzt allen Druck auf sich allein zu spüren. Er war der letzte noch im Wettbewerb befindliche aus unserem Team. Außerdem dachte er daran, dass er Chris so viel zu verdanken hätte und wie er das wieder gutmachen könnte.

Das waren schwierige Dinge. Vor allem, weil sie nur in seinem Kopf passierten. Ich legte meinen Arm um ihn und wir kuschelten uns eng aneinander.

„Du musst jetzt aufhören, dir über diese unwichtigen Dinge Gedanken zu machen. Das ganze Team steht hinter dir und jeder von uns kann sich vorstellen, was bei dir gerade passiert. Chris wird auch wissen, dass du sehr aufgeregt bist. Er hat dir doch klar gesagt, dass du das Spiel genießen sollst.“

Dustin nickte stumm. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass er sich vielleicht auch bewusst wurde, dass er jetzt auch bei den besten angekommen war. Das fiel ihm immer sehr schwer zu akzeptieren, dass er jetzt auch richtig gut war.

Erst, als ich mich ganz eng an meinen Freund kuschelte, beruhigte er sich langsam. So schlief er doch noch ein und wir wachten gemeinsam am frühen Morgen auf. So dachte ich jedenfalls.

Leider stand Chris lachend in unserem Zimmer und hatte uns geweckt. Natürlich hatten wir verpennt. Irgendwie hatte Chris wohl damit gerechnet, denn er blieb sehr entspannt, als er uns wieder allein ließ.

Auch beim Frühstück machte keiner unserer Freunde einen blöden Spruch. Wie Chris das wohl hinbekommen hatte?

Dustin war sehr froh, dass ich die ganze Zeit bei ihm sein konnte und nicht mehr selbst etwas machen musste. Wir nutzten jede Minute, um gemeinsam Zeit zu verbringen. Auch beim Einschlagen durfte ich nicht zu weit weg stehen. Chris hatte darauf bestanden, dass Justin das Einschlagen übernahm. Das gefiel Dustin nicht sonderlich. Aber Chris ließ darüber nicht mit sich diskutieren.

Ich fand das allerdings auch sinnvoll, da Justin ja schon gegen Mike gespielt hatte. Chris sorgte auch dafür, dass ich nicht zu nah am Platz stand. Er fragte mich:

„Sag mal, was war denn bei euch heute Nacht los? Ich habe um halb drei euch noch quatschen gehört.“

Ups. Das war jetzt aber peinlich. Ich versuchte erst gar nicht, mir etwas auszudenken und erklärte es Chris. Der schaute mich kurz an und lachte dann.

„Na, dann ist ja gut. Ich hatte schon Angst, es könnte ein echtes Problem sein. Hoffentlich hast du ihn in den Schlaf bekommen.“

„Doch, später ist mir das auch gelungen.“

„Betonung liegt auf später, oder?“

„Hmm, ja. Du hast es aber wieder geahnt, sonst wärst du ja nicht zu uns gekommen und hättest uns geweckt.“

„Passt schon. Ich hätte mich schon ein wenig gewundert, wenn Dustin cool bleiben würde. Er macht sich wieder tausend Gedanken. Deshalb sollst du heute auch nicht ständig bei ihm sein. Ich möchte, dass er sich frei macht von dir und allem, was um ihn herum passiert. Dann kann er sein bestes Tennis spielen. Und genau das braucht er heute. Die Sicherheit gibst du ihm trotzdem, auch ein paar Meter entfernt.“

„Ja, ich glaube, dass du Recht hast. Dennoch bin ich jetzt auch aufgeregt und finde, dass es bald losgehen soll. Sonst muss ich ständig aufs Klo laufen.“

Chris lachte und wuschelte mir seit langer Zeit mal wieder durch meine Haare. Eigentlich störte mich das, aber heute gab es mir ein gutes Gefühl.

Eine Stunde später war das Match bereits mittendrin und Chris war auch längst nicht mehr so locker wie vor dem Spiel. Maxi war bei Tim und Carlo, die leider parallel spielen mussten. Aber Chris ging auch immer wieder hinüber und schaute dort ein paar Bälle. Heute war Tim anscheinend gut drauf, denn er führte deutlich.

Dustin war verhalten gestartet, hatte aber noch kein Break bekommen. Also alles auf der Reihe. Chris gab immer wieder durch lautes Klatschen zu verstehen, dass Dustin weitermachen sollte. Aber rief keine Hinweise ins Spiel, nur ein paar Zeichen. Das reichte für Dustin aber aus, denn mittlerweile kannte jeder von uns Chris Zeichensprache. So wusste ich, auch ohne mit ihm sprechen zu müssen, was er von Dustin wollte.

Zum Ende des ersten Satzes begann es spannend zu werden und genau zum richtigen Zeitpunkt startete Dustin zum Angriff. Sein Spiel wurde druckvoller und er ging auch hin und wieder ans Netz vor. Mit dieser Druckerhöhung hatte Mike anscheinend nicht gerechnet. Dustin sorgte dafür, dass er zwei Schritte hinter die Grundlinie weichen musste. Somit bekam Dustin mehr Zeit den Ball zu erlaufen und seinerseits den Druck zu erhöhen. Chris ermutigte ihn, immer weiter zu machen und tatsächlich konnte Dustin den Satz für sich entscheiden. Was für ein Finale. Es war schade, dass ich weder bei Tim und Carlo am Platz noch sie bei uns sein konnten.

In der Satzpause ging Chris zu Dustin in die Kabine. Mir erlaubte er das heute nicht. Klar, ich war schon enttäuscht, aber mittlerweile hatte ich totales Vertrauen in Chris und seine Taktik. Also wartete ich auf unserem Platz, bis Chris zurückkam. Justin war auch kurz weg, um sich etwas zu trinken zu holen.

Plötzlich tauchte John McEnroe bei mir am Platz auf.

„Na, wie findest du das Match deines Freundes? Bist du zufrieden mit seiner Leistung?“

Was für eine Frage?

„Das macht er richtig gut. Er spielt klasse und kann gut mithalten. Wenn er das durchhalten kann, hat er eine Chance. Aber Mike wird sich bestimmt im zweiten Satz eine andere Strategie ausdenken.“

„Ja, das wird er tun müssen, sonst wird ihm Dustin zeigen wo es lang geht. Dustin macht ein großartiges Spiel. Er zeigt keine Angst vor dem übermächtigen Gegner. Das gefällt mir gut.“

„Darüber staune ich auch am meisten. Sonst ist er nicht so selbstbewusst. Ich weiß auch nicht, was Chris mit ihm gemacht hat, aber das gefällt mir sehr gut.“

„Warum sollte Chris etwas mit ihm gemacht haben? Du bist doch immer viel näher an Dustin dran. Du hast viel mehr Einfluss auf sein Verhalten als Chris.“

„Nein, oder naja, schon. Also, ich bin häufiger mit Dustin zusammen, aber Chris hat uns dahin gebracht. Ohne ihn wären wir niemals soweit gekommen.“

„Ohne deine Freundschaft zu Dustin hätte Chris euch auch nicht nach vorn gebracht. Das Paket passt und Chris kennt euch sehr gut und versteht euch in euren Gefühlen. Manchmal habe ich schon gedacht, dass Chris sich sehr gut in eure Lage versetzen kann. Auch als er in Kitzbühel euch beschützt hatte, muss er geahnt haben was passieren würde.“

„Ja, das stimmt. Aber Chris ist nicht nur ein besonderer Trainer. Für mich ist er auch ein Freund. Er hat mir sehr bei den Problemen mit meinem Vater geholfen.“

„Ich habe es mir gedacht. Ah, da kommt er mit Justin zurück. Ich glaube, dass dein Freund heute sein erstes, großes Turnier gewinnen wird.“

„Was meinst du, John? Ich habe es nicht richtig verstanden.“

„Er hat gesagt, dass Dustin heute gewinnen wird“, platzte es aus mir heraus. Das war peinlich.

„Danke, dass du mich wiederholst.“

Man war das peinlich. Ausgerechnet jetzt konnte ich meinen Mund nicht halten. Chris fing an zu lachen und erwiderte:

„Ich wusste gar nicht, dass Johns Stimme ein Echo hat.“

Jetzt lachten beide. Immerhin.

„Komm, beruhig dich wieder. John hat doch nur Spaß gemacht. Wir werden versuchen, dass Dustin diese Aussage wahr macht.“

Ich setzte mich auf meinen Stuhl und hatte noch gar nicht bemerkt, dass das Spiel bereits wieder begonnen hatte. Dustin hatte sofort seinen Aufschlag gewonnen. Das war ein guter Start in den Satz.

Selbst Justin wurde langsam unruhig und fieberte bei jedem Punkt richtig mit. Schon war ich wieder im Tunnel. Erst beim 4:4 legte Chris plötzlich seine Hand auf meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr:

„Komm, beruhige dich etwas. Du bist ja völlig verkrampft. Nicht, dass du gleich noch einen Notarzt brauchst.“

Dass John noch bei uns stand, hatte ich komplett ausgeblendet, so fixiert schaute ich von Punkt zu Punkt. Es wurde ernst auf dem Platz. Dustin gewann seinen Aufschlag und führte 5:4 beim Seitenwechsel. Plötzlich sagte Chris:

„Geh runter an den Platz, wenn du möchtest. Ich glaube, dass das Spiel gleich vorbei ist.“

Ich drehte mich um und war komplett irritiert. So etwas hatte Chris noch nie während eines so engen Spiels gesagt. Dabei lachte er mich an und schob noch nach:

„Ist auch egal, du würdest auch gern hinuntergehen, wenn es noch nicht vorbei ist. Also die letzten Spiele kannst du bei Dustin in der Nähe sein.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und flitzte sofort hinter die Bank. Zumindest soweit man durfte.

Und tatsächlich hatte Dustin die ersten beiden Punkte überraschend gewonnen. Die Spannung war schrecklich. Nur noch zwei Punkte und Dustin hätte tatsächlich gewonnen. Meine Fäuste waren vollkommen verkrampft und hart. Dann machte Mike wieder zwei Punkte und schon stand es 30:30. Aber jetzt spielte Dustin einen Returnwinner, der Weltklasse war. Matchball!

Ich hielt die Spannung kaum noch aus. Mike schlug auf, der Ball war im Spiel. Ein ellenlanger Ballwechsel folgte. Keiner wollte den Fehler machen und plötzlich stürmte Dustin nach vorn und machte ganz überraschend den Punkt. Aus, vorbei und Sieg!

Zuerst habe ich überhaupt nichts gehört und bin einfach nur losgelaufen. Als ich auf dem Platz im Arm von Dustin lag, hörte ich leisen Applaus. Wir waren komplett im Tunnel und ich hatte alles um mich herum vergessen.

Es war ein ohrenbetäubender Lärm und erst, als uns der Turnierdirektor aufforderte unsere Positionen einzunehmen, konnte ich das spüren.

Es wurde wieder ruhiger. Chris grinste und auch alle unsere Freunde waren jetzt bei uns zum Gratulieren. Tim und Carlo freuten sich genauso wie Maxi und Justin. Dieser Sieg war der Hammer. Überall liefen fleißige Helfer herum und bauten die Siegerehrung auf.

Erst jetzt nahm ich Mike auf der anderen Bank sitzend wahr. Irgendwie tat er mir auch leid. Er hatte verloren und es war für mich nicht so wie bei einer normalen Situation. Wir hatten uns in den letzten Tagen angefreundet und ich ging zu ihm hinüber und gab ihm für das gute Match die Hand. Er lächelte, als er mich kommen sah und streckte mir die Hand entgegen. Eine tolle Geste. Ich bat ihn, mit zu uns herüberzukommen. Erst wollte er nicht, aber dann kam Dustin mit Chris auch hinzu und nahmen ihn einfach mit zu unserer Bank.

Es dauerte noch einige Augenblicke, aber dann konnte die Siegerehrung endlich beginnen. Dustin würde seinen ersten Pokal auf der Profitour bekommen und einen Siegerscheck. Ein komisches Gefühl hier in den USA.

Wo war Chris plötzlich hin? Auch unsere Freunde waren weg. Ich schaute mich panisch um und erblickte dann Chris winkend. Er gab mir zu verstehen, dass ich den Platz räumen sollte, da die Siegerehrung nur für die Spieler vorgesehen war.

Widerwillig machte ich die wenigen Meter zu meinen Freunden. Dann gab es ein Knacken und der Turnierdirektor begann mit der Ehrung.

„Liebe Spieler, liebe Tennisfreunde, es ist vollbracht. Auch in diesem Jahr gibt es einen Sieger bei unserem Turnier. Es gibt einen neuen Sieger, den vermutlich kaum jemand erwartet hatte und den hier noch nicht allzu viele Menschen kennen werden. Es ist ein junger Nachwuchsspieler aus Deutschland, der mit seinem Team hier Station gemacht hat. Auch bei den Junioren hat dieses Break-Point-Team für Furore gesorgt und ein rein deutsches Finale gespielt. Dafür gebührt ihnen unser Glückwunsch.“

Es gab freundlichen und lauten Applaus. Für Amerikaner gar nicht selbstverständlich, wenn ausgerechnet ein paar Deutsche ihnen die Titel wegnahmen. Dann sprach der Direktor weiter:

„Heute haben wir einen besonderen Gast, der die Trophäen und Schecks überreichen wird. Begrüßen Sie bitte John McEnroe.“

Jetzt rasteten die Zuschauer komplett aus. John war immer noch eine Legende auf dem Tennisplatz und sehr beliebt bei den Amis. Freundlich winkend betrat er den Platz und ließ sich das Mikro geben.

„Hallo liebe Tennisfreunde, jetzt ist der Moment gekommen, an dem die Sieger ihre Belohnung erhalten sollen. Vorher möchte ich aber noch ein paar Sätze zu den Siegern und Platzierten sagen. Heute haben wir ein erstklassiges Finale bei den Herren gesehen. Für die meisten Zuschauer war der Sieger eine Überraschung. Für mich überhaupt nicht. Diese Jungs aus Deutschland arbeiten sehr professionell und haben viel Talent. Schließlich haben sie mit ihren beiden Jungs auch die Junioren dominiert. Das zeigt mir, dass sich etwas bewegt und die Europäer mehr und mehr auch zu uns kommen, um sich durchzusetzen. Das gefällt mir. Bevor ich jetzt die Belohnungen verteile, möchte ich Fynn, das ist Dustins Freund nach vorne bitten. Er soll bitte auch seinen Coach Chris mitbringen.“

Oh weh, was würde denn jetzt passieren? Chris mochte diese Dinge überhaupt nicht und wir hatten auch nichts vorbereitet. John schaute einmal in die Runde und dann hatte er uns schon gefunden. Unter Applaus kamen Chris und ich die Treppe herunter auf den Platz. John bat uns zu sich.

„So, jetzt können wir anfangen. Also Mike, du bist heute Zweiter geworden und dafür möchte ich dir diesen Pokal und den Scheck überreichen.“

Alles begann zu klatschen und Mike nahm die Sachen entgegen. Er winkte ins Publikum. Jetzt wurde ich doch nervös. Warum sollten Chris und ich auch nach unten kommen?

„Nun zum Sieger. Dustin, du hast heute vermutlich eines deiner besten Spiele überhaupt gespielt und damit verdient dieses Finale gewonnen. Es ist mir eine besondere Ehre und Freude, heute bei einer Premiere dabei sein zu dürfen. Einige Insider wissen, dass ich ein Botschafter für die Gleichberechtigung homosexueller Leistungssportler bin und mich dafür einsetze, dass ein schwuler Profi genauso mit Sponsoren und Veranstaltern zusammenarbeiten kann, wie ein heterosexueller Sportler. Heute ist endlich der Tag im Profitennis gekommen, wo ich Dustin diesen Pokal und den Siegerscheck überreichen kann. Damit ich das vervollständigen kann, möchte ich seinen Trainer Chris ebenfalls als erfolgreichsten Nachwuchstrainer ehren. Chris, kommst du bitte auch nach vorne.“

Jetzt bekam Dustin seinen Pokal und den Scheck, Chris erhielt ebenfalls einen Scheck und einen Silberteller. Dann drehte sich John erneut zu den Zuschauern.

„Hier steht das erste Team, das den Mut hatte, zwei Spieler, Dustin und Fynn, aufzunehmen, die sich als schwul geoutet hatten. Das Break-Point-Team steht hinter ihnen und unterstützt sie genau so wie jeden anderen talentierten Spieler. Genau so muss das sein. Hier haben uns die Deutschen vorgemacht, wie man das macht. Ich bewundere euren Mut und die Entschlossenheit, das zu tun und richte damit einen Appell an die amerikanische Wirtschaft und die Sponsoren, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Ich habe die Ehre gehabt, alle in diesem Team kennenzulernen und habe mich sofort dort wohl gefühlt. Mit Gerhard Weber haben sie einen Unternehmer hinter sich stehen, der sowohl Tennis liebt, wie auch die Menschen, die für ihn spielen. Ich wünsche euch auf eurem weiteren Weg viel Erfolg und als weitere Belohnung habe ich mir noch etwas überlegt. Da es für die großen Grand Slam Turniere noch nicht für die Qualifikation reichen wird, möchte ich euch Vieren: Maxi, Justin, Fynn und Dustin zu den US Open einladen. Ich habe hier vier Wildcards für die Qualifikation.“

Puh, das war jetzt aber eine Überraschung. Das war überhaupt noch nicht in unseren Plänen und entsprechend überrascht blickte auch Chris drein. Allerdings freute er sich. Fynn begann mit Justin gerade einen Feitstanz aufzuführen, als John die Tickets symbolisch an Chris übergab. Was für ein Abschluss unseres ersten Turnieres auf amerikanischem Boden.

Das Abenteuer konnte nun in Kanada weitergehen. Aber erst morgen, denn heute würde gefeiert und Chris musste mitfeiern. Darauf bestand ich. Und diese Feier wurde grandios. Chris trank natürlich keinen Alkohol, aber ich war zum ersten Mal während eines Turnieres richtig betrunken. Dustin und ich wachten erst gegen Mittag in unserem Hotel auf. Chris hatte uns alle ausschlafen lassen und in bester Laune brachen wir unsere Zelte in den USA ab und reisten nach Montreal weiter.

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