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Auf der Tour

Teil 11

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Inhaltsverzeichnis

Chris: Mit viel Selbstbewusstsein nach Montreal

Durch den Turniersieg hatten meine Jungs viel Selbstvertrauen gewonnen und entsprechend motiviert landeten wir in Montreal. Besonders gefreut hatte ich mich über eine Nachricht von Marc. Er hatte unser Turnier im Internet verfolgen können. Jetzt wünschte er uns für Montreal wieder viel Erfolg.

Justin war heute bereits beim Boarding sehr nervös gewesen. Jetzt, beim Betreten der großen Flughafenhalle in Montreal, war er kaum noch zu bändigen. Nervös hielt er ständig Ausschau nach seinen Eltern und immer wieder drehte er sich verunsichert um, da er sie nirgends entdecken konnte.

„Keine Sorge, Justin. Sie werden dich ganz sicher gleich in Empfang nehmen. Hier können sie aber doch gar nicht sein. Wir müssen erst noch das Gepäck holen und durch den Zoll. Sie werden auf der anderen Seite warten.“

Justin schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn und begann zu lachen.

„Mensch, Chris. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können. Dann lass uns aber schnell machen. Ich möchte meine Mutter endlich wiedersehen.“

Also holte ich meine Truppe zusammen und als unser Gepäck vollständig war, machten wir uns auf den Weg durch den Zoll. Wir hatten nichts anzumelden und entsprechend gingen wir durch den grünen Ausgang. Die Beamten beobachteten uns zwar, aber wir wurden nicht kontrolliert.

Gedanklich fühlte ich mich etwas müde. Diese ständige Reiserei war für mich anstrengend und ich freute mich bereits, wieder nach Deutschland zu kommen. Diese Woche würde erneut sehr hart werden, aber danach konnte ich mich etwas ausruhen.

Meine Gruppe hingegen war wie aufgedreht und voller Tatendrang. Der Turniersieg von Tim und Dustin und der zweite Platz von Carlo waren ein großer Erfolg für unser Team. Besonders Dustin hatte einen ganz wichtigen Schritt nach vorn gemacht. Er hatte für sich die Bestätigung erhalten, dass er jederzeit das Niveau der anderen spielen konnte. Ich war neugierig, wie er das für sich nutzen würde.

Allerdings hatte ich jetzt schon wieder organisatorische Dinge im Kopf. Wie kommen wir ins Hotel und wo bekomme ich den Mietwagen her? Justin hingegen war komplett auf dem Elterntrip und als er seine Eltern endlich erspäht hatte, gab es für ihn kein Halten mehr. Er lief einfach los und ich sorgte dafür, dass meine Jungs genug Abstand hielten. Diesen Moment sollte Justin für sich haben.

„Wie lange haben sich Justin und seine Eltern nicht gesehen?“, fragte Fynn.

„Etliche Monate. Das ist also schon ein besonderes Wiedersehen. Aber jetzt können wir uns langsam in ihre Richtung bewegen.“

Der Vater stand bereits neben Justin und begrüßte uns sehr freundlich. Er gab jedem von uns die Hand und erstaunlicherweise sprach er uns auf Deutsch an. Dies empfand ich als eine sehr nette Geste. Aber wir führten die Unterhaltungen dann doch weiter auf Englisch.

Die Eltern lotsten uns nach draußen auf den Parkplatz. Justins Vater hatte uns einen Van besorgt, den wir jederzeit nutzen konnten. So brauchte ich mich darum nicht mehr zu kümmern. Unser Hotel lag nur wenige Minuten von Justins Elternhaus entfernt. Deshalb bot ich ihm an, dass er während des Turniers bei seiner Familie wohnen sollte. Darüber freute er sich sehr, denn seinen kleinen Bruder hatte er ja auch schon ganz lange nicht mehr gesehen.

Die Eltern luden uns zum Abend zu sich ein. Dieses Angebot nahm ich dankend an. Sein Vater konnte mir mit Sicherheit einiges über das kommende Turnier berichten. Außerdem würden wir uns auf diese Weise besser kennenlernen. Der Vater bat uns, ihm zu folgen, denn er wollte uns den Weg zum Hotel zeigen. Anschließend würden sie nach Hause fahren und wir hätten etwas Zeit, uns frisch zu machen und dann zum Essen zu kommen.

Im Hotel verteilte ich die Zimmer. Natürlich bekamen Dustin und Fynn und Tim und Carlo jeweils ein Doppelzimmer. Maxi und mir gab ich ein Einzelzimmer. Ich wollte zumindest am Ende des Tages auch mal abschalten können. Die Zeit bis zum Aufbruch war recht kurz und überschaubar. Von daher hatte ich keine Gelegenheit, mir die Fluchtwege im Hotel anzuschauen und einzuprägen, was ich üblicherweise immer zuerst in einem neuen Hotel tat.

Mein erster Eindruck von Justins Familie war positiv. Die Eltern waren sehr nett und gleichzeitig erfolgsorientiert. Das ließ der Vater immer wieder durchblicken. Abends ließ er sich von mir immer mehr Details zum Training erklären und wie ich mit den Jungs arbeiten würde. Bei Tim und Carlo stutzte insbesondere Justins Mutter. Sie beobachtete unsere beiden Youngster besonders genau.

Am nächsten Morgen trafen wir uns bei ihnen zum Frühstück. Im Hotel hätten wir natürlich auch essen können, aber Justins Eltern hatten für die Jungs natürlich ein spezielles Spielerfrühstück vorbereitet.

Die Stimmung war bestens. Justins Mutter freute sich vor allem darüber, wie ihr Sohn sich bei uns integriert hatte. Sie sprach nicht viel darüber, aber es war offensichtlich.

Umso erfreulicher war es dann, als Justin die Jungs bat, mit ihm laufen zu gehen. Heute war die erste Runde Qualifikation und da mussten insbesondere Dustin und Justin fit und wach sein. Die anderen hatten noch einen Tag länger frei.

Ich blieb mit Tim und Carlo zurück. Maxi und Fynn gingen mit zum Laufen. Ich brauchte es ihnen nicht zu sagen, sie machten es freiwillig. Tim und Carlo würden in Montreal kein Turnier spielen. Sie sollten als Trainingspartner zur Verfügung stehen. Vielleicht als Lucky Loser, sollte ein gemeldeter Spieler zur Qualifikation nicht antreten.

Das Niveau war noch eine Nummer zu hoch für sie, aber sie sollten Erfahrungen sammeln, wenn sie die Möglichkeit bekamen.

Ich saß mit John, Justins Vater, auf der Terrasse. Frischen Kaffee in der Hand, legte er mir sein Tablet auf den Tisch. Dort konnte ich die Überschrift eines Artikels über das Turnier in New York lesen, mit einem Vorbericht auf das Ereignis hier in Montreal. In der Überschrift stand groß:

Schwuler deutscher Nachwuchsspieler zeigt den heimischen Spielern ihre Grenzen auf.“

Darunter stand ein Kommentar des Autoren, mit Zitaten von John McEnroe. Das war nicht das, was ich lesen wollte. Schon gar nicht vor einem Turnier.

„Wer hat das geschrieben? Und in welcher Zeitung steht das?“

„Das ist in unserer lokalen Tenniszeitung veröffentlicht worden. Ihr werdet dort als die neuen Stars des Tennis gelobt.“

„So ein Schwachsinn.“, regte ich mich auf.

„Warum? Lies es dir erst einmal durch. Ich glaube, dieser Artikel ist für unsere Verhältnisse sehr positiv für euch ausgefallen. Big Mac hat großen Anteil an der guten Darstellung. Vom Verband traut sich kaum jemand, sich mit ihm anzulegen.“

Ich nahm das Tablet erneut in die Hand und begann zu lesen. In der Tat wurde sehr freundlich über uns berichtet und dass Dustin und Fynn sich sehr vorbildlich verhalten hätten. Auch das gesamte Team hatte einen positiven Eindruck hinterlassen. Der Schreiber gab noch einen Ausblick auf das Turnier hier in Montreal und wünschte uns am Ende seines Artikels weiterhin alles Gute auf dieser Tour.

„Na, das liest sich doch gut. Ich finde, für unsere Verhältnisse ist das sehr positiv. Ich denke, dass ihr hier auch viel mit der Presse zu tun haben werdet. Es gibt noch nicht viele geoutete Tennisprofis. Das wird sich schnell herumsprechen.“

John lächelte und ich musste zugeben, dass dieser Artikel für uns gut gemacht war. John und ich sprachen über das kommende Turnier. Allerdings hatte er noch keine Auslosung bekommen. Von daher bat ich ihn, beim Veranstalter anzurufen und um ein Tableau der Qualifikation zu bitten.

Während er in sein Büro ging blieb ich mit Tim und Carlo im Garten. Tim fragte mich:

„Haben wir eigentlich eine realistische Chance, in die Qualifikation zu kommen?“

„Ich glaube es eigentlich nicht, aber wer weiß. Manchmal passieren seltsame Dinge. Und..“

Weiter kam ich nicht, denn plötzlich kam Justin aufgeregt in den Garten gelaufen.

„Chris, komm bitte schnell mit. Fynn und Dustin haben Stress mit ein paar Skinheads. Wir brauchen eure Hilfe. Ich sag schnell Papa Bescheid.“

Schon war er ins Haus gelaufen und mir war der Schreck in die Glieder gefahren. Bevor ich nachdenken konnte, war Justin wieder da und wir liefen los. Nach etwa fünfhundert Metern hatten wir die Gruppe erreicht. Fynn und Dustin waren mit Maxi von vier finster aussehenden Typen umzingelt. Zwei hatten Messer in der Hand. Da wurde ich richtig böse. Ohne zu überlegen, rannte ich auf die Angreifer zu. Dustin rief mir noch zu, ich sollte aufpassen, da sie ein Messer hätten. Das störte mich in diesem Monent nicht im Geringsten und ich schlug dem ersten direkt gegen den Kopf und wollte schon zum zweiten Mal ausholen, als plötzlich zwei Schüsse fielen. Ich zuckte zusammen und blieb wie angewurzelt stehen. Dann ertönten zwei laute Rufe und die Angreifer wollten flüchten, aber es fielen erneut zwei Schüsse und sie trauten sich nicht, auch nur einen Meter noch zu gehen.

Dann war John herangelaufen und hatte seine Pistole auf die Angreifer gerichtet. Dadurch hielt er sie in Schach und holte Dustin, Fynn und Maxi zu sich heran.

Erst jetzt begann ich zu zittern, weil das Adrenalin langsam aus dem Körper ging. Und wenige Minuten später traf auch ein Streifenwagen der Kanadischen Polizei ein. Die Beamten sprangen mit gezückter Waffe aus dem Wagen und legten den Angreifern Handschellen an. Erst danach steckte John seine Waffe weg und fragte mich:

„Bist du okay? Du blutest am Unterarm.“

Ich hatte es noch gar nicht bemerkt, dass ich mich verletzt hatte. Also schaute ich an meinem rechten Unterarm herunter und stellte fest, dass mein Blut auf den Boden tropfte. Als Dustin das sah, bekam er Panik. Genau das wollte ich vermeiden.

„Stopp, Dustin. Beruhige dich. Alles halb so wild. Fynn und Maxi, ihr verschwindet sofort mit Dustin nach Hause. Alles andere klären wir hier. Los haut ab.“

Dustin ließ sich nur schwer beruhigen und einfangen, aber ich gab ihnen sehr deutlich zu verstehen, dass ich keinerlei Widerspruch duldete. Die Polizisten hatten die Täter festgesetzt und im Auto untergebracht, sie warteten noch auf einen weiteren Streifenwagen, um sie abtransportieren zu können. John schaute sich meinen Arm an und nickte nur kurz.

„Sieht schlimmer aus als es ist. Hast du starke Schmerzen?“

„Nein, eigentlich gar keine Schmerzen, aber ich habe auch keine Hautnerven mehr im rechten Arm.“

Einer der Polizisten hatte mittlerweile einen Verbandskasten aus dem Kofferraum geholt. Er verband mir den Arm und teilte mir mit, dass sie vorsichtshalber eine Ambulanz gerufen hätten.

„John, kümmerst du dich bitte um die Jungs. Ich melde mich, wenn ich in der Klinik fertig bin.“

„Klar, mache ich. Justin soll bei dir bleiben. Er kennt sich hier ja aus. Mach dir keinen Stress, deine Jungs sind gut bei uns aufgehoben.“

Einer der Polizisten fuhr in der Ambulanz mit und fragte mich nach meinen Daten und was genau passiert war. In der Klinik befragte er noch Justin, während ich in der Notaufnahme behandelt wurde.

Es stellte sich heraus, dass die vier Jugendlichen es auf Geld und Handys abgesehen hatten und gar nicht wissen konnten, dass Dustin und Fynn ein Paar waren. Es hatte also gar keinen Zusammenhang gegeben. Ich hatte wohl hyperaggressiv reagiert. Allerdings lobte mich der Polizist für mein schnelles und beherztes Eingreifen. Er versprach mir, dass die Täter, anders als in Deutschland, in Haft genommen würden und erst nach ihrem Prozess wieder auf freien Fuß kämen. Nach Verbüßen der Strafe.

Das waren andere Gesetze als bei uns. Die Gesetzeshüter verstanden überhaupt keinen Spaß mit diesen Tätern und das ließen sie einen auch spüren. Mir hatte diese Aktion leider einen Aufenthalt in der Notaufnahme beschert. Der Arzt schaute sich die Verletzung ganz genau an, und beorderte mich in den kleinen Operationssaal. Dort sollte die Wunde versorgt werden.

Eine halbe Stunde später hatte ich einen dick verbundenen rechten Unterarm und war mit Justin unterwegs nach Hause. Er hatte uns ein Taxi gerufen, welches uns direkt vor die Haustür brachte. Ich war noch nicht ganz ausgestiegen, da stand meine Truppe bereits an der Haustür.

Das Taxi fuhr fort und schon war ich von meiner Truppe umringt. Insbesondere Dustin sah mitgenommen aus. Ich nahm ihn in die Arme und konnte seine Aufregung spüren. Erst, als er sich sicher war, dass es mir gut ging, stieg seine Stimmung wieder. Ich erklärte, was man im Krankenhaus mit mir gemacht hatte und dass alles glimpflich ausgegangen war. Was ich noch klären wollte, betraf John. Ich fragte ihn daher:

„Warum hast du gleich mit der Waffe geschossen? Hast du die immer griffbereit?“

„Ja, weil wir in letzter Zeit häufiger mit Überfällen auf Jugendliche zu tun hatten. Hier treibt sich anscheinend eine Bande herum. Vielleicht haben wir jetzt die richtigen erwischt. Viele der Anwohner hier haben sich zusammengetan und passen auf. Deshalb hatte ich auch meine Waffe schon griffbereit, als Justin aufgeregt herein kam. Dass ihr die Opfer sein würdet, hatte ich da noch gar nicht begriffen. Erst, als ich euch sah, wusste ich, was los war. Da habe ich zweimal in die Luft geschossen.“

„Ach, du hast gar nicht auf die Täter geschossen?“, fragte Justin aufgeregt.

Ich musste lachen.

„Das wäre nicht gut gewesen aus der Entfernung. Wir standen doch viel zu dicht zusammen, aber es hatte die Täter erschreckt und damit genau den Zweck erfüllt.“

John nickte, aber sagte auch:

„Wenn es kritisch gewesen wäre, hätte ich auch auf sie geschossen. Ich beherrsche die Waffe, und hätte sehr wahrscheinlich auch den richtigen Burschen getroffen, aber so ist es doch besser.“

„In der Tat. Irgendwie fängt unser Abenteuer Kanada ja spektakulär an. Wenigstens ist von euch keiner verletzt worden. Ihr könnt nachher spielen.“

„Ja, aber nicht mehr heute.“, antwortete Fynn.

„Warum das denn? Justin und Dustin müssen Qualifikation spielen. Die beginnt heute Nachmittag.“

„Weil die Veranstalter für Justin und mich eine Wildcard vergeben haben. Als Belohnung für den Turniersieg. Vielleicht kommt Tim oder Carlo dafür ja noch in die Qualifikation, aber wir müssen nicht mehr heute spielen.“

Dustin schaute dabei zu Tim und Carlo, die immer noch auf meinen Arm blickten.

„Leute, hört auf, euch um meinen Arm zu sorgen. Wenn die Wunde getrocknet ist, kann ich den Verband auch wieder abnehmen. John, wann klärt sich das, ob Tim oder Carlo in die Qualifikation kommen?“

„Ich soll in einer Viertelstunde noch einmal anrufen. Dann wollten sie das geklärt haben.“

Es beruhigte mich sehr, dass John hier alles im Griff hatte. Auch wenn ich mal nicht da wäre. Entsprechend ruhig setzte ich mich wieder an den Tisch und nahm mir einen Kaffee. Bei dieser Verletzung hatte es auch Vorteile, kein Schmerzempfinden zu haben. Die Ärzte hatten mir aber versichert, dass es keine schwere Verletzung sei, also ging ich schnell wieder zum Tagesgeschäft über.

„So, da ihr heute nicht mehr zu spielen braucht, möchte ich ein Training ansetzen. Nicht, dass ihr einrostet. Tim und Carlo gehen gleich an der Anlage eine Runde laufen. John, könntest du uns bitte einen Trainingsplatz organisieren?“

John nickte nur und wollte das gleich bei dem Telefonat mit der Turnierleitung regeln.

Ich saß am Tisch mit dem Kaffee und meine Jungs standen immer noch etwas ratlos herum.

„Leute, was ist los? Das Leben geht weiter und ihr müsst euch vorbereiten. Wer noch seine Sachen packen muss, sollte das jetzt tun. Wer fertig ist, darf sich gerne zu mir setzen. Aber steht hier nicht so hilflos herum.“

Nach dem letzten Satz musste ich lachen. Das steckte auch meine Jungs an und damit war der Bann gebrochen. Schnell normalisierten sich die Abläufe wieder.

Zwei Stunden später hatte ich meinen Verband abgemacht und war mit der Truppe auf der Anlage. Tim hatte Glück und war in das Feld der Qualifikation nachgerückt. Für Carlo hatte es nicht gereicht, aber er nahm das sehr locker und stellte sich sofort in den Dienst des Teams.

Unsere erste richtige Trainingseinheit verlief normal und der Vorfall hallte nicht nach. Alle waren sehr konzentriert und insbesondere Dustin erstaunte mich. Seine Trainingsleistung stach hervor. Extrem locker ging er auf jeden Ball aggressiv drauf und spielte druckvoller als sonst. Mir gefiel das gut. Fynn hatte allerdings damit seine Probleme, denn er konnte nicht mehr so leicht mit seinem Freund mithalten. Er musste mehr tun als sonst.

Für Justin war dieses Training auch etwas Besonderes. Er stand unter Beobachtung der lokalen Presse. Sein Name war hier natürlich bekannter als bei uns in Deutschland. Selbst beim Training standen zwei oder drei Fotografen am Platz. John hatte jetzt die Aufgabe, sich auch darum zu kümmern, denn es gab doch die ein oder andere Interviewanfrage.

Tim hatte ich bereits nach zwanzig Minuten zum lockeren Auslaufen geschickt. Er musste am späten Nachmittag noch sein Qualifikationsmatch bestreiten. Carlo versuchte mit vollem Einsatz mitzuhalten. Auch hier zeigten sich Fortschritte. Er war ein guter Trainingspartner für Maxi. Carlo nahm das Tempo aus dem Ballwechsel und Maxi musste selbst Druck machen, ohne zu viel Risiko zu gehen.

Ich war gerade bei Justin, Dustin und Fynn am Platz, als John zu uns kam. Er bat mich, an die Bank zu kommen.

„Ich habe eine Anfrage eines lokalen TV-Senders. Sie würden gern mit Justin ein Interview machen und ein paar Trainingssequenzen drehen. Geht das in Ordnung?“

„Meinetwegen ja, wenn Justin nichts dagegen hat und leg es bitte so, dass es nicht im Ablauf stört.“

„Geht klar, dann mache ich mit denen einen Termin ab. Vielleicht wäre es heute noch am besten oder was denkst du?“

„Ja, wäre auch in Ordnung. Aber erst nach dem Training und der Physio.“

An dieser Stelle war John für mich eine große Hilfe. Er kannte natürlich hier viel mehr Leute und konnte mir Arbeit abnehmen, denn für uns war das noch nicht so alltäglich, auch mit den Medien zu arbeiten.

Zum Ende des Trainings tauchte dann ein Kamerateam am Platz von Justin auf. Sie machten einige Aufnahmen, aber das Interview sollte erst nach der Physio sein. Allerdings hatte ich jetzt nicht damit gerechnet, dass sie mir ein paar Fragen stellen wollten. Ich bat daher John die letzten Minuten des Trainings zu überwachen.

Die Fragen waren nichts Außergewöhnliches bis zu dem Moment, als ich gefragt wurde:

„Sie haben mit Fynn und Dustin zwei Spieler, die auch eine Beziehung zueinander haben. Wie gehen sie damit um? Müssen Sie die Spieler getrennt unterbringen oder lassen sie das laufen?“

Diese Frage empfand ich als Provokation und auch etwas distanzlos. Schroff gab ich deshalb zur Antwort:

„Ich glaube nicht, dass ich das beantworten möchte. Das ist eine reine Privatsache.“

Der Journalist schien mit dieser Antwort nicht gerechnet zu haben, denn er stellte keine weiteren Fragen und ich hatte wieder meine Ruhe und konnte mich jetzt mit Tim auf das kommende Match vorbereiten.

Tim war doch recht aufgeregt, als er seinen Platz zugeteilt bekam und zum Match aufgerufen wurde.

„Nun beruhige dich etwas. Niemand erwartet von dir einen Sieg. Du darfst vollkommen befreit spielen. Gib dein Bestes und hab Spaß. Zeig mir, dass du gern hier bist.“

Ich hielt ihm die Hand hin und hatte erwartet, dass er sie cool abschlagen würde. Tim kam aber auf mich zu und umarmte mich herzlich.

„Danke, Chris. Ich versuche mein Bestes.“

Lachend antwortete ich:

„Nicht versuchen, machen.“

Danach nahm er sich seine Tasche und ging in Richtung Platz. Ich hatte keinem meiner Jungs gesagt, dass ich sie an Tims Platz sehen möchte. Sie sollten sich optimal auf morgen vorbereiten können. Umso erfreuter war ich, dass alle bis auf Justin irgendwann bei mir und Tims Spiel saßen. Justin konnte noch nicht bei uns sein, weil er ja noch sein Interview hatte.

Tim machte ein großes Spiel. Er fightete um jeden Ball. Obwohl er den ersten Satz klar mit 2:6 verloren hatte, gab er nicht auf. Auch im zweiten Satz kämpfte er weiter. Sein Gegner machte einen schweren taktischen Fehler. Er hatte geglaubt, dass er das Spiel bereits sicher im Griff gehabt hätte. Aber Tim ließ nicht locker und sein Gegner begann Flüchtigkeitsfehler zu machen. Jetzt waren die Jungs zur Stelle und feuerten Tim lautstark an. Ich blieb im Hintergrund, hielt aber ständig Blickkontakt zu Tim. Er wirkte entschlossen und mir imponierte das. Egal wie das Spiel ausgehen würde. Mit dieser Leistung hatte er bereits die Reise mehr als gerechtfertigt. Das nahezu Unglaubliche geschah, denn Tim gewann den zweiten Satz mit 7:6 im Tie-break.

Jetzt wurde sein Gegner noch nervöser und ungehaltener. Er konnte nicht akzeptieren, dass ein knapp fünfzehnjähriger Junge, ihm gefährlich werden konnte. Der Schläger flog einige Male auf den Boden und der Schiedsrichter ermahnte ihn mehrfach. Beim Stand von 3:3 im dritten Satz gab es sogar eine Verwarnung und damit war es dann endgültig vorbei. Er legte sich immer mehr mit dem Schiedsrichter an und handelte sich sogar einen Strafpunkt ein.

Tim blieb äußerlich cool und spielte immer weiter. Das berührte mich auch emotional, denn ich freute mich sehr für ihn. Er hatte ganz schwierige Wochen hinter sich und zeigte hier, dass er vieles verstanden hatte. Ich war mir beim Stand von 4:3 erstaunlich sicher, dass er dieses Spiel gewinnen würde.

Und so kam es auch. Tim überstand die erste Runde der Qualifikation und schlug den Favoriten. In der nächsten Runde würde der Gegner auf dem Papier leichter sein. Das bedeutete aber nichts, denn jeder Gegner war hier für Tim eine Herausforderung. Egal, er hatte sich heute Respekt verschafft. Entsprechend euphorisch empfing ihn Carlo nach dem Match. Tim wirkte erschöpft, aber er strahlte mich an.

„Boah, Chris. Wie geil ist das hier zu spielen. Ich glaube, besser kann ich nicht mehr spielen.“

„Ich bin sehr stolz auf dich, Tim. Was du heute gezeigt hast, war großes Tennis und egal was jetzt noch kommt, du hast bewiesen, dass du viel dazugelernt hast.“

Er ließ seine Tasche fallen und nachdem ich ihm „high five“ gegeben hatte, legte er sich auf den Rasen. Er war komplett platt.

„Leg dich nicht hier hin. Carlo, du begleitest Tim bitte zum Physio. Er soll sich eine Massage abholen, aber vorher locker auslaufen. Ich möchte, dass du bei ihm bleibst, falls er Krämpfe bekommen sollte. Danach könnt ihr euch gerne irgendwohin zurückziehen.“

Das ließ sich Carlo natürlich nicht zweimal sagen und schnell waren sie verschwunden. Fynn fragte mich etwas besorgt:

„Meinst du nicht, du solltest Tim begleiten? Falls etwas passiert, weiß ich nicht, ob Carlo dann richtig helfen kann.“

„Lass die beiden machen. Tim weiß mittlerweile, wie sein Körper auch auf die Medikamente reagiert. Er wird Carlo rechtzeitig sagen, wenn ihm schlecht wird. Wir sollten die beiden mal in Ruhe lassen.“

Durch den Matchverlauf hatte ich leider nicht darauf geachtet, meinen Arm nicht in die Sonne zu halten. Dadurch hatte sich die noch dünne Borke ein wenig gelöst und die Wunde begann zu nässen. Das war nicht gut und ich ärgerte mich über mich selbst.

Jetzt musste ich das behandeln lassen, um eine Entzündung zu vermeiden. Dazu wollte ich zum Turnierarzt gehen. Also informierte ich Dustin, dass ich für ein paar Minuten weg sein würde. Ich hatte ihnen mit Absicht nichts von meinem Problem erzählt. Dort angekommen, holte ich mir berechtigterweise einen Elfmeter ab. Der Arzt schimpfte mit mir und riet mir dringend, den Verband zumindest tagsüber weiter zu tragen. Damit konnte ich leben, denn eine Entzündung wäre jetzt denkbar schlecht gewesen.

Fynn: Coole Stimmung, aber Chris hat Probleme

Tims Leistung brachte unsere Stimmung zum Kochen. Keiner hatte erwartet, dass er so gut spielen könnte. Sein Gegner schien den Fehler gemacht zu haben, ihn zu unterschätzen. Jedenfalls hatte Tim die erste Runde der Qualifikation überstanden und musste morgen noch ein Spiel gewinnen, um dann sogar ins Hauptfeld einziehen zu können. Ich hatte mir schon seinen Gegner angesehen und war der Meinung, dass das einfacher sein würde als heute. Dustin und Maxi waren da anderer Meinung. Insbesondere mein Schatz las mir die Leviten:

„Du kannst froh sein, dass Chris deinen Unsinn gerade nicht gehört hat. Der würde dich sofort einen Kopf kürzer machen. Einfache Spiele gibt es nicht. Außerdem sollte sich jeder auf sein Spiel konzentrieren. Wir müssen morgen auch schon die erste Hauptrunde spielen. Wenn auch erst am Nachmittag.“

„Ja, ja. Ich sag ja schon nichts mehr. Schaut euch aber Carlo mal an. Der grinst wie ein Honigkuchenpferd. Darf ich mich da nicht auch mal richtig freuen und etwas rumspinnen?“

„Genau, Fynn. Ich verstehe dich und ich darf da auch ein wenig rumspinnen. Ich muss ja auch nicht spielen. Aber weiß einer, wo Chris schon wieder hin ist?“

Hm, da hatte Carlo eine berechtigte Frage gestellt. Chris war nicht wie üblich gleich zum Spieler gegangen, doch bei uns war er auch nicht. Dustin schien mehr zu wissen.

„Keine Panik, er wird sicher gleich zurückkommen. Er wollte nur etwas erledigen. Wenn Tim vom Auslaufen kommt, ist er bestimmt wieder da.“

Ich wusste doch, Dustin ist immer gut informiert und dafür bekam er zum Dank einen Kuss von mir.

„Schleimer!“

Ich zuckte zusammen als ich das hörte, drehte mich um und schaute in das grinsende Gesicht von Maxi.

„Du bist doch nur neidisch, weil du keinen zum Knutschen hast.“, konterte ich.

„Na, wenn ich Dustin küssen würde, bekäme ich ja sofort richtig Ärger. Also lasse ich das lieber sein.“

Das führte zu allgemeinem Gekicher meiner Freunde. Ich konnte dazu nichts mehr sagen und schaute wohl recht sparsam. In diesem Augenblick kam Tim zu uns zurück und Carlo umarmte ihn begeistert.

„Ha, Dustin. Du hast gesagt, Chris ist bereits zurück, wenn Tim wieder da ist. Tim ist wieder da, aber von Chris ist noch nichts zu sehen.“

„Warum willst du, dass ich zurück bin?“, hörte ich hinter meinem Rücken.

Heute schien alles gegen mich zu sein, denn Chris stand plötzlich lachend vor mir, als ich mich umgedreht hatte. Dustin hatte seinen Spaß auf meine Kosten und mir war das peinlich. Aber gut, irgendwer musste ja das Opfer werden. Heute war ich wohl dran.

John und Justin tauchten auch plötzlich wieder auf und schon waren wir wieder komplett. Chris nahm jetzt Tim auf die Seite und ging mit ihm die Nachbesprechung machen. John blieb bei uns und fing an, die Spieleranalyse für morgen zu machen. Das war neu für mich, denn bislang hatte das immer Chris mit mir gemacht.

Als ich an der Reihe war, nahm mich John mit auf einen Spaziergang. Seine Analyse über meinen Gegner war kurz und präzise. Er beschrieb mir ganz genau wie er spielte und was für Schwachstellen er hatte. Allerdings bekam ich keine Strategie, wie ich spielen sollte. Das war bei Chris anders. Dort besprachen wir unsere Ideen und kamen dann auf einen Konsens. Jetzt musste ich allein entscheiden, wie ich das Match gestalten sollte. Besonders gut fühlte sich das für mich nicht an. Ich war verunsichert, aber John wollte gar nicht mit mir darüber diskutieren, denn als er fertig war, fragte er mich nur, ob ich alles verstanden hätte und dann war das Gespräch auch schon beendet. Komische Art mich auf ein Match vorzubereiten.

John holte sich einen nach dem anderen von uns und als wir wieder beisammen waren, stand uns allen ein wenig die Ratlosigkeit im Gesicht. Chris war momentan auch nicht zu sehen. Die Nachbesprechung mit Tim schien etwas länger zu dauern.

„Habt ihr jetzt einen Plan, wie ihr spielen sollt? Irgendwie weiß ich jetzt, was mein Gegner kann und was nicht, aber eine Strategie habe ich nicht.“

Meinem Freund ging es genauso wie mir und es kam zu einer Diskussion, die uns alle nicht weiter brachte.

Tim tauchte dann mit Chris bei uns auf und nach nur wenigen Augenblicken, hatte Chris die Situation erkannt. Er fing an zu lachen und schüttelte mit dem Kopf.

„Leute, was ist denn hier los? Kaum bin ich mal nicht da und John gibt euch eine Aufgabe, ist hier Ratlosigkeit. Das kann ja nicht sein.“

Wir schauten uns an und erst jetzt fiel mir auf, dass der Arm von Chris wieder verbunden war. Aber dafür war jetzt keine Zeit, denn Maxi stellte sofort die uns alle interessierende Frage:

„Was für eine Aufgabe soll uns John gegeben haben? Wir haben keine Ahnung, wie wir jetzt spielen sollen. Was soll also so eine Gegneranalyse?“

Maxi war genervt und gereizt. Chris schüttelte wieder mit dem Kopf und setzte Maxi ganz ruhig entgegen:

„Was hast du jetzt für ein Problem? Du weiß genau, was dein Gegner gut kann und was nicht so gut. Da muss John dir doch nicht mehr sagen, was du machen sollst. Leute, kommt mal klar. Ihr seid doch keine Anfänger mehr. Ihr müsst nur eine Entscheidung treffen, was ihr aus diesen Informationen macht. Es hilft euch doch auf Dauer nicht weiter, wenn ich euch immer wieder sage, was ihr machen sollt. Ihr müsst eigenständiger werden. Also trefft eure Entscheidungen und wenn ihr euch jetzt unsicher seid, können wir gern darüber sprechen. Aber ich möchte euch nicht mehr die Verantwortung abnehmen. John hat mir geraten, weniger Vorgaben zu machen und ich finde, er liegt damit richtig. Also denkt euch eine Strategie aus und wer sich unsicher ist, darf gerne zu uns kommen und mit uns darüber sprechen. Aber ihr werdet ab heute keine fertige Strategie mehr vorgesetzt bekommen.“

Damit beendete Chris unsere Diskussionen und wollte schon weggehen. Da fragte Dustin:

„Was ist mit deinem Arm? Warum ist er wieder verbunden? Hast du mehr Probleme damit als du uns sagst?“

Diese Frage wollte Chris vermeiden. Ich konnte es ihm ansehen, dass er darüber nicht sprechen wollte. Er wusste aber auch, dass sich gerade Dustin nicht mit einer Ausrede zufrieden geben würde.

„Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Ich hatte den Arm zu lange in der Sonne und jetzt hat sich die Borke gelöst. Das ist nicht gut. Daher habe ich mich behandeln lassen und wieder einen Verband anlegen lassen. Über Nacht nehme ich den aber wieder ab. Also kein Grund zur Besorgnis.“

Es war jetzt besser, Chris nicht weiter nach seinem Arm zu befragen, deshalb nahm ich meinen Schatz an den Arm und wir gingen uns ein Eis holen. Ich hatte den Plan, das Geld meiner Eltern für kleine Dinge zu nutzen. Und wenn wir weiterhin so ein tolles Team wären, würde ich meine Freunde am Ende zu einem Eis oder so etwas einladen. Und für Dustin hatte ich noch eine größere Überraschung.

„Du kannst es aber auch nicht lassen, Chris die falschen Fragen zu stellen. Es war doch klar, dass er nicht über seine Verletzung sprechen möchte. Das mag Chris auf dem Platz überhaupt nicht. Später im Hotel können wir darüber reden, aber nicht hier.“

„Ja ja, du hast ja recht. Dennoch mache ich mir Sorgen. Ich möchte nicht Schuld haben, wenn Chris Probleme bekommt.“

„Ich glaube, niemand von uns würde von Chris dazu einen Vorwurf hören. Also komm mal runter. Chris macht immer zuerst sich selbst verantwortlich, auch wenn das manchmal Unsinn ist.“

Ich fand Dustins Reaktion daneben und zeigte ihm auch deutlich mein Unverständnis. Das führte bei ihm nach einigen Minuten zu einem schlechten Gewissen. Denn er fragte mich:

„Du bist jetzt sauer auf mich, oder? Weil ich Chris etwas unterstellt habe.“

„Unsinn, ich finde nur, dass du mehr darüber nachdenken könntest, was du über Chris sagst.“

„Okay, ich gebe es zu, aber ich mache mir eigentlich Sorgen um Chris.“

„Das machen wir alle. Wir kennen ihn doch und wissen wie er denkt. Also sollten wir nicht so viel darüber reden und nachdenken, sondern einfach genau aufpassen und hinschauen.“

Dustin kam auf mich zu und umarmte mich spontan. Es war ihm jetzt unangenehm, dass er Chris etwas zu Unrecht vorgeworfen hatte.

Ich drückte ihn an mich und bekam dafür einen schönen, langen Kuss.

„Hey, ihr sollt nicht ständig rumknutschen. Wir wollen ins Hotel zurück. Chris sucht schon nach euch.“

Verdammt, nicht mal in Ruhe ein Eis essen konnte man, Tim war zu uns gekommen, weil es Richtung Hotel gehen sollte.

Chris: Abend bei Justin in der Familie

Gegen neun Uhr abends saßen wir bei Justins Familie im Garten. John hatte uns zum Abendessen eingeladen und die Jungs waren mit Justins Bruder im Keller verschwunden. Dort gab es einen Poolbillardtisch. Mir verhalf das zu einem ruhigen Gespräch mit Justins Eltern.

„Wie siehst du Justins Entwicklung bei euch in Halle? Ist er dort wirklich glücklich und kommt er mit der deutschen Mentalität klar?“

Seine Mutter machte sich weiterhin Sorgen um die Entwicklung ihres ältesten Sohnes. Mir war das sofort aufgefallen. Sie beobachtete jede Bewegung von Justin.

„Ich sehe Justin als einen bereits sehr selbständigen, jungen Mann. Fast schon zu selbständig. Zu Beginn hatte er Schwierigkeiten, nach Hilfe zu fragen. Er wollte immer alles allein regeln. Dadurch hat er es den anderen nicht leicht gemacht, ihn zu integrieren. Aber nach dem ersten Turnier haben die Jungs gesehen, dass er ein netter Kerl ist. Und überhaupt nicht unnahbar. Man muss dazu sagen, dass wir erst vor kurzem einen anderen jungen Spieler hatten, der ebenfalls als sehr talentiert galt, aber menschlich nur sich selbst sehen konnte. Deshalb war unsere Truppe vielleicht auch sehr vorsichtig Justin gegenüber.“

„Ja, das stimmt. Justin war immer schon darauf bedacht, für sich selbst sorgen zu können. Er wollte früh viel lernen. Manchmal habe ich gedacht, er hat wenig Zeit gehabt, Kind zu sein. Deshalb frage ich mich heute, ob er überhaupt weiß, was eine richtige Freundschaft bedeutet. Ist er bei den anderen wirklich akzeptiert?“

„Ja, ich denke schon. Aber frag doch das die Jungs einfach. Sie werden euch das viel besser erklären können. Ich bekomme es nicht ständig mit, was sie in Halle in der WG machen. Auf den Turnieren kann ich nur Positives über Justin berichten. Sportlich ist Justin eh über jeden Zweifel erhaben und seit er gemerkt hat, dass wir nicht nur den Erfolg sehen, sondern auch die menschliche Entwicklung beobachten, taute er immer mehr auf. Eigentlich warte ich nur noch darauf, dass er mir vielleicht mehr von seiner Familie und seinen Freunden in der Heimat erzählt. Da ist er noch sehr zurückhaltend.“

„Weißt du“, mischte sich John jetzt ein, „er hat hier auch nicht viele Freunde. Er war schon sehr früh viel unterwegs. Sein kleiner Bruder ist für ihn der wichtigste Freund hier. Er hat uns in seinen Emails aus Deutschland immer geschrieben, dass er gerade Dustin und Fynn bewundert. Ich kann mich noch dran erinnern, als er die Geschichte aus dem Lokal schrieb, wo ihn ein Junge angeflirtet hatte. Das hatte ihn verunsichert. Aber wie du ihm das erklärt hast und ihn ernst genommen hast, das hat er ganz toll gefunden. Überhaupt merkt er mittlerweile, dass du für ihn wichtig bist. Er hat verstanden, wie euer Team funktioniert und beginnt, sich darauf einzulassen. Ich bin mir sicher, wenn wir jetzt in den Keller gehen würden, freuen sich deine Jungs, dass du mitspielst. Justin hätte das früher nicht gut gefunden. Er hätte immer geglaubt, er würde kontrolliert. Das ist mittlerweile anders geworden, weil die anderen ihm immer wieder erklären, wie du mit ihnen arbeitest und dass du eben nicht nur ihr Coach bist.“

„Das freut mich natürlich, wenn er mit euch darüber spricht. Durch die Entfernung ist das ja nicht so einfach. Hier wird er sich vermutlich wieder viel Druck machen. Ich möchte ihm diesen Druck nehmen. Er soll sich auf die Spiele freuen und es genießen, in der Heimat zu spielen.“

„Ja, er macht sich Druck. Er will insbesondere seinem Vater zeigen, was er bereits in Deutschland gelernt hat und dass er sich verbessert hat. Ich habe eine Bitte an dich, Chris. Auch wenn du Justin jetzt viel Zeit gibst, mit uns etwas zu machen, bitte übernimm du aber das Coaching von Justin. Sein Vater würde ihn nur noch nervöser machen.“

„Hm, davon hat er mir nichts gesagt. Ich hatte ihn gefragt, ob er von seinem Vater betreut werden möchte oder nicht.“

„Und er hat ganz sicher nicht gesagt, dass er nicht von mir betreut werden möchte.“

„Das ist korrekt. Allerdings wäre das auch für mich überraschend gewesen. Soll ich mit ihm darüber sprechen? Also offen ansprechen, wie ich die Lage sehe?“

„Ja, du kannst ihm doch sagen, dass es dir auffällt, wieviel Druck er sich macht. Und dass du den Eindruck hast, dass sein Vater als Coach am Platz nicht gut für ihn sei.“

John hatte Humor, das musste ich ihm lassen.

„Hm, kann ich alles machen, aber warum hast du nicht einfach selber gesagt, dass ich ihn betreuen soll?“

„Gute Frage, ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich gehofft habe, dass es dennoch gut geht. Keine Ahnung.“

„Vielleicht, weil es dir auch etwas weh tut, wenn dein Sohn lieber von jemand anderem gecoached werden möchte. Ich kann das schon verstehen. Mein Vater hat das auch erst nach Jahren verstanden. Da war es für mich aber bereits zu spät. Ich bin an dieser Situation gescheitert.“

„Wie meinst du das, gescheitert?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Wir haben Zeit. Die Jungs sind unten und gut beschäftigt.“

„Ich habe jetzt aber einfach nicht die Kraft dafür. Lasst uns erst etwas zu den Jungs gehen und eine Partie mit ihnen spielen.“

Und das taten wir auch. Es wurde sehr lustig, denn es war klar, dass die Erwachsenen gegen die Youngster spielen mussten. Die Youngster hatten allerdings nicht den Hauch einer Chance beim Billard. Das führte dazu, dass sie uns als Revanche auf dem Tennisplatz herausforderten. Da so eine Herausforderung eine Ehrensache war, konnten wir nicht kneifen. Also sagten wir zu, nach dem Turnier gegen zwei von ihnen zu spielen. Diese zwei würden ausgelost.

Es wurde bereits dunkel, als ich mit den Eltern wieder nach oben in den Garten ging. Es folgte noch eine für mich anstrengende Stunde, denn sie wollten noch meine Geschichte hören. Als wir das Gespräch dazu beendeten, war es bereits halb zwölf. Viel zu spät für die Jungs, um noch genügend Schlaf für den kommenden Spieltag zu bekommen. Zumindest für Tim und Maxi. Die beiden mussten nämlich schon am Morgen spielen. Die anderen drei erst am Nachmittag.

Bis wir im Hotel wären, würde es nach Mitternacht sein.

„Wie wäre es denn, wenn Tim und Maxi hier schlafen und ihr ins Hotel fahrt? Dann können die beiden zumindest schneller im Bett sein.“

„Ginge das denn? Habt ihr dafür genug Platz?“

„Das bekommen wir schon hin. Oder andere Idee, Justin und Aaron fahren mit euch ins Hotel und Tim und Maxi schlafen in ihren Betten. Das würde am schnellsten gehen.“

So machten wir es dann. Aaron, Justins kleiner Bruder würde bei Carlo schlafen und Justin in Maxis Zimmer.

Dass Aaron Justins kleiner Bruder war, konnte man sofort erkennen. Allerdings hörten die Gemeinsamkeiten dann schon auf. Aaron war ein Wirbelwind und überhaupt nicht ruhig. Allerdings dennoch mit einem sehr guten Verhalten und Benehmen. Wie gut, dass Tim nicht mit ihm im Hotel schlafen würde. Das wäre garantiert eine kurze Nacht geworden. Die Nacht für Carlo war nämlich kurz, sehr kurz. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Ich hätte sie eigentlich irgendwann ins Bett schicken müssen. Aber Carlo musste nicht spielen und Aaron war unseretwegen hier. Von daher ließ ich das laufen, aber zum Frühstück mussten sie pünktlich erscheinen.

Als die beiden dann schließlich als Letzte an unseren Tisch kamen, musste ich lachen. Beide hatten noch ganz kleine Augen und sahen todmüde aus.

„Also Jungs, so sieht es aus wenn man sich ganz schlecht auf ein Turnier vorbereitet. Also für euch nicht zur Nachahmung empfohlen.“

Alle, auch Carlo, mussten lachen. Bei Carlo war dieser kleine Scherz kein Problem. Er konnte gut damit umgehen.

Es ging zeitig zur Anlage. John war mit Maxi und Tim bereits anwesend und wartete auf uns.

„Hallo zusammen“, begrüßte er uns.

„Hi, John. Wo hast du die beiden Jungs gelassen? Sag nicht, dass sie sich schon warmmachen.“

„Klar sind sie schon auf dem Platz. Sie müssen gleich anfangen. Da lasse ich nicht mit mir diskutieren. Ihr habt ja alle noch ein wenig mehr Zeit. Chris, kannst du bitte mit Tim noch einmal sprechen. Er hat noch eine Frage an dich.“

„Ja mache ich. Auf welchem Platz sind sie jetzt?“

„Platz siebzehn. Eure Ansetzungen habe ich hier. Leider werdet ihr bis auf Justin relativ zeitgleich spielen. Aber es hat den Vorteil, dass wir heute Abend nicht so spät im Hotel sein werden.“

Ich machte mich auf den Weg zu Tim. Unterwegs wurde ich sogar von einem anderen Trainer angesprochen, ob Dustin sich vielleicht mit seinem Spieler einschlagen würde. Wir kamen kurz ins Gespräch und dann wurde klar, dass es sich bei dem Spieler um Sebastian Korda handelte. Das war momentan der beste amerikanische Nachwuchsspieler und hier an Position eins gesetzt. Nummer zwei in der Juniorenweltrangliste. Dieses Angebot nahm ich gerne an und wir verabredeten uns für halb elf auf dem Platz neunzehn. Für Dustin eine gute Gelegenheit etwas Neues kennenzulernen.

Tim schlug sich mit Maxi ein, als ich an den Platz kam. Sofort unterbrach Tim das Spiel und kam zu mir.

„Hi Chris, ich habe noch ein Problem. Ich hatte genug Griffbänder in der Tasche, aber jetzt sind gar keine mehr da. Ich habe keine Ahnung wo die geblieben sein können. Kannst du mir noch ein paar davon besorgen?“

„Okay, hast du deine Tasche mal unbeaufsichtigt gelassen? Aber egal, ich besorge dir welche. Du musst jetzt auch aufhören, da du in zehn Minuten auf den Platz musst. Bis dahin habe ich dir Griffbänder organisiert.“

Tim nickte nur und sie packten ihre Sachen zusammen. Ich joggte zurück und holte mir von Fynn einige Griffbänder, die ich dann zu Tim an den Platz brachte.

Carlo hatte meine Aktion mitbekommen und kam sofort zu mir.

„Tim hatte aber genug Griffbänder in der Tasche. Ich habe sie gestern noch dort gesehen. Er hat sie also nicht vergessen.“

„Warum erzählst du mir das jetzt?“

„Weil ich nicht möchte, dass du sauer auf Tim bist. Er kann da jetzt nichts für, wenn die verschwunden sind.“

Etwas irritiert schaute ich Carlo an.

„Du musst nicht für Tim Partei ergreifen. Es gibt dafür keinen Grund. Tim hat mir das gesagt und ich glaube ihm das mittlerweile. Also beruhige dich. Du darfst gern hier bei Tim bleiben, ich gehe noch kurz zu Maxi. Der muss ja auch gleich anfangen.

Aaron war die ganze Zeit bei Carlo gewesen, hatte aber unser Gespräch nicht verstanden, weil er kaum Deutsch verstand. Lustig war, als Carlo ihm den Sachverhalt dann auf Englisch erklärte. Mit einem Schmunzeln verließ ich die beiden, um noch kurz mit Justin ein paar Gedanken auszutauschen.

Maxi wartete bereits auf mich. Ich nahm ihn mit und wir gingen ein paar Schritte über die Anlage.

„Wie ist deine Stimmung heute?“

„Ganz gut. Ich habe mir vorgenommen, besser zu agieren als beim letzten Mal. Außerdem möchte ich zeigen, dass ich dazulernen kann und auch gefährlich bin. Vielleicht kann ich ja meinen Gegner überraschen.“

Hui, das waren ja ganz neue Töne.

„Das gefällt mir gut. Die Strategie ist vermutlich klar. Jetzt möchte einfach nur vollen Einsatz sehen. Spielerisch kannst du locker mithalten. Zeig einfach, dass du Tennis spielen kannst. Alles Weitere sehen wir dann. Ich glaube weiterhin an dich.“

Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Maxi nickte und ging dann, um sich fertig zu machen.

Ich entschied mich, in Absprache mit John, bei Tim zu bleiben. John würde sich Maxis Spiel anschauen und das Betreuen dort übernehmen. Erneut zeigten die anderen Jungs ihr Teamplay. Sie unterstützten ihre Freunde, ohne dass ich etwas dazu sagen musste. Das war eine unserer Stärken. Wir standen immer für den Teamkameraden ein.

Was mich besonders freute, Dustin und Fynn saßen ganz eng nebeneinander. Sie genossen diese gemeinsame Zeit sichtlich. Immer wieder tauschten sie ganz selbstverständlich Zärtlichkeiten aus. Es passierte nichts Besonderes, aber sie machten es auch nicht heimlich. Hin und wieder konnte ich die anderen Zuschauer beobachten. Der ein oder andere hatte es bemerkt. Es wurde getuschelt und manch einer zeigte auch auf die beiden. Justin hatte sie sogar einmal darauf hingewiesen. Fynn fing daraufhin an zu lachen und gab Dustin einen offenen Kuss. Mir gefiel diese Situation sehr gut.

Tim war in seinem Spiel erneut am Limit, aber er gab nicht auf und wartete auf jede Chance, die ihm sein Gegner bot. Es ging erneut in den dritten Satz. Für mich war das ein großer Erfolg, auch wenn Tim im entscheidenden Satz die Kraft ausging. Er verlor deutlich, aber er hatte unter Beweis gestellt, zu welcher Leistung er bereits fähig ist.

Dustin und Fynn standen nach dem Matchball auf und klatschten Tim ab. Eine tolle Geste und ich schloss mich dem an.

„Geh bitte auslaufen und duschen. Das war eine ganz tolle Leistung. Du musst nicht enttäuscht sein, dass dir die Kraft ausgegangen ist. Dein Gegner ist etliche Jahre älter.“

Tim nickte nur. Er war vollkommen erschöpft. Ich bat daher Carlo, dass er sich etwas um Tim kümmern sollte. Schön war ebenso, dass Justins Bruder Carlo nicht mehr von der Seite wich.

Für Justin und Fynn wurde es Zeit noch etwas zu essen. Deshalb schickte ich sie in den Catering Bereich. Dort konnten sich die Spieler und Trainer mit Essen und Getränken versorgen. Mein Ziel war der Platz von Maxi. Ich war neugierig, was ich heute zu sehen bekam. Dustin sollte sich dann mit Sebastian Korda einschlagen und anschließend zum Essen gehen.

John saß äußerlich ruhig auf seinem Platz auf der Tribüne. Ich nahm neben ihm Platz und erhielt nur eine ganz kurze Information über den Spielstand. Maxi hatte den ersten Satz gewonnen, aber lag im zweiten Satz mit einem Break zurück. Beim Stande von 1:4 wurden die Seiten gewechselt und jetzt bekam ich von John eine ausführliche Schilderung.

„Also denkst du, dass er momentan zu passiv spielt? Er hat seinen Gegner aufgebaut und nicht entschlossen nachgesetzt, als er den ersten Satz gewonnen hatte.“

„Korrekt. Und jetzt fängt er gerade das Lamentieren an. Das nervt mich. Er soll sich nur auf den nächsten Punkt konzentrieren. Er kann und muss das Match gewinnen. Er hat spielerisch viel mehr Möglichkeiten als sein Gegner.“

„Okay, das Problem ist mir nicht unbekannt. Hast du versucht mit ihm Kontakt aufzunehmen?“

„Natürlich, aber nicht sehr erfolgreich. Irgendwie versteht er nicht, was ich ihm mitteilen möchte.“

Das konnte ich mir sogar gut vorstellen, denn John kannte unsere Art der Kommunikation nicht und Maxi wusste vermutlich nicht, wie John ihm etwas mitteilen wollte.

Ich stellte mich an den Ort am Platz, an dem ich sonst immer stand. Maxi nahm sofort Blickkontakt mit mir auf. Er wirkte hektisch und ratlos. Zuerst beruhigte ich ihn und es gelang mir, ohne mit ihm zu sprechen, etwas zu vermitteln.

Innerhalb von nur fünf Minuten beruhigte sich Maxi und besann sich auf die im ersten Satz erfolgreichen Dinge. Er konnte den Satz zwar nicht mehr gewinnen, aber im dritten Satz hatte er wieder alles unter Kontrolle und gewann mit einer überzeugenden Leistung.

John kam zu mir und fragte:

„Kannst du mir erklären, wie das geht? Kaum bist du am Platz, fängt er an zu kommunizieren. Mir war es nicht gelungen, ihn zu erreichen.“

„Genau kann ich das nicht erklären. Das müssen wir ihn wohl selbst fragen. Aber es hat damit zu tun, dass wir schon sehr lange eine bestimmte Art haben, miteinander zu reden. Ohne zu sprechen.“

Maxi hatte mittlerweile den Platz verlassen und wir trafen ihn auf dem Weg in Richtung Turnierleitung. Er strahlte mich an und umarmte mich.

„Danke Chris. Sorry, John. Aber es fühlt sich für mich einfach anders an, wenn Chris an seinem Platz steht und wir miteinander reden können.“

„Das muss ja eine besondere Sprache sein, denn sie versteht wohl sonst niemand. Insofern ist das natürlich eine geniale Hilfe. Da kann ich noch nicht mithalten. Aber du machst dich damit von Chris abhängig. Das ist auch nicht Sinn der Sache.“

„Das ist mir momentan noch egal. Chris ist für mich wichtig am Platz. Er kann mir einfach immer die richtigen Inputs geben. Das ist nichts gegen dich, John. Aber ich verstehe mich mit Chris fast blind.“

Ich merkte, dass diese Situation unangenehm für Maxi wurde. Deshalb schickte ich ihn mit einem erneuten Lob zum Auslaufen.

„Das ist schon lustig. Er versucht zu erklären, dass ich nicht schuld an seinem schlechten Spiel bin, sondern es nur eine besondere Verbindung zu dir ist.“

„Ja, ich merke an diesen Stellen, dass sie eben noch nicht erwachsen und fertig entwickelt sind. Deinen Einwand des sich abhängig machen, finde ich sehr gut. Das muss immer wieder Thema werden. Ich möchte genau das verhindern. Sie müssen lernen, eigene Entscheidungen zu treffen und auch dazu zu stehen.“

„Manchmal denke ich, dass gerade Carlo an dieser Stelle weiter ist als alle anderen.“

Das fand ich etwas übertrieben, denn sein Sohn war auch ein Paradebeispiel für Selbstständigkeit.

„Du vergisst an der Stelle deinen Sohn. Justin ist auch schon sehr weit, manchmal auch zu eigensinnig. Da steht er sich dann selbst im Weg.“

„Ja, da muss ich wohl zustimmen. Deshalb bin ich auch so glücklich, dass er bei euch gelandet ist. Ich freue mich, dass du da noch die Hand drüber hast und ihn auch mal bremsen kannst. Das könnte für alle von Vorteil sein. Deine Jungs lernen von Justin und meiner lernt von deinen Spielern, dass man mit sechzehn noch nicht alles selbst regeln muss.“

Fynn: Ein wichtiges Match

Maxi hatte sein Match gewonnen und das, obwohl er im zweiten Satz sehr schlecht gespielt hatte. Für mich war das Ansporn, ebenfalls mit einer guten Leistung zu überzeugen. Dustin schwebte nach seinem Turniersieg eh auf Wolke sieben. Überhaupt waren wir hier in Montreal wieder ganz eng beisammen. Er hatte nur noch wenig Angst, sich mit mir offen zu zeigen.

Dustin schlug sich mit einem der weltbesten Junioren ein. Sebastian Korda hatte bei Chris angefragt und darum gebeten. Auch hier hatte sicher der Turniersieg eine Rolle gespielt. Ich war ein wenig unzufrieden, denn spielerisch war ich nicht schlechter als mein Freund. Aber ich musste mich mit Justin aufwärmen.

Carlo kam mit Tim und Aaron zurück und Tim wirkte niedergeschlagen. Vielleicht war er auch nur kaputt, das konnte ich nicht klären, weil wir bereits in der Endphase der Vorbereitung waren. Chris schirmte uns auf dem Platz ab und John nahm die drei in Empfang.

Dann wurde es für mich ernst. Dustin war noch nicht zurück als ich mit meinem Gegner auf den Platz ging. Chris stellte sich an den angestammten Platz und sofort nahm ich Blickkontakt mit ihm auf. Das gab mir Sicherheit und ein gutes Gefühl.

Die ersten Spiele plätscherten so vor sich hin. Jeder gewann seinen Aufschlag und irgendwie wartete ich die ganze Zeit darauf, dass er mir die Bälle um die Ohren hauen würde. Immerhin war er bereits über zwanzig und spielte schon regelmäßig die Challenger Turniere.

Ich wartete weiter. Beim Stand von 4:4 im ersten Satz machte Chris mir mit ein paar einfachen Zeichen klar, dass ich mutiger spielen sollte.

Also baute ich in jedem Ballwechsel mehr Druck auf. Ich scheuchte meinen Gegner in jede Ecke des Platzes und dann suchte ich die Entscheidung am Netz. Erstaunlicherweise stellte sich diese Taktik als sehr effektiv und einfach heraus. Es gelang mir, damit den ersten Satz zu gewinnen. Chris blieb ruhig und forderte mich lediglich auf, weiter zu machen.

Diese Sicherheit, die er mir auf dem Platz gab, war unglaublich. Ich dachte nicht eine Sekunde mehr darüber nach, ob ich gewinnen oder verlieren würde. Nur von Punkt zu Punkt und mit voller Konzentration war ich im Spiel.

Ich war so tief in einem Tunnel, dass ich gar nicht bemerkte, dass ich im zweiten Satz 5:2 führte und zum Matchgewinn aufschlug. Selbst Dustin hatte ich nicht wahrgenommen. Nur auf den Platz und den Gegner war ich fokussiert. Auch das letzte Aufschlagspiel servierte ich stark und mutig. Belohnt wurde ich durch den Sieg und weitere Ranglistenpunkte. Erst nach dem Handshake, als ich auf der Bank saß, konnte ich meine Freude spüren und herauslassen.

Dustin konnte leider nicht zum gratulieren kommen, da er selbst bereits auf dem Platz war. Nur Chris stand schnell bei mir und umarmte mich. Das tat er nicht so oft.

Für mich fühlte sich das großartig an. In der zweiten Runde eines Challengers auf der Profi Tour zu stehen, war einfach nur geil. Erst jetzt fing ich an darüber nachzudenken, was auf dem Platz passiert ist. Es fiel mir schwer zu begreifen, wie cool ich im Match war. Es kam kaum ein Gedanke an etwas anderes auf als der nächste Punkt. Warum war mir das bislang nicht so gelungen, fragte ich mich. Wenn es derart einfach war, sich auf die richtigen Dinge zu konzentrieren, müsste ich das doch immer können.

Mittlerweile war ich vom Platz herunter und auf dem Weg in die Umkleide, um meine Tasche wegzubringen. Chris hatte mich relativ emotionslos zum Auslaufen geschickt. Erst danach wollte er mit mir über das Spiel sprechen.

Unter der Dusche gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Es fiel mir ein, dass ich meinen Freunden in der Schweiz mal wieder etwas schreiben könnte. Wir hatten uns schon einige Tage nicht mehr geschrieben.

An Platz drei fand ich Chris an der Stelle an der er immer stand. John saß auf der Tribüne und Chris hatte ständig Kontakt mit meinem Freund. Als Chris mich erblickt hatte, kam er zu mir.

„Dein Freund spielt richtig gut. Sein Selbstvertrauen ist seit dem Turniersieg um Lichtjahre gewachsen. Ich muss jetzt zu Justin, weil John nicht gerne bei ihm am Platz sein möchte. Können wir unser Gespräch dort machen oder möchtest du erst etwas bei Dustin schauen?“

„Äh, eigentlich würde ich lieber hier bleiben. Aber nur, wenn dir das wirklich nichts ausmacht.“

„Warum habe ich das erwartet? Mach das ruhig. Du läufst mir ja nicht weg.“

Es war schön, dass Chris mit diesen Kleinigkeiten so locker umging.

Nach wenigen Minuten hatte ich erkannt, dass Dustin wieder gut drauf war und seinen Gegner richtig ärgern konnte. Er spielte konzentriert und fokussiert. Für mich war das Zuschauen fast genauso nervenaufreibend wie selber zu spielen.

Es zeichnete sich bald ab, dass auch Dustin sein Spiel würde gewinnen können. Mir fiel heute besonders auf, dass er sich viel mehr selbst anfeuerte und pushte. Das war neu für mich.

Eigentlich sollte ich auch mal bei Justin schauen gehen, aber ich wollte meinen Freund nicht allein lassen. Schön fand ich, dass Tim und Carlo mit Aaron zu mir kamen und sich neben mich setzten. Tim hatte sich etwas erholt und war auch nicht mehr so enttäuscht über seine Niederlage.

Interessant war die Verbindung von Carlo und Aaron. Die beiden hatten ständig den Schalk im Nacken und machten Blödsinn. Carlo tat mir auch ein wenig leid. Er war der einzige, der nicht selbst spielen durfte. Dennoch hatte er nie schlechte Laune. Das fand ich total bewundernswert. Deshalb hatte ich vor Carlo Respekt und wir waren enge Freunde geworden.

„Was denkst du, wie geht das Spiel aus? Kann Dustin erneut eine Überraschung schaffen?“

„Klar, Carlo. Wobei das für mich nicht mehr die totale Überraschung ist. Dustin spielt mega cool und souverän.“

„Ja, das stimmt.“, meldete sich Tim. „Er ist viel selbstbewusster als in Halle. Chris hat ihn gut vorbereitet.“

„Chris hat uns alle gut vorbereitet. Sonst wären wir auch nicht hier.“, erwiderte ich.

Als Dustin einen tollen Punkt gemacht hatte, sprang Carlo auf und pushte ihn weiter nach vorne. Mir war das fast ein wenig unangenehm, denn Carlo war mit seiner prägnanten Stimme über den ganzen Platz zu hören.

An der anderen Seite des Platzes war mir eine Gruppe von Menschen aufgefallen, die so gar nicht nach Tennisspielern aussahen. Sie hatten bei diesen Temperaturen noch Anzüge bzw. weiße Hemden und dunkle Hosen an. In Deutschland hätte ich gesagt, typische Bänker.

Plötzlich hörte ich Johns Stimme hinter mir:

„Na, bist du zufrieden mit deinem Freund?“

Ich drehte mich um und John stand mit seiner dunklen Sonnenbrille direkt hinter mir. Wenn ich ihn nicht gekannt hätte, wäre ich vermutlich böse erschreckt.

„Ja, absolut. Er macht das gut. Momentan glaube ich, dass er sogar gewinnen kann. Was macht Justin?“

Er hat den ersten Satz gewonnen, aber spielt nicht besonders klug. Ich hoffe, Chris kann ihm etwas besser die richtige Richtung geben.“

John setzte sich neben mich und wir schauten uns Dustins Spiel weiter an. Aber immer wieder fragte er mich zwischendurch ein paar Dinge, die mit Tennis nicht viel zu tun hatten. Mir fiel es daher schwer, Dustins Spiel aufmerksam zu verfolgen. Chris hatte das während eines Spiels nie gemacht. Er war immer nur auf das Match fokussiert.

Es dauerte nicht lange und ich hatte den Überblick bei Dustins Match verloren. Als ich das bemerkte, war ich sauer. Mein Freund spielte eines seiner bislang wichtigsten Matches und ich war nicht bei der Sache. Entsprechend ungehalten reagierte ich John gegenüber. Er fing an zu lachen und klopfte mir auf die Schulter.

„Hey, damit habe ich schon viel früher gerechnet. Sehr gut reagiert. Sag den Leuten, wenn sie dich nerven. Vielleicht nicht so unfreundlich, aber sag es ihnen.“

„Ähm, sorry. Ich wollte dich nicht so anmachen, aber es ärgert mich, dass ich gerade den Faden vom Spiel verloren hatte.“

„Passt schon, ich wollte dich mal testen, ob du dich einfach ablenken lässt.“

Irgendwie kam ich nicht damit klar, wie John uns immer wieder vor neue Aufgaben stellte und ich unsicher war, wie ich damit umgehen sollte.

Immerhin hatte mein Schatz den ersten Satz gewonnen und führte im zweiten Satz auch mit einem Break. Allerdings fokussierte ich mich jetzt nur noch auf das Spiel. Dustin schaute beim nächsten Seitenwechsel zu mir, fing an zu lächeln und nickte mit dem Kopf. Was wollte er mir sagen? Ich konnte es grade nicht deuten.

Erst als das Match weiterging, kam mir die Erklärung von selbst. Dustin schaute nach jedem Punkt zu mir und wurde immer sicherer in seinem Spiel. Wenn ich das in den Minuten in denen ich mit John beschäftigt war, nicht zurückgeben konnte, würde ich mir nach dem Spiel einiges anhören müssen.

Also gab ich meinem Freund immer die Kontaktmöglichkeit. Dustin spielte sich in einen Rausch und schlug seinen Gegner im zweiten Satz deutlich. Ich konnte es kaum glauben, mit welchem Selbstbewusstsein Dustin auf dem Platz agierte.

Für einen Moment war ich so verblüfft, dass ich sogar vergaß, zu meinem Freund an die Bank zu gehen. Etwas pikiert schaute mich Dustin deshalb an, als ich endlich zu ihm kam.

„Wo bleibst du denn? Ich dachte, ich hätte mir einen Siegerkuss verdient.“

„Ja, ja, alter Antreiber. Aber du hast dir nicht nur einen Siegerkuss verdient.“

Ich umarmte meinen Freund ganz fest und gab ihm einen langen Kuss. Es war mir vollkommen egal, dass wir immer noch am Rande des Platzes standen. Es fühlte sich großartig an, Dustin so fest zu spüren.

Chris: Justin und der Druck zu Hause zu spielen

Justins Gegner war eine harte Nuss, ohne Zweifel, aber durchaus für ihn zu schlagen. Dennoch bekam er kein Bein an die Erde, als ich an seinen Platz kam. Seine größte Stärke, der Aufschlag, war nur ein Einwurf und keine Waffe. Es entstand für mich der Eindruck, dass er nicht fit war. Jedenfalls lag er deutlich mit 1:5 zurück.

Ich beobachtete das Spiel weiter und vor allem die Bewegungen von Justin auf dem Platz. Dort konnte ich keine Auffälligkeiten feststellen. Allerdings ging sein Blick nicht zu mir, sondern immer zu einer anderen Stelle. Ich versuchte zu erkennen, wem dieser Blick galt.

Jedenfalls hatte er so keine Chance, diesen Gegner zu schlagen. Als der erste Satz beendet war, gab ich ihm zu verstehen, dass ich ihn in der Umkleide treffen möchte. Immerhin hatte er das begriffen und verließ mit einem frischen Hemd in der Hand den Platz.

Sehr aufgebracht empfing er mich dort.

„Ich könnte kotzen. So schlecht habe ich das ganze Jahr noch nicht gespielt. Ausgerechnet wenn mein ganzer alter Verein zuschaut, versage ich so kläglich. Das ist bitter.“

Wut und Niedergeschlagenheit wechselte sich ab.

„Jetzt komm erst einmal runter. Wer ist denn von deinem alten Verein hier? Kommst du aus diesem Verein?“

„Ja, ich bin hier aufgewachsen und Papa hat hier lange auch als Trainer gearbeitet. Jetzt sitzen natürlich auch Freunde aus der Zeit auf der Tribüne und wollen sehen, wie gut ich geworden bin. Aber ich bekomme mein Spiel nicht hin.“

„Ok, dann ist mir klar, was dein Problem ist. Du bist nicht verletzt, du bist verkrampft. Ich hatte schon Sorge, dass du dir vielleicht wehgetan hast. Jetzt hilft nur Augen zu und durch. Das meine ich sogar fast wörtlich. Schau nur noch zu mir. Du musst alles um dich herum ausblenden. Spiel einfach. Du kannst das, das weißt du selbst. Also, ich glaube auch weiterhin an dich. Egal, wie das heute ausgeht. Ich kann es nachvollziehen und ich verspreche dir, daran können wir gemeinsam arbeiten. Aber jetzt gehst du raus und hast einfach nur Spaß am Tennis. Lach mal wieder auf dem Platz. Das hilft dir, nicht über unwichtige Dinge nachzudenken. Los, Justin. Ich bin bei dir und helfe dir, wenn du dir helfen lässt.“

Dann drückte ich ihn kurz und schubste ihn durch die Tür nach draußen. Er ging wieder aufrecht auf den Platz. Den Kopf nach oben gerichtet und den Blick auf den Gegner. Ich war jetzt sehr gespannt, was im zweiten Satz passieren würde.

Bereits im ersten Spiel des zweiten Satzes explodierte Justin förmlich. Aggressiv und fast böse hämmerte er auf den Ball ein. Sein Gegner schien sich zu erschrecken. Damit hatte er nicht gerechnet und dass es schnell 4:0 für Justin stand, noch weniger.

Justin schaute nur noch zu mir und unsere Blicke trafen sich nach jedem Punkt. Seine Entschlossenheit war beängstigend, aber als er den zweiten Satz mit 6:0 gewonnen hatte, gab er mir erneut ein Zeichen, dass wir uns in der Umkleide treffen sollten.

„Das war echt so geil. Danke Chris. Du hast mir die Augen geöffnet, aber es fällt mir schwer, nur zu dir zu schauen. Ich weiß ja, dass meine Eltern auf der Tribüne sitzen. Und meine Freunde sind auch hier. Hoffentlich schaffe ich das im dritten Satz auch.“

„Nicht darüber nachdenken, Justin. Einfach machen. Einfach genau so weitermachen. Und ich warne dich, ich werde dir in den Hintern treten, wenn du jetzt wieder anfängst nachzudenken. Einfach spielen und nur mit mir kommunizieren. Mit niemandem sonst.“

Das hörte sich jetzt sehr hart und bestimmend an, was ich Justin gesagt hatte. Aber er brauchte weiter eine klare Vorgabe, damit er nicht denken musste.

„Ja, Chef. Ich habe verstanden, dass ich meinen Gegner zerstören soll.“

Für einen Augenblick hatte ich Zweifel, wie das gemeint war, aber dann brachen wir beide in lautes Gelächter aus. Ich umarmte ihn kurz und schickte ihn wieder auf den Platz. Was würde auf dem Platz passieren?

Er stellte sich einfach an die Grundlinie, warf den Ball hoch und hämmerte den Ball auf die andere Seite. Es war unfassbar wie Justin explodierte und seine ganze Wut auf sich selbst, auf den Gegner lenkte und den quasi vorführte. So stark hatte ich ihn noch nie spielen sehen. Kaum zu glauben, dass zwischen dem ersten und dem dritten Satz nur etwa eine Stunde lag.

Beim Spielstand von 5:3 für Justin kamen Tim, Carlo und Aaron zu mir. Aaron stellte sich von meiner Position etwas weiter weg. Es sah fast so aus, als ob er Angst hätte, Justin könnte ihn entdecken.

„Wie kann das sein? Vorhin hat er keinen Ball getroffen, sich vor Angst fast in die Hose gemacht und jetzt zerbröselt er seinen Gegner nach Belieben. Was hast du mit ihm gemacht? Hast du ihm in den Arsch getreten oder was?“

„Hihihi, nein. Carlo, du weißt doch selbst wie das manchmal auf dem Platz ist. Da gehen einem Gedanken durch den Kopf, die man überhaupt nicht gebrauchen kann. Aber du kannst es nicht verhindern. Dann bekommst du Angst und verkrampfst. Oder du machst dir selbst so viel Druck, dass du daran erstickst. Schon ist dein Spiel kaputt.“

Beide schauten mich fragend an. Nach einem Augenblick fing Carlo an zu lachen. Der Schiedsrichter rief ihn zur Ordnung. Carlo lief dunkelrot an, dann flüsterte er Tim etwas ins Ohr. Jetzt fing auch Tim an zu grinsen.

„Erklärt es Aaron bitte auch. Er versteht euch in Deutsch nicht so gut. Nicht dass er denkt, wir machen uns über ihn lustig.“

Diese Erklärung hatte bei Aaron die gleiche Wirkung wie bei Tim. Er fing an zu grinsen.

Justin schlug bei 5:4 im dritten Satz zum Matchgewinn auf und pumpte sich nach jedem Punkt auf. Der letzte Punkt war ein Service Winner und dann riss er die Arme hoch und ein lautes „Yes“ hallte über den Platz.

Jetzt hielt Aaron nichts mehr bei uns. Er lief Richtung Platz und wollte seinem Bruder gratulieren. Die Security verhinderte allerdings recht rabiat, dass er den Platz betreten konnte. Das fand ich etwas überzogen, aber woher sollten sie auch wissen, dass Aaron Justins kleiner Bruder ist.

Ich entschloss mich, mit Tim, Carlo und den anderen Jungs Justin an der Bank zu beglückwünschen. So konnte ich Aaron mit auf den Platz nehmen. Wir hatten ja alle eine Akkreditierung für alle Bereiche.

Aaron fiel seinem Bruder um den Hals. Das überraschte Justin sichtlich, denn er blickte überrascht zu seinem Vater, der auch zu uns gestoßen war.

Das Break-Point-Team trat auch in Montreal wieder geschlossen auf und das beeindruckte natürlich die Medienvertreter. Ständig hörte ich das Klicken der Kameras und auch ein TV-Team drehte Szenen von unserem Auftreten nach Justins Sieg. Mir was das etwas unangenehm, denn es war gerade einmal das Achtelfinale erreicht. Wobei das für uns ein großer Erfolg war, mit vier Spielern unter den letzten sechzehn zu stehen.

Jetzt wurde es allerdings noch schwerer, denn alle vier mussten gegen gesetzte Spieler antreten. Aber darüber wollte ich mir erst morgen Gedanken machen. Heute musste ich mir etwas überlegen, wie ich mein Team für diese tolle Leistung belohnen würde.

Eine schöne Sache kam noch bevor wir ins Hotel fuhren. Marc, Luc und Stef hatten uns eine Nachricht zukommen lassen, in der sie uns zu der Teamleistung gratulierten.

Den Jungs einen freien Abend zu geben, wäre sicher die falsche Belohnung gewesen. Sie mussten alle noch spielen. Also kam diese Variante erst ins Spiel, wenn das Turnier beendet war. Ich saß in meinem Zimmer und überlegte noch, was ich ihnen zukommen lassen könnte. Da klingelte mein Handy.

„John? Habe ich etwas vergessen? Oder ist etwas passiert?“

„Hahaha, nein. Alles gut. Aber Aaron hatte eine Idee, wie wir unsere Truppe mal auf andere Gedanken bringen könnten. Er meinte, dass Justin ihm mal von einer Kartfahrt erzählt hätte. Justin muss das viel Spaß gemacht haben. Wir haben hier in der Nähe eine kleine Rennstrecke auf der man auch Kart fahren könnte. Ich würde vorschlagen, die Jungs heute Abend dazu einzuladen und anschließend gemeinsam essen zu gehen. Was hältst du davon? Wir wären gegen halb elf wieder im Hotel. Das sollte an Schlaf reichen.“

„Ja, das gefällt mir. So kommen wir mal auf andere Gedanken, als nur ständig an diese gelben Filzkugeln zu denken. Kannst du das organisieren? Ich würde dann mit den Jungs zu euch rüber kommen und wir fahren gemeinsam dorthin.“

„Alles klar. Ich kümmere mich darum. Hol du schon mal deine Jungs zusammen und kommt her.“

Das würde mit Sicherheit ein lustiger Abend werden. Vor allem mit Carlo und Aaron hätten wir jetzt schon zwei Stimmungskanonen dabei. Also verließ ich mein Zimmer und klopfte bei Fynn und Dustin.

Fynn öffnete mir die Tür und ich musste lachen. Er stand nur mit Boxershorts vor mir.

„Hi, sorry, dass ich euch störe, aber ich möchte euch meinen Plan für den heutigen Abend erläutern.“

„Ähm, ja. Komm rein. Soll ich die anderen auch herholen?“

„Nein, lass mal. Das kannst du gleich im Anschluss machen. Ich glaube, Dustin wäre es gerade nicht so recht, wenn hier gleich alle in eurem Zimmer wären.“

Dustin lag nämlich bereits im Bett und hatte einen roten Kopf. Ich ignorierte die Szene und erklärte sehr kurz unsere Idee. Fynn war direkt begeistert, auch wenn er seine Zweisamkeit mit seinem Freund auf später verschieben musste. Er sorgte dafür, dass wir zwanzig Minuten später vollzählig in unserem Van saßen und Richtung Justins Familie fuhren.

Das Kartcenter war riesig und die Strecke anspruchsvoll. John hatte uns angemeldet und jeder bekam einen Helm in der passenden Größe. Es herrschte reger Betrieb und erst, als meine Jungs bereits auf der Strecke waren, kam mir ein Gedanke in den Kopf. Hoffentlich würde sich keiner verletzen. Ich hatte vergessen darauf hinzuweisen, dass sie es nicht übertreiben sollten.

„Was ist denn los, Chris?“, fragte mich John, als ich nachdenklich auf die Strecke schaute.

„Ach nichts, passt schon.“

„Willst du nicht mal langsam selbst losfahren? Unsere Zeit ist begrenzt.“

Ich nickte wortlos, nahm im Kart Platz und setzte mir den Helm auf. Die Karts wurden von einem 125 cm³ Viertaktmotor angetrieben. Das reichte für ausreichend Power und somit hatte ich schnell wieder meinen Spaß gefunden. Es entwickelten sich sogar kleinere Positionskämpfe. Allerdings verzichtete ich auf hartes Fahren. Meine Jungs hingegen ließen es ordentlich fliegen und tobten sich richtig aus.

Da Karts über keine Federung verfügen, merkte ich meinen Rücken recht bald. So hörte ich nach zwanzig Minuten auf und stellte mein Gerät in den Boxen ab. Mein Platz war anschließend im Zuschauerbereich und verfolgte von dort das Geschehen.

„Warum hast du dein Kart bereits abgestellt? Macht es dir keinen Spaß?“, fragte mich Justins Mutter.

„Doch, es macht mir sogar viel Freude, aber mein Rücken ist dafür nicht mehr geeignet. Die Teile haben keinerlei Federung. Das vertrage ich nicht mehr. Deshalb musste ich vorzeitig aufhören. Aber es macht mir immer noch sehr viel Spaß.“

„Diesen Spaß an der Arbeit sieht man dir auch bei deinen Spielern an. Du bist kein normaler Trainer, du bist eher ein Vaterersatz mit Trainerfähigkeiten. Justin hat mir gestern gesagt, dass er ohne deine Betreuung vermutlich schon lange wieder zu Hause wäre. Du nimmst dir viel mehr Zeit für deine Jungs als es andere tun.“

Was sollte ich dazu sagen? Ich schwieg und hörte ihr weiter zu.

„Sollte Justin an einen Punkt kommen, wo du ernsthaft Zweifel bekommst ob er gut genug ist, dann sag uns das bitte offen. Ich möchte, dass er glücklich ist und nicht an der Aufgabe zerbricht.“

„Das kann ich euch versprechen. Genau das ist meine Arbeitsphilosophie. Wenn es nicht reichen sollte für eine Profilaufbahn, muss man das offen ansprechen. Zum Wohle des Spielers.“

In diesem Moment gingen auf der gesamten Strecke die roten Lichter an und eine Sirene ertönte. Die Strecke wurde gesperrt und alle Fahrzeuge hatten umgehend anzuhalten und auf die Anweisungen der Streckenposten zu warten. Es musste auf der Strecke etwas passiert sein.

Natürlich schauten wir über die Strecke und versuchten zu erkennen, was passiert war. Allerdings konnten wir von unserer Position nichts Gravierendes erkennen. Es dauerte auch nicht lange und die grünen Lichter gingen wieder an.

Mein Puls beruhigte sich wieder und da unsere Zeit fast abgelaufen war, gingen Justins Eltern und ich Richtung Boxen. Dort würden die Jungs ihre Karts gleich abstellen.

Allerdings wurde ich von einem sichtlich verärgerten Fynn empfangen. Er schimpfte laut über einen anderen Piloten und auch Dustin schien daran beteiligt gewesen zu sein. Bevor hier etwas aus dem Ruder lief, ging ich zu den beiden.

„Stopp! Hört auf euch aufzuregen. Was ist eigentlich los?“

„Der Fahrer mit der Nummer dreißig hat uns beide mit Absicht in die Bande gedrückt. Dieses Arschloch hatte es die ganze Zeit immer wieder versucht. Und in der letzten Runde hatten wir einmal nicht aufgepasst und da hat er die Situation genutzt. Fynn ist dann in der Bande eingeschlagen und mir direkt vor mein Kart gekommen. Ich konnte nicht mehr ausweichen und habe ihn dann seitlich getroffen.“

Dustin war immer noch erbost und kochte vor Wut. Ich konnte ihn nur mit Mühe daran hindern, sich den Fahrer mit der Nummer dreißig vorzunehmen. Erst ein klares:

„Du gehst nirgendwo hin. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Dustin stand neben Fynn und die anderen standen um sie herum, als ich das gesagt hatte. Dustin zuckte förmlich zusammen und auch Fynn machte große Augen. Dann fingen Justin und Carlo an zu lachen.

„Wow, Chris. Das war ja richtig böse. Die Gesichter von Dustin und Fynn waren zu gut.“

„Ich glaube, ich bin viel zu nett. Vielleicht sollte ich häufiger mal so klare Ansagen machen.“

„Nein“, kam es wie ein Echo aus allen Mündern.

„Wir sind doch lieber brav und vernünftig. Aber dieses Arschloch hätte es verdient, dass man ihm mal eine Ansage macht.“

Dustin hatte sich beruhigt, aber ich konnte ihn verstehen.

„Wenn hier einer eine Ansage macht, dann bin ich das.“

Dann gab ich Fynn und Dustin ein Zeichen, dass sie mir folgen sollten. Ich ging mit ihnen den Fahrer suchen. Leider war dieser wohl schon verschwunden. Er wird gewusst haben, warum es besser gewesen war zu verschwinden.

„So, damit sich die erhitzten Gemüter leichter abkühlen können, lade ich euch zu einem Eis ein.“

Damit hatte ich ganz schnell meine Jungs wieder auf meiner Seite und die Stimmung beruhigte sich. Wenig später saßen wir alle gemeinsam auf der Terrasse von Justins Eltern. Jeder hatte einen großen Eisbecher vor sich stehen.

Der Abend war leider viel zu schnell vorüber, denn am nächsten Tag mussten die Achtelfinals gespielt werden.

Interessant war noch, dass Dustin und Fynn schnell in ihrem Zimmer verschwunden waren, während die anderen mit mir noch für einen kurzen Moment im Hotelgarten verweilten.

„Ich möchte nicht wissen, was Dustin und Fynn wohl so schnell in ihr Zimmer getrieben hat.“

„Ähm, getrieben ist vielleicht gar nicht so verkehrt gedacht.“

Maxi hatte den Nagel auf den Kopf getroffen und alle mussten lachen. Ich hatte Verständnis für die beiden.

„Naja, es ist ja auch schwierig für ihre Beziehung. Ständig müssen wir von Hotel zu Hotel reisen, auf den Trainingsplatz und uns auf die Spiele vorbereiten. Da möchten sie die wenige Zeit auch nutzen. Ich glaube, wenn einer von euch seine Freundin dabei hätte, wäre das nicht anders.“

„Okay Chris. Da magst du recht haben. Allerdings haben sie den Vorteil, dass sie immer ein gemeinsames Zimmer haben dürfen. Wenn ich meine Freundin mal dabei hätte, würdest du wohl kaum erlauben, dass ich mit ihr ein Zimmer teilen könnte.“

„Warum das denn nicht? Wenn ihr fest zusammen wäret, hätte ich kein Problem damit. Ihr seid alt genug und gleiches Recht für alle. Allerdings müsste sie gutes Tennis spielen und ebenfalls in unserem Team sein. Nur als Touristin würde sie nicht mitkommen.“

Es wurde noch sehr lustig mit den Jungs. Aber es kam der Zeitpunkt, dass wir ins Bett mussten. Der nächste Tag würde sehr anstrengend werden.

Maxi: Die Luft wird dünner

Der Tag begann sehr früh und ich hatte einige Probleme mit den Beinen. Sie fühlten sich schwer und müde an. So langsam merkte ich die hohe Belastung. Chris war allerdings nicht sonderlich beunruhigt. Er besorgte mir direkt auf der Anlage einen Termin beim Physio. Am liebsten wäre ich auf der Pritsche liegen geblieben, aber mein Match war auf elf Uhr angesetzt und wir mussten uns noch aufwärmen. Dustin spielte parallel zu mir, während Justin und Fynn im Anschluss spielen mussten.

Mein Gegner stand in der Rangliste etwa hundert Plätze besser. Chris hatte mich gut eingestellt und mich auf ein ganz hartes Match vorbereitet. Schon in den ersten Spielen spürte ich, dass es für mich heute nicht reichen würde. Mir fehlte die Spritzigkeit und die Kraft, um gegen diesen Gegner bestehen zu können.

Obwohl ich wusste, was auf mich zukommen würde, war ich nach einer Stunde gefrustet. Ich hatte den ersten Satz mit 1:6 verloren und lag im zweiten Satz bereits 2:4 zurück. Selbst meine stärkste Waffe, die Vorhand, blieb heute stumpf. Mein Gegner schlug sie genauso hart zurück und setzte mich immer mehr unter Druck.

Als ich nach dem Handshake auf der Bank saß, war ich schon frustriert. Das war heute eine Lehrstunde. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance. Plötzlich hörte ich Chris hinter mir:

„Sei nicht so gefrustet. Er hat dir gezeigt, dass es auch Spieler gibt, die noch deutlich besser sind. Das ist überhaupt kein Problem. Überleg doch einmal, was war unser Plan hier? Erfahrungen sammeln. Dass ihr hier alle vier eine Runde gewonnen habt, war nicht zu erwarten. Also, Kopf hoch und weitermachen.“

Ich drehte mich zu ihm um und schaute in ein lachendes Gesicht. Chris war schon unglaublich. Selbst in solch bitteren Momenten, baute er mich wieder auf und schaute sofort nach vorne. Aber es war klar, die Luft für uns wurde immer dünner, je weiter wir in der Rangliste aufstiegen.

Obwohl es ein recht kurzes Match war, spürte ich meine Beine beim Auslaufen deutlich. Die heiße Dusche half auch nicht wirklich und als ich dann zu Chris und John an den Platz von Dustin kam, bekam ich sogar einen leichten Krampf im Oberschenkel.

Der Spielstand bei Dustin gab Grund zur Hoffnung. Es war im zweiten Satz ausgeglichen. Er hatte den ersten Satz im Tiebreak verloren, ließ sich davon aber überhaupt nicht herunterziehen. Im Gegenteil, er kämpfte um jeden Punkt und blieb positiv. Seit dem Turniersieg hatte sich Dustin enorm entwickelt. Er schien viel mehr an sich zu glauben und das zeigte er auch hier seinem Gegner.

Mitte des zweiten Satzes ging plötzlich Chris einige Meter von uns weg. Er telefonierte. Das war sehr ungewöhnlich. Während eines Matches hatte ich das noch nicht erlebt. Das musste wichtig sein, vermutlich ein Gespräch sogar aus Deutschland.

Es dauerte aber nur wenige Minuten und Chris stand wieder an seinem gewohnten Platz. Dustin hatte es gar nicht bemerkt, dass Chris kurzzeitig weg war. Das wäre auch vor einigen Wochen noch undenkbar gewesen. Als Fynn sich für sein Match fertigmachen musste und sich von Dustin verabschiedete, gab ihm Dustin nur ein cooles Handzeichen. John ging mit Fynn zum Platz. Chris schien bei Dustin bleiben zu wollen. Für mich hatte Dustin eine reelle Siegchance.

Tim und Carlo blieben auch bei Dustin während Aaron zu seinem Bruder an den Platz ging. Plötzlich meldete sich wieder mein Oberschenkel. Das tat richtig weh und so schnell konnte ich nicht aufstehen wie der Krampf kam. Glücklicherweise hatte es Tim sofort bemerkt und half mir, den Krampf wegzudrücken.

Dadurch hatte ich den entscheidenden Moment im zweiten Satz verpasst. Dustin hatte bei 5:5 ein Break geschafft und dann seinen Aufschlag zum Satzgewinn glatt durchgebracht. Es ging in den dritten Durchgang. Vor allem machte Dustin nicht den Eindruck, dass er müde würde.

Chris kam nach der Satzpause zu mir und erkundigte sich:

„Was machen die Beine? Du bist ziemlich platt, oder?“

„Ja, ich bin platt. Aber ich verstehe es nicht so wirklich. Heute war das Match doch gar nicht so anstrengend. Allerdings habe ich schon auf dem Platz gemerkt, dass die Beine schwer waren.“

„Das ist doch alles okay. Hatte ich dir vorhin schon erklärt. Dein Akku ist einfach leer. Das waren sehr anstrengende Wochen. Ich finde das überhaupt nicht verwunderlich. Hol dir bitte genug zu trinken. Du musst dem Körper jetzt wieder Energie zuführen. Wir schaffen das hier auch eine Zeit ohne dich.“

Dabei musste Chris lachen und ich fand es auch lustig. So schnell brachte uns Chris wieder auf andere Gedanken. Das fand ich einfach großartig.

Ich war auf dem Weg in den Catering Bereich. Dort konnten sich die Spieler mit Getränken versorgen. Ich hatte mittlerweile auch etwas Hunger bekommen und nahm mir ein Sandwich.

Am Nebentisch bekam ich eine Unterhaltung mit. Dort sprachen zwei Trainer miteinander über unser Team. Sie hatten noch nie vom Break-Point-Team etwas gehört und waren entsprechend verwundert über unser Teamauftreten. Sie sprachen auch über Dustin und Fynn, aber ich hörte keine abfälligen Bemerkungen. Im Gegenteil, sie lobten Chris über die Förderung der beiden. Gut, sie konnten ja nicht wissen, dass es nicht Chris allein war, der dafür verantwortlich war, aber sie freuten sich, dass es endlich jemand offen versuchte, als schwuler Spieler in die Weltspitze zu kommen.

Für einen Moment hatte ich überlegt, mich in ihr Gespräch einzumischen. Ich ließ es allerdings sein. Mich verlies doch der Mut und ich ging zurück an Dustins Platz.

Dort empfing mich unsere Truppe mit bester Laune, trotz großer Anspannung. Dustin war mit einem Break in den dritten Satz gestartet und steigerte sich noch mehr. Ich konnte es kaum glauben, was Dustin noch in der Lage war zu zeigen. Wo holte er diese Kräfte her? Chris blieb äußerlich dennoch ruhig. Keinerlei Euphorie war zu erkennen. Wie konnte man in dieser Situation nur so cool bleiben. Dustin war auf dem Weg ins Viertelfinale und zum ersten Mal eine große Summe an Preisgeld zu bekommen. Zusätzlich zu den Ranglistenpunkten.

Was mir bei meinen Beobachtungen außerdem auffiel war Chris Schonhaltung seines Armes. Das bereitete mir etwas Sorgen. Chris würde garantiert von sich aus nichts dazu sagen. Ich beschloss daher, Tim und Carlo mal zu befragen, ob ihnen etwas aufgefallen war.

Carlo stimmte mir zu, während Tim nichts Auffälliges registriert hatte. Es ließ mir zwar keine Ruhe, aber das Match von Dustin war so spannend, dass ich doch mehr Aufmerksamkeit auf das Spiel lenkte.

Dustin ging an sein absolutes Limit. Nach jedem langen Ballwechsel pumpte er Luft in seine Lungen. Ich bekam etwas Angst in der Sorge, dass es zu einem Kollaps kommen könnte. Immer wieder schaute ich zu Chris. Doch der stand nahezu regungslos an seinem Platz. Er beruhigte Dustin nur und machte keinen besorgten Eindruck. Jetzt ging ich doch an Chris Platz und fragte einmal nach:

„Hast du nicht Angst, dass Dustin gleich zusammenklappt? Er pumpt nach jedem Ballwechsel und sieht völlig fertig aus. Ich habe etwas Sorgen.“

Chris schaute weiterhin auf den Platz, wo das Spiel wieder mit einem langen Ballwechsel tobte.

„Natürlich habe ich das bemerkt. Aber ich werde jetzt nicht darauf eingehen. Dustin macht das großartig und ich glaube, er kennt den Punkt an dem er aufhören muss. Noch mache ich mir keine ernsthaften Sorgen. Aber wie das dann morgen aussehen wird, kann ich noch nicht sagen.“

Chris war sich sicher, dass sich Dustin nicht übernehmen würde. Ich hatte Zweifel daran, aber das Spiel lief weiter. Dustin hielt seinen Aufschlag und servierte nun bei 5:3 zum Matchgewinn. Alle schauten gebannt auf den Platz. Nur Chris blieb ruhig und nahm weiterhin nach jedem Punkt stoisch mit Dustin Kontakt auf. Nur mit den Augen und ganz kleinen Gesten. Das Verrückte an der Sache war, dass Dustin sofort zu wissen schien, was Chris wollte. Mit einem Blick gab er Chris zu verstehen, dass er weitermachen würde. Es wurde nicht ein Wort gesprochen. Nur wir feuerten unseren Freund lautstark nach jedem Punkt an.

Sogar John kam von Fynns Platz herüber und schaute sich das Ende dieses Krimis an. Die Sensation gelang und Dustin zog mit einer unfassbaren Leistung ins Viertelfinale ein. Ich hätte niemals gedacht, dass Dustin bereits zu solchen Leistungen fähig sein würde. Nur Chris schien nicht sonderlich überrascht zu sein. Klar, er freute sich sehr für Dustin und zeigte das auch, indem er sogar auf den Platz ging und ihn dort ganz fest umarmte. Das war sonst nicht seine Art.

Dennoch war auch er verblüfft, wie fit Dustin nach diesem harten Kampf noch wirkte. Er schickte ihn allerdings direkt zur Massage und erst danach durfte er zu seinem Freund Fynn an den Platz kommen. Da verstand Chris mittlerweile auch keinen Spaß mehr.

Auffallend für mich war allerdings, dass Chris nicht direkt zu Fynn an den Platz ging, sondern zu Justin. John hingegen ging zurück zu Fynn. Tim und Carlo folgten ihm mit Aaron. Auch das wunderte mich. Aaron ging nicht wieder bei seinem Bruder gucken, sondern bei Fynn. Und das, obwohl sie sich so lange nicht gesehen hatten.

Chris: Was nun?

Dustin hatte mich erneut verblüfft. Mit einer Glanzleistung hatte er sich als erster von unserem Team in das Viertelfinale eines Challengers gespielt. Vor allem die Art und Weise hatte mir imponiert. Der Turniersieg hatte nicht nur zusätzliche Kräfte geweckt, vor allem aber ein enormes Maß an Selbstbewusstsein hervorgebracht.

Faszinierend war auch die souveräne Art, wie er damit umging. Keine Euphorie oder Hochmut. Er kam zu Fynn und Justin an den Platz, als ob nichts Außergewöhnliches passiert sei.

Als er bei Justin am Platz stand und dieser gerade eine kleine Schwächephase hatte, baute er ihn wieder auf und pushte ihn nach vorne. Überhaupt standen wir hier als Team stärker denn je. John staunte auch immer wieder über unser Zusammengehörigkeitsgefühl, denn eigentlich waren Tennisspieler eher Individualisten und Egoisten. Das aber traf bei uns ganz sicher nicht zu.

Allerdings musste ich zugeben, dass mich der Anruf aus Deutschland beschäftigte und ich bei Fynns Match nicht immer auf Ballhöhe war. Fynn spielte gut und schlussendlich verlor er sehr knapp. Schön war, dass er auch diesmal wieder seine Leistung sehr gut einschätzen konnte. Er war enttäuscht, dass er verloren hatte, aber er konnte akzeptieren, dass der Gegner heute noch besser war.

Wir standen jetzt bei Justin am Platz, als Fynn mich fragte:

„Wie siehst du meine Leistung? Bist du zufrieden mit mir?“

Ich schaute nur kurz zu ihm, weil das Spiel von Justin in einer spannenden Phase war.

„Absolut, das war ein gutes Spiel und mit etwas mehr Erfahrung kannst du das auch gewinnen. Es freut mich vor allem, dass du die Leistung des Gegners so gut einschätzen kannst. Es gibt keinen Grund unzufrieden zu sein. Vielleicht schafft es Justin ja, uns noch eine Überraschung zu präsentieren.“

Und er schaffte es tatsächlich, seinen Gegner zu bezwingen. Nach dem Spiel bat mich John zu einem Gespräch ohne die Jungs. Damit wir ungestört reden konnten, hatten wir die Anlage verlassen und waren in den kleinen, angrenzenden Park gegangen.

„Wie siehst du die Leistung von Justin? Ich bin nicht wirklich zufrieden. Er spielt weiterhin verkrampft und steht sich selbst im Weg.“

„Mit der Analyse von deinem Sohn kann ich einverstanden sein, er spielte tatsächlich verkrampft und hat sich durchgekämpft. Aber ich finde es unpassend, dass du unzufrieden bist. Überleg mal bitte, in welcher Situation sich Justin befindet. Er weiß, dass seine Freunde hier sind und ihm zuschauen. Er weiß, dass seine Familie hier ist und ihn ganz genau beobachtet. Da muss man schon extrem abgebrüht sein, wenn man das ignorieren kann. Ich finde, du bist zu hart mit deinem Sohn.“

„Aber wenn er sich weiterentwickeln will, muss er sich davon freimachen können.“

„Ja, das ist korrekt. Dennoch, er ist gerade sechzehn und noch lange kein fertiger Spieler. Er darf in meinen Augen diese Probleme haben und ich bin mir ganz sicher, dass er gleich in der Nachbesprechung sehr offen damit umgehen kann. Und dann ist das etwas Positives. Er wird aus dieser Erfahrung etwas lernen und Schritt für Schritt freier werden, auch wenn du oder jemand anderes aus der Familie dabei ist. Gib ihm hierfür etwas Zeit. In Deutschland hat er tolle Leistungen gezeigt und war auch unter Druck auf dem Platz sehr cool.“

„Hm, in Ordnung. Ich bin vielleicht wirklich etwas zu streng und werde mich mit Kritik zurückhalten. Was mir gerade noch einfällt, wie geht es deinem Arm? Ich habe manchmal den Eindruck, dass du doch Schmerzen hast.“

Das war jetzt genau die falsche Frage, denn es stimmte. Ich hatte seit etwa zwei Stunden wieder Schmerzen im Arm. Aber das durfte jetzt nicht das zentrale Thema werden. Es ging um die Jungs und deren Möglichkeit, hier ein Viertelfinale zu spielen.

„Ja, momentan ist das nicht optimal, aber ich habe gerade gar keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Ich würde dich daher bitten, meine Jungs bis auf Justin und Maxi bereits mit ins Hotel zu nehmen. Für heute sind wir hier fertig. Ich denke, wir machen die Nachbesprechungen im Hotel und essen auch dort gemeinsam zu Abend.“

„Grundsätzlich finde ich das okay, aber ich würde etwas anderes vorschlagen. Wir fahren nicht ins Hotel, sondern zu uns nach Hause. Dort essen wir gemeinsam und ihr fahrt anschließend ins Hotel. Das ist logistisch einfacher.“

„Dann möchte ich aber, dass ihr mir zum Schluss sagt wieviel Geld ihr von mir für das Essen bekommt. Wir können nicht immer bei euch sein und eure Zeit in Anspruch nehmen.“

„Das lass mal meine Sorge sein. Schließlich bin ich ja auch von euch engagiert worden. Da ist das doch normal, dass wir diese Option nutzen. Außerdem freut sich meine Frau, wenn Justin im Haus ist. Sie vermisst ihn doch oft.“

Eine halbe Stunde später war ich mit Justin und Maxi wieder in dem kleinen Park unterwegs. John war bereits mit dem Rest nach Hause gefahren. Justin hatte sich etwas von den Strapazen seines Spieles erholt, wirkte aber immer noch schlapp.

„Na, Justin. Du scheinst dich gar nicht wirklich über deinen Sieg zu freuen. Oder täuscht das?“

„Nein, ich freue mich schon sehr, aber es ist schwer für mich hier zu spielen. Mein Vater erwartet immer von mir eine Topleistung. Egal ob ich gewonnen oder verloren habe. Heute habe ich ihn nach dem Spiel noch nicht gesprochen, aber er wird mir sicher wieder vorwerfen, dass ich bei weitem nicht das gespielt habe, was ich spielen könnte. Das nervt mich etwas.“

Maxi reagierte sofort auf diese Aussage.

„Im Ernst? Du hast gewonnen, stehst im Viertelfinale eines Challengers und er ist immer noch unzufrieden. Das finde ich krass. Ist das vielleicht auch ein Grund warum du zu uns nach Deutschland gekommen bist?“

Ich empfand diese Reaktion etwas unglücklich. Wie sollte Justin darauf reagieren? Obwohl ich Maxi gut verstehen konnte und auch wusste, wie er es gemeint hatte. Aber Justin blieb erstaunlich ruhig.

„Naja, also nicht direkt. Allerdings empfinde ich es deutlich angenehmer mit Chris zu arbeiten. Da muss ich nicht immer denken, mein Vater hat Unrecht und ich kann mich nicht wehren. Heute habe ich bestimmt nicht gut gespielt, aber ich habe gewonnen. Ich weiß auch, dass ich verkrampft gespielt habe und besser spielen könnte. Aber hier bekomme ich das einfach nicht hin.“

„Ich finde das vollkommen normal. Du hast hier deine Freunde, deine Familie und alle wollen sehen, wie gut du geworden bist. Dann war dein Vater lange dein Trainer und ist jetzt wieder dabei. Ich finde, du hast dich gut aus der Situation befreit. Du wirst dich von Spiel zu Spiel freier fühlen. Außerdem habe ich deinem Vater klargemacht, dass er dich etwas mehr in Ruhe lassen soll.“

„Echt jetzt? Und das hat er sich von dir sagen lassen? Wenn ich das mal gesagt hatte, ist er immer gleich ausgeflippt und meinte, ich sollte einfach härter arbeiten.“

Da schienen doch noch mehr Probleme in Justins Brust zu schwelen. Ich musste aufpassen, dass diese Beziehung hier nicht zu sehr auf die Probe gestellt würde.

„Natürlich hört er sich das an, was ich zu sagen habe. Ich bin für dich verantwortlich und das akzeptiert er auch. Ich glaube nämlich, dass er gar nicht so viel mehr von dir erwartet als ich. Nur möchte er, dass du immer das Maximum herausholst. Genau wie ich auch, aber ich versuche immer auch die Situation mit einzubeziehen. Ihr seid alle noch sehr jung und keine fertigen Spieler. Ihr werdet lernen, mit diesen besonderen Situationen umzugehen. Heute erwarte ich das noch nicht von euch. Was ich aber von dir erwarte ist, dass du offen mit mir darüber sprichst. Wie fühlst du dich auf dem Platz und was würdest du gerne besser machen können. Und genau das passiert hier ja gerade. Ich finde dieses Gespräch übrigens ganz große Klasse und sehr wichtig. Ich verspreche dir, ich werde mit deinem Vater auch daran arbeiten, dass er sich weiterentwickelt und dich nicht mehr so unter Druck setzt. Du solltest ihm das aber auch sagen, wenn es dich stört. In einem vernünftigen Ton. Sollte das für dich schwierig sein, kommst du zu mir und wir machen das gemeinsam. Ich bin sicher, dass dein Vater dir nur helfen möchte. Allerdings ist sein Weg vielleicht nicht der beste.“

Justin hörte mir aufmerksam zu und ein Lächeln tauchte in seinem Gesicht auf als ich fertig war.

„Es tut gut zu wissen, dass du mich verstehst. Ich möchte auch lieber locker spielen und das zeigen was ich kann. Aber es geht nicht so wie ich das möchte.“

„Noch nicht“, zwinkerte ich ihm zu.

Wir saßen auf dem Rasen im Park. Ich hatte noch eine unerfreuliche Sache mit Maxi zu besprechen. Deshalb bat ich Justin uns noch einen Moment allein zu lassen. Maxi schien zu ahnen, dass etwas passiert sein musste.

„Habe ich etwas verbrochen oder ist mit Mama etwas passiert? Du machst plötzlich so ein ernstes Gesicht.“

„Nein, Maxi. Weder noch. Deiner Mutter geht es erfreulicherweise gut. Sie hat mich vorhin angerufen und genau darum geht es. Dein Vater liegt im Krankenhaus. Er hatte einen Herzinfarkt und liegt auf der Intensivstation.“

Maxi zuckte zusammen.

„Scheiße, und Mama ist allein zu Hause. Weißt du wie es Papa geht?“

„Ich weiß nur, was deine Mutter mir erzählt hat. Mittlerweile ist er wohl stabil, aber es war schon kritisch. Ich habe bereits den ganzen Tag überlegt, wie ich dir das beibringen soll. Vor allem wegen deiner Mutter. Sie ist gerade genesen und nun das. Falls du sauer bist, dass ich dir das nicht sofort gesagt habe, kann ich das verstehen. Aber ich habe auch an die anderen denken müssen. Sie hätten sich aufgeregt und hätten ihre Spiele nicht mehr in Ruhe spielen können. Und in dieser Zeit hätte sich nichts für dich geändert. Daher hatte ich mich so entschieden.“

Maxi nickte nur und er hatte sichtlich mit der Fassung zu kämpfen. Seine Stimme versagte, als er fragte:

„Was mache ich jetzt? Ich bin so weit weg und kann Mama nicht helfen.“

„Deshalb sitzen wir beide jetzt hier. Ich möchte dir vorschlagen, dass du morgen früh direkt nach Hause fliegst. Deine Mutter und dein Vater brauchen dich beide zu Hause. Wenn du möchtest, fliege ich auch mit dir zurück. Dann muss John das hier alleine regeln. Diese Sache hat für mich absolute Priorität. Du musst das jetzt nicht sofort entscheiden. Denk ein wenig darüber nach und sag mir dann, was du machen möchtest. Du kannst natürlich auch bei uns bleiben, wenn das dein Wunsch ist.“

„Bekomme ich oder das Team dadurch Probleme, wenn ich jetzt nach Hause fliege?“

„Nein, natürlich nicht. Du bist nicht mehr im Turnier, aber selbst wenn, wäre das kein Problem. Solche Situationen gehen vor. Da wäre es mir egal, auch wenn wir eine Strafe zahlen müssten.“

„Danke, Chris. Ich weiß jetzt noch nicht, was ich machen soll. Kann ich dich vielleicht später noch einmal dazu befragen?“

„Du kannst jederzeit zu mir kommen oder auch die Jungs zu Rate ziehen. Von mir erfahren sie nichts zu dieser Sache, es sei denn du möchtest das.“

Maxi legte seinen Kopf in seine Hände und war traurig. Ich entschied mich, jetzt nicht aufzustehen, sondern ihn einfach in den Arm zu nehmen und bei ihm zu bleiben. Erst nach einigen Augenblicken beruhigte er sich etwas.

„Möchtest du noch einen Moment allein bleiben oder willst du mitkommen?“

Seine Antwort kam nicht gesprochen, sondern er stand wortlos auf und wir gingen gemeinsam in Richtung Anlage.

Als Justin uns sah, wusste er sofort, dass etwas passiert war. Er fragte aber nicht nach, sondern wir gingen einfach zum Auto und fuhren zu ihm nach Hause. Maxi ging direkt in den Garten und setzte sich unter den großen Ahorn. Er sollte einen Moment zur Ruhe kommen.

Allerdings hatte er mich gebeten, die Jungs zu informieren.

Justin hatte ich gebeten, die Truppe in seinem Zimmer zu versammeln. Dort wurde es zwar etwas eng, aber dafür musste es gehen.

„Was ist los, Chris? Haben wir etwas verbrochen ohne es bemerkt zu haben?“, fragte Carlo immer noch bestens gelaunt.

„Kannst du nicht einfach abwarten? So wie Chris aussieht, muss es etwas ernstes sein.“

Dustin hatte ein Gespür für die Situation und auch Fynn schien zu ahnen, dass die Situation ernst sein würde. Er nahm die Hand von seinem Freund und alle Augen waren auf mich gerichtet.

„Also gut. Vielen Dank, dass ihr euch hier versammelt habt. Wie ihr schon gemerkt habt, fehlt Maxi. Das hat auch einen Grund. Vorhin hat mich seine Mutter angerufen, dass sein Vater leider einen schweren Herzinfarkt erlitten hat. Er liegt in Bad Oeynhausen im Herzzentrum auf der Intensivstation. Ich habe es Maxi erst vor einigen Minuten mitgeteilt und entsprechend geschockt ist er jetzt.“

Betroffene Stille machte sich im Zimmer breit. Nur ein leises:

„Scheisse, ausgerecht Maxis Vater.“

„Ja, genau so ist das, Fynn. Erst seine Mutter mit der Krebserkrankung und nun das. Ich möchte euch bitten, lasst Maxi in Ruhe. Er soll selbst entscheiden, ob er sich zu uns gesellen möchte oder einen Moment allein sein will. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass er morgen früh nach Hause fliegt. Wenn er möchte, werde ich ihn begleiten.“

„Und wer betreut uns dann hier?“, fragte Dustin aufgeregt.

„Jetzt bleibt doch ruhig. Wenn ich mit nach Deutschland fliegen sollte, wird sich John um euch kümmern und auch den Rückflug organisieren. Er würde euch zum Flughafen bringen und ich hole euch in Hannover ab. Also das ist echt das kleinste Problem. Ich möchte euch klar sagen, diese Sache hat für mich Vorrang vor allem anderen und Maxi entscheidet das weitere Geschehen.“

Mittlerweile war auch John zu uns gekommen. Ich schaute ihn kurz an.

„Chris, ich glaube Maxi möchte mit dir sprechen. Kannst du zu ihm gehen? Ich kümmere mich mit den Jungs ums Essen.“

Auch eine coole Art mit dieser Situation umzugehen. Er nahm die Truppe einfach mit nach oben in die Küche und bereitete mit ihnen das Barbecue vor. Das verschaffte mir den Freiraum, in Ruhe mit Maxi zu sprechen.

Er saß immer noch mit verschränkten Armen an den Ahorn gelehnt, als ich zu ihm kam. Sein Kopf drehte sich in meine Richtung.

„Möchtest du dich zu mir setzen, Chris?“

Das tat ich natürlich gern und nahm neben ihm Platz.

„Ich finde es einfach ungerecht, dass es wieder uns getroffen hat. Was haben wir eigentlich verbrochen? Ich verstehe es nicht.“

Maxi schien sich noch gar nicht mit der Entscheidung, ob er nach Hause fahren wird oder nicht, zu beschäftigen.

„Das kann ich gut verstehen. Allerdings hilft euch das jetzt nicht. Du solltest deiner Mutter zur Seite stehen und dich nicht mit diesen Sinnfragen beschäftigen.

„Das werde ich auch machen. Aber ich bin gerade total gefrustet und habe Angst. Ich möchte meinen Vater nicht verlieren.“

„Das ist doch vollkommen klar. Aber hast du eigentlich mit deiner Mutter schon telefoniert? Ich glaube, dass sie ein Zeichen von dir möchte.“

„Klar, ich habe ihr geschrieben, dass sie mich anrufen soll. Wir haben eben miteinander gesprochen. Sie möchte, dass ich entscheide ob ich nach Deutschland zurückkomme.“

„Hm, und hast du dich schon entschieden?“

„Ich weiß es nicht. Ich möchte auch das Team nicht enttäuschen. Schließlich können wir hier viel lernen und Punkte machen. Außerdem kostet das ja auch viel Geld, kurzfristig so einen Flug zu buchen. Aber ich möchte Mama andererseits auch nicht allein lassen.“

In seiner Brust herrschte gerade Chaos.

„Also, ich fasse zusammen. Emotional möchtest du nach Hause fliegen, um deiner Mutter beizustehen. Ist das korrekt?“

Er nickte und ein leises „Ja“ folgte.

„In Ordnung, das ist doch eine klare Aussage. Ich werde dir für morgen früh einen Flug buchen. Traust du dir zu, allein zu fliegen. Oder soll ich dich begleiten?“

„Du wirst hier mehr gebraucht. Ich weiß allerdings nicht, ob mich Mama am Flughafen abholen kann. Es geht ihr momentan nicht gut.“

„Das ist kein Problem. Ich werde dafür sorgen, dass dich jemand vom Team abholt und nach Hause bringt. Darüber mach dir keine Gedanken. Also, wäre das so okay für dich?“

Er nickte nur. Es fiel ihm schwer, die Fassung zu wahren. Ich legte für einen kurzen Moment meinen Arm auf seine Schulter und stand dann wieder auf.

„Du entscheidest, ob du wieder zu uns kommen möchtest oder noch etwas Ruhe brauchst. Die anderen wissen Bescheid und werden dich unterstützen. Keine Sorge, das wird alles wieder.“

Ich hing mich direkt ans Telefon und besprach die nötigen Schritte mit Thorsten. Erfreulicherweise wollte er sich persönlich darum kümmern. Sobald er einen Flug gebucht hatte, würde er sich bei mir melden.

Jetzt musste ich die anderen informieren und es gab keine bessere Situation dafür, als beim Essen. Was mir gefiel, Maxi kam zu uns und setzte sich neben mich an den Tisch. Die Stimmung war gedämpft. John hatte drei Salate mit den Jungs vorbereitet und es gab frisch gegrillte Steaks. John stand am Grill, Dustin und Fynn bei ihm und starrten auf das Fleisch.

„Wollt ihr das Steak garschauen oder was ist los?“

„Sie haben Angst, es könnte vom Grill springen.“

Da war er wieder, Carlo. Immer für einen guten Spruch gut. Die anderen mussten jedenfalls lachen und auch Maxi hatte ein Lächeln im Gesicht.

Es kam plötzlich wieder Leben in die Gruppe und es wurde geflachst und gescherzt. Auch Maxi ließ ein paar lockere Sprüche vom Stapel. Als wir alle mit dem Essen fertig waren, bat Maxi um Aufmerksamkeit. Sofort stellten alle die Gespräche ein und schauten ihn an.

„Danke. Wie ihr ja schon wisst, hat mein Vater einen Herzinfarkt erlitten und liegt jetzt im Herzzentrum in Bad Oeynhausen. Meiner Mutter geht es dadurch auch nicht besonders gut. Deshalb möchte ich euch informieren, dass ich mich entschieden habe morgen nach Hause zu fliegen. Es tut mir wirklich leid, dass ich euch jetzt verlasse, aber ich fühle mich meinen Eltern verpflichtet. Bitte seid nicht sauer auf mich.“

Kaum zu glauben, dass Maxi sich darüber Gedanken machte. Ich hatte schon Luft geholt, um dazu Stellung zu nehmen, aber Fynn kam mir zuvor.

„Hey, ich glaube, jeder von uns hat dafür volles Verständnis und würde es an deiner Stelle genauso machen. Wir wünschen dir, dass alles gut wird und du bald wieder in unserer Mitte bist. Und wir versprechen dir, dass wir alles geben werden, um dieses Turnier noch etwas aufzumischen.“

Dann stand er auf, ging zu Maxi und umarmte ihn fest. Das für mich beeindruckende war, dass jeder der Jungs nacheinander zu Maxi ging und es Fynn nachmachte. Eine tolle Geste des Teams und des Zusammenhaltes.

Am nächsten Morgen war ich schon sehr früh mit Maxi zum Flughafen aufgebrochen. Sein Flug ging um halb zehn. Da mussten wir früh am Flughafen sein. Die anderen Jungs schliefen noch, als wir das Haus verlassen hatten. Maxi war sehr still und ich ließ ihn in Ruhe. Erst am Gate beim Einchecken taute er etwas auf.

„Danke für deine Unterstützung. Ich bin gerade etwas durcheinander und möchte nur noch nach Hause. Hoffentlich erholt sich Papa schnell.“

„Das hoffe ich auch. Mach dir nicht so viele negative Gedanken. Bleib positiv, dann wird es auch gutgehen. Bestell bitte deinen Eltern von uns die besten Wünsche und Grüße. Wir sehen uns bald in Deutschland wieder. Habe einen guten Flug und melde dich bitte, wenn du angekommen bist. Lennart holt dich am Flughafen ab und bringt dich nach Hause.“

Zum Abschied umarmte er mich noch einmal, dann machte ich mich auf den Weg ins Hotel. Immerhin hatten wir noch zwei Jungs im Wettbewerb. Und Tim und Carlo wollte ich John nicht zu lange allein zumuten. Er sollte sich in erster Linie um das Aufwärmen und Einschlagen von Justin und Dustin kümmern. Deshalb hatte ich Tim und Carlo gebeten, auf mich im Hotel zu warten. Wir würden dann gemeinsam zur Anlage fahren.

Dustin: Nervös und angespannt

Es war sehr traurig, dass uns Maxi heute verlassen hatte. Vor allem konnten wir ihm nicht mehr alles Gute wünschen. Das beschäftigte mich mehr als mir lieb war. Umso mehr fehlte mir Chris in der Vorbereitung auf mein Viertelfinale. John war zwar bei uns, aber er konnte mir Chris nicht ersetzen. Allein das Gespräch vor einem Match fehlte mir. Entsprechend nervös und angespannt war ich, als ich mich mit Justin aufwärmen ging.

Mein Freund spürte meine schlechte Stimmung und blieb wenigstens die ganze Zeit bei mir. Fynn wusste genau, dass mir nur seine Anwesenheit helfen würde. Wir brauchten nicht viel zu sprechen. Er kannte meine Marotten und Ticks genau und ließ mich gewähren. John hatte sogar versucht, mir ein paar Dinge zu verbieten. Fynn hatte heute clever dafür gesorgt, dass mich John unmittelbar vor dem Spiel gar nicht mehr in die Finger bekam. So konnte ich mich ungestört auf das Spiel vorbereiten.

Bis das Spiel endlich begann, wurde meine Nervosität immer schlimmer. Ich konnte es mir nicht erklären, denn es war eigentlich nur ein Tennismatch. Das kannte ich doch schon alles. Aber als es dann endlich begann, konnte ich den Schalter finden und mich nur noch auf das Match konzentrieren.

Von Beginn an schlug ich gut auf und ließ keine Breakchance zu. Ich fühlte mich bei eigenem Aufschlag sicher und versuchte beim Spielstand von 3:3 etwas offensiver zu returnieren. Leider machte ich zwei leichte Fehler und das Spiel ging zu null an den Gegner.

Beim Seitenwechsel versuchte ich Kontakt zu John aufzunehmen, aber ich konnte ihn nirgends sehen. Mein Schatz stand allerdings an der Stelle wo sonst Chris stehen würde. Also suchte ich seinen Kontakt. Er nickte mir zu und forderte mich auf, offensiver zu werden.

Das nächste Spiel schlug ich sehr variabel und dennoch aggressiv auf. Das führte zu einem lockeren Aufschlaggewinn zum 4:4. Erneut ging ich früh auf den Return und versuchte meinen Gegner sofort unter Druck zu setzen. Vor allem auf seinen zweiten Aufschlag.

Ich war so auf den nächsten Ball fokussiert, dass ich die Anstrengungen gar nicht registrierte. Erst als es 6:6 stand und in den Tie-break ging, spürte ich meine Beine. Obwohl ich versuchte mich zu konzentrieren, gelang mir überhaupt nichts mehr. Schnell stand es 5:0 für den Gegner und beim Seitenwechsel 1:5. Ich war geladen und gefrustet. Das konnte doch nicht sein. Ich habe den ganzen Satz sehr gut serviert und im Tie-break bekomme ich gar nichts hin.

Als ich etwas zu trinken nahm, konnte ich plötzlich Chris Stimme vernehmen. Laut rief er in den Platz:

„Nicht denken, spielen.“

Ich drehte mich um, sah Chris neben Fynn stehen und das war wie ein Weckruf für mich.

Das ich nicht mehr viel Zeit zum Wachwerden hatte, war mir absolut klar. Ich hatte noch einen Aufschlag und damit wollte ich beginnen, wieder aggressiv zu spielen.

Der erste Service landete im Netz, aber anstatt den zweiten Aufschlag nur rein zu spielen, zog ich wieder voll durch und überraschte meinen Gegner damit. Somit stand es nur noch 2:5.

Chris klatschte laut nach dem Punkt und pushte mich nach vorn. Ich setzte meine Scheuklappen ab und ging nach dem Return direkt ans Netz vor. Wieder rechnete mein Gegner nicht mit dieser Aktion und ich konnte ihm einen weiteren Punkt abnehmen.

Komischerweise verspürte ich so etwas wie Wut in mir. Aber nicht auf den Gegner, sondern auf mich. Einen Augenblick unkonzentriert gewesen und die ganze Arbeit des Satzes war futsch.

Ich wusste aber auch, dass ich nicht eine Sekunde länger darüber nachdenken durfte. Also suchte ich nach jedem Punkt den Blick von Chris. Das half mir, nur noch von Punkt zu Punkt zu denken. Auch das Publikum spürte, dass ich den Satz noch nicht abgehakt hatte und feuerte mich an. Überhaupt wurde ich mehr unterstützt als mein Gegner. Ich war der Außenseiter und das wurde honoriert.

Beim 6:6 wurden erneut die Seiten gewechselt und die Zuschauer machten richtig Lärm. Ich versuchte aber weiterhin nur Chris zu sehen und nichts, was außerhalb des Platzes passierte.

Die Anspannung war zwar wieder da, aber ich konnte den Satz gewinnen. Das spürte ich. Auch, dass ich keine Angst mehr hatte, auf den Ball zu gehen. Ein starkes, positives Gefühl durchströmte meinen Körper.

Ich stellte mich zum Return bereit, konzentrierte mich nur auf den Ball. Der Gegner warf den Ball hoch und ich spekulierte auf welche Seite er aufschlagen würde. Konsequent ging ich zwei Schritte auf diese Seite und dann kam der Ball. Druckvoll returnierte ich und passierte den nach vorne stürmenden Gegner. 7:6 für mich, eigener Aufschlag und damit Satzball.

Dieses Gefühl zu haben, jetzt werde ich den Satz gewinnen, hatte ich niemals zuvor so stark gespürt. Ich konzentrierte mich nur auf meinen Aufschlag. Warf den Ball hoch und schlug mit voller Wucht zu. Mein Gegner hatte keine Chance an den Ball zu kommen. Damit hatte ich den Satz doch noch gewonnen. Mit einem lauten „Yes“ lief ich zur Bank.

Das Publikum war sehr laut, als ich den Satz gewonnen hatte. Chris war bereits einen Schritt weiter. Er gab mir zu verstehen, dass ich den Platz verlassen sollte, um mich neu zu sammeln.

Wir trafen uns in der Umkleide.

„Sehr stark, Dustin. Das ist grandios gemacht. Weiter so! Von Beginn an volle Konzentration und geh auf den Ball. Bleib aggressiv.“

Ich zog mir schnell ein neues Hemd an und dann musste ich auch schon wieder zurück auf den Platz. Aber dieser kurze Moment ließ mich etwas durchschnaufen und ich klatschte Chris ab. Es war ein gutes Gefühl, dass er wieder am Zaun stand.

Als ich wieder auf dem Platz war, nahm ich mir ganz fest vor, sofort aggressiv gegen meinen Gegner zu agieren. Mit dem ersten Ball baute ich Druck auf. Mein Gegner sollte sich gar nicht erst erholen können. Ich war noch nie so klar im Kopf, wie in dieser Spielphase. Das führte zu der Situation, dass ich dem Spiel meinen Rhythmus aufzwang. Ich beherrschte das Match und meinen Gegner. Der zweite Satz war geradezu einfach zu spielen. Erst als ich zum Matchgewinn bei 5:3 aufschlagen musste, wurde mir klar, dass ich in ein Halbfinale eines Challenger Turnieres einziehen konnte.

Das war leider ein Fehler, denn mein Arm wurde zittrig und schwer. Es gelang mir nicht, weiterhin souverän aufzuschlagen und so musste ich eine Breakchance abwehren. Den ganzen Satz hatte er nicht eine einzige Möglichkeit mir den Aufschlag abzunehmen. Ich fing wieder das Denken an. Obwohl ich das spürte, konnte ich nicht gegensteuern.

Etwas ratlos schaute ich zu Chris. Der lachte doch tatsächlich, als er meinen Blick aufnahm. Was hatte das zu bedeuten? Ich war in Not, brauchte ihn jetzt und er lachte darüber. Ich verstand es nicht. Als ich mich irritiert abwendete, hörte ich einen lauten Pfiff. Ich zuckte richtig zusammen, aber erkannte den Pfiff. So konnte nur Chris pfeifen. Ich drehte mich um und Chris zeigte mit seinem Finger an die Stirn und ballte mit der anderen Hand eine Faust.

Das war die Hilfe, auf die ich gewartet hatte. Ich nahm mir etwas Zeit vor dem nächsten Aufschlag, sammelte meine Gedanken und legte meine ganze Energie in diesen Augenblick.

Zehn Minuten später saß ich überglücklich auf der Bank und hatte das Halbfinale erreicht. Sogar ein kleines Siegerinterview musste ich geben, bevor mir Chris gratulieren konnte. Das fühlte sich so gigantisch an. Sowohl, dass Chris mir wieder im entscheidenden Augenblick geholfen hatte, als auch dass mein Freund das mit mir teilen konnte.

Chris: Justin und John

Über Dustin konnte ich nur staunen. Seit seinem Erfolg in New York hatte sein Selbstbewusstsein einen riesigen Sprung gemacht. Dadurch konnte er sein Leistungspotenzial auch im Turnier abrufen. Für Fynn stellte das ein kleines Problem dar. Fynn musste jetzt aufpassen, dass ihn sein Freund nicht leistungsmäßig überholte. Allerdings spürte Fynn diese Entwicklung und begann bereits eigenständig nachzulegen. Das sollte sich also nicht negativ entwickeln.

Mehr Probleme sah ich bei Justin und seinem Vater. In diesem Turnier wurde immer offensichtlicher, dass die Beziehung zwischen Vater und Sohn nicht so einfach war, wie sie auf den ersten Blick erschien.

Justin spielte bereits auf dem Centre Court und John musste ihn betreuen, da ich ja bei Dustin war und eh erst später gekommen war. Ich brauchte keine fünf Minuten, um zu erkennen, dass Justin genervt und John unzufrieden war.

Tim und Carlo saßen mit Aaron auch an einer anderen Stelle des Platzes. Das empfand ich schon etwas provozierend. Ich ging zu John auf die Tribüne und erkundigte mich nach dem Spielverlauf.

„Den ersten Satz hat Justin unnötig verloren. Er will wieder mit dem Kopf durch die Wand und lässt sich von mir auch nicht wirklich etwas sagen. Er hat mich eben sogar aufgefordert wegzugehen.“

„Oha, und wie steht es aktuell?“

„3:6 und 0:2 im zweiten Satz.“

Das hörte sich nicht gut an. Vor allem diese Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn machte zusätzliche Probleme. Hier musste ich schnell eine Lösung finden.

Als ich mich neben John gesetzt hatte, zwei weitere Spiele beobachtet hatte, erkannte ich Justins fragenden Blick. Er war verunsichert und überhaupt nicht mehr der selbstständige Spieler.

Diese Baustelle mussten wir schnellstmöglich schließen. Für dieses Spiel blieb mir nur eine Lösung, um schnell Entspannung zu schaffen.

„John, kannst du mir bitte den Gefallen tun und Justin allein spielen lassen. Geh bitte zu Dustin und bereite ihn auf das Halbfinale vor. Ich weiß, dass dir das nicht gefällt, aber Justin kommt mit der Situation gerade gar nicht klar. Das müssen wir später klären.“

„Ich habe doch gar nichts gemacht. Aber ok, ich werde mich um Dustin kümmern. Vielleicht geht es wirklich nicht mit Justin und mir.“

Da klang eine große Portion Enttäuschung mit. An diesem Punkt wartete noch Arbeit auf mich. Aber für das Spiel gab es keine andere Alternative. Wenn es Justin tatsächlich helfen würde und er sich jetzt freispielen könnte, wäre es eindeutig.

Beim nächsten Seitenwechsel schaute Justin wieder zu mir und ein Lächeln tauchte auf seinem Gesicht auf. Obwohl er deutlich zurück lag, lächelte er wieder. Noch verrückter ging dann das Spiel weiter. Justin änderte komplett seine Strategie und nahm, entgegen seiner bisherigen Spielweise, das Tempo heraus und ließ seinen Gegner die Fehler machen. Ich wusste, dass das Justin überhaupt keine Freude machte, aber er hatte erkannt, dass er nur so erfolgreich sein könnte.

Warum er das nicht schon früher gemacht hatte, würde er mir nach dem Spiel erklären müssen. Jedenfalls hatte er mit diesem Tempowechsel Erfolg. Sein Gegner schoss weiterhin auf alles was sich bewegte und machte dabei mehr Fehler als Justin. Beim Stand von 4:3 für Justin wurden erneut die Seiten gewechselt und jetzt grinste mich Justin frech an. Ich zeigte ihm mit einem zufriedenen Nicken, dass ich ihn verstanden hatte.

„Was hast du mit Justin gemacht? Warum hat er jetzt das Spiel verändert und nicht schon viel früher?“

Ich drehte mich um und schaute in das fragende Gesicht von Aaron. Natürlich waren Tim und Carlo in seinem Schlepptau, die sich sogleich neben mich setzten.

„Ich habe gar nichts gemacht. Das hat er schon selber gemacht.“

„Hihi, die Standardantwort von Chris. Er hat nie etwas getan. Immer ist es der Spieler, der das gemacht hat.“

Tim grinste und Carlo lachte auf diese Bemerkung von Tim. Aaron schaute verwirrt zwischen uns hin und her.

„Komm, setz dich zu uns. Das Spiel geht weiter. Ich möchte sehen, wie dein Bruder seinen Gegner weiter ärgert.“

„Boah, Chris. Du bist echt gemein. Aaron kennt dich doch noch gar nicht richtig. Er denkt jetzt bestimmt, du nimmst ihn nicht ernst.“

„Keine Sorge, Carlo. Er wird das schnell mitbekommen, wie ich ticke und dass ich wirklich nicht viel mache. Ich bringe nur den Spieler dazu das Richtige zu tun.“

„Aber wie machst du das? Du kannst doch gar nicht mit Justin sprechen.“

„Oh doch, Aaron. Chris kann sehr wohl mit Justin kommunizieren. Nur eben nicht sprechen. Das ist echt cool. Ich weiß ja auch wie das geht, wenn ich auf dem Platz stehe.“

Carlo und Tim hatten natürlich begriffen wie das Spiel lief. Sie versuchten es Aaron jetzt zu erklären, aber das störte mich in der Beobachtung des Spieles. Tim bemerkte meine Unruhe und unterbrach die Erklärungsversuche. Er sagte:

„Warte bitte bis das Match zu Ende ist. Chris wird es dir bestimmt dann erklären, aber jetzt sollten wir ihn nicht länger stören. Er muss mit Justin das Spiel bestreiten.“

Das führte dazu, dass Aaron jetzt jede Geste, jedes Handzeichen von mir genauestens beobachtete.

Justin hingegen baute sich immer mehr vor seinem Gegner auf. Er ließ sich durch nichts mehr aus der Ruhe bringen und ich konnte mit jedem weiteren Spiel erkennen, dass sich Justin wieder mehr ins Gleichgewicht brachte. Er brachte so viel Disziplin auf, jeden Ball nur ins Feld zu schaufeln und auf den Fehler des Gegners zu warten. Das hatte ich überhaupt nicht erwartet und ihm auch nicht zugetraut. Das Ergebnis war der Gewinn des zweiten Satzes und ein zerstörter Schläger seines Gegners.

Jetzt war wieder der Justin auf dem Platz, der mich schon in Deutschland so überzeugt hatte. Selbstbewusst und fokussiert. Er stand bereits wieder auf dem Platz, bevor der Schiedsrichter sein „time“ sagte. Damit setzte er den Gegner mental unter Druck.

Der dritte Satz ist schnell erzählt. Der Gegner war entnervt und ließ sich von Justin nahezu vorführen. Mit 6:2 gewann Justin den Satz und das Match. Damit hatten wir bei einem Challenger Turnier zwei Spieler im Halbfinale. Ein unglaublicher Erfolg, den ich Thorsten sofort per Whatsapp nach Halle mitteilte.

Justin strahlte, als ihn Aaron auf dem Platz umarmte und auch Tim und Carlo ließen sich das nicht nehmen. Besonders gespannt war ich auf Justins Reaktion, als sein Vater mit Fynn und Dustin zu ihm auf den Platz kam. Die Jungs gratulierten ihm genauso herzlich wie die anderen. Bei seinem Vater blieb Justin skeptisch stehen und John ging auf seinen Sohn zu, umarmte ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das muss etwas Überraschendes gewesen sein, denn Justins Gesicht sprach für sich. Erst nach einem Augenblick Verwunderung ballte er seine Fäuste und konnte sich richtig freuen. Irgendetwas war zwischen den beiden passiert.

Es fühlte sich für mich großartig an. Bei einem Challenger Turnier hatten wir völlig überraschend zwei Spieler im Halbfinale. Das brachte sowohl Dustin als auch Justin Weltranglistenpunkte ein. Vom erheblichen Preisgeld ganz zu schweigen. Die kontinuierliche Arbeit begann sich auszuzahlen. So ein Erfolg war für mich noch nicht zu erwarten gewesen.

Die Jungs waren aufgekratzt und keiner gönnte es den beiden nicht. Das war ein perfektes Team. Jeder stand für den anderen ein und freute sich auch für dessen Erfolg. So liebte ich das.

Als wir am Nachmittag bei John im Garten saßen und die Jungs sich einen Nachmittag im Schwimmbad gönnen durften, fragte ich ihn:

„Bist du mir böse, dass ich dich vorhin von Justin weggeschickt habe?“

Er schaute mich an und lachte.

„Nein, jetzt nicht mehr. Vorhin war ich schon etwas angefressen. Aber du hast die richtige Entscheidung getroffen. Ich muss wohl akzeptieren, dass ich für Justin der falsche Coach bin.“

„Das wollte ich damit nicht ausdrücken, aber momentan ist euer Verhältnis auf dem Platz nicht das Beste.“

„Nicht nur momentan. Meine Vorstellung von professioneller Arbeit und Matchstrategie ist mit seiner Vorstellung nicht kompatibel. Deshalb wollte meine Frau ja auch, dass er nach Deutschland geht. Dass er bei euch gelandet ist, ist natürlich wie ein Lottogewinn. Es fällt mir nur schwer zu akzeptieren, dass ich ausgerechnet bei meinem Sohn gescheitert bin.“

„Es gibt genügend Beispiele, wo genau das zum Scheitern der Karriere der Kinder geführt hat. Ich finde es stark, wenn du das für dich akzeptieren kannst. Noch könnt ihr außerhalb des Platzes gut miteinander umgehen. Justin kann bei uns in Halle bleiben und dann schauen wir mal, wie weit er kommen wird. Er bringt alles mit, was man für eine Karriere als Profi braucht. Wenn du ihm jetzt den Freiraum gibst den er braucht, dann wird er auch wieder mit voller Freude an sich arbeiten.“

„Ja, ich habe es heute akzeptiert. Es hat wieder nicht geklappt ohne Stress auf dem Platz. Vielleicht ist es wirklich besser, dass ich ihn nicht mehr trainiere. Justin hat es auch oft genug gesagt, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Da musste erst jemand aus Deutschland kommen und mir schonungslos klarmachen, dass es besser wäre, ich würde mich nur außerhalb des Platzes um Justin kümmern.“

„Hihihi, so schlimm war ich doch gar nicht. Und hast du Justin das schon erklärt? Ich finde, du solltest das mit ihm klären. Ich habe nämlich den Eindruck, dass er in letzter Zeit nur noch genervt war, wenn er dich an seinem Platz gesehen hatte.“

„Ja, ich habe es ihm vorhin schon auf dem Platz gesagt, dass ich es verstanden habe und wir haben noch nach dem Essen etwas länger darüber gesprochen. Er möchte in Halle bleiben und sich dort der Aufgabe stellen. Und bevor du dir Gedanken machst, er hat insbesondere dich sehr gelobt. Die Atmosphäre bei euch scheint etwas Besonderes zu sein. Justin ist bislang ein Einzelgänger gewesen, aber seit er bei euch ist, fühlt er sich in dieser Gruppe wohl. Ein besseres Kompliment kann ich euch nicht geben. Chris, ich möchte, dass du dich weiterhin um Justin kümmerst und er versuchen kann, Profi zu werden. Wenn es nicht klappt, ist das für uns kein Problem. Er ist noch so jung, da kann er jederzeit noch eine andere berufliche Laufbahn einschlagen.“

Es war schön zu hören, dass Justins Eltern diese Haltung entwickelten. Manchmal waren Eltern nicht in der Lage, solche Blickwinkel zu entwickeln.

„Ich würde dir ein Gegenangebot machen wollen. Du kommst mit deiner Familie in euren Ferien zu uns nach Halle und könnt dort Justin besuchen. Gerade für Aaron wäre das sehr wichtig. Ich glaube, dass Jan auch gerne mit dir weiter zusammenarbeiten möchte. Nicht unbedingt mit Justin, aber gerade wenn Spieler in den USA oder Kanada unterwegs sind, würde uns das sehr helfen.“

„Danke, das freut mich. Ich werde das mit meiner Familie in Ruhe besprechen. Aber Aarons Antwort kenne ich schon. Er ist wie ausgewechselt, seit Tim und Carlo hier sind. Er lacht viel mehr und ist fröhlich.“

Ich war sehr gespannt, wie sich Justin und Dustin im Schwimmbad verhalten hatten. Eigentlich war Schwimmen während eines Turnieres ungünstig. Eher ein Eisbad wäre gut. Aber ich wollte ihnen das nicht von vornherein verbieten. Ihre Freunde hatten schon so oft Rücksicht nehmen müssen, jetzt musste das mal sein. Wenn sie sich ausgetobt hätten und morgen ihre Muskeln schlapp wären, dann würde es zumindest eine wichtige Lehre sein.

Aber ich musste zugeben, dass ich die beiden unterschätzt hatte. Sie hatten sich sehr zurückgehalten und waren nur wenig im Wasser. Ein weiteres Zeichen für ihre Eigenverantwortlichkeit. Das freute mich und ließ mich entspannen.

Erst am späten Abend entspannte ich mich etwas. Alle Jungs waren wieder zu Hause und der nächste Tag war bereits besprochen.

Allerdings hatte ich noch ein weiteres Problem zu lösen. Die Rückflüge mussten umgebucht werden. Aber in Deutschland war es noch mitten in der Nacht. Also musste ich das auf den nächsten Morgen verschieben. Ich schrieb Thorsten aber schon einmal eine Mail, vielleicht konnte er dann schon etwas erreichen. Anrufen würde ich ihn am nächsten Tag vor dem Frühstück. Durch die Zeitverschiebung war es in Halle dann schon Mittag.

Jetzt traten die Anstrengungen des Tages bei mir in den Vordergrund und ich spürte meinen Arm und insbesondere den Rücken. Deshalb bat ich John, mir einen Raum zu geben, in dem ich etwas für meinen Rücken tun konnte. Dort legte ich mich zuerst einfach nur ein paar Minuten auf den Boden und schloss die Augen. Nach wenigen Minuten autogenem Training fühlte ich mich besser.

Ich turnte noch einige Rückenübungen und fühlte mich dennoch müde. Mein Akku war ziemlich aufgebraucht. Ich brauchte eine Pause und freute mich auf die Heimreise und etwas freie Zeit mit meinem Motorrad. Diese Fahrten fehlten mir am meisten. Den Kopf zwischendurch einmal freimachen.

Allerdings fühlte sich der Erfolg auch gut an. Es gab mir die Bestätigung der Richtigkeit meiner Art zu arbeiten. Wobei mir das Wohl der Jungs deutlich wichtiger als der Erfolg war. Plötzlich klingelte mein Handy. Überrascht schaute ich auf das Display. „Steevens, Marc“ stand dort zu lesen.

„Hi Marc, was verschafft mir die Ehre deines Anrufes? Wie geht es euch?“

„Uns geht es bestens und du bist der Grund meines Anrufes. Herzlichen Glückwunsch zu dieser phänomenalen Leistung. Ich bin erfreut und zugleich auch stolz, das so schnell erleben zu dürfen.“

„Äh, danke. Aber woher bist du schon wieder so gut informiert?“

„Hihi, ich bin immer bestens informiert. Zum Einen schreiben sich Fynn, Dustin und Luc regelmäßig und Thorsten hält mich auch immer auf dem Laufenden. Nur damit du kein schlechtes Gewissen bekommst. Es ist nicht deine Aufgabe, mich ständig zu informieren. Dafür hast du keine Zeit und Kapazität. Das soll Thorsten ruhig machen. Morgen sind die Halbfinals?“

„Hätte ich mir auch denken können. Ja, morgen sind die Halbfinals und mal schauen was passiert. Immerhin müssen Justin und Dustin nicht gegeneinander spielen.“

„Ja, das stelle ich mir schwierig für dich vor. Allerdings hätten wir dann auf jeden Fall einen unserer Jungs im Finale. Das wäre ja auch nicht so schlecht, oder?“

„Nein, das stimmt. Mir ist es aber lieber, dass sie nicht gegeneinander spielen müssen.“

„Wie geht es für dich nach dem USA und Kanada Trip weiter? Hast du auch mal Urlaub?“

„Ich hoffe es sehr, denn momentan bin ich echt etwas platt. Jan hat es mir zugesagt, dass ich nach diesem Trip mal drei Wochen am Stück frei nehmen kann.“

„Das hört sich gut an. Wie wäre es für dich, dann in die Schweiz zu kommen? Wir würden uns freuen, dich mal allein bei uns zum Ausspannen zu begrüßen.“

„Oh, das hört sich gut an. Wobei das Ausspannen bei der Familie Steevens meistens eher speziell wird. Aber können wir so festhalten. Dennoch muss ich mit meinem Bruder oder Thorsten erst reden, ob ich auch wirklich frei habe.“

„Mach das und melde dich, wenn du weißt wie es wird.“

Das war doch eine schöne Überraschung. Marc erkundigte sich persönlich und war bestens informiert. Es war für mich immer wieder schön, sich mit ihm zu unterhalten.

Die Jungs und ich kamen gegen halb zwölf im Hotel an. Dort wollte ich nur noch ins Bett, aber Tim und Carlo hatten noch um ein Gespräch gebeten. Da es am nächsten Tag erst nach den Halbfinals möglich sein würde, hatte ich zugestimmt, dass sie noch zu mir ins Zimmer kommen sollten.

„So, ihr zwei. Wo brennt es denn noch? Ich bin echt platt und möchte gern bald ins Bett.“

„Ja, das verstehen wir auch gut. Es wird auch nicht lange dauern, aber es geht um Aaron. Wir haben jetzt schon viel Zeit miteinander verbracht und er hat uns einiges erzählt. Er macht sich etwas Sorgen um Justin. Außerdem sieht er seinen Bruder nur noch sehr selten.“

„Das ist doch nichts Neues, Tim. Also was ist euer Anliegen?“

„Kann uns Aaron nicht mal in Deutschland besuchen? Er würde gern mal in den Ferien seinen Bruder besuchen.“

Ich hatte es schon erwartet. Die drei verstanden sich einfach zu gut, um diese Idee nicht aufkommen zu lassen.

„Kommt, ihr seid ja auch nicht ganz uneigennützig. Ihr würdet es doch auch gut finden, wenn Aaron nach Deutschland käme. Oder täusche ich mich da?“

„Hm, nein. Das stimmt. Aber unseretwegen würde er bestimmt nicht kommen dürfen. Dafür ist die Reise etwas weit. Also haben wir gedacht, er könnte ja seinen Bruder besuchen.“

„Ich habe da nichts gegen, aber ich habe das auch nicht zu entscheiden. Das müsst ihr mit Aarons und Justins Eltern besprechen und natürlich auch mit Justin. Vielleicht möchte er das ja gar nicht.“

„Das haben wir schon gemacht und er würde es toll finden. Er hat sich nur noch nicht getraut zu fragen.“

„Das ist doch nicht euer Ernst? Er hat sich nicht getraut zu fragen? Da werde ich morgen mal nachhaken. Wenn er das möchte und seine Eltern einverstanden sind, werden wir sicher einen Weg finden.“

„Danke, Chris. Dann wollen wir dich auch nicht länger stören.“

„Hey, ihr müsstet eigentlich auch schon lange im Bett liegen. Also seht zu, dass ihr in die Federn kommt. Morgen wird wieder ein langer Tag.“

Endlich konnte ich zur Ruhe kommen und es dauerte auch nicht lange, bis ich eingeschlafen war.

Justin und Dustin mussten beide um zwölf Uhr auf den Platz. Also ein normales Frühstück, dann Aufwärmen und Einschlagen. Der Vorteil am Halbfinaltag war, dass die Zeiten feststanden. Wir konnten auf die Minute unser Timing festlegen. Ich war immer gern vor den Spielern beim Frühstück, um in Ruhe den Ablauf im Kopf festzulegen. Auch die Strategie konnte ich so am besten planen. Tim und Carlo tauchten wie immer als erste bei mir auf. Justin hatte zu Hause geschlafen.

Tim und Carlo hatten schon wieder den Schalk im Nacken, als sie sich zu mir setzten.

„Moin Chris. Was machst du eigentlich, wenn Justin oder Dustin das Turnier gewinnen sollte?“

„Was ist das für eine Frage? Warum sollte ich mich damit jetzt beschäftigen?“

„Naja, hast du schon mal auf die Preisgeldliste geschaut? Dort steht für den Sieger neben dem Geld noch eine tolle Rolex Uhr. Kannst du dir Justin oder Dustin mit so einer Uhr vorstellen?“

„Hahaha, nein eigentlich nicht. Aber ich muss mir darüber echt keine Gedanken machen. Sie würden sicher eine gute Verwendung dafür finden. Jetzt muss ich aber erst einmal für die Halbfinals eine Strategie ausarbeiten.“

Natürlich hatte ich mir schon eine Möglichkeit überlegt. Aber das musste ich zuerst mit Dustin besprechen und dann später auf der Anlage mit Justin.

„Hört mal Jungs, ich habe für euch heute eine wichtige Aufgabe. Wie ihr ja mitbekommen habt, ist das etwas schwierig mit Justin und seinem Vater am Platz. Ich möchte euch daher bitten, bei Dustin am Platz zu bleiben und John zu unterstützen. Ich werde mich um Justin kümmern. Ich weiß auch, dass das Dustin überhaupt nicht gefallen wird, aber das ist heute leider so. Ihr kennt Dustin sehr gut und Fynn natürlich auch. Bitte gebt John alle Informationen über Dustin die er braucht, um gut zu coachen. Und lenkt Dustin vor dem Match ein wenig ab. Geht vielleicht irgendwo hin und spielt zusammen. Lasst euch etwas einfallen. Fynn wird bestimmt eine Idee haben.“

„Ist das Verhältnis von Justin und seinem Vater so schlecht? Das sah doch eigentlich ganz normal aus.“

„Nein, Carlo. Das Verhältnis ist eigentlich gut. Nur auf dem Tennisplatz kommt Justin mit seinem Vater nicht klar. Also müssen wir uns da etwas überlegen. Justin soll genauso wie Dustin die optimale Betreuung bekommen. Und da ist John für ihn eher hinderlich.“

Plötzlich schauten sich die beiden an und bekamen ihr Grinsen ins Gesicht. Da wusste ich, ich hatte gewonnen und das würde ganz sicher nicht schiefgehen.

Ein klares „Deal“ gab mir die Bestätigung und ich hatte eine Sorge weniger. Jetzt konnte ich mich nur auf die Strategie und das Coachen konzentrieren.

Erst jetzt kamen Dustin und Fynn zum Frühstück. Dustin wirkte angespannt und hatte auch keinen richtigen Appetit. Nur Fynn konnte ihn zum richtigen Essen überreden. Ich fühlte mich nicht besonders wohl mit dem Gedanken, ihm gleich sagen zu müssen, dass John an seinem Platz sein würde und nicht ich.

„Hi Chris“, strahlte mich Fynn an, „du hast doch bestimmt schon eine Strategie wie Dustin das Spiel gewinnen kann. Dustin ist total nervös und hat Angst zu versagen.“

Ich wunderte mich, dass Fynn das so deutlich äußerte obwohl sein Freund neben ihm saß. Da musste der Druck schon enorm sein.

„Klar habe ich eine Strategie, die ganz sicher zum Sieg führt.“

„Echt? Cool, was muss ich machen, damit ich nicht untergehe?“

Dustin war wirklich sehr angespannt und hatte nicht auf mein Mienenspiel geachtet. Fynn hingegen ahnte, was kommen würde und bekam ein kleines Lächeln auf sein Gesicht.

„Ich kenne die Strategie. Sie ist echt überzeugend und garantiert den Sieg, wenn man denn in der Lage ist, das umzusetzen.“

Fynn musste sich zusammenreißen, damit er nicht in Gelächter ausbrach. Dabei schaute er seinen Freund mit versucht ernstem Blick an.

Dustin hingegen schaute mich fasziniert und hoffnungsvoll an.

„Mensch Dustin“, sagte ich lachend, „du musst den Ball einmal mehr als dein Gegner ins Feld spielen. Dann kannst du nicht verlieren.“

„Nee, das ist nicht dein Ernst. Da wäre ich nicht drauf gekommen. Großer Sport.“

Jetzt musste er aber auch lachen und genau das wollte ich erreichen. Seine Anspannung etwas lockern.

Während des Frühstücks war das Thema Halbfinale und alles was damit zu tun hatte tabu. Ich hatte von Maxi eine Nachricht erhalten, dass er gut zu Hause angekommen war. Das gab ich an die Jungs weiter.

Als die aufkommende Unruhe stärker wurde, wollte ich Dustin aus der Schusslinie nehmen.

„Dustin, wir beide gehen mal eine Runde durch den Hotelgarten. Die anderen können schon mal ihre Sachen vorbereiten, die ihr zur Anlage mitnehmen wollt.“

Ich ging voraus und suchte uns eine schöne Holzbank und setzte mich. Dustin nahm neben mir Platz. Dann besprachen wir die Strategie und den Ablauf. Als ich ihm eröffnete, dass ich nicht an seinem Platz sein werde, hatte ich großen Protest erwartet. Allerdings kamen nur eine kurze Nachfrage und ein sehr bemerkenswerter Satz:

„Es ist schade, dass du mich nicht unterstützen kannst, aber ich sehe auch Justins Problem mit seinem Vater. Fynn ist bei mir und er kennt mittlerweile deine Art zu coachen.“

„Diese Haltung gefällt mir gut. Und wenn es wirklich gar nicht läuft, dann schickst du mir entweder Fynn oder einen der anderen Jungs. Dann komme ich mal vorbei und schaue, ob ich dir helfen kann. Aber ich glaube an deine Fähigkeiten und dass du mittlerweile auch allein gewinnen kannst.“

„Glaubst du wirklich, dass ich gewinnen kann? Der steht um die 400 in der Welt. Da weht ein anderer Wind als wir das bisher kennen.“

„Wenn ich nicht daran glauben würde, dürfte ich dich nicht spielen lassen. Du bist gut und musst dich nicht verstecken. Im Tennis ist nahezu alles möglich. Das weißt du auch, also geh auf den Platz, spiel einfach dein Tennis und habe Spaß. Dann wirst du die besten Chancen haben. Du musst deinen Vorteil nutzen, dass er dich nicht kennt, aber du ihn. Also Kopf hoch und ran an den Feind.“

„Weißt du eigentlich wie cool du bist? Kein anderer Coach kann das so gut rüberbringen wie du. John ist total trocken und kann dir jedes Detail von einem Spieler erklären, aber er hat keine Emotionen wie du. Bei dir habe ich das Gefühl, du stehst mit mir auf dem Platz. Das ist total geil.“

„Na, dann macht das ja auch nichts, wenn ich nicht da bin. Ich werde trotzdem mit dir auf dem Platz stehen.“

Ich zwinkerte ihm zu und wir mussten beide lachen. Jetzt wusste ich, dass ich Dustin ruhigen Gewissens allein spielen lassen konnte. Er hatte sich weiter entwickelt.

Diese Gespräche waren aber wichtig. Dustin saß deutlich entspannter im Auto auf dem Weg zur Anlage. Fynn ließ ihn in Ruhe und beschäftigte sich mit Tim und Carlo.

An der Anlage trafen wir auf John, Justin und Aaron. Justins Mutter würde später nachkommen. Sie wollte sich dieses Spiel unbedingt ansehen.

Es gab eine herzliche Begrüßung und John ging direkt mit Dustin zum Einschlagen. Carlo hatte ich gebeten als Trainingspartner zur Verfügung zu stehen. Ich hatte ganz bewusst darauf verzichtet Fynn das machen zu lassen. Fynn sollte sich ausschließlich außerhalb des Platzes um seinen Freund kümmern können.

Das Einschlagen von Justin sollte Tim übernehmen. Deshalb war John auch recht zügig mit Dustin verschwunden. Tim blieb bei mir, damit er die Strategie für Justin mitbekam. Dementsprechend sollte das Einschlagen ablaufen.

Justin wirkte deutlich entspannter als gestern und die Vorbesprechung verlief locker und sogar teilweise lustig. Das kannte ich von ihm überhaupt nicht, dass er in der Vorbereitung zu Scherzen aufgelegt war. Ich bat die beiden Justin richtig einzuschlagen und machte mich dann auf den Weg zu Dustin. Ich wollte zumindest einmal schauen, ob dort alles ruhig verlief oder meine Anwesenheit vielleicht doch noch einmal notwendig war.

Als ich allerdings aus einiger Entfernung das Geschehen auf dem Platz beobachten konnte, erblickte ich eine neue Situation. John stand wie immer ruhig am Platz und schaute Dustin beim Einschlagen zu. Allerdings gab es eine Besonderheit. Fynn stand hinter Dustin und gab seinem Freund immer wieder Hinweise und Tipps während Carlo den Ball zurück spielte.

John ließ die Jungs machen, gab nur ganz selten mal eine Korrektur, mehr nicht. Mir gefiel diese Situation gut, denn damit hatte John Fynn mehr Möglichkeiten eingeräumt. Ich war gespannt, wie sich das auf das Match auswirken würde. So viel Mut hatte ich noch nicht gehabt, Fynn das allein zu überlassen. Allerdings konnte das für Dustin auch eine gute Chance sein, selbstständiger zu werden.

Ich wechselte wieder zu Justin und auch hier stellte ich beruhigt fest, dass sie sich eigenverantwortlich gut einschlugen. An der Vorbereitung sollte eine Niederlage jedenfalls nicht liegen.

Justin: Finale?

Chris hatte mich verstanden und unterstützte mich. Es war für mich ein tolles Gefühl, dass er das nicht als Lappalie ansah. Er hatte mir in einem Gespräch erklärt, dass ihm in seiner Spielerlaufbahn ähnliches widerfahren war. Das hatte bei ihm schwere Krisen zur Folge. Deshalb konnte er mich gut verstehen und das Schönste, er konnte es meinem Vater so erklären, dass er das scheinbar akzeptieren konnte. Mir war das in den letzten Jahren nie gelungen.

Heute war Halbfinaltag und ich fühlte mich gut. Viel besser als vor dem Viertelfinale. Chris hatte mich gut vorbereitet und mir den Druck genommen. Ich wollte einfach nur noch gut spielen und nicht mehr besonders gut für meine Freunde.

Als ich mit dem Gegner den Platz betrat und bereits Applaus aufkam, bekam ich eine Gänsehaut. Das hatte ich noch nicht oft, dass bereits beim Halbfinale so viele Zuschauer anwesend waren.

Obwohl ich genau wusste, dass Chris an seinem Platz stehen würde, schaute ich nach. Umso beruhigender, dass er bereits mit aufmunterndem Beifall reagierte. Sogar mein Bruder hatte sich neben Chris auf den Rasen gesetzt. Er saß nicht auf der Tribüne bei unserer Mutter.

Ich hatte sehr schnell gar keine Gelegenheit mehr über irgendetwas anderes nachzudenken, als den Ball zurückzuspielen. Mein Gegner legte los wie die Feuerwehr. Ich war ständig unter Druck und selbst meine guten Aufschläge kamen schnell zurück.

Beim Stand von 2:3 im ersten Satz kassierte ich das erste Break. Sehr ärgerlich, da es ein unnötiger Fehler war. Danach hatte ich keine Chance mehr ein Rebreak zu machen. Also ging der erste Satz verloren, ohne dass ich schlecht gespielt hatte. Mir wurde bewusst, dass mein Gegner heute richtig gut war.

Als ich in der Satzpause zu Chris schaute, nickte er mir ruhig zu. Das beruhigte mich. Er erkannte meine Leistung und das ließ mich jetzt mutiger werden. Wenn ich noch eine Chance haben wollte, musste ich mehr riskieren. Also versuchte ich mehr Druck aufzubauen, auch mal ans Netz vorzugehen. Das schien mein Gegner nicht erwartet zu haben, denn ich führte plötzlich mit 2:0 und einem Break.

Allerdings spürte ich die Anstrengungen bereits deutlich in den Beinen. Obwohl ich gedacht hatte, dass ich topfit war, bekam ich Probleme mit der Kraft. Meine Arme und Beine wollten nicht mehr so wie mein Kopf. Chris bemerkte das und schlug mir sogar vor das Spiel zu beenden, um keine Verletzung zu riskieren. Aufgeben kam für mich aber nicht in Frage. Ich wollte das Spiel fertig spielen.

Allerdings war mein Akku einfach leer. So ging auch der zweite Satz mit 2:6 verloren. Damit war der Traum vom Finale ausgeträumt. Auf der Bank sitzend, hing ich frustriert meinen Gedanken nach. Ich hatte mir das Handtuch über den Kopf geworfen und fühlte mich beschissen. Plötzlich zog mir jemand das Handtuch weg und schubste mich von der Seite an.

„Hey, müder Krieger. Es gibt keinen Grund, Frust zu schieben. Du hast alles gegeben und das war heute nicht genug. Kein Problem. Du hast ein geiles Turnier gespielt und kannst mächtig stolz sein. Von den Punkten und dem Preisgeld ganz zu schweigen.“

Eigentlich war mir gerade gar nicht nach Scherzen zumute, aber Chris hatte genau den Ton getroffen und ich musste lachen.

„Also du hast das nicht so schlecht gefunden? Ich darf also bei euch bleiben?“

Für einen Augenblick hatte ich ihn verwirrt, aber dann kam ein trockener:

„Blödmann“,

und wir lachten beide auf der Bank.

Der Platz wurde bereits wieder neu hergerichtet, als wir gemeinsam den Court verließen. Chris wollte bei Dustin schauen und ich auslaufen und dann duschen.

Beim Auslaufen hing ich etwas den letzten Wochen nach. Die Zeit in Halle war für mich richtig gut gelaufen. Ich war nach Deutschland gekommen und wollte mich unabhängig von meinem Vater entwickeln. Dass ich mit Chris einen grandiosen Coach bekommen hatte und noch dazu einen tollen Menschen, war großes Glück. Die Zugabe waren die neuen Freunde. Und was mich richtig wunderte, ich freute mich, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Klar, manchmal vermisste ich meine Eltern und insbesondere meinen kleinen Bruder, aber in Halle konnte ich mich frei entwickeln und mit den Trainern und Betreuern meinen Weg planen und umsetzen.

Allerdings konnte ich das auch nur, solange meine Eltern, insbesondere meine Mutter, das unterstützen würde. Papa hätte es lieber gesehen, ich würde weiter von ihm betreut und trainiert werden. Das würde viele Kosten sparen, aber das hätte ich nicht durchgehalten und ich wäre heute nicht da wo ich jetzt stand.

Diese Gedanken lenkten mich derart ab, dass ich plötzlich nicht mehr auf dem richtigen Weg lief. Ich schaute mich um und brauchte einige Augenblicke, um mich zu orientieren. Ich drehte um und bald war ich wieder auf dem Weg zurück in den Club.

Nach der Dusche wollte ich zu Dustin an den Platz gehen, aber ich wurde von einer jungen Frau aufgehalten, die mich für ein Interview angesprochen hatte. Eigentlich hatte ich gerade überhaupt keine Lust darauf, aber sie war ganz nett und so willigte ich ein.

Das Gespräch entwickelte sich dann anders als die gewöhnlichen Fragen. Sie interessierte sich mehr für mein Leben in Deutschland und wie das in Halle so ablaufen würde. Ich gab ihr gern Auskunft, denn es gefiel mir dort ja sehr gut.

Dadurch kam ich leider erst später zum Platz von Dustin. Mein Vater war ungehalten darüber und giftete mich direkt an.

„Wo bist du so lange gewesen? Dustin kann unsere Unterstützung gerade mehr denn je gebrauchen.“

Boah, ging mir das auf den Keks. Sollte ich darauf reagieren? Mein Puls ging direkt nach oben und ich wollte meinem Vater gerade einen Spruch reindrücken, da kam Fynn dazwischen und packte mich am Arm.

„Los, komm mit. Chris braucht dich am Platz.“

Bevor ich etwas sagen konnte, hatte mich Fynn einfach weggeschoben. Das war mutig, denn eigentlich ließ sich mein Vater das nicht gefallen. Während der Schritte zu Chris, flüsterte Fynn mir zu:

„Lass deinen Vater doch reden, Chris hat hier den Hut auf. Und wenn Chris etwas zu meckern hat, dann macht er das persönlich. Dein Vater schiebt doch grade nur Frust, weil Chris ihm die Betreuung von dir verboten hatte.“

Diese Art der Reaktion war mir neu, aber ich freute mich über diese Unterstützung.

„Danke, Fynn. Du hast mich vor einer sinnlosen Auseinandersetzung bewahrt. Ich wollte mich gerade mit Papa streiten.“

„Das war auch mein Plan, bzw. Chris Plan. Der hatte das schon vorausgeahnt, dass es Stress geben könnte.“

Unglaublich, was Chris alles mitbekam und als ich neben Chris stand, legte er seinen Arm auf meine Schulter und lachte:

„Na, hat dein Vater wieder mal versucht, dich zu provozieren. Du wirst hier gebraucht, da konnte ich das nicht zulassen.“

„Danke, ich wollte echt grade mit ihm streiten.“

„Ich weiß. Aber Dustin kämpft großartig und hat immer noch eine Chance ins Finale einzuziehen. Da brauche ich jede Unterstützung.“

„Und Dustin auch.“, antwortete ich mittlerweile wieder entspannt.

„Guter Gedanke. Er ist im dritten Satz und führt überraschend mit einem Break.“

Vielleicht doch noch ein Finale für uns? Das wäre echt mega cool. Sofort war ich voll bei der Sache und feuerte Dustin nach jedem Ballwechsel an. Nach einem verlorenen Punkt musste ich wohl doch etwas zu laut gerufen haben, denn Dustin schaute mit grimmiger Miene in meine Richtung. Als er mich erkannt hatte, fing er an zu grinsen und zwinkerte mir zu. Unglaublich, auf dem Platz wäre ich nie so abgezockt.

Und plötzlich geht sein Gegner zum Schiedsrichter und schüttelt mit dem Kopf. Was sollte das bedeuten?

Chris hatte es schon kommen sehen, denn er kommentierte diese Szene ruhig:

„Ich glaube das Spiel ist vorbei. Ich hatte es schon mehrfach gedacht, dass er sich nicht richtig bewegen kann. Das würde auch erklären, warum Dustin so gut gegenhalten konnte.“

Dustin hatte noch nicht mitbekommen, dass sein Gegner ein Problem hatte. Dustin wartete an der Grundlinie als der Schiedsrichter das Match für beendet erklärte. Erst jetzt ging Dustin zum Netz und fragte seinen dort wartenden Gegner. Der schüttelte nur mit dem Kopf, wirkte niedergeschlagen und gab Dustin enttäuscht die Hand. Das Spiel war vorbei und Dustin tatsächlich im Finale des Challengers in Montreal. Das war ein riesiger Erfolg, egal wie er zustande gekommen war.

Gespannt wartete ich jetzt auf die Reaktion von Fynn. Der lief sonst immer nach einem Sieg seines Freundes auf den Platz und jubelte gemeinsam mit Dustin. Heute hielt ihn Chris allerdings zurück. Er untersagte es Fynn sogar, auf dem Platz zu gratulieren. Das hat mich gewundert. Mein Bruder fragte mich:

„Warum dürfen wir nicht gratulieren? Dustin hat doch gewonnen, oder nicht?“

„Ja, gewonnen hat er schon, aber durch Aufgabe. Ich glaube, Chris möchte das nicht, weil das unsportlich dem Gegner gegenüber wäre. Wir sollen das machen, wenn Dustin bei uns ist.“

Das verstand Aaron auch sofort und meinte:

„Achso, ist eigentlich auch klar. Da hätte ich auch selber drauf kommen können.“

Fynn hingegen wartete wie ein aufgebrachtes Huhn auf seinen Freund. Ich beschloss daher, ihn mal etwas zu ärgern.

„Hey, nun mach nicht so einen Stress. Du kannst deinen Freund schon noch ausreichend beglücken. Er kommt ja gleich.“

Fynn schaute mich mit einem bösen Blick an, zögerte einen Augenblick, stürmte plötzlich auf mich zu und ruckzuck lagen wir beide lachend auf dem Boden.

Plötzlich kam Chris hinzu und forderte uns auf:

„Leute, nehmt euch zusammen. Sonst steht morgen in der Zeitung, dass Fynn einen neuen Freund hat.“

Sofort standen wir auf und schauten in ein grinsendes Gesicht von Chris. Hinter ihm stand Dustin lachend mit seiner Tasche.

„Euch kann man auch keine fünf Minuten aus den Augen lassen.“, kicherte Dustin.

Fynn ging auf seinen Freund zu und umarmte ihn fest. Chris gab mir ein Zeichen, dass wir uns etwas zurückziehen sollten. Aaron folgte uns und im Clubhaus trafen wir auf meine Eltern, die bereits an einem Tisch saßen.

„So, jetzt machen wir erst einmal eine echte Pause. Kein Tennis, keine Planungen und keine Analysen. Jetzt wird gemeinsam gegessen.“

Meine Mutter hatte das gesagt. Ob sie sich im Klaren war, dass das auch als eine Bevormundung von Chris gesehen werden konnte? Hoffentlich würde Chris jetzt nicht sauer werden.

Ich schaute ganz genau hin, aber er blieb entspannt und erwiderte sogar:

„Das finde ich ist ein guter Plan. Aaron, wo sind Tim und Carlo? Kannst du bitte mal schauen und sie zu uns holen. Dustin und Fynn werden auch gleich herkommen.“

Chris: Eine anstrengende Zeit

Finaltag.

Dustin hatte vollkommen überraschend das Finale erreicht und spielte nun gegen den Gegner von Justin. Gestern nach dem Spiel hatte Justins Mutter um einen tennisfreien Abend gebeten. Dem kam ich gerne nach, denn auch mein Akku war arg strapaziert. Den Jungs, insbesondere Dustin, tat das auch gut. Die Vorbesprechung für das heutige Match konnte recht kurz bleiben, da ich bereits gestern Justin alles Wichtige mitgegeben hatte. Dustin hatte sich von Justin alles erklären lassen und war nur noch für Kleinigkeiten zu mir gekommen. Er benötigte noch drei neue Schlägerbespannungen. Das musste rechtzeitig gemacht werden, damit er genügend Schläger zur Verfügung hatte.

Vor dem Finale hatte mich erneut Marc aus der Schweiz angerufen und uns viel Glück gewünscht. Auch Thorsten hatte sich noch gemeldet.

Ich stand bereits an der Stelle am Platz von der ich das Spiel verfolgen würde, da vibrierte erneut mein Handy.

„Hi Jan, das ist aber echt eine Überraschung.“

„Hi Bruder. Du machst ja tolle Sachen. Erst lässt du Thorsten die Flüge umbuchen und jetzt darf der Arme das gleich noch einmal machen. Du machst mir langsam Angst. Finale beim Challenger, wo soll das noch hinführen?“

„Ähm, keine Ahnung. Aber es war schon ein glücklicher Wink des Schicksals. Dustins Gegner wäre deutlich besser gewesen, hatte sich aber verletzt. Ich denke, heute ist für Dustin nicht viel zu holen, aber bei ihm weiß ich in letzter Zeit nicht mehr, was er noch für Überraschungen parat hat.“

„Gefällt mir gut. Mach dir keine großen Gedanken und spielt das Match wie jedes andere Spiel. Dann wird das schon. Ich wollte dir nur persönlich sagen, dass ich mächtig stolz auf deine Arbeit bin. Du machst einen tollen Job und die Jungs ziehen voll mit. Es kann nicht besser sein. Wenn das Spiel zu Ende ist, kannst du mir dann bitte eine Nachricht schreiben. Ich möchte gern wissen wie es ausgegangen ist.“

„Danke. Klar, kann ich machen. Aber ich freue mich auch, wieder nach Hause zu kommen.“

„Das glaube ich dir sofort. Aber heute ist noch einmal Action angesagt.“

„Ja, ich weiß. Keine Sorge, das schaffe ich noch.“

Wir lachten beide bei der Verabschiedung.

Für mich war das immer noch etwas Besonderes, von Jan persönlich angerufen zu werden. Umso positiver war mein Gefühl, kurz vor dem Beginn des Matches.

Dustin wirkte sehr locker beim Einschlagen. Der Druck lag bei seinem Gegner und genau das hatte ich ihm auch klargemacht. Er sollte das Spiel genießen und einfach mutig spielen.

Fynn neben mir, war hingegen ein Nervenbündel. Er kaute ständig an seinen Fingernägeln.

„Hey, du musst doch gar nicht spielen. Also beruhige dich mal. Es ist doch nur ein Finale, hihi.“

„Boah, Chris. Du bist gemein. Ich würde so gern bei Dustin auf der Bank sitzen. Hier kann ich doch gar nichts machen.“

„Doch kannst du. Wenn du dich beruhigen würdest, wäre das für deinen Freund besser. Deine Ruhe ist auch seinem Zustand zuträglich. Ich bin doch äußerlich auch ruhig.“

In diesem Augenblick erhielt ich von Fynns Familie eine Whatsapp Nachricht. Die wollte ich ihm nicht vorenthalten, denn dort stand genau das, was ich ihm gerade gesagt hatte. Seine Mutter schien zu ahnen, was bei Fynn gerade los war. Als ich Fynn die Nachricht zeigte, mussten wir beide lachen.

„Time“ rief der Schiedsrichter und dann ging es los.

Meine Truppe stand geschlossen bei mir. Das wollte ich eigentlich nicht. Deshalb schickte ich alle, bis auf Fynn, zurück auf die Tribüne.

Leicht tänzelnd erwartete Dustin den ersten Aufschlag und dann begann ein Match, dass ich ganz sicher so schnell nicht vergessen sollte.

Dustin explodierte förmlich auf dem Platz. Er schoss auf alles was sich bewegte und das unfassbare war, er traf nahezu jeden Ball. Innerhalb von fünfzehn Minuten stand es drei zu null für Dustin mit zwei Breaks. Sein Gegner war konsterniert und überhaupt nicht auf das vorbereitet, was ihn gerade überrollte.

Allerdings war ich genauso baff, denn wir hatten etwas vollkommen anderes besprochen. Ich hatte keine Ahnung, was Dustin gerade im Kopf hatte, aber es funktionierte. Meine Strategie war hinfällig, nicht weil der Gegner anders spielte, sondern weil Dustin komplett konträr zu dem spielte, was besprochen war.

Beim Seitenwechsel zum 3:0 blickte ich in das Gesicht von Dustin und er schaute zurück und zuckte mit den Schultern. Als ob er selbst nicht wusste, was er da gerade tat. Da musste ich lachen, einfach lachen. Fynn schaute mich vollkommen entgeistert an.

„Was ist denn bei dir gerade passiert? Hast du dir einen Witz erzählt?“

„Hihihi, nein. Aber Dustin hat genauso wenig eine Ahnung was auf dem Platz passiert, wie ich.“

„Was? Wieso? Wie kommst du darauf? Er hat doch nicht einfach blind herumgeballert.“

„Hm, naja, vielleicht doch. Und jetzt weiß er nämlich nicht was er machen soll.“

Ich nutzte die Gelegenheit und gab Dustin ein paar Zeichen, dass alles in Ordnung sei und er einfach weiterspielen sollte. Wenn es jetzt nach hinten losgehen sollte, hatte ich genug Zeit zu reagieren. Er führte mit einem Doppelbreak.

Die ersten zwei Punkte gingen dann auch direkt an den Gegner. Dustin hatte zwei unnötige Fehler fabriziert. Er ärgerte sich und ich befürchtete, dass er jetzt vollkommen den Faden verlieren könnte. Aber wieder einmal gab Dustin mir darauf eine andere Antwort. Er schüttelte sich einmal, stellte sich zum Return und spielte den Ball zweimal nur zurück, bevor er wieder auf Angriff umschaltete. Genau diese Tempowechsel brachten den Gegner in Schwierigkeiten und Dustin hatte es begriffen. Ich musste ihm nur wenige Hinweise geben, damit er das Spiel nach Belieben dominieren konnte. Der erste Satz war schnell gewonnen und Dustin spielte sich in einen Rausch.

Das führte dazu, dass ich mir die Frage stellte, warum hat er diese Talente nicht schon früher einmal gezeigt? Mit Sicherheit waren diese strategischen Handlungsweisen nicht erst seit heute vorhanden. Klar, es wäre zu einfach, sich diese Frage zu stellen. Dustin konnte sie aber jetzt abrufen und einsetzen. Das war der Unterschied.

Im zweiten Satz passierte auch etwas ganz typisches, denn sein Gegner fing an, sich in das Spiel zurück zu kämpfen und zeigte auch häufiger, warum er so viele Plätze in der Rangliste höher stand. Aber Dustin ließ sich nicht beeindrucken und hielt weiterhin dagegen. Es entwickelte sich ein hochklassiges Match, welches an Spannung kaum zu überbieten war. Auch für die Zuschauer enthielt diese Partie alles an Spannung und immer wieder hörte ich ein Raunen, wenn Dustin einen seiner spektakulären Winner spielte.

Meine Nerven waren allerdings mittlerweile auch bis zum Zerreißen angespannt. Ich spielte jeden Punkt im Geiste mit. Fynn wusste das und konnte mir daher etwas Freiraum verschaffen, indem er Aaron, Tim und Carlo nicht zu mir ließ. Sie hatten sich ein Eis geholt und wollten wieder zu mir an den Zaun kommen. Fynn hielt mir den Rücken frei wie ein Bodyguard.

Leider ging der zweite Satz unglücklich im Tie-break verloren. Ich befürchtete, dass jetzt der Gegner Aufwind bekommen würde. Oft entwickelte sich so ein Match dann im dritten Satz sehr einseitig und der Favorit gewann doch noch recht glatt. Aber heute war das nicht der Fall. Dustin ließ sich überhaupt nicht beeindrucken und hielt weiterhin dagegen.

Auch der dritte Satz blieb spannend und ausgeglichen. Egal wie dieses Match ausgehen würde, Dustin zeigte Weltklassetennis.

„Hier, nimm erst einmal einen Schluck Wasser.“

John tauchte plötzlich neben mir auf und reichte mir eine Flasche Wasser.

„Oh, danke. Das kann ich jetzt gut gebrauchen.“

„Gerne. Was Dustin hier zeigt, ist unglaublich. Ich hätte ihm das niemals zugetraut. Er wächst bei jedem weiteren Spiel über sich hinaus. Das ist der Wahnsinn.“

Plötzlich hörten wir einen lauten Ruf, der meinen Puls schlagartig in die Höhe schnellen ließ.

„Los, Marvin, mach die Schwuchtel platt. Du bist besser.“

Ich zuckte zusammen, schaute instinktiv in die Richtung aus der dieser Ruf kam. Dort konnte ich Unruhe im Publikum erkennen, aber mehr auch nicht. Fynn sprang förmlich in Richtung Bank. Er war vollkommen panisch und wollte Dustin beschützen. Ich wusste, was ich zu tun hatte.

„John, du bleibst bitte hier. Ich gehe zu Fynn an die Bank und werde zuerst ihn einfangen, dann werde ich mich um diesen Idioten kümmern.“

John nickte und erwiderte:

„Aber keine unüberlegte Aktion. Diese Idioten sind es nicht wert, dass du dir deswegen Probleme einhandelst.“

„Nein, keine Sorge. Aber wenn sie den Fehler begehen, einen unserer Jungs erneut anzugreifen, werde ich richtig sauer.“

Schnell stand ich bei Fynn und konnte ihn überzeugen, wieder an den Zaun zurückzugehen. Ich blieb bei Dustin an der Bank stehen. Plötzlich tauchte der Oberschiedsrichter neben mir auf. Er erkundigte sich, was genau vorgefallen war. Ich erklärte ihm die Lage und dann gab er einige Anweisungen in sein Funkgerät. Er bat mich wieder an den Zaun zurückzugehen. Es bestünde keine akute Gefahr, denn seine Security würde sich nun an der Bank postieren.

Es war erstaunlich, wie vorsichtig ich geworden war. Erst jetzt beruhigte ich mich etwas und konnte wieder den Fokus auf das Match lenken. Hoffentlich zeigte Dustin keine negativen Reaktionen. Das wäre bitter, wenn durch so eine Aktion das Match entschieden würde.

Allerdings ging das nächste Spiel zu null verloren. Dustin hatte die Konzentration verloren und jetzt musste ich eingreifen. Ich gab ihm eindeutige Zeichen, sich etwas Zeit zu nehmen bevor er wieder aufschlug.

Das hatte Erfolg. Sein Aufschlagspiel gewann er glatt und glich damit zum 4:4 aus. Ich atmete tief durch. Das war ein ganz wichtiges Spiel gewesen und hätte vermutlich zur Niederlage geführt, wenn Dustin es verloren hätte. Seine Miene verfinsterte sich zusehends und das kam mir bekannt vor. Dustin wurde zornig und mir behagte das nicht wirklich. Einerseits könnte es dazu führen, dass er noch besser spielen würde oder aber schnell die Punkte erzwingen würde. Ich konnte jetzt nicht mehr viel tun und musste abwarten. Etwas, das ich gar nicht gut konnte.

Fynn schien die gleichen Gedanken zu haben, denn er machte einen sehr unruhigen Eindruck und wollte wieder zu mir kommen. John hielt ihn aber zurück. Also ging ich zu ihnen und übernahm von dort wieder die Regie. Ein unruhiger Fynn war am Platz fast genauso schwierig zu bändigen wie ein zorniger Dustin auf dem Platz.

Dieses Mal hatten wir Glück, dass die zornigen Geschosse von Dustin unerreichbar beim Gegner im Feld einschlugen. Mit einem Break ging Dustin 5:4 in Führung und hatte jetzt die Sensation auf dem Schläger, mit dem eigenen Aufschlag das Match und das Turnier zu gewinnen. Ich musste einige Male tief durchatmen.

Fynn knotete aufgeregt seine Finger und auch Tim, Carlo und Justin standen an ihren Plätzen und klatschten im Rhythmus.

Das hoffentlich letzte Spiel begann mit einem Doppelfehler. Ich ahnte schon, dass das kein einfaches Spiel würde. Der schwere Arm schien wieder zuzuschlagen, denn auch der zweite Punkt ging verloren. 0:30!

Für einen Augenblick dachte ich daran, einzugreifen. Das würde aber auch eine Verwarnung riskieren und Dustin mit Sicherheit noch mehr unter Druck setzen. Also verhielt ich mich still.

Dustin stellte sich zum Aufschlag, tippte den Ball besonders oft und konzentrierte sich. Warf den Ball hoch und schlug ein Ass! Unfassbar, in dieser Drucksituation ein Ass zu servieren. Das schafften eigentlich nur die ganz großen Spieler mit viel Erfahrung. Es folgte noch ein guter erster Aufschlag, der das 30:30 brachte. Noch zwei Punkte, aber ich wusste auch, dass das die schwersten Punkte des ganzen Matches würden.

Erneut sammelte sich Dustin in der Ecke des Platzes und nahm noch einmal das Handtuch. Ich schloss für einen Augenblick die Augen und mein Puls raste. Die Luft knisterte und auch das Publikum spürte die Dramatik der Situation.

Dustin hob seinen Kopf, schaute zu mir und ich nickte ihm nur zu. Er lächelte. Das konnte ich nicht glauben. In dieser Situation lächelte er.

Ein langer Ballwechsel folgte mit dem besseren Ende für Dustin. Matchball!

Ich nahm schnell noch einen Schluck Wasser. Dustin trocknete sich noch einmal die Hände und es wurde vollkommen still. Fynn stand verkrampft neben mir und alle Augen waren auf Dustin gerichtet. Er warf den Ball hoch und er war im Spiel. Sein Gegner spielte den Return. Das Geräusch sagte klar, dass er den Ball nicht sauber getroffen hatte. Dustin stürmte auf den Ball zu und hämmerte ihn ins Feld. Ich schaute dem Ball hinterher und erwartete, dass der Gegner ihn zurück spielen würde. Aber er erreichte den Ball nicht mehr.

Für einen Augenblick herrschte immer noch fast gespenstige Stille. Erst als der Schiedsrichter die Worte „Game, set and match!“ sagte, brach Jubel aus. Ich konnte meine Gefühle nicht mehr zurückhalten und ein lautes „Yes“ musste heraus. Fynn war nicht mehr zu halten und rannte Richtung Bank. Er wühlte sich durch die Leute, die mittlerweile aufgestanden waren.

Ich blieb noch an meinem Platz stehen und brauchte etwas Ruhe, aber ein großartiges Gefühl durchströmte meine Brust. Erst jetzt bemerkte ich meine Truppe, die sich um mich versammelt hatten und jubelten und klatschten. Justin stand vor mir.

„Hey, Chris. Dustin hat gewonnen. Wo ist deine Freude?“

Er strahlte, lachte und umarmte mich. Jetzt konnte ich mich auch befreit freuen. Die Anspannung fiel ganz langsam von mir ab.

„Los, geht zu Dustin. Aber denkt dran, ihr dürft den Platz nicht betreten. Ich bleibe hier. Ich muss das noch etwas sacken lassen.“

Das ließen sich meine Jungs nicht zweimal sagen. Sie stürmten an die Bank und Dustin kam zu ihnen, um sie zu umarmen. Er blickte sich um und unsere Blicke trafen sich. Er hatte mich auch an der Bank erwartet, aber mit einem Nicken gab er mir zu verstehen, dass er verstanden hatte, warum ich hier geblieben war.

Die Siegerehrung wurde vorbereitet und mir gingen viele Gedanken durch den Kopf. Allerdings kein Gedanke an den aktuellen Erfolg. Viel mehr an die Vergangenheit und woher Dustin gekommen war. Was für Hindernisse mussten wir überwinden und wie hart hatte er daran gearbeitet.

John war glücklicherweise in der Nähe der Jungs und hatte dort die Kontrolle übernommen. Dustin hatte sich auf der Bank das Handtuch über den Kopf geworfen. Ich konnte das gut nachempfinden, denn erst jetzt würde es ihm bewusst werden, dass er das Turnier gewonnen hatte.

So langsam wurde es für mich Zeit, Dustin auch zu gratulieren. Der Trubel hatte sich etwas gelegt und ich ging auf den Platz zur Bank.

Dustin nahm sein Handtuch vom Kopf, stand auf und umarmte mich.

„Danke, Chris. Ich weiß noch gar nicht was gerade passiert ist.“

„Passt schon. Bleib ruhig und genieße diesen Augenblick. Das war ganz tolles Tennis und eine mega mentale Leistung. Ich bin riesig stolz auf dich.“

Dann wurde ich gebeten, Platz für die Siegerehrung zu machen. Ich kannte das ganze ja schon und wusste, dass außer den Spielern niemand gern gesehen wurde. Meine Jungs empfanden das als ungerecht und entsprechend gereizt standen sie um John herum.

„Leute, was ist denn hier für ein Problem? Dustin hat ein geiles Spiel gemacht und gewonnen. Warum ist hier so ein Stress?“

„Das ist doch total blöd. Dich schicken sie weg. Du darfst gerade einmal kurz gratulieren und musst dann den Platz verlassen. Ohne deine Arbeit wäre Dustin doch niemals dort gelandet. Niemand von uns.“

Fynn regte sich mächtig auf und auch Justin war auf hundertachtzig. Tim und Carlo standen dagegen ruhig bei John und schüttelten ihren Kopf.

„Leute, kommt mal klar. Das ist nun einmal so im Tennis. The winner takes it all.“, warf Carlo ein. Tim setzte fort:

„Jeder von uns weiß, dass ohne Chris keiner von uns auch nur annähernd da wäre wo er gerade steht. Die Holzköpfe von Funktionäre wollen das nicht sehen und die Sponsoren meistens auch nicht. Aber wir wissen das und das zählt für Chris doch viel mehr.“

Dabei schaute er mich an und ich zeigte ihm den Daumen hoch. Plötzlich ertönte die Stimme des Turnierdirektors über die Lautsprecher. Die Siegerehrung begann. Das wollte ich in Ruhe genießen und bat meine Jungs zu mir. Alle nahmen wir uns in die Arme und lauschten den Worten.

Das übliche Gerede, aber es gab einen Satz, der besondere Wirkung haben könnte. Der Turnierdirektor entschuldigte sich öffentlich für den Zwischenruf im Spiel und betonte, dass Dustin vermutlich der erste Spieler im Herrentennis war, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannt hatte und ein Turnier auf der Profi-Tour gewann. Nachdem der Zweitplatzierte geehrt wurde, bekam Dustin den nächsten großen Pokal mit Siegerscheck. Zusätzlich bekam er ein edles Etui mit einer besonderen Armbanduhr: eine Rolex. Ich war sehr neugierig wie sich Dustin mit der Siegeransprache aus der Affäre ziehen würde.

Der Turnierdirektor bat Dustin nach vorn und jetzt war ich gespannt.

„Ähm, ok. Vielen Dank für die netten, einleitenden Worte. Ich habe keine Rede vorbereitet und auch keine Erfahrungen mit so einer Situation. Ich versuche es mal so. Vielen Dank an den Ausrichter, die Sponsoren und die vielen ehrenamtlichen Helfer. Ohne euch würde so ein Turnier nicht möglich sein. Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt und unser Team wurde gut betreut. Es ist für mich heute ein ganz besonderer Tag, weil es mein erster Sieg auf der Profitour ist und wir damit überhaupt nicht gerechnet hatten. Das Break-Point-Team in Halle hat maßgeblichen Anteil an diesem Erfolg. Dort wird von allen Mitarbeitern tolle Arbeit geleistet und wir Nachwuchsspieler werden optimal gefördert. Dafür möchte ich hier einmal im Namen aller meiner Teamkollegen einen großen Dank aussprechen. Eine Person muss ich aber noch hervorheben. Unseren Coach Chris, der uns immer exzellent auf die Matches vorbereitet und auf uns wie ein Vater aufpasst. Ohne dich, Chris, wäre keiner von uns auch nur annähernd dort wo er jetzt bereits steht. Vielen Dank dafür.“

Es gab lauten Applaus für diese Worte.

Ich bekam eine Gänsehaut, als ich das vernommen hatte. Dustin war auch sichtlich bewegt und froh, dass es damit zu Ende war. Der Turnierdirektor übernahm wieder das Mikrofon und Dustin schien erlöst zu sein.

Fynn brannte schon darauf, seinen Freund in die Arme schließen zu können. Aber er musste sich noch etwas gedulden, bis auch die Presseleute ihr Recht bekommen hatten. Ich blieb bei meinen aufgedrehten Jungs. Es war ein toller Erfolg, den wir uns alle hart erarbeitet hatten.

Ich hatte Thorsten und auch meinem Bruder eine Nachricht über diese sensationelle Entwicklung geschrieben und die ersten Reaktionen trafen auf meinem Handy ein. Allerdings nicht nur von Thorsten und Jan. Auch andere Leute und Kollegen aus Halle gratulierten. Insbesondere über die Nachricht von Gerry Weber freute ich mich sehr.

Ich freute mich zwar, hatte aber auch den Wunsch hier endlich dem Trubel entfliehen zu können. Ich mochte diese ganze Hektik überhaupt nicht, deshalb gab ich Fynn die Erlaubnis Dustin einzufangen, damit wir zurück ins Hotel fahren konnten. Hier gab es für uns nichts mehr zu tun. Außerdem ging unser Flieger heute noch zurück nach Deutschland. Es ging nicht anders, als den späten Abendflug zu nehmen.

Das bedeutete für Justin, sich von seiner Familie zu verabschieden. Allerdings hatte ich ihm gesagt, dass er seine Familie nach Deutschland einladen soll. Für Justin war vollkommen klar, dass er bei uns bleiben wollte. Das war aus meiner Sicht, die richtige Entscheidung und auch John war mittlerweile klargeworden, dass Justin diesen Weg gehen soll.

Zwei Stunden später hatte ich bereits im Hotel meine Taschen fertig gepackt und wartete auf meine Jungs. John würde uns zum Flughafen bringen.

Ich hatte mich für einen Moment aufs Bett gelegt und mich entspannt, als mein Handy plötzlich klingelte. Marc aus der Schweiz.

„Hi, Marc. Du hast Glück uns noch zu erwischen. Wir wollen gleich zum Flughafen aufbrechen.“

„Das könnt ihr auch gern machen, aber nicht bevor ich euch zu dieser sensationellen Leistung gratuliert habe.“

„Hihi, danke schön. Ja, das fühlt sich gut an. Die harte Arbeit wurde für alle belohnt. Aber ich bin jetzt einfach nur kaputt. Ich freue mich auf Deutschland, mein Motorrad und vor allem mein eigenes Bett.“

„Das glaube ich dir sofort. Bevor ich das vergesse. Ich habe mit deinem Bruder gesprochen und der hat dir drei Wochen Urlaub genehmigt. Also fliegt nach Hause und dann meldest du dich bitte bei mir, damit wir deinen Urlaub bei uns besprechen können. Sabine und ich laden dich für drei Wochen zu uns in die Schweiz ein. Mal ohne deine Jungs und ohne Tennis. Einfach nur ausspannen. Und komm nicht auf die Idee, dir eine Ausrede einfallen zu lassen.“

„Okay, ich gebe mich geschlagen. Also gut, ich melde mich, wenn ich zu Hause bin und ausgeschlafen habe.“

Damit beendete ich das Gespräch und wollte mich schon wieder lang machen, als es an der Tür klopfte.

„Herein“, sagte ich.

Schon war es mit der Ruhe vorbei. Alle fünf Jungs standen bei mir im Zimmer und grinsten mich an.

„Hey, Chris. Du kannst doch jetzt nicht pennen. Es wird gefeiert und du musst mitfeiern. Schließlich haben wir nur noch ein paar Minuten, bis uns John zum Flughafen bringt.“

Schnell verteilten sich sie sich auf meinem Bett oder nahmen auf der Couch Platz. Dustin und Fynn blieben vor mir stehen und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie etwas vorbereitet hatten.

„Jetzt ist der Trubel vorbei und wir möchten die Situation nutzen, dir persönlich Danke zu sagen.“

Dustin hatte das Wort ergriffen und Fynn stand neben ihm und legte seinen Arm um seinen Freund.

„Du bist ständig für uns ansprechbar, kümmerst dich um unsere Probleme und Anliegen. Auch außerhalb des Tennis. Ohne jemals darüber zu jammern, dass das eigentlich nicht deine Aufgabe wäre. Ich habe noch nie einen ähnlichen Coach erlebt. Auch bei diesem Turnier haben wir keinen Trainer gesehen, der sich so verantwortlich um seine Spieler kümmerte. Fynn und ich haben schon lange vor diesem Turnier überlegt, wie wir uns dafür bei dir bedanken können. Jetzt hat das Schicksal eine günstige Situation geschaffen, dir angemessen zu danken. Ich weiß, dass dir Geld nicht viel bedeutet und du das aus Überzeugung tust. Daher haben wir jetzt ein Geschenk gefunden, dass annähernd unsere Anerkennung deutlich machen kann. Und wir bestehen darauf, dass du unser Geschenk annimmst. Widerstand ist zwecklos.“

Nach diesem Satz musste ich lachen. Das war eigentlich mein Spruch und die anderen lachten auch alle mit. Es lockerte die emotionale Stimmung etwas auf. Dustin nahm seinen Arm nach vorn und hatte eine kleine, längliche Schachtel in der Hand. Er reichte sie mir und ich ahnte bereits, was in dieser Schatulle sein würde.

Der silberne Aufdruck sprach für sich, als ich den Deckel öffnete und eine wunderschöne Herrenarmbanduhr erblickte. Dustin schenkte mir die von ihm gewonnene Rolex. Das war für mich jetzt schwierig, denn er hatte sie gewonnen und eigentlich sollte sie ihn an seinen ersten Turniersieg erinnern.

„Puh, das ist jetzt wirklich heftig für mich. Ich bin mir nicht sicher, ob du dir ausreichend Gedanken gemacht hast, denn das ist doch eine Erinnerung an deinen ersten Turniersieg. Damit kannst du dich ein Leben lang an diesen Tag erinnern.“

„Ich weiß, Chris, aber ich möchte das so. Ich werde diesen Tag eh nicht vergessen. Wir haben den Sieg schließlich gemeinsam errungen. Bitte nimm diese Uhr und ich wünsche mir, dass wir noch lange gemeinsam an diesen Moment denken können. Ich möchte noch viele Siege mit dir erreichen. Vielen Dank für alles, was du für uns getan hast.“

Dann trat er einen Schritt nach vorn und umarmte mich. Mir lief ein Schauer über den Rücken, aber ich spürte, dass Dustin glücklich war. Also nahm ich dieses wertvolle Geschenk entgegen und versprach ihm, gut darauf aufzupassen.

Das war ein weiterer Höhepunkt und gleichzeitig Abschluss unserer großen Reise in die USA und nach Kanada. John hatte uns zum Flughafen gebracht und der Rückflug verlief ohne Probleme. Tiefe und erholsame Schlafphasen auf dem Nachtflug waren mir jedoch nicht möglich. Wir landeten am frühen Morgen kurz nach 6 Uhr und als ich endlich zu Hause in meine Wohnung kam, fiel ich geschafft für die nächsten Stunden in mein Bett.

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