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Die Kälte des Schnees

I. Aufbruch ins Nichts

Teil 2 - An fremden Ufern

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2. An fremden Ufern

„Diese verfluchte Kälte bringt mich noch um. Wenn nur dieser ekelhafte Wind nicht wäre!“ Ich schlug den Kragen hoch, prüfte noch einmal den Reißverschluss meiner Jacke, ob er auch bis oben geschlossen war. Er war es und trotzdem hatte ich das Gefühl, durch tausend offene Löcher ströme die Kälte heran. Wer rechnet auch schon Ende November mit so einer Kälte. Ich jedenfalls nicht und wenn das Thermometer jetzt schon in den Nächten auf minus zwanzig Grad fällt, wie soll es dann hier erst im Januar oder Februar sein?

Hier, das ist übrigens Dnjepropetrowsk, 35. Längengrad, der gleiche in dessen Nähe auch Murmansk und Jerusalem liegen, also von Deutschland aus betrachtet, ziemlich weit nach Osten bis ans Ende der Welt und dann noch zehn Kilometer weiter. Was den Breitengrad betrifft, liegt das Städtchen so etwa auf der Höhe von Wien. 'Städtchen' ist übrigens leicht untertrieben. Es ist immerhin die drittgrößte Stadt des Landes. Eine Million Einwohner hausen hier, die meisten in irgendwelchen unansehnlichen sozialistischen Plattenbauten. Bedeutendes Zentrum der Metallindustrie, zu sowjetischen Zeiten ein streng abgeschirmtes Zentrum der Rüstungsindustrie, will heißen: Die Ausländer kamen nicht rein und die Einheimischen nicht wirklich raus, zumindest nicht, wenn sie in den einschlägigen Betrieben beschäftigt waren. Ein Knast im Großformat und das nur, weil die berüchtigten SS 20 Raketen hier gefertigt wurden. Daneben gibt es hier noch chemische Baustoff- und Holz verarbeitende Industrie. Nahrungsmittel werden in Dnjepropetrowsk auch produziert und industriell konserviert, seit Neuestem auch von der Firma meines Vaters. Keine Ahnung, welcher ach so kluge Kopf in der Konzernzentrale auf die Schnapsidee gekommen ist, die Erschließung der aufstrebenden osteuropäischen Märkte ausgerechnet hier, am Unterlauf des Dnjepr stattfinden zu lassen.

Für die Karriere meines Vaters war die Idee die Chance des Jahrhunderts, für mich die bislang größte Katastrophe meines 17 Jahre kurzen Lebens. Wie ich meinen Bruder Thomas beneidet habe. Zwei Jahre älter, das Abitur in der Tasche, studiert er jetzt in Hamburg, während ich mich hier am Ende der Zivilisation mit meinen nicht vorhandenen Ukrainisch- und Russisch- Kenntnissen durch meine Tage quäle.

„Sebastian, das wird schon. Mach dir mal keine allzu großen Sorgen“, hatte Thomas, den ich wie all seine Freunde seit frühester Jugend immer nur Tom gerufen hatte, an unserem letzten gemeinsamen Abend in Deutschland gemeint. Er hatte gut reden, er blieb ja in Deutschland. Nun ja, er musste wegen des Studienbeginns auch umziehen, aber an der Uni, umgeben von lauter deutschsprachigen Kommilitonen, wird er wesentlich leichter Anschluss und neue Freunde finden als ich hier.

Freunde ist übrigens ein gutes Stichwort. Ryan hatte langsam zu mir aufgeschlossen. Er lachte vergnügt und amüsiert sich seit Tagen köstlich, wann immer ich über die Kälte schimpfe. Nun ja, meistens schimpfe ich nicht nur, sondern fluche was das Zeug hält. Es ist irgendwie eine Art Ventil, über das ich Dampf ablassen kann, bevor mich der Frust innerlich zerstört. Ich spürte plötzlich Ryans Hand auf meiner Schulter, während wir gemeinsam über den Fluss hinweg auf das andere Ufer schauten. Dahinten, auf der anderen Seite der Brücke, begann Sibirien. Nein, nicht wirklich, aber mir kam es in all meiner Verzweiflung immer wieder so vor.

„Meinst du nicht, dass es Zeit wird, dass du langsam mal hier ankommst? Ich meine, so richtig ankommst. Du bist jetzt seit einem Monat hier, aber dein Herz ist noch in Deutschland.“

Ich sah ihn traurig an. Er hatte ja so recht mit dem, was er sagte. Ich lebte wirklich in einer Art Tagtraum, seit ich nach Dnjepropetrowsk gekommen bin. Es schien mir alles, die Versetzung meines Vaters im Sommer, meine eigene Ankunft in der Stadt zusammen mit meiner Mutter Mitte Oktober, so irreal und unwahr wie ein schlechter Traum. Ich wartete auf das Aufwachen, wollte, dass mein Leben in Deutschland weitergeht, und war gleichzeitig nicht bereit, der Welt und den Tatsachen hier direkt vor mir und meiner frostig kalten Nase ins Auge zu sehen. Das war es, was Ryan mit ankommen meinte.

Er war eigentlich in der gleichen Situation wie ich, kam mit ihr aber viel besser zurecht. Sein Vater arbeitet für die gleiche Firma, bei der auch mein Vater sein Geld verdient. Es ist ein internationaler Konzern mit Mitarbeitern aus allen Teilen der Welt. Ryans Familie kommt aus England, aus Salisbury genau genommen, aber im Grunde ist Ryan durch die häufigen Umzüge im Schlepptau seines geschäftlich durch die Welt vagabundierenden Vaters längst so etwas wie ein Weltbürger geworden, einer der sich überall schnell zu Hause fühlen kann, sogar hier im tiefsten Russland, Tschuldigung, in der tiefsten Ukraine.

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“

„Vielleicht erst einmal wirklich von Deutschland Abschied nehmen, nicht für immer, aber doch für eine längere Zeit. Ich weiß, du liebst deine Heimat und die vielen Freunde, die du dort zurückgelassen hast“, sagte Ryan, der immer mit einem großen Einfühlungsvermögen zu mir sprach. „Aber du lebst jetzt hier und so wie es aussieht, etwas länger als nur die nächsten drei Wochen.“

Ich schaute ihn traurig an, brauchte aber gar nichts zu sagen, denn er wusste, wie es um mich stand. Wir hatten schon oft über dieses Thema gesprochen, aber angesichts meiner Unfähigkeit auf seine Gedanken einzugehen, musste Ryan das Gefühl haben, die Gespräche mit mir glichen Don Quichottes Kampf gegen Windmühlen.

„Was hältst du davon, wenn ich dich am Wochenende mitnehme? Ein paar ukrainische Freunde haben mich zu einer kleinen Feier eingeladen. Geh' doch einfach mit, lern' ein paar neue Leute kennen und vor allem kapsel dich nicht permanent ab. Mensch du weißt doch, wie scharf die russischen Bräute auf dich sind.“

Und wie ich das wusste. Sich einen der schnuckeligen Ausländersöhne angeln, ihn um den Finger wickeln, vielleicht ein Kind von ihm bekommen, heiraten und sich dann in den goldenen Westen „entführen“ lassen. Das war, leicht verkürzt, der Traum des durchschnittlichen ukrainischen Mädchens meiner Altersgruppe. Es erübrigt sich zu sagen, dass wir Ausländer für sie alle als steinreich erscheinen mussten. Was lag da näher, als sich so eine goldene Gans zu schnappen. Schön oder hässlich, dumm oder intelligent, Liebesheirat oder Vernunftehe, eine Fahrkarte in eine bessere Zukunft war es für die meisten allemal.

„Du weißt, was ich von diesen Feiern halte“, entgegnete ich Ryan.

„Ja, ich weiß, der viele Alkohol und die nervigen Girlies, aber gibt es sonst noch etwas, was dich wirklich gestört hat und anders war, als bei den Partys, die du von Deutschland kennst?“

„Nein, nicht wirklich“, musste ich zugeben.

Ryan schmunzelte. „Na siehst du. Außerdem hast du nur eine einzige Feier seit deiner Ankunft mitbekommen und auf der bauen all deine Vorurteile auf. Wenn du den Menschen hier wirklich gerecht werden willst, musst du ihnen auch eine faire Chance geben. Wenn du nach zwanzig Partys immer noch keine anderen Erfahrungen gemacht haben solltest, dann lass ich dich in Ruhe und werde dich wirklich nie mehr fragen, ob du zu einer Feier mitkommen willst, aber bislang fehlen dir noch mindestens 19 Exemplare in deiner Sammlung.“ Er lachte, so wie er es immer tat, wenn er wusste, dass er recht hat und ahnte, dass mir die Gegenargumente ausgehen würden.

„Na gut, ich gebe mich geschlagen. Und welche Natascha hat diesmal einen Anlass zum Feiern?“, fragte ich mit beißender Ironie in der Stimme zurück.

„Hey, ich freu' mich, wenn du mitkommst, aber tu' dir und mir den Gefallen und versuche einigermaßen offen und neutral an den Abend heranzugehen. Wenn du nur hingehst, weil du deine Vorurteile bestätigen willst, dann wird das nie was.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass du deinen Spaß haben wirst, aber eines weiß ich ganz genau: Wenn du hingehst und nur deine Vorurteile über Land und Leute bestätigen willst, dann wirst du ganz bestimmt keinen Spaß haben. Also mach dir die Sache nicht schwerer als sie ohnehin schon ist.“

Ich nickte stumm mit dem Kopf. Er hatte ja recht, aber das brauchte ich ihm ja nicht auch noch schriftlich bestätigen.

„Ach ja, bevor ich es vergesse: Die Natascha, mit der es diesmal etwas zu feiern gibt, heißt übrigens Dima. Du kennst ihn ganz flüchtig vom Sehen. Es ist dieser große blonde Junge, dem du auf deiner ersten und bislang letzten Party fast dein Colaglas über die Hose geschüttet hättest.“

Ich war entsetzt. „Was dieser Schönling, von dem du mir erzählt hast, dass er in den hiesigen Musiktempeln der Schwarm aller Mädels ist?“

„Genau dieser“, lachte Ryan.

„Unmöglich, ich geh' da nicht hin“, entfuhr es mir. „Ich will nicht noch so eine Peinlichkeit erleben. Mir reicht das eine Mal, als er mich angesehen hat, als käme ich von einem anderen Stern.“

„Quatsch nicht dumm rum“, ärgerte sich Ryan. „Du hast zugesagt und kommst jetzt auch gefälligst mit. Außerdem ist Dima ganz in Ordnung. Ist ein echt netter Kerl und er hegt auch keinen Groll gegen dich. Im Gegenteil, er hat mich schon zweimal gefragt, ob ich dich nicht mal endlich mitbringen will und das werde ich am nächsten Samstag tun, ob du willst oder nicht. Und wenn ich mir irgendein ukrainisches Mafiakommando organisieren muss, das dich notfalls mit Gewalt anschleppt, aber du gehst hin, ob du willst oder nicht!“

Ich kannte Ryan inzwischen gut genug, um instinktiv zu spüren, dass jeder weitere Widerstand zwecklos und letztlich auch kontraproduktiv sein würde. Also machte ich erst gar nicht den Fehler, es zu versuchen.

Wir waren uns wenige Tage nach meiner Ankunft zum ersten Mal über den Weg gelaufen, hatten uns schnell gut angefreundet und unternahmen inzwischen auch außerhalb der Schule viel zusammen. Praktisch für mich war, dass ich mich mit Ryan leicht unterhalten konnte. Er sprach zwar überhaupt kein Wort Deutsch, und mein Schulenglisch war, wie mir meine diversen Englischlehrer in Deutschland immer wieder versichert hatten, zwar durchaus verbesserungsfähig, aber hier im täglichen Kontakt mit Ryan, den anderen Ausländern in der Stadt und den wenigen Russen und Ukrainern, die es beherrschten, bewährte es sich ganz gut.

Ryan war eine Gestalt, die mich von Anfang an fasziniert und in ihren Bann gezogen hatte. Ihn umgaben ein merkwürdiges Flair und eine heitere Offenheit gegenüber allem und jedem, die ich so noch nie bei einem Jungen unseres Alters erlebt hatte. Er war gebildet und belesen, aber alles andere als eingebildet. Er war einer der hübschesten Jungen seines Alters, einer, der um seine körperlichen Vorzüge und ihre Wirkung auf andere Leute, besonders auf das andere Geschlecht, nur zu gut wusste. Aber er bildete sich nicht viel darauf ein. Ryan blieb natürlich, unbefangen und umgänglich. Er war jemand, den man einfach nur gern haben konnte und er war für mich ein Freund, wie ich ihn mir besser nicht hätte wünschen können. Sensibel und einfühlsam konnte er mir stundenlang zuhören, wenn ich ihm mein Leid klagte, aber konnte auch gnadenlos fordern, wenn er spürte, dass ein Sprung fällig war, vor dem ich zögerte. So wie jetzt, als er minutenlang nicht locker ließ, bis er mir meine Zustimmung abgerungen hatte.

Eigentlich nur ihm zuliebe würde ich also am Samstag auf diese verfluchte Russenparty gehen, mich sinnlos mit Wodka zuschütten, bis ich nicht mehr wusste, wo vorne und hinten ist und darauf hoffen, dass mir niemand die Frage stellt, wie es mir hier in Dnjepropetrowsk gefällt. Sollte ich doch in die Verlegenheit kommen, die Frage beantworten zu müssen, hatte ich grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Ich konnte symboldidaktisch antworten. In diesem Fall hätte der Wodka meinen Körper auf dem gleichen Weg verlassen, auf dem er auch in mich hineingekommen war. Alternativ konnte ich auch lügen, dass sich die Balken biegen, und eine Rede über die deutsch-sowjetische, äh ich meine deutsch-ukrainische Freundschaft lallen, die jedem diplomatischen Neujahrsempfang zur Ehre gereicht hätte. So richtig gefallen mochte mir aber keine der beiden Alternativen.

„Nun komm schon. Du bist nicht in ein sibirisches Straflager versetzt worden,“ lachte Ryan und versuchte mich aufzuheitern. „Hier gibt's auch jede Menge Mädels, die sich liebend gern um den Platz an deiner Seite bewerben würden. Vielleicht sind sie wirklich nicht so hübsch wie die jungen Frauen, die du aus Deutschland kennst, aber warum angelst du dir nicht eine nette Maus, um auch in der Fremde wenigstens etwas Spaß zu haben?“

'Oh, nein, nicht schon wieder diese Diskussion.' Erst gestern hatte mir Ryan mit diesem leidigen Thema wieder mächtig zugesetzt. Er konnte es einfach nicht verstehen, dass ich, in seinen Augen ein gut aussehender, attraktiver junger Mann, hier in der Fremde das „Mausen“ wie er es nannte, verlernt haben sollte. Endlich aus mir herausgehen sollte ich, meinen Charme ausspielen und der hiesigen Damenwelt dermaßen den Kopf verdrehen, dass die Guten nicht mehr wissen ob sie Links- oder Rechtshänder sind.

'Oh Ryan, wenn du nur wüsstest, wie wenig dein Sebastianbild mit der Realität zu tun hat.' Aber wie sollte er auch etwas wissen können, das ich ihm nie erzählt habe? Schließlich hatte ich zu diesem Punkt bislang immer eisern geschwiegen, so wie jetzt auch oder mit nichtssagenden Phrasen geantwortet. Er konnte es also nicht wissen und ich weiß es im Grunde auch nicht. Nur so viel war inzwischen klar: Während meine Freunde in Deutschland in den letzten zwei Jahren immer wieder - zuerst seltener, dann immer öfter - liebeskrank geworden waren, also schon morgens um acht den abendlichen Treffen mit ihrer Angebeteten entgegenfieberten, als seien sie im Delirium und drei Tage vor und drei Tage nach diesem Date kein anderes Gesprächsthema kannten - nicht einmal die Fußballbundesliga - war diese ansteckende Infektionskrankheit an mir merkwürdigerweise vorbeigegangen, ohne dass ich so recht wusste warum, aber auch ohne, dass es mich wirklich gestört hätte.

„Den Platz an meiner Seite vergebe ich, wenn es so weit ist“, brummte ich und hoffte, mit dieser nichtssagenden Phrase das Thema schnell abwenden zu können.

„Aber warum lässt du dir damit so viel Zeit? Willst du warten, bis du 25 bist, und sich nur noch irgendwelche überalterten Ladys um dich kümmern, die den Sprung auf den Ehezug dummerweise verpasst haben?“ Er schaute mich unverständig an. „Mensch Sebastian, du bist jung, du lebst jetzt und man lebt nur einmal. Also lass dich endlich auf das Leben ein. Lass dich von seiner wilden Kraft umfangen und wegtreiben, bis du ein neues Ufer erreichst.“

„Vielleicht hast du ja recht, lass mich ein bisschen darüber nachdenken und gib mir etwas Zeit.“

„Also schön, wie du willst. Bis Samstag kannst du noch überlegen, aber dann musst du springen. Und komm mir ja nicht wieder mit irgendwelchen faulen Ausreden. Wenn du nicht selbst die nötigen Schritte ergreifst, lege ich selber Hand an und helfe nach.“ Er grinste bis über beide Ohren, während er das sagte.

„Was willst du tun?“

„Nun zum Beispiel mir eine Schönheit des Landes besorgen, die nicht ganz so schüchtern und verklemmt ist wie du. Die werde ich dann mit dir zusammen in eine Zelle stecken, die so eng ist, dass ihr den Körperkontakt gar nicht vermeiden könnt.“

„Dann werde ich wohl zum Mörder werden“, antwortete ich mit einem leicht resignierten Tonfall.

„Ach Quatsch, du wirst mir hinterher dankbar sein, glaub mir das“, versicherte Ryan.

Ich versuchte, der Situation einen ironischen Anstrich zu geben. „Wer sagt denn, dass ich dich umbringen will? Vielleicht muss ja das arme Mädel als Erste dran glauben und du machst dir hinterher Vorwürfe.“

„Ach, keine Sorge“, lachte Ryan. „Ich werde dir schon eine Schönheit aussuchen, bei der selbst du ganz bestimmt an etwas anderes als Mord und Totschlag denken wirst. Aber nun komm, deine Nase ist schon ganz rot. Es wird Zeit, dass du wieder ins Warme kommst. Lass uns den Bus nehmen und zurück nach Hause fahren.“

Nach Hause, das war eine relativ moderne Neubausiedlung am Nordrand der Stadt. Es war eine der Wohnanlagen, die nach dem Untergang des kommunistischen Regimes neu gebaut worden waren. Es fehlte der sozialistische quadratisch praktische Einheitscharakter. Die Anlage war mittelgroß, die Ausstattung war für deutsche Verhältnisse normal und die Preise bescheiden. Aus dem Blickwinkel eines gewöhnlichen Ukrainers wohnten wir jedoch in einem Luxuspalast, der seinesgleichen suchte.

Ryans Familie wohnte nur zwei Blocks weiter, sodass wir den gleichen Heimweg hatten. Ryan kannte sich schon viel besser in Stadt aus, benötigte in den meisten Fällen nicht einmal mehr einen Stadtplan, obwohl er gerade mal zwei Wochen vor mir hier eingetroffen war. Wie gesagt, ein Weltenbummler, wie er im Buche steht, einer, der wie ein Fisch durch Amsterdams Grachten schwimmt, im nächsten Monat souverän durch die Straßen Hongkongs zieht, als habe er immer dort gewohnt, oder hier in der ukrainischen Millionenpampa das Terrain beherrscht, als wäre es der Hinterhof des elterlichen Grundstücks.

Als ich die Haustüre aufschloss, hörte ich die vertrauten Stimmen meiner Eltern aus der Küche und ging hinein. „Nanu, bist du so früh oder ich so spät?“, fragte ich meinen Vater, denn ich war nicht gewohnt, ihn um diese Zeit schon zu sehen.

„Beides, ich bin zu früh und du bist zu spät“, lachte er mir vergnügt entgegen.

Normalerweise kommt er erst recht spät am Abend wieder nach Hause. Die neue Position war zwar eine ideale Karrierechance, aber das mit ihr verbundene Arbeitspensum ist eine Herkulesaufgabe, die dauerhaft kaum zu stemmen ist. In den ersten Oktoberwochen, während meine Mutter und ich noch in Deutschland waren und die letzten Vorbereitungen für unseren eigenen Umzug trafen, kam er nur zum Schlafen in die Wohnung. Jetzt nach unserer Ankunft hält sich mein Vater geringfügig häufiger hier auf. Letzten Sonntag sogar den ganzen Tag! Ich konnte es kaum glauben. Es war, als seien Weihnachten und Ostern auf den gleichen Tag gefallen.

Offiziell ist er ja immer noch mit meiner Mutter verheiratet, aber das glaubt ihm in unserer Familie mittlerweile keiner mehr, denn inoffiziell hat ihr das Büro in den vergangenen Jahren längst den Rang abgelaufen. Vater ist einer dieser modernen Arbeitssklaven, die sich danach verzehren Oberbreichsabteilungsleiter in Dingenskirchen zu werden und die in der permanenten Angst leben, mit 55 ausgepowert und altersschwach in den Vorruhestand abgeschoben zu werden. Hier in Dnjepropetrowsk ist er der neue Vizeregionaldirektor Ukraine und als solcher nur noch Ryans Vater und der großen Konzernzentrale in Amsterdam unterstellt.

Die beiden verstehen sich ganz gut, was Ryan und mir nur recht ist. In der Stadt werden sie von allen möglichen Leuten hofiert. Ist ja auch kein Wunder, schließlich hoffen die meisten über den guten Draht zu unseren Vätern irgendwann einmal einen ihrer Familienangehörigen als Arbeiter oder Arbeiterin in den jetzt gerade neu entstehenden Fabriken unterbringen zu können.

Die Einzigen, die sich regelmäßig über die Direktorentitel unserer Herrn Väter prächtig amüsieren, sind Ryan und ich. Für uns klingt das 'Herr Vizeregionaldirektor' oder 'Herr Regionaldirektor' nach viel Schall und noch mehr Rauch, so wie 'Admiral Atlantik' für den Kommandanten eines gewöhnlichen Ruderboots auf dem Wannsee oder eines Tretboots auf der Binnenalster. Wir denken uns unseren Teil, sagen aber nichts.

Die wohlige Wärme in der Küche ließ mich langsam auftauen. Ich hörte meinem Vater zu, der von seinem Arbeitstag und den Gesprächen mit diversen Verantwortlichen der Stadtverwaltung sprach, war aber ehrlich gesagt nur mit einem halben Ohr dabei.

Der Nachmittag mit Ryan und die Aussicht, mit ihm zusammen am Samstag auf eine russische Wodkafeier zu gehen, bestimmten meine Gedanken. Wie konnte ich nur so blöd sein, mich auf so einen Quatsch überhaupt einzulassen? Die Aussicht, am Ende der Party das Objekt der Begierde irgendeiner ukrainischen Natascha zu werden, die von einem besseren Leben für sich träumt und mich als ihren Märchenprinzen und Retter für sich entdeckt hat, ließ meine Laune schnell auf die abendlichen Außentemperaturen herabsinken. Nein danke, kein Bedarf. Ich möchte nach Deutschland zurück, möchte meine alten Freunde und Bekannten wieder um mich herum haben. Aber Deutschland ist weit und draußen liegt Schnee, viel Schnee und er fühlt sich kalt an.

In den nächsten Tagen hoffte ich, der von der deutschen Boulevardpresse schon mehrfach angekündigte Weltuntergang würde endlich stattfinden und mich schlagartig von all meinen Problemen und Sorgen erlösen. Aber die Götter schienen kein Erbarmen mit mir und meiner armseligen Existenz zu kennen.

Im Gegenteil: Draußen wurde es von Tag zu Tag kälter und der von mir so gefürchtete Samstag rückte unaufhaltsam näher, wie ein Schneesturm, vor dem es kein Entrinnen gab.

„Ich hol' dich morgen Abend gegen sieben ab“, hatte mir Ryan gestern fröhlich hinterhergerufen, als wir uns trennten. Er freute sich auf den neuen Tag, ich hatte eher das Gefühl, auf eine Art Überdosis Langeweile zuzusteuern.

Die Russen und Ukrainer würden sich sinnlos betrinken. Ryan, der einem guten Schluck auch nicht abgeneigt war, würde ebenfalls voll auf seine Kosten kommen und ich würde dumm in der Gegend herumstehen - wie bestellt und nicht abgeholt.

So jedenfalls hatte ich es auf der ersten Party kurz nach meiner Ankunft im Oktober erlebt. Nach einer Wiederholung stand mir eigentlich ganz und gar nicht der Sinn. Hätte ich Ryan nicht unter der Woche mein Wort gegeben und ihm versprochen mit ihm zu kommen, keine zehn Pferde würden mich heute Abend aus diesem Zimmer herausziehen können.

Aber was tut man nicht alles für seine Glaubwürdigkeit? Ich zumindest 'ne ganze Menge. Hätte ich sonst mich so in Schale geworfen und eine halbe Ewigkeit im Badezimmer vor dem Spiegel gestylt?

'Eigentlich viel zu viel Aufwand für die ganzen einsamen Nataschas', dachte ich, als ich Kamm und Föhn endlich zur Seite legte und ganz zufrieden mit mir und dem Ergebnis meiner stundenlangen Mühe in den Spiegel schaute.

'Aber es ist schon merkwürdig: Ich treib hier einen Wahnsinnsaufwand für Leute, die ich eigentlich gar nicht kenne und im Grunde auch gar nicht wirklich kennenlernen möchte, und das alles nur, weil ich Ryan gegenüber im Wort stehe.' Die verschiedenen Dosen, Tuben und Sprays hatte ich gerade wieder auf ihre Ausgangspositionen zurückgestellt, als es an der Tür klingelte und Ryan wenig später in der Wohnung stand.

„Hi, Sebastian, Mensch klasse siehst du aus. Das wird die Damenwelt sicher erfreuen.“

Ich warf ihm einen kurzen verärgerten Blick zu, aber er schien ihn geflissentlich übersehen zu haben oder übersehen zu wollen, was ich mir bei Ryan genauso gut vorstellen konnte.

„Prima, dass du dich so auf die kleine Feier freust.“

Erneut sah ich ihn vorwurfsvoll an, und wenn Blicke töten könnten, läge Ryan spätestens jetzt röchelnd am Boden. „Du weißt, dass ich nur mitgehe, weil ich es dir in einem Moment absoluter Schwäche versprochen habe“, zischte ich ihn an.

„Ja, ich weiß und ich lieb dich für diese süßen kleinen Schwächen auch ganz doll.“ Er strahlte über das ganze Gesicht und seine Augen leuchteten, dass ich meinen Groll einen Augenblick lang fast zu vergessen drohte. „Na nun komm schon, du weißt, dass ich es nicht so meine. Zieh dir lieber noch einen Pullover an und dann gehen wir los.“

„Was denn noch einen Pullover?“, fragte ich überrascht zurück.

„Ja, erstens ist es draußen kalt und zweitens weiß man in diesem Land vorher nie, wie gut die Wohnung beheizt sein wird.“

Ich hatte schon vor meiner Ankunft davon gehört, dass ein strenger, langer Winter besonders für die armen Familien in vielen Staaten der ehemaligen Sowjetunion eine ziemlich kalte und frostige Angelegenheit sei, auch innerhalb der eigenen Wohnung. Geld war mehr oder weniger immer und überall knapp, und wenn die Firmen mit den Lohnzahlungen in Verzug waren, wurde es für viele Menschen besonders eng.

Ersparnisse, falls überhaupt vorhanden, waren schnell aufgebraucht, und was vom Lohn des letzten Jahres übrig geblieben war, fraß die Inflation. Im ukrainischen Kohlebecken weiter östlich von Dnjepropetrowsk gab's dann früher oder später wieder wilde Streiks und jede Menge Zoff.

Wenn es zu heftig wurde, brachten sogar die von Reuters und Bloomberg gleichgeschalteten Westmedien immer wieder mal einen kurzen Bericht. Aber im Normalfall hatte eine erfrorene Oma in den Staaten stets einen sehr viel höheren Nachrichtenwert als die zahlreicheren obligatorischen Wintertoten aus dem Reich des ehemaligen Klassenfeinds.

„Ich dachte, du kennst Dima und weißt, wie es bei ihm zu Hause aussieht“, sagte ich zu Ryan, während ich zum Schrank ging und einen weiteren Pullover aus ihm hervorzog.

„Stimmt, Dima kenne ich schon ganz gut und ich war auch schon zwei-, dreimal bei ihm zu Haus. Aber die kleine Feier heute Abend findet nicht bei ihm statt. Wir treffen uns bei ihm nur mit ein paar anderen Freunden und gehen dann weiter.“

Um Himmels Willen, auf was hatte ich mich da eingelassen? „Und du meinst wirklich, dass das der passende Weg ist, mich scheues Reh in die Geheimnisse des ukrainischen Party- und Nachtlebens einzuführen?“, fragte ich überrascht zurück.

Ryan lächelte zufrieden: „Absolut passend, so lernst du die Unterschiede zum Westen gleich mal richtig kennen.“

Oh Mann, das musste sich doch alles um einen schrecklichen Irrtum handeln, den ich möglichst rasch aufklären sollte.

Ryan stand schon wieder in der Tür, etwas ungeduldig schaute er auf seine Uhr. „So, können wir endlich los?“

„Na, wenn's denn sein muss.“

„Es muss sein Sebastian, das weißt du ganz genau. Aber so süß wie du heute Abend aussiehst wird es bestimmt nicht lange dauern, bis du den ersten Fisch an der Angel hast.“

„Ja, ich weiß und morgen gibt's Fischsuppe. Ryan ich hasse dich!“

„Na dann ist ja alles in Ordnung. Komm lass uns gehen!“

Etwa eine halbe Stunde lang kämpften wir uns zu Fuß oder mit dem Bus durch den frischen Schnee, dann standen wir vor einem jener Meisterwerke sozialistischer Baukunst.

Mit meinen laienhaften Architekturkenntnissen datierte ich es anhand der schnörkellosen Bauweise und des zunehmenden Verfalls von Mauerwerk und Treppenhaus auf das Ende der Chruschtschow- oder den Beginn der Breschnew-Ära.

Damit lag ich gar nicht so verkehrt, wie Dima mir später beim Hinausgehen bestätigen sollte. Der ganze Komplex war tatsächlich in den frühen 1960er Jahren geplant und durch die heldenhafte Planübererfüllung der Arbeitsbrigaden bis zum Ende des Jahrzehnts hochgezogen worden. Dima wohnte mit seiner Familie im 13. Stock.

„Hallo ihr zwei, schön, dass ihr schon da seid“, begrüßte uns Dima an der Wohnungstüre mit einem freundlichen Lächeln.

Ryan trat als Erster ein, gab ihm die Hand und ging einen Schritt weiter in den Flur hinein. Einen Moment später stand ich vor unserem Gastgeber, der ein wenig größer war, sodass ich leicht zu ihm aufschauen musste.

„Hi, Sebastian, ich bin echt froh, dass Ryan dich überzeugt hat, auch mal mit uns mitzukommen. Ich hatte schon fast befürchtet, unser erstes Aufeinandertreffen hätte bleibende Spätfolgen gehabt und dich für immer und ewig von mir Abstand halten lassen.“ Seine Augen leuchteten, aber in seiner tiefen Stimme war eine feine Schwingung, die mir auf eine kleine Verunsicherung zu deuten schien. Sollte er unser erstes nicht ganz glückliches Zusammentreffen genauso belastend empfunden haben wie ich selbst?

„Hallo Dima, äh danke für die Einladung. Also Ryan hat schon wirklich - äh - ich meine, also er - äh - hat mich wirklich etwas äh überzeugen müssen, damit ich - äh - mitkomme - äh - ich meine nicht zu Hause bleibe.“

Oh Mann, was für eine Galavorstellung gab ich denn gerade zum Besten? „Stottern für Fortgeschrittene“ ein Volkshochschulkurs von und mit Sebastian Bongartz, so könnte man die peinliche Veranstaltung nennen, aber Dima ging zum Glück nicht weiter darauf ein.

„Kommt erst einmal zu mir ins Zimmer. Die anderen sind noch nicht da, werden aber wohl gleich kommen. Ryan geh ruhig schon mal vor, du kennst dich ja aus“, sagte er lachend und zog mich ein Stück auf die Seite, während sich Ryan zielstrebig einer Tür zuwandte.

„Keine Sorge Sebastian, ich bin dir nicht mehr böse, weil du mir neulich fast deine Cola über meine neue Hose geschüttet hättest. Ich war im ersten Augenblick zwar etwas entsetzt, aber es ist ja zum Glück nichts weiter passiert. Also lass uns den ganzen Quatsch ganz schnell vergessen und Freunde sein. Ich bin froh, dass du da bist.“

Seine ganze Erscheinung war immer noch so imposant, dass ich wie bei unserem ersten Zusammentreffen vor einem Monat richtig Mühe hatte, die Gewalt über mich und meine Stimmbänder zu behalten und meine Stotterei in Grenzen zu halten. „Ich hab mich ja auch wirklich ziemlich dusselig angestellt“, gab ich zu bedenken.

„Mag sein, aber das ist jetzt vorbei“, wischte er meine Erklärung mit einem Federstrich beiseite. „Lass uns darüber nicht mehr groß nachdenken. Wichtig ist, dass du hier bist und wir heute alle zusammen eine Menge Spaß miteinander haben werden.“ Er legte mir seine Hand um die Schulter und schob mich sanft in Richtung der offenen Zimmertür. „Komm, lass uns zu Ryan in mein Zimmer gehen.“

„Mit wem teilst du dieses Zimmer?“, fragte ich Dima, nachdem wir das Zimmer betreten hatten und ich die beiden Betten entdeckte, die einander gegenüberstanden. Ich setzte mich zu Ryan auf das Bett unterhalb des Fensters, während Dima auf dem gegenüberliegenden Platz nahm.

„Mit meinem Bruder Sergej. Er ist zwei Jahre jünger als ich, also etwa in deinem Alter“, antwortete Dima.

„Woher weißt du wie alt ich bin?“. fragte ich überrascht.

„Der gute Ryan hat es mir vor ein paar Tagen erzählt. Ich habe mich mit ihm darüber unterhalten, ob es angebracht ist, dass Sergej heute zu Kiryas kleiner Feier mitkommt. Dabei haben wir festgestellt, dass ihr etwa gleich alt seid.“

„Ich hoffe, das ist jetzt kein Problem für dich“, sagte Ryan, den meine irritierte Nachfrage wohl auch etwas überrascht hatte.

„Nein, nein ist schon in Ordnung“, antwortete ich schnell. „Ich war halt nur ein wenig überrascht davon, wie viel Dima schon über mich weiß, obwohl wir doch bislang noch nicht die Zeit hatten, uns richtig miteinander bekannt zu machen.“

„Das wird sich bis morgen früh sicher geändert haben“, lachte Dima vergnügt.

„Bis morgen früh?“ Etwas perplex sah ich erst zu Dima dann zu Ryan.

„Ja, heute kommst du bestimmt nicht mehr ins Bett“, lachte Letzterer.

„Jungs, was habt ihr mit mir vor?“, fragte ich leicht irritiert, aber mit einem breiten Lachen im Gesicht.

„Das wirst du schon noch sehen“, mimte Ryan den Geheimnisvollen.

„Aber wenn es dir zu viel wird, kannst du dich vorzeitig abseilen“, beruhigte mich Dima, „Es wird sich schon jemand finden, der dich sicher nach Hause bringt. Keine Angst, du wirst heute Nacht nicht hilflos durch Dnjepropetrowsk umherirren.“

Ich nickte beruhigt, lehnte den Kopf zurück, bis er an der Wand Halt fand, drehte ihn etwas zur Seite und schaute zu Ryan hinüber.

Er schmunzelte leicht und nickte zuversichtlich mit dem Kopf. „Keine Sorge, es wird schon nicht so wild werden. Du wirst sehen, am Ende ist alles halb so schlimm, wie du es dir vorgestellt hast.“

Die abstoßende Wirkung von Fassade und Treppenhaus wich schnell einer von außen nicht vermuteten Gemütlichkeit, wenn man einmal die Wohnungstüre hinter sich gelassen hatte.

Wer wie ich genau hinzuschauen wusste, erkannte aber dennoch unschwer die Zeichen eines begrenzten finanziellen Spielraums. Das Mobiliar zum Beispiel genügte eher praktischen als ästhetischen Gesichtspunkten und die Tapete mit dem Blumenmuster hatte ihren modischen Zenit auch bereits vor etlichen Jahren überschritten.

Dima hatte zusammen mit seinem Bruder das Beste aus ihren bescheidenen Möglichkeiten gemacht und das kleine Zimmer, das sie gemeinsam bewohnten, dennoch zu einem recht ansehnlichen Teenagerreich umgestaltet. Großflächige Poster ließen die Blumentapete nur noch an den wenigen, nicht von Schränken und Regalen verdeckten Stellen zum Vorschein kommen.

Kleine, liebevoll arrangierte Dekors zogen meinen Blick auf sich und mir war sofort klar, wer seinen Blick nicht allein auf das Oberflächliche richtete, sondern den wahren Kern hinter der äußeren Schale zu erkennen vermochte, der konnte auch in so einer äußerlich kalten und sterilen Mietskaserne eine Menge Wärme und Geborgenheit erkennen.

Ryan war einer der Menschen, die das immer und zu jeder Zeit vermochten. Kein Wunder also, dass er zu Dima so rasch einen soliden Kontakt aufgebaut hatte.

Aus Dimas Zimmer hat man eine hervorragende Aussicht. Zum Beispiel auf die Fassade des gegenüberliegenden Häuserblocks gerade mal 70 Meter entfernt. Bei gut erleuchteten Fenstern kann man die lieben Nachbarn problemlos kontrollieren und anschließend dem Blockwart gleich schriftlich Meldung geben, damit der KGB, der heute in diesem Land SBU 'Shzlusba Bespeki Ukrainj', also Dienst für die Sicherheit der Ukraine, heißt, über die miese Stimmung im Land auch immer gut informiert ist.

Ich hörte laute Stimmen auf dem Gang vor dem Zimmer, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Dann wurde die Zimmertüre aufgerissen und ein Junge trat ein. Als er aus dem Halbdunkel der Türschwelle ins Licht trat, zuckte ich unwillkürlich zusammen.

Die leicht nach außen geschwungenen Lippen fest zusammengepresst, das kantige Kinn keck ein wenig angehoben und die breiten, hellbraunen Augenbrauen geringfügig zusammengezogen stand er unvermittelt vor mir, fixierte mich mit seinen tiefbraunen Augen, die mir schienen, als könnten sie Stahl durchdringen und Eis zum Schmelzen bringen.

Halblange strähnige Haare, auf der Oberfläche immer noch leicht blondiert von einer wenige Wochen zurückliegenden Färbung, reichten bis zur Mitte der Stirn hinab, gaben dem Gesicht mit den kantigen Konturen das wilde Aussehen eines heranwachsenden jungen Helden.

Jugendhaft aber ohne jeden Anflug einer zurückgebliebenen Kindlichkeit das Zentrum des Gesichts rund um die fein geschwungene Nase. Auf der Oberlippe, oberhalb der Mundwinkel zwei Muttermale, das rechte etwas stärker und größer als das linke.

Streng, verbindlich und forschend der fast analytisch wirkende, fesselnde Blick, der einem durch und durch anmutigen Gesicht zugleich sehr viel Wärme und eine tief im Innern verborgene Herzlichkeit entströmen ließ.

„Sergej, das ist Sebastian. Ryan kennst du ja bereits.“ Dimas Stimme drang durch den Raum, während ich noch immer wie in Trance gebannt auf die sportlich athletische Gestalt in der Mitte des Zimmers starrte.

Ein freundliches Lächeln huschte über sein Gesicht, während er einen Schritt auf mich zumachte und mir die Hand entgegenstreckte. Wie eine Feder schnellte ich hoch, ergriff die angebotene Hand und verlor mich für einen Augenblick in der Tiefe seiner dunklen Augen.

„Hallo Sebastian, freut mich, dich kennenzulernen.“ Anmutig, mit einem leicht metallisch klingenden Nachklang, drang Sergejs Stimme an mein Ohr.

Die große Trockenheit in meinem Hals machte mir zu schaffen, als ich zu meiner Erwiderung ansetzte: „Hallo Sergej, ich freu' mich auch, dich zu sehen.“ Einen Moment starrten wir uns schweigend an, die Hände immer noch ineinandergelegt.

„Mensch, setzt euch doch endlich wieder, ihr werdet nachher noch lange genug stehen. Kirya hat nicht viel Platz in seiner neuen Wohnung und so wie ich ihn kenne, wird er vorsorglich alle Stühle weggeräumt haben, um mehr Stehplätze für neue Gäste zur Verfügung zu haben.“ Dima lachte über das ganze Gesicht, während er dies sagte und auch über Sergejs Lippen huschte ein feines Lächeln.

Er löste seine Hand langsam aus meiner und setzte sich zu seinem Bruder. Dann schaltete sich auch Ryan wieder in das Gespräch ein. Gerade als er wissen wollte, wann wir aufbrechen würden, klingelte es erneut an der Tür. Wie vom Blitz getroffen, eilte Dima zur Tür.

„Das kann nur Anna sein, wenn Dima so rennt“, lästerte Sergej, während sein Bruder durch die Tür verschwand, um wenige Augenblicke später mit einem dunkelhaarigen wirklich sehr hübsch anzuschauenden Mädchen im Arm wieder in ihr aufzutauchen. Hinter den beiden tauchte ein weiterer Frauenkopf in der Türe auf.

Dima strahlte wie ein Schneekönig über das ganze Gesicht, als er mir stolz seine Freundin vorstellte. Während Anna auch für Ryan keine unbekannte war, sah er Katharina so wie ich zum ersten Mal. Sie war Annas beste Freundin und hatte, wie ich später von Dima erfuhr, schon seit Wochen ein Auge auf Kirya geworfen. Aber ihr sehnsüchtiges Schmachten war unerhört geblieben, weil der gute Kirya nicht die geringsten Anzeichen erkennen ließ, auf ihr anhaltendes Werben eingehen zu wollen.

Recht bald nach der Ankunft der beiden zogen wir los. Während Anna sich bei Dima einhakte, Katharina Ryan in Beschlag nahm, und alle vier dabei den gesamten Gehsteig für sich in Anspruch nahmen, trotteten Sergej und ich hinter ihnen her, zunächst total schweigsam, bis Sergej ein Gespräch initiierte, in das ich gerne einstieg.

„Sebastian, seit wann bist du hier in Dnepr?“ Er benutzte den kurzen Kosenamen, mit dem die Einheimischen ihre Stadt liebevoll benennen. „Wann bist du angekommen?“

„Seit gut vier Wochen, aber Ryan ist der Meinung, dass ich noch gar nicht richtig hier angekommen bin“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Wie soll ich das verstehen?“

„Ryan meint, ich hänge noch zu sehr an Deutschland und lasse mich viel zu wenig auf Dnjepropetrowsk und die Menschen in meiner neuen Umgebung ein.“

„Ich kann verstehen, dass dir der Abschied aus Deutschland schwergefallen ist. Ich weiß auch nicht, ob ich das könnte, so einfach meine Koffer packen und vom einen auf den anderen Tag in die Fremde ziehen.“

„Das allein ist es nicht.“

„Was dann?“, fragte Sergej überrascht und drehte den Kopf zu mir.

„Nach Ryans Geschmack sehe ich Dnjepropetrowsk und alles, was ich hier erlebe, noch nicht genügend als Chance; etwas, das ich für mich nutzen kann. Wenn er mich unter der Woche nicht regelrecht gezwungen hätte mitzukommen, wäre ich jetzt wahrscheinlich nicht hier, sondern würde zu Hause ein Buch lesen oder irgendetwas anderes tun, aber bestimmt nicht mit euch Ukrainern auf eine Party gehen.“

„Ich glaube, ich verstehe ein wenig, was Ryan meinen könnte“, sagte Sergej nachdenklich. Er blieb kurz stehen und sah mich intensiv an. „Hast du Dnepr denn inzwischen wenigstens ein bisschen kennengelernt, ich meine, kennst du zum Beispiel die Innenstadt?“

Etwas verlegen blickte ich zu Boden. „Naja Ryan hat mir schon immer wieder mal ein paar schöne Stellen der Stadt gezeigt, aber wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich sagen: Eigentlich kenne ich die Stadt immer noch nicht. Aber das ist ganz und gar nicht Ryans Schuld. Er hat sich wirklich viel Mühe gegeben und mir alles Mögliche gezeigt, aber ich war irgendwie immer nur halb bei der Sache. Ich glaube, er hätte mit mir über den Mond spazieren können, es wäre mir nicht aufgefallen, so sehr war ich mit meinen Gedanken immer noch in Deutschland.“

Sergej nickte, als habe er so eine Antwort erwartet. „Und wie ist es jetzt? Bist du mit deinen Gedanken immer noch permanent in der Heimat oder legt sich das langsam?“

„Ich glaube, es legt sich langsam“, antwortete ich vorsichtig, war mir aber nicht sicher, ob meine Aussage nicht doch ein wenig zu optimistisch ausgefallen war.

„Und? Hast du jetzt mehr Lust die Stadt zu entdecken, sie sozusagen ein zweites Mal neu kennenzulernen?“

„Das kommt wohl auch ein wenig auf die Umstände an“, antwortete ich ausweichend. „Die Lust dazu ist zwar schon etwas ausgeprägter als unmittelbar nach meiner Ankunft, aber ich glaube nicht, dass ich mich dazu aufraffen werde, Dnjepropetrowsk auf eigene Faust zu erkunden.“

„Verstehe, was dir fehlt, ist eine Art Lokomotive, an die du dich einfach anhängen kannst. Jemand, der dich mitzieht.“

„Da könntest du wohl recht haben.“ Ich war überrascht, mit wie viel Geschick und Einfühlungsvermögen Sergej seine Fragen stellte und in welch kurzer Zeit er zum Kern meines Problems vorgestoßen war.

Er blickte den anderen kurz nach, die schon mehr als zwanzig Meter entfernt waren, dann wirbelte sein Kopf zu mir herum. „Sebastian ich fände es schade, wenn wir uns nach dem heutigen Abend gleich wieder aus den Augen verlieren, weil ich dich gerne ein bisschen besser kennenlernen würde. Hättest du Lust, die Stadt mit mir zusammen zu erkunden?“

„Ja gerne, wann immer du Zeit und Lust hast“, entgegnete ich schnell und glaubte mich selber nicht wiederzuerkennen.

Da ging ich mit einem wildfremden Jungen, den ich gerade mal zehn Minuten kannte, durch den Schnee, war fünfhundert, vielleicht auch siebenhundert Meter weit gekommen und erzählte ihm schon Dinge über mich, die ich nicht einmal Ryan nach einer so kurzen Zeit erzählt hatte.

Es war verrückt, oder ich war es nur? Aber Sergej wirkte längst nicht mehr wie ein unbekannter Fremder auf mich. Eigentlich wusste ich so gut wie nichts von ihm und er nichts über mich, aber in mir gab es das Gefühl, als würden wir auf eine schon lange bestehende tiefe Freundschaft zurückblicken.

Gut, ich hatte ihm auf den letzten Metern keine wirklich bedeutsamen Geheimnisse aus meinem Leben anvertraut, dazu hatte weder Anlass noch Zeit bestanden, aber tief in mir spürte ich, dass ich es gefahrlos tun könne, wenn eines nicht mehr so fernen Tages die Zeit und die Gelegenheit dazu kommen würden.

Der Schnee tanzte vor unseren Gesichtern, während ich an den sanft herabfallenden Flocken vorbei ein freudiges Leuchten in Sergejs Augen zu sehen glaubte.

„Das ist schön. Ich werde dir gerne unser Dnepr zeigen, von mir aus können wir gleich morgen unsere Erkundungen starten“, freute er sich.

„Warum nicht? Morgen ist Sonntag und ich habe ohnehin nichts Besonderes vor.“

„Gut, dann gib mir deine Adresse und Telefonnummer. Ich werde dich am frühen Nachmittag abholen, wenn du einverstanden bist.“

Ich war selbstverständlich sofort einverstanden und gab ihm die Adresse. Nur eine Telefonnummer musste ich ihm schuldig bleiben, denn die Mühlen der großen ukrainischen Telefongesellschaften mahlten deutlich langsamer, als ich es erwartet hatte. Private Telefonanschlüsse wurden offensichtlich immer noch streng nach irgendwelchen Fünfjahresplänen kontingentiert und verteilt. Der Dienstleistungs- und Servicegedanke musste auf seinem Weg gen Osten irgendwo jenseits der Oder mit Panne liegengeblieben sein. Hier war er jedenfalls noch nicht angekommen.

„Komm, lass uns schnell zu den anderen aufschließen“, sagte Sergej, „Ich weiß zwar so in etwa, wo Kirya wohnt, aber den genauen Weg kennen nur Dima und Anna.“

„Ach mach dir da mal keine Sorgen. Die anderen werden schon auf uns warten“, versuchte ich Sergej zu beruhigen.

„Oh, da kennst du meinen Dima aber schlecht“, lachte mein Begleiter.

„Und du meinen Ryan“, erwiderte ich rasch. „Der wird ganz bestimmt auf mich warten. Schließlich hat er sich so viel Mühe gegeben, um mich auf diese Party zu schleifen.“

„Dima war leider nicht so begeistert von der Idee, mich auf Kiryas Party mitzunehmen.“

„Wieso nicht? Verstehst du dich nicht gut mit deinem Bruder?“

„Doch schon, wir verstehen uns eigentlich ganz gut. Klar, es gibt auch mal Tage, da ist dicke Luft bei uns im Zimmer, aber im Grunde ist Dima ein feiner Kerl und ein ganz umgänglicher älterer Bruder. Einige meiner Schulkameraden sind da mit ganz anderen Brüdern vom Leben beglückt worden. Die haben manchmal echt was zu leiden, aber ich hab mit Dima einen ganz guten Wurf erwischt. Er ist ein feiner Kerl und echt in Ordnung.“

„Das habe ich eben auch gespürt. Wenn man ihm nicht gerade ein volles Colaglas über seine neue Hose schütten will, ist er echt nett und sehr umgänglich.“

Sergej lachte vergnügt. „Ja, ich habe auch schon von eurer ersten Begegnung gehört. Er muss dich richtig gut zusammengestaucht haben und du musst dir am Ende wie ein gerupftes Huhn vorgekommen sein. Aber glaub mir, Dima hat sich hinterher selbst am meisten über seinen Auftritt geärgert. Er war schon etwas stärker angeheitert, wie er mir erzählt hat, und wenn ihm einmal die Pferde durchgehen, dann gehen sie ihm auch wirklich richtig durch. Da hilft dann nur noch abtauchen und auf bessere Zeiten hoffen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung nur zu gut. Bist du ihm noch böse deswegen?“

„Nein, nicht wirklich. Im ersten Moment habe ich ihm natürlich in all meiner Wut den Tod an den Hals gewünscht. Aber schon am nächsten Tag war mir eigentlich klar, dass der ganze Aufstand ja nur durch meine Schusseligkeit entstanden ist. Wäre ich etwas vorsichtiger gewesen, wären wir nicht zusammengestoßen und Dima hätte keinen Grund gehabt, auf mich böse zu sein. Wir haben uns eben, als ich angekommen bin, darauf verständigt, das Ganze schnell zu vergessen und es nicht überzubewerten.“

„Das freut mich für euch beide.“ Die Erleichterung war Sergej deutlich anzumerken. „Ihr seid beide ganz feine Kerle und jeder für sich ist voll in Ordnung und deshalb wäre es schade, wenn ihr dauerhaft Stress miteinander habt und ich mittendrin stehe.“

„Na du scheinst mir für Dima aber auch ein ganz brauchbares Exemplar der Gattung Bruder zu sein“, bemerkte ich anerkennend.

Sergej schmunzelte: „Ich versuche es zumindest. Aber nun komm, lass uns weitergehen. Mir wird langsam kalt. Dir nicht?“

Ich hatte die Kälte und den Schnee fast vergessen, so sehr zog mich unser Gespräch in seinen Bann. Entgegen Sergejs Befürchtung hatten die anderen an einer Kreuzung, an der wir die Straße wechseln und in eine Nebenstraße einbiegen mussten, auf uns gewartet. Es dauerte nicht mehr lange, dann standen wir vor einem alten, verlassenen Fabrikgelände.

Das Tor mit dem filigranen Stahlbogen stand halb offen, aber so richtig einladend wirkte der Eingang auf mich nicht. Wir überquerten das dunkle nur vom milchigen Mondlicht beleuchtete Gelände. Zum Glück reflektierte der Schnee das schwache Licht der nächtlichen Gestirne. Trotzdem hatte ich Mühe, nicht in eines der unzähligen Schlaglöcher zu stolpern.

Es schien, als seien alle Gespräche am Eingangstor verstummt, weil jeder sich nur noch auf seine Füße konzentrierte. Auf der anderen Seite begrenzte eine etwa zwei Meter hohe Mauer das Gelände. Dima ging ein paar Schritte an ihr entlang, dann blieb er unvermittelt stehen und wartete, bis die anderen, vor allem aber Ryan und ich, ihn erreicht hatten.

„Da müssen wir jetzt rüber. Ich hoffe, ihr habt im Westen das Klettern nicht verlernt“, sagte er zu Ryan und mir gewandt. Im ersten Moment glaubte ich mich verhört zu haben, aber Dima stellte sich tatsächlich mit dem Rücken gegen die Wand, faltete seine Hände auf Gürtelhöhe zu einer Schale als Tritt für die Räuberleiter und fragte: „Was ist Sebastian, worauf wartest du noch?“

Er wollte tatsächlich, dass ich als Erster über die Mauer stieg? Entsetzt blickte ich erst auf Dima, dann auf Ryan, der ebenfalls etwas betreten dreinschaute.

„Na los, nun komm schon, wir haben nicht alle Zeit der Welt; worauf wartest du noch?“

Am liebsten hätte ich Ryan gefragt, ob er den Vortritt haben wollte, aber das war mir dann doch eine Nummer zu peinlich. Zögerlich ging ich auf Dima zu, stieg auf seine stützende Hand, schwang mich etwas ungelenk auf die Krone der Mauer, rollte mich über sie und sprang auf der anderen Seite wieder herab.

Als Nächster hatte sich Ryan über die Mauer geschwungen. Kritisch schaute er an sich herunter, klopfte mit der flachen Hand Schnee und Dreck von der Kleidung.

„Ne komische Art auf Partys zu gehen haben die hier“, sagte ich zu ihm, aber nur leise, damit die anderen jenseits der Mauer nichts hören konnten.

Er grinste, nickte kurz und schaute dann wieder zur Mauerkrone empor, um zu sehen, wer als Nächster über die Mauer steigen würde. Aber es zeigte sich kein neuer Kopf. „Die diskutieren wohl gerade aus, wer als Nächster dran ist“, kommentierte Ryan mit einem leichten Grinsen die merkwürdige Situation, dann jedoch veränderten sich seine Gesichtszüge mit einem Schlag. Gespannt horchte er in die Stille.

Jetzt fiel es auch mir auf. Die ukrainischen Stimmen auf der anderen Seite der Wand waren verstummt und eine fast gespenstisch anmutende Ruhe lag über der mir immer merkwürdiger vorkommenden Szenerie.

Ryan begriff als Erster, was los war: „Die haben sich mit uns einen üblen Scherz erlaubt, haben uns hier hinter der Mauer abgesetzt und sind selbst auf und davon.“

Ich sah ihn vollkommen entgeistert an.

„Komm, hilf mir mal hoch. Ich will sehen, ob ich sie da drüben noch erkennen kann“, forderte er mich auf und schlug mir dabei mit der Faust leicht gegen die Schulter in der Hoffnung, dass ich dadurch etwas schneller wieder zu mir kommen würde.

Wie Dima es zuvor auf der anderen Seite für mich gemacht hatte, bildete ich jetzt für Ryan eine menschliche Leiter.

„Ich kann sie nicht sehen. Sie sind weg. Shit, diese verdammten Hundesöhne sind wirklich abgehauen“, fluchte Ryan während er auf meiner Hand stand und sich mit den Händen auf der Mauer abstützt.

„Ihr sucht doch hoffentlich nicht etwa uns“, hörte ich Annas lachende Stimme etwas weiter halb links. Sie lachte nicht allein, alle anderen krümmten sich mit ihr vor Lachen.

„Ich bring euch alle um!“, brüllte Ryan gegen das Gelächter an. Er stieg vorsichtig von mir herunter. Die anderen würdigte er keines einzigen Blickes; er schien nur auf Rache zu sinnen.

Ryan hatte mit seiner erbosten Drohung die allgemeine Heiterkeit nur weiter verstärkt. Grollend blickte er kurz zu mir, zischte ein „Na wartet, euch zeig ich's!“ hervor, dass allerdings nur ich allein verstehen konnte, bückte sich, schaufelte mit den Händen schnell etwas Schnee zusammen, formte einen Ball daraus und jagte auf Dima und die anderen zu.

Vor lauter Heiterkeit hatten unsere ukrainischen Freunde zunächst gar nicht registriert, was los war. Erst im letzten Moment, als Ryan ihn fast erreicht hatte und gerade im Begriff war, den Schnellball am Hinterkopf in seinen Kragen zu stopfen, nahm Dima Reißaus.

Ryan verfolgte ihn ein paar Meter, warf ihm schließlich den Schneeball wütend hinterher und kehrte um. „Und was gibt es für euch zu lachen?“ Er hob neuen Schnee vom Boden auf, presste ihn in den Händen zusammen und ging diesmal auf die zurückgebliebenen zu.

Während Anna und Sergej instinktiv einen Schritt zurückwichen, trat Katharina Ryan mutig entgegen. Sie war entweder des Übermuts fette Beute oder schien zu spüren, dass sein Groll im Schwinden war.

„Hey Ryan, es war wirklich ein lustiger Anblick, wie ihr zwei über die Mauer seid.“

Er hatte sie erreicht, stand immer noch mit dem Schneeball in der Hand drohend vor ihr.

„Das sah richtig fesch und sportlich aus. Dafür hast du dir eine Belohnung verdient.“ Katharina zog Ryan, der nicht so ganz wusste, wie er ihre Worte auffassen sollte, an sich heran und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Mitten auf die Lippen und dann auch noch ziemlich leidenschaftlich, wie mir schien.

„So eine hübsche Belohnung kriegt man hier im Osten immer, wenn man über hohe Mauern steigt“, lästerte Dima, der inzwischen wieder herangekommen war, und grinste über das ganze Gesicht.

Als Ryan sich von seiner Überraschung endlich erholt hatte und wieder zu sich kam, riss er sich von Katharina los, stürzte auf Dima und trieb ihn vor sich her.

Die Mädchen folgten ihnen schreiend im Laufschritt; Anna bestimmt um ihrem Dima beizustehen, aber Katharina? Musste sie etwa auch jemanden beschützen? Vielleicht Ryan vor Anna? Irgendwie schien mir der Wahnsinn gerade wieder mal Hochkonjunktur zu haben.

Sergej trat lachend an mich heran. „Sag mal, reagiert Ryan immer so wild und verärgert, wenn er geküsst wird?“

Ich sah ihn etwas schräg von der Seite an. „Bist du sicher, dass er wegen dem Kuss so böse ist?“

Sergej zuckte mit den Schultern. „War sonst noch was?“

„Na klar, es muss der Kuss gewesen sein, der ihn so aufgeregt hat, wegen der Mauer würde Ryan so etwas sicher nie machen,“ bestätigte ich mit gesenktem Blick Sergejs etwas merkwürdige Sichtweise.

Als ich wieder aufblickte und den anderen langsam hinterhergehen wollte, hielt er mich am Arm fest. „Und du? Bist du auch so verärgert wie Ryan?“, fragte er mit einer leichten Spur Besorgnis in der Stimme.

„Wenn du wüsstest, wie elend ich mich eben gefühlt habe“, sagte ich mit einem leicht vorwurfsvollen Klang in der Stimme. Der war durchaus beabsichtigt. Sergej sollte sich ruhig auch ein wenig schuldig fühlen. Ich wusste zwar nicht, wer sich den kleinen Spaß ausgedacht hatte, aber zumindest wegen unterlassener Hilfeleistung mir gegenüber konnte ich Sergej beruhigt für einige Augenblicke auf der Anklagebank Platz nehmen und ein Weilchen dort schmoren lassen; Strafe muss schließlich sein.

„Und du hast nicht einmal einen Kuss als Belohnung für deine Kletterei erhalten“, sagte er mit einer Nachdenklichkeit, die mir reichlich gespielt vorkam.

'Dieser alte Heuchler. Erst fröhlich Schabernack mit uns treiben und dann auch noch einen auf ganz besonders mitleidsvoll und einfühlsam machen; das hat man gern.' Also setzte ich noch einen drauf. „So ist es. Deshalb werde ich jetzt auch den ganzen restlichen Abend verärgert sein und auf Rache sinnen. Ryan hat wenigstens einen Kuss als kleine Wiedergutmachung bekommen, aber ich bin mal wieder völlig leer ausgegangen und das werdet ihr mir büßen.“ Nur mit äußerster Mühe konnte ich den Satz in einem ernsthaften Tonfall zu Ende bringen. Um mich durch das breite Grinsen in meinem Gesicht nicht gleich zu verraten, schaute ich angestrengt zu Boden.

Sergej trat dichter an mich heran. „Ich will aber nicht, dass du ohne Belohnung bleibst und leer ausgehst.“

„Und was willst du machen, die Mädels zurückrufen?“

„Ach was, selbst ist der Mann!“ sprach's, zog mich kurz zu sich heran und drückte mir einen Kuss auf die Lippen.

In der Dunkelheit sah ich Sergejs Augen leuchten. Starr und irgendwie total leblos hingen die Arme an mir herab. Mein Körper hatte die elegante Beweglichkeit eines sibirischen Eisblocks. Die Stimmbänder meldeten Funktionsstörung, die Atmung war auf Notbetrieb geschaltet und die Knie litten unter erheblichen Stabilitätsproblemen. Stumm und immer noch vollkommen verwirrt starrte ich Sergej an.

„Was denn? Küsse ich so schlecht?“ Er lächelte vorsichtig und in seinen Augen lag ein warmer Schimmer.

Meine Stimmbänder meldeten wieder eine begrenzte Einsatzfähigkeit. „Ich weiß nicht“.

„Was weißt du nicht?“

„Ob du gut oder schlecht küssen kannst, das kann ich nicht so richtig beurteilen.“

„Warum nicht? Du hast es doch gespürt.“

„Ja schon, aber ich kann es nicht vergleichen. Ich habe keine Erfahrungen auf dem Gebiet und außerdem war ich gerade nicht richtig bei der Sache,“ versuchte ich eine Erklärung und war mit der wiedergewonnenen Funktionstüchtigkeit meiner Stimmbänder für den Anfang ganz zufrieden.

„So, dir fehlt also der Vergleich und außerdem warst du nicht ganz bei der Sache. Na, wenn's weiter nichts ist“, lachte Sergej, zog mich wieder an sich heran und küsste mich erneut, länger und leidenschaftlicher als zuvor.

„Na, hast du einen Unterschied gemerkt?“ Er grinste vergnügt, aber mir war irgendwie nicht nach Grinsen zumute.

„Warum machst du dich über mich lustig?“, fragte ich enttäuscht.

Sergej hielt einen Moment inne, registrierte, was gerade zwischen uns vorging, dann schüttelte er sanft den Kopf: „Sebastian, ich mache mich wirklich nicht über dich lustig. Ich wollte nur nicht, dass du für dein Klettern ohne Belohnung bleibst. Es sollte ein kleiner Spaß sein - mehr nicht. War wohl ein ziemlich schlechter Scherz, tut mir leid. Verdammt! Das war Mist, es war ein Fehler. Ich wollte dich nicht verletzten, hoffentlich glaubst du mir das.“

Völlig verwirrt und absolut ratlos, was ich ihm antworten sollte, blickte ich zu Boden. Werden hier alle Scherze mit der intensiven Leidenschaft durchgeführt, die ich eben noch auf meinen Lippen zu spüren glaubte?

„Bist du mir jetzt sehr böse?“

Ich blickte auf, sah in Sergejs Augen, die mir jetzt tieftraurig erschienen und all ihr Leuchten vollkommen verloren hatten. Konnte ich einem Menschen mit diesen Augen überhaupt böse sein? Ich spürte seine Angst, einen übergroßen Fehler gemacht zu haben. Ein dunkler Schatten schien sich über uns zu legen, schien das total gute und herzliche Verhältnis, das ich bislang genossen hatte, nachhaltig zu trüben. Ich wusste, ich musste etwas tun, am besten schnell etwas tun, und dann auch noch etwas Verrücktes und völlig Unerwartetes tun; verrückt und unerwartet genug, dass es die angespannte Situation aufbrechen und die Verkrampfung, die uns beide ergriffen hatte, lösen konnte.

Meine Hände griffen nach Sergejs Kragen. Ich zog ihn so dicht es ging an mich heran, störte mich nicht an dem fragenden Blick in seinen Augen, ignorierte das laute ängstliche Hämmern in meinem Innern und küsste ihn.

War es ein langer Kuss? Vielleicht gar ein leidenschaftlicher? Keine Ahnung. Es war anders als die Küsse, die ich von Omas und Tanten kannte, irgendwie besser und viel intensiver. Mehr wusste ich nicht und einen Vergleich zu den Küssen einer schönen jungen Dame hatte ich nicht, weil diese Infektionskrankheit namens 'Liebe' mir bis zum heutigen Tag seltsamerweise noch nicht widerfahren war.

„So jetzt sind wir quitt“, sagte ich triumphierend zu Sergej, der sich immer noch nicht richtig von dem Schrecken erholt hatte. Meine spontane Aktion hatte bei ihm eingeschlagen wie eine Bombe und genau die Wirkung hervorgerufen, die ich mir erhofft hatte.

„Jetzt hast du mich aber auch ganz schön auf dem falschen Fuß erwischt“, sagte Sergej anerkennend, nachdem er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte. „Heißt das, dass du mir nicht mehr böse bist?“, fragte er schüchtern.

„Das heißt es“, sagte ich sanft, ließ mich vom Übermut packen und drückte ihm nochmals wie zur Bestätigung einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.

Langsam löste sich die Anspannung auf Sergejs Gesicht. „Heißt das auch, dass wir weiter Freunde sind und morgen zusammen die Stadt erkunden?“

„Wenn du immer noch willst, heißt es das“, bestätigte ich.

Sergejs Augen leuchteten wieder und in der Dunkelheit glaubte ich, auch einen feuchten Schimmer in ihnen entdeckt zu haben. „Ja, ich will immer noch“, strahlte er über das ganze Gesicht. Er zog mich kurz zu sich heran, drückte mich fest an sich und strich mit seiner rechten Hand sanft durch meine Haare: „Danke, dass du es so locker nimmst. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich durch die blöden Küsse deine Freundschaft verloren hätte.“

„Hast du ja nicht“, entgegnete ich schnell, denn ich wollte nicht, dass er sich grundlos sorgte. „Aber nun lass uns schnell den anderen nachgehen, bevor die Küsserei hier überhandnimmt.“

Lachend legte er mir seinen Arm um die Schulter und schob mich in die Richtung, in der wir die anderen suchen mussten. „Du hast recht, komm lass uns gehen.“

Einträchtig stapften wir durch den frischen Schnee, trafen kurz danach auf die anderen, die sich inzwischen auch wieder beruhigt hatten, gingen mit ihnen weiter und standen bald vor einem unscheinbaren Eingang, der in einen Keller hineinführte.

„Wir sind da, willkommen in Kiryas Reich!“, sagte Dima und öffnete mit einer einladenden Geste die unverschlossene Tür.

Aus dem Keller drang überlaut Musik zu uns hinauf. Ich war gespannt, welche neuen Formen des allgemeinen Wahnsinns mich dort unten erwarten würden. Die bisher erlebten hatten ja schon ein ganz beachtliches Niveau erreicht: Ortsunkundige Fremde werden nichts ahnend über hohe Mauern gejagt und anschließend zur Belohnung leidenschaftlich geküsst; notfalls auch von Männern, wenn gerade keine Frau zur Verfügung steht. Und weil jeder Anflug des Wahnsinns einen noch viel größeren Wahn nach sich zu ziehen schien, küsst am Ende sogar der besonders liebes- und kusserfahrene Sebastian fleißig mit, als wäre es das normalste der Welt.

Wenn der Wahnsinn jetzt schon im nüchternen Zustand so fröhliche Urstände trieb, was war dann erst zu fortgeschrittener Stunde zu erwarten, wenn ein gewisser Sebastian etwas mehr Alkohol im Blut und die ganzen Russen und Ukrainer kaum noch Blut im Alkohol hätten?

Eine ungesunde Mischung aus dunkler Ahnung und blankem Entsetzen legte sich wie ein grausamer Albtraum über mich, während ich hinter Dima und Ryan langsam die Kellertreppe hinunterstieg.

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