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Für eine Nacht

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Sein Kopf liegt auf dem Kissen. Die dunkelblonden Haare sind zerzaust. Seine Augen sind geschlossen, seine Lippen einen Spalt weit geöffnet; ich kann die zwei oberen vorderen Zähne erkennen. Um seinen Mund herum wachsen kleine Härchen. Seine unbehaarte Brust hebt und senkt sich... Seine Arme hat er um seinen Bauch gelegt, knapp über dem Bauchnabel liegt seine rechte auf seiner linken Hand. Knapp unter dem Bauchnabel der Bund seiner Shorts. Blau-Schwarz kariert. Mein Blick verharrt einige Sekunden an dieser Stelle. Dann führt er weiter entlang der unbehaarten Beine. Als ich bei den Füßen ankomme, kann ich es gar nicht glauben, dass ein solcher Körper nur knapp fünfzig Zentimeter von mir entfernt liegt und ich selbst vor gar nicht allzu langer Zeit mit meinen eigenen Händen über seine glatte Haut streichen durfte.

Dennis, ich liebe dich. Ich liebe einfach alles an dir. Ich liebe jede Faser deines Körpers, jeden deiner Gedanken, jedes der Worte, die du sprichst. Am liebsten würde ich dich aufwecken, aber du siehst so süß aus, wie du hier neben mir liegst. So unbeschreiblich niedlich. Daher werde ich es nicht tun.

In meinen Gedanken rede ich mit ihm, doch ich gebe keinen Laut von mir. Ich stehe leise auf, falle fast über unsere Klamotten, die wir in meinem ganzen Zimmer verteilt haben, öffne leise die Tür und gehe hinaus. Die Treppe hinunter, in die Küche. Ich nehme mir eine Flasche Wasser, draußen wird es langsam hell. Ein paar Minuten bleibe ich am Fenster stehen und schaue hinaus auf die Straße. Es ist still dort draußen. Keine Straßenbahn fährt, keine Autos und auch keine Fußgänger sind zu sehen. Dort draußen ist es ein ganz typischer Sonntagmorgen. Aber wenn ich gleich wieder in mein Zimmer gehe, werde ich feststellen, dass er es für mich nicht ist. Mit der Wasserflasche in der Hand verlasse ich die Küche, steige leise die Treppe hinauf, öffne die Tür zu meinem Zimmer, trete leise ein, schließe die Tür, stelle die Wasserflasche neben mein Bett und lege mich wieder neben Dennis. Er liegt noch genauso da wie vorhin. Und sieht noch genauso süß aus. Ich liege auf meinem Rücken, löse meinen Blick von Dennis' Körper und schaue gedankenverloren an die Decke. Dann schließe ich für einen Moment die Augen.

Als ich sie wieder öffne, blicke ich direkt in Dennis' braune Augen. Sein Gesicht strahlt mich an. Er küsst mich. So gefühlvoll, wie ich noch nie geküsst worden bin.

"Guten Morgen", begrüßt er mich, "hast du gut geschlafen?"

"Wie, geschlafen? Ich habe doch die ganze Zeit hier neben dir gelegen und konnte meinen Blick nicht von dir wenden."

"Ja, das habe ich gehört. Schnarchst du etwa, wenn du nicht schläfst?"

"Wie spät ist es denn?"

"Kurz nach zehn."

"Ups, dann muss ich wohl doch kurz weggenickt sein."

"Kurz ist gut, seit zwei Stunden liege ich neben dir und warte, dass du wach wirst."

"Naja okay, dann eben ein bisschen länger. Ich hoffe, du hast es heil überstanden."

"Gerade so", erwidert er mit einem Augenzwinkern.

Dennis boxt mich in die Seite. Aber nur so sachte, dass es eher kitzelt, als dass ich auch nur ansatzweise Schmerz verspüre. Ich fange an zu kichern.

"Hör auf zu kichern, ich hab Hunger."

"Ui, du bist aber sehr direkt heute. Aber gut, stehen wir mal auf und schauen, was sich noch so in der Küche zum Futtern findet."

"Einverstanden."

Schon ist Dennis aufgesprungen und zerrt mich förmlich aus dem Bett. Mehr schlecht als recht stolpere ich direkt hinter ihm die Treppe hinunter. Er zieht mich, ich falle nach vorn und er kann mich gerade noch auffangen, so dass wir nicht die Treppe herunterfallen. Ich bin froh, als wir endlich unten sind. In der Küche koche ich uns Kaffee, Dennis macht Toast und Ei. Während des Frühstücks sagen wir beide kein Wort, sehen uns stumm in die Augen. Habe ich schon erwähnt, wie süß seine braunen Augen sind?

Nach dem Frühstück schlägt er vor, dass wir ein wenig nach draußen gehen. Ich willige ein, und knapp zehn Minuten später stehen wir bekleidet vor der Haustür.

"Wohin wollen wir gehen?", frage ich ihn.

"Ich weiß nicht, irgendwohin, wo es ruhig ist."

"Okay, dann lass uns hinunter an den See gehen, da werden um diese Zeit noch nicht sehr viele Menschen sein."

Er legt seinen Arm um meine Taille, ich tue es ihm nach, und Arm in Arm schlendern wir hinunter an den See. Wir gehen am Ufer entlang, die Luft ist feucht, aber angenehm kühl. Etwa alle zehn Meter bleiben wir stehen, sehen uns in die Augen und küssen uns. So bummeln wir um den See herum. Als wir wieder bei mir zu Hause ankommen, ist es schon nach eins. Wir kochen uns Spaghetti aus der Dose. Nicht sehr lecker, aber romantisch. Zumindest das Essen. Es ist nicht unbedingt das Beste, was ich je gegessen habe, aber im Beisein von Dennis schmecken die Spaghetti hundert Mal besser, als wenn ich sie allein esse.

"Tom, nimm es mir nicht übel, aber ich denke, ich sollte jetzt gehen", kündigt er nach dem Essen an.

"Jetzt schon?", frage ich überrascht und enttäuscht zugleich. "Ich dachte, du bleibst noch ein bisschen hier bei mir."

"Glaub mir, es gibt nichts, was ich lieber täte, aber meine Klausuren schreiben sich nicht von allein."

"Schon klar. Ich werde es verkraften."

"Das ist lieb von dir."

"Aber nur unter einer Bedingung."

"Die da wäre?"

"Du musst mich heute Abend mindestens noch drei Mal anrufen und dir anhören, wie sehr ich dich liebe."

"Mal sehen."

Kurz darauf stehen wir in der Diele, küssen uns ein letztes Mal, bevor er geht. Ich stelle mich in die Tür, sehe ihm hinterher, wie er die Straße entlang zur Straßenbahnhaltestelle geht, dort in die Bahn einsteigt und meinem Blick so entschwindet. Ich sehe der Bahn hinterher, bis sie hinter einer Kurve verschwindet, dann gehe ich wieder ins Haus. Jetzt bin ich wieder allein, noch ein paar Stunden, bis meine Eltern wiederkommen. Gestern um diese Zeit habe ich mich noch gefreut, allein zu sein. Aber jetzt bin ich nicht nur allein, sondern einsam. Dennis fehlt mir. Schon drei Minuten, nachdem er meinem Blick entronnen ist, kommt es mir vor, als hätten wir uns schon eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich gehe hinauf in mein Zimmer, sehe das noch nicht gemachte Bett und denke an die letzte Nacht zurück. Alles war so perfekt, es kommt mir fast vor, als sei alles nur ein Traum gewesen. Denn ich kann nicht glauben, dass Realität so schön sein kann. Hoffentlich ruft er bald an.

Ich stelle mich ans Fenster und schaue hinaus auf den See, um den wir vorhin noch herumgelaufen sind. Jetzt, am frühen Nachmittag, sind mehr Menschen dort unterwegs. Jogger. Radfahrer. Kinder. Senioren. Ich beobachte sie eine zeitlang. Fast alle sehen zufrieden aus an diesem Sonntag. Der eine oder andere Jogger schaut zwar ein bisschen gequält drein, aber das liegt wohl vielmehr am Sport als an seinem Befinden. Es ist ein schönes Bild, das sich meinen Augen dort bietet. Eine kleine heile Welt, alle Menschen verstehen sich. Ich sehe einige Pärchen zwischen den Menschen. Wie gern wäre ich mit Dennis jetzt unter ihnen. Aber ausgerechnet heute muss er lernen. Gut, das müsste ich eigentlich auch, aber ich denke, selbst wenn ich mich vor meine Bücher setzen würde, ich würde doch nichts von dem verstehen, was ich lesen würde. Meine Gedanken wären viel zu schnell wieder woanders. Trotzdem löse ich meinen Blick vom kleinen Paradies und starte meinen Rechner. Ein bisschen Chatten wird mir helfen, die Zeit, bis Dennis anruft, zu überbrücken. Kaum, dass ich online bin, erhalte ich eine Nachricht von Mario, einem meiner besten Freunde.

"Hey, sag mal, wo bist du denn gestern so schnell hin verschwunden?"

"Ich habe einen netten Jungen kennen gelernt. Er heißt Dennis."

"Was? Das musst du mir unbedingt alles erzählen."

"Naja, ich könnte dir jetzt soviel erzählen", ich bin gerade dabei, das "aber" dazuzuschreiben, als das Telefon klingelt.

"Hey, ich bin's." - Es ist Mario.

"Sag mal, kannst du nicht warten, bis ich fertig geschrieben habe?"

"Nein, du schreibst viel zu langsam, weißt du doch. Also sag, was ging mit Dennis?"

"Es war unbeschreiblich schön."

"Er muss dich ja ganz schön beeindruckt haben."

"Mario, mal ganz unter uns: Das hat er definitiv. Ich glaube, das mit Dennis und mir könnte was Festes werden."

"Im Ernst? Bist du dir sicher?"

"Ich denke schon."

"Naja, wenn du meinst." - In seiner Stimme klingt Besorgnis mit.

"Wie, 'wenn du meinst'? Was willst du damit sagen?"

"Ich will nur nicht, dass du es überstürzt."

"Keine Angst, das tue ich schon nicht. Ich warte jetzt auf seinen Anruf."

"Hast du heute Abend Zeit, oder triffst du dich mit ihm?"

"Ich glaube schon, dass ich Zeit habe, Dennis muss ja lernen."

"Lernen, soso. Klingt ja fast so, als ob ich jetzt jede Sekunde, die ich mit dir verbringe will, vorher anmelden muss."

"Hehe, so schlimm ist es nicht. Also ich komme nachher bei dir vorbei, dann können wir ja noch einen Film schauen."

"Okay, ich werde dich erwarten. Und grüß den Dennis von mir, wenn ihr miteinander telefoniert."

"Ja ja, bis nachher dann."

Nachdem das Telefonat beendet ist, fällt mein Blick auf die Uhr in der Taskleiste. Dennis ist jetzt schon dreieinhalb Stunden weg. Und hat sich noch nicht gemeldet. Vielleicht hat er genau eben angerufen und es war besetzt? Dann wird er sicherlich gleich noch mal anrufen. Während ich darüber nachdenke, überfliege ich meine Mails. Es ist still um mich herum. Ungewohnt still. Normalerweise höre ich Radio, wenn ich am Rechner sitze. Aber jetzt nicht. Vielleicht überhöre ich sonst das Klingeln des Telefons? Nachdem ich ein paar Mails beantwortet habe, fällt mein Blick wieder auf die Uhr. Er ist jetzt schon fünf Stunden weg. Und hat sich noch nicht gemeldet. Ich vermisse ihn so sehr. Er soll doch endlich anrufen. Zu blöd, dass ich seine Nummer nicht habe. Sonst könnte ich ihn anrufen.

Ich fahre den Rechner wieder herunter, als ein Schlüssel die Haustür aufschließt. Meine Eltern kommen aus ihrem Wochenendurlaub zurück. Ich gehe kurz hinunter zu ihnen, frage sie, wie ihr Wochenende war und gehe dann mit einer Flasche Wasser in der Hand wieder die Treppe hinauf. Fast wie letzte Nacht, nur, dass ich mehr Klamotten anhabe. Ich sehe auf die Uhr, es ist schon sieben. Dennis hat sich noch nicht gemeldet. Ich müsste langsam los zu Mario. Aber ich werde noch fünf Minuten warten. Fünf Minuten. Ich setze mich auf mein Bett, das Handy in der Hand. Ich sehe es an und ich flehe es an, es möge endlich klingeln. Aber den Gefallen tut es mir auch in den folgenden zwanzig Minuten nicht.

Langsam gehe ich die Treppe hinunter, sage meinen Eltern, dass ich zu Mario gehe, und mache mich auf den Weg zur Haltestelle. Für gewöhnlich mache ich das mit Kopfhörern im Ohr. Aber nicht heute. Langsam mache ich mir Sorgen. Warum ruft Dennis nicht an? Wieso meldet er sich nicht? Ist ihm etwas passiert? Nein, das kann nicht sein. Die ganze Fahrt mache ich mir Gedanken darüber. Als ich bei Mario ankomme, ist es kurz nach acht. Mario öffnet die Tür in T-Shirt und Boxershorts. Ich mag es, wie unverkrampft er als Freund mit meiner Homosexualität umgeht.

"Da bist du ja endlich. Komm rein, aber zieh ja vorher die Schuhe aus!"

"Sorry, ging nicht früher." Wir gehen in sein Zimmer.

"Hast du so lange mit deinem Traumprinzen geschwatzt?"

"Um ehrlich zu sein, wir haben noch gar nicht wieder miteinander geredet, seit er vorhin gegangen ist. Dabei hat er versprochen, dass er anruft."

"Und du meinst, er macht das noch?"

"Was ist denn das für eine Frage? Natürlich ruft er noch an. Nach der letzten Nacht kann er sich nicht einfach nicht mehr melden. Dazu war es zu schön."

"Vielleicht will er diese Einmaligkeit bewahren."

"Sag mal Mario, was soll das? Wieso bist du so pessimistisch?"

"Weil... ja, weil ich es einfach nicht mehr hören kann. Alle zwei Wochen wartest du darauf, dass sich ein Typ, mit dem du am ersten Tag direkt in die Kiste steigst, wieder bei dir meldet. Aber sei doch mal ehrlich. Wie viele haben sich je wieder gemeldet?"

Marios Augen blicken direkt in meine. Ich schweige. Was er da gerade gesagt hat, schockiert mich.

"Warum sagst du so was?"

"Ich will einfach nicht, dass du dir wieder zu viele falsche Hoffnungen machst. Zu oft habe ich dich schon mit gebrochenem Herzen gesehen. Und ...", er macht eine Pause.

"Und was?"

"... ich möchte es nicht mehr sehen, wie du andauernd mit gebrochenem Herzen herumrennst, nachdem dich andere so fies ausgenutzt haben."

"Das ist doch Schwachsinn. Wenn er wirklich nur auf Sex aus gewesen ist, warum ist er dann nicht direkt heute Morgen nach dem Aufstehen gegangen?"

"Genau aus dem Grund, aus dem die anderen auch nie gegangen sind. Weil sie zu feige waren, dir, der du glaubst, frisch verliebt in sie zu sein, zu sagen, dass sie nicht mehr von dir wollen als das, was sie schon von dir bekommen haben."

"Nein, das kann nicht sein. Dennis ist nicht so. Du hast ihn heute morgen nicht erlebt-", ich gerate ins Stocken vor Erregung, "du hast nicht gesehen, wie verliebt er mich angesehen hat."

"Tom, bitte hör auf damit und sei realistisch. Zieh dich nicht wieder selbst runter."

Was soll ich dazu noch sagen?

"Es tut mir weh, wenn ich dich jedes Mal versuche, dich zu trösten. Es tut mir im Herzen weh, wenn ich dich alle zwei Wochen so auf einen Anruf warten sehe. Du verkaufst dich damit weit unter Wert, indem du auf diese Anrufe wartest."

Mario wird still. Noch immer sieht er mir direkt in die Augen. Sein Blick sagt mir, dass er von dem überzeugt ist, was er mir gerade gesagt hat. Und das lässt mich daran zweifeln, ob Dennis sich wirklich noch mal meldet. Denn Mario hat Recht. Jedenfalls immer, wenn er von etwas so überzeugt ist wie jetzt. Mir wird klar, wie glücklich ich sein kann, einen solchen Freund zu haben.

"Du hast ja Recht", gestehe ich ihm gegenüber ein, "ich lasse mich oft zu sehr von meinen Gefühlen leiten. Zu oft. Aber was soll ich denn machen? Ich kann doch meine Gefühle nicht einfach abstellen."

"Vielleicht solltest du dir einfach mal nicht in irgendwelchen Clubs einen Freund suchen."

"Hmm, vielleicht hast du Recht."

"Vergiss ihn einfach und lass uns jetzt nicht mehr davon reden. Ich hab hier eine neue DVD."

Wir verbringen den Abend mit dem neuen Film, gegen halb zwölf verabschiede ich mich von Mario und mache mich auf den Heimweg. Aber der Film hat mich Dennis nicht vergessen lassen, auch, wenn ich es möchte. Zu viele schöne Erinnerungen. Jetzt, da ich allein in der Straßenbahn sitze, erinnere ich mich wieder an die letzte Nacht. Ich denke an ihn, daran wie schön er ist, daran wie er neben mir gelegen hat. Und ich sehe ein, dass es unmöglich ist, diesen göttlichen Anblick einfach so zu vergessen.

Als ich an meiner Haltestelle aussteige, ist es kurz vor zwölf. Morgen früh muss ich um acht wieder an der Uni sein, eigentlich sollte ich bald schlafen gehen. Doch ich gehe hinunter an den See. Gehe den Weg entlang, den ich vor gut zwölf Stunden gemeinsam mit Dennis entlang geschlendert bin. Der Weg wird durch die Laternen erleuchtet, die sich auch im Wasser widerspiegeln. Vereinzelt erhellen Glühwürmchen die Nacht. Stille umgibt mich. Gegen zwei mache ich mich auf den Weg nach Hause. Und ich weiß: er wird sich nicht mehr melden. Wie all die anderen auch. Und ich weiß: ich muss ihn vergessen. Wie all die anderen auch.

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