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My Eyes Have Seen You

Teil 2 - Annäherungen

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Annäherungen

Der große Klubraum war nur spärlich beleuchtet. Vorn, in der Nähe des schmalen Tresens, standen einige Tische und Stühle, die zumeist bereits in Beschlag genommen waren. Der hintere Teil des Raumes war leergeräumt und zur Tanzfläche umfunktioniert, auf der einige Studenten unkoordiniert herumzappelten. Die technische Anlage des Diskjockeys mit den Plattenspielern befand sich links davon. Zigarettenqualm stand in der Luft und laute Musik dröhnte aus den Boxen. T Rex, Deep Purple, die Stones

Pete wurde wieder bewusst, warum er derartige Veranstaltungen verabscheute. Es war offensichtlich, dass er nahezu alle Blicke auf sich zog, als er in der Tür erschien, und bei der Fülle im Raum durften es um die achtzig Augenpaare sein, die ihn wahlweise verwundert, neugierig oder ablehnend musterten. Er setzte einen finsteren Blick auf und bahnte sich entschlossen seinen Weg zum Tresen. Immerhin schien Paul sich ehrlich zu freuen, ihn zu sehen, während Lea, die auf einem der raren Barhocker Platz gefunden hatte, ihn ignorierte.

„Was willst du trinken?“

„Guinness, wenn ihr welches habt.“

„Was denkst du denn?“ Paul grinste, griff nach einem hohen Glas und ließ den Zapfhahn sprudeln. „Auf dein Wohl.“

„Danke.“ Pete nippte an dem Bier, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen und sah sich unauffällig um. Offenbar hatten sich die meisten wieder beruhigt. Nur aus der Ecke, wo Clyde Jefferson mit seinen Kumpanen saß, trafen ihn von Zeit zu Zeit böse Blicke. Eine Saalschlacht würden diese Pappnasen aber wohl nicht riskieren. Jemand trat neben ihn an den Tresen, und er erkannte Jake McHarrington, der ihm, ein halbvolles Bierglas in der Hand, freundlich zuprostete.

„Ich hätte nie gedacht, dich mal auf einer dieser Parties hier anzutreffen.“ Der Erstsemester lehnte sich neben ihm an den Tresen und grinste ihn an.

Pete ließ seine Blicke weiter durch den Raum schweifen. „Ich wurde genötigt“, erklärte er knapp, was Paul in seinem Rücken geflissentlich überhörte. „Außerdem könnte ich das gleiche genauso von dir behaupten.“

McHarrington nippte an seinem Glas. „Ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit, ein paar neue Leute kennenzulernen. Außerdem ist es spannend zu beobachten, wie sich Kommilitonen, die man sonst nur aus Seminaren oder vom Wohnheimflur her kennt, benehmen, wenn sie sich ungezwungen geben können.“

„So.“ Pete leerte ein wenig gelangweilt sein Glas.

„Ja, pass auf“, ereiferte sich McHarrington. „Nimm dir zum Beispiel Frederic Counterville.“ Er wies mit dem Kopf zur Tanzfläche. „Hättest du jemals gedacht, dass er tanzen kann?“

Pete sah gehorsam in die angegebene Richtung und musste tatsächlich feststellen, dass der als phlegmatisch verschrieene Counterville, den im Unialltag der Beiname ‚Die Schnecke‘ zierte, sich ausgesprochen ausgelassen bewegte und dabei sogar den Takt hielt.

„Oder sieh dir Ernest Bowl an - hättest du ihm so eine Freundin zugetraut?“

Eher hätte Pete ihm zugetraut, mit seinem Rugbyball ins Bett zu gehen: Neben dem sehnigen, immer etwas griesgrämig wirkenden Verteidiger der hochschuleigenen Mannschaft saß eine junge schwarzhaarige Frau, die an diesem Abend bereits viele bewundernde Blicke auf sich gezogen hatte.

Pete wandte sich wieder zum Tresen um und orderte ein zweites Bier. Pauls ungewohnt verschlossener Gesichtsausdruck entging ihm dabei nicht. „Ist irgendwas?“

„Nein.“ Paul füllte sich ebenfalls ein Glas und hob es ein wenig in die Höhe, um ihm zuzuprosten. „Alles bestens.“

Pete zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder McHarrington zu, der inzwischen einen Barhocker ergattert hatte und nun von seiner bequemen Warte aus, den Rücken gegen den Tresen gelehnt, das Geschehen im Klubraum verfolgte. „Sonst noch was?“

McHarrington grinste. „Allerdings. Petersen versucht schon die ganze Zeit, die Blondine da drüben anzugraben. Was er aber offenbar nicht weiß, ist, dass sie die Freundin von Pellham ist. Er sollte sich vorsehen.“

„Das sollte er wirklich“, gab Pete ihm Recht. Pellham war als eifersüchtiger Jähzorn bekannt. Selbst die Professoren, sagte man, waren froh, ihn bis zum Examen nur noch ein halbes Jahr ertragen zu müssen. „Du kennst dich schon verdammt gut aus in diesem Schlangennest“, stellte Pete etwas erstaunt fest und musterte McHarrington von der Seite. „Dabei bist du erst seit ein paar Monaten am Institut.“

„Das reicht doch vollauf.“ McHarrington grinste verlegen. „Gute Beobachtungsgabe und ein bisschen Kombinationsfähigkeit, mehr braucht man doch nicht. Ich hab mir einfach die Zeit genommen, mich gründlich umzusehen und umzuhören.“

„So.“ Pete griff nach seinem Bierglas. „Und mich hast du aus deinen Beobachtungen wohl nicht ausgenommen?“

„Nein.“ McHarringtons Augen streiften die Leute auf der Tanzfläche. „Du warst sozusagen der Präzedenzfall.“

„Wieso denn das?“

„Weil du ganz anders wirkst, als du bist, und dich auch ganz anders gibst, als du wirklich bist.“ McHarrington, der Petes leicht irritierten Blick bemerkte, suchte nach erklärenden Worten. „Zum Beispiel bei der Sache mit den Typen, die mir ans Leder wollten… Ich hätte dir nie zugetraut, dass du es mit denen aufnimmst und sie auch noch in ihre Schranken weist. Sie anscheinend auch nicht. Du wirkst nicht wie ein Schläger. Ich hätte dir allerdings auch nie zugetraut, dass du dich überhaupt für jemand anderen einsetzt, so abweisend, wie du dich gibst. Solche Sachen eben. Das hat mich neugierig gemacht.“ Er grinste wieder verlegen und trank einen Schluck von seinem Bier. „Weißt du, du bist wirklich interessant.“

Pete stutzte. Der Typ flirtete doch nicht etwa mit ihm? Er warf ihm einen forschenden Blick zu. „Ich – interessant?“

„Hm.“

Wie interessant?“

„Sehr.“ Das war deutlich. McHarrington lief rot an und stürzte sein restliches Bier in einem Zug hinunter. Dann stellte er sein Glas ab und bahnte sich hastig seinen Weg zur Tür.

Pete brauchte einen Moment, um seinen Kopf klarzubekommen. Dann folgte er ihm. „McHa… Jake!“ Er erreichte McHarrington auf der Treppe. „Warte.“ Hinter ihnen lag der menschenleere Flur des Kellergeschosses. Von weit hinten drangen laute Musik und Stimmengewirr aus dem Klub zu ihnen herüber. „Was soll das, wieso rennst du einfach weg?“

McHarrington hielten sich am Treppengeländer fest und wich seinem Blick aus. „Weil ich nicht wusste, wie du reagierst.“

„Ach, und das bekommst du raus, indem du wegläufst?“ Pete griff sich bezeichnend an den Kopf.

„Immerhin bist du mir gefolgt.“

„Na, und weiter?“ wollte Pete leicht gereizt wissen. „Was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen?“

McHarrington blickte auf und sah ihn eine Weile lang schweigend an. „Alles?“ gab er dann zurück.

Pete spürte, wie bestimmte Regionen seines Körpers auf dieses Wort reagierten, und verfluchte ein weiteres Mal seine Triebe. Andererseits verstand er seinen Körper ziemlich gut: Da stand dieser gar nicht mal unschöne junge Mensch und bot ihm an… Erst mit einigen Sekunden Zeitverzögerung bekam er mit, dass sich McHarringtons Lippen auf den seinen befanden und Jakes Zunge sehr heftig mit der seinen beschäftigt war. Er zog den Kommilitonen noch näher zu sich heran und ließ seine Hände über dessen Körper wandern. Einige Minuten lang war er wirklich in Versuchung, während McHarrington ihn mit dem Rücken gegen die Wand drückte und seine Hände nun ebenfalls überall hatte. Pete seufzte leise. Wenn er doch nur immer so wollte, wie er könnte… Dann machte er sich entschlossen von Jake los.

McHarrington sah ihn verwirrt an. „Was ist los? Hab ich etwas falsch gemacht?“

Pete schüttelte den Kopf. „Du machst dich an den Falschen ran“, erklärte er nüchtern. „Ich kann das nicht. Oder - nein, ich will das nicht.“

McHarringtons Gesicht war ein einziges Fragezeichen. „Ist es wegen Paul?“ wollte er resigniert wissen. „Schon klar, an den reiche ich natürlich nicht ran.“

„Nein, das ist es nicht.“ Pete sah ihn an. „Ich habe ein paar Grundsätze, ob du es glaubst oder nicht…“ Er hob bedauernd die Schultern. „Wenn ich dich richtig verstanden habe, machst du dir was aus mir?“

„Ich… Ja.“ McHarrington senkte die Augen. „Eine ganze Menge, um ehrlich zu sein. Ich hab mich verliebt, ein bisschen…“

„Siehst du.“ Paul seufzte. „Ich mich aber nicht. Und einer meiner Grundsätze lautet, nicht mit jemandem in die Kiste zu steigen, bei dem Gefühle im Spiel sein könnten, wenn ich nicht genauso empfinde. Ich möchte dich einfach nicht verletzten.“ Es war wirklich nicht leicht, zu widerstehen.

McHarrington sah auf, forschend. Langsam schüttelte er den Kopf und begann zaghaft zu lächeln. „Du meine Güte, das ist wirklich unglaublich. Ich hätte nie gedacht, ausgerechnet von dir so einen Satz zu hören.“ Er fuhr sich abwesend mit der Hand durch die Haare, dann sah er Pete wieder ins Gesicht. „Du bist in meinem Ansehen schon wieder ein ganzes Stück gestiegen. Trotzdem… Schade.“ Er vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans. „Also dann, mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns ja morgen.“

„Kommst du nicht mit zurück?“

McHarrington schüttelte entschieden den Kopf. „Ich muss erst einmal wieder klarkommen. Außerdem würde der Abend für mich wohl nicht wirklich erfreulich weitergehen.“ Er grinste schwach. „Paul wird sich nicht lumpen lassen.“

„Der gerade!“ fuhr Pete auf. „Das sollte er tunlichst bleiben lassen, wenn er nicht obdachlos werden will.“

McHarrington winkte ab und wandte sich zum Gehen.

Pete sah ihm nach. Dann kehrte er zurück in den Studentenklub. Als er sich wieder am Tresen niederließ, bemerkte er, dass Paul ihn unverwandt ansah. „Ist was?“ wollte er wissen.

Paul funkelte ihn an. „Spaß gehabt?“ fragte er bissig zurück.

Pete verdrehte die Augen. „Du lieber Himmel, was soll das denn jetzt?“

„Ich hab nur eine Frage gestellt.“ Paul nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas. „Ist das verboten?“

„Du unterstellst mir was, das kann ich nicht ausstehen.“ Pete beugte sich über die Tresenplatte und funkelte zurück. „Und selbst wenn da was gelaufen sein sollte, dich geht das überhaupt nichts an.“ Das war ja wohl das letzte, dass er sich von diesem Arschloch Vorhaltungen machen lassen sollte. „Ich hätte gern noch ein Bier.“

Paul knallte ein volles Bierglas auf den Tresen. „Wohl bekomm’s“, knurrte er.

Lea kam herangewirbelt. Verschwitzte Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. „Komm, lass uns tanzen“, flötete sie Paul zu. Pete war noch immer Luft für sie.

„Ich kann nicht, siehst du doch.“ Paul wies unwillig auf den Bierhahn. „Ich hab Tresendienst.“

Lea biss sich auf die Unterlippe und runzelte die Stirn. „Kann der das nicht mal übernehmen?“ Sie wies mit dem Kopf in Petes Richtung. „Der hockt doch eh die ganze Zeit nur hier herum.“ Hatte sie ihn also doch bemerkt.

Paul warf ihm einen fragenden Blick zu. „Würdest du einspringen?“

Eigentlich hätte er rundweg ablehnen müssen, doch Leas herablassende Behandlung verlangte nach ein wenig Rache. „Dir zuliebe immer“, gab er daher betont liebenswürdig zurück. Der giftige Blick, den ihm Lea sandte, und Pauls überraschter Gesichtsausdruck entschädigten ihn wenigstens vorübergehend, und er machte es sich hinter dem Tresen bequem, während Lea Paul zur Tanzfläche zerrte.

Pete nippte an seinem Bier und betrachtete Paul, der vor dem Tresen auf einem Barhocker saß und bereits an seinem vierten Scotch nuckelte. Es ging langsam auf halb drei zu, und Lea hatte es aufgegeben, Paul weiterhin zum Tanzen zu animieren. Dafür tanzte sie gerade überaus aufreizend mit einem langen Schlacks von den Romanisten.

Paul hatte kein Auge für sie. Er starrte ein wenig abwesend auf die Tischplatte. Oder in sein Glas. Das war nicht so ganz genau auszumachen. Irgendwann riss er sich los und sah auf. Seine bereits etwas glasigen Augen trafen Petes forschenden Blick, und er musste zaghaft grinsen. „Ich glaube, ich bin total besoffen“, murmelte er.

Pete wollte das leere Whiskyglas abräumen, doch Paul hinderte ihn daran, indem er nach seiner Hand griff. Pete zögerte kurz, dann ließ er ihn gewähren.

Paul befühlte neugierig die Handfläche, strich über den Handrücken und spielte gedankenversunken mit den Fingern. Pete hielt still, während er nachdenklich zusah.

„Du hast schöne Hände“, gab Paul von sich und blickte zu ihm auf.

„So.“ Vorsichtig entzog Pete ihm seine Hand, räumte das Glas ab und griff nach seinem Bier. Der gab scheinbar wirklich nie auf. Das war doch ganz eindeutig schon wieder Anmache. Wenn Paul nicht so unzurechnungsfähig betrunken gewesen wäre, hätte er jetzt Regel Nummer zwei verletzt gesehen. Unter den gegebenen Umständen aber musste er sich wohl damit abfinden, dass Paul dort saß und ihn nicht aus den Augen ließ.

Zu seinem Glück war um drei endlich Schluss. Die laute Musik verebbte, die Studenten zerstreuten sich, und auch Pete konnte schließlich den eigentlich nur vertretungsweise eingenommenen Platz hinter dem Tresen verlassen. „Komm schon“, wandte er sich an Paul. „Ich bring dich ins Bett.“

Paul murmelte nur etwas unverständliches und erhob sich schwankend. Pete blieb nichts anderes übrig, als sich Pauls Arm um die Schulter zu legen und ihn zu stützen.

Auf dem Weg über die Flure und Treppen kam wieder etwas Leben in Paul, und als Pete seine Zimmertür hinter sich schloss, zog Paul ihn unvermittelt an sich und versuchte , ihn zu küssen.

Pete stieß ihn zurück. „Soll ich dich rausschmeißen?“ drohte er.

„Ich meine das ernst!“ Pauls Augen glänzten, und er stützte sich mit der linken Hand am Schrank ab.

Pete warf ihm einen gereizten Blick zu. „Du bist besoffen, also lass es. Ich will nichts davon hören, ist das klar?“

„Ach?!“ Paul wurde ungehalten. Der hohe Alkoholspiegel in seinem Blut gab ihm Auftrieb. „Bei diesem mickrigen Schleimscheißer McHarrington warst du nicht so zurückhaltend!“

„Verdammt noch mal, was soll das?!“ fauchte Pete ihn an. „Das ist doch wohl meine Sache!“ Diese alberne Eifersuchtsszene wurde ihm wirklich zu blöd. „Ich geh jetzt duschen“, erklärte er wütend. „Wenn du dich wieder eingekriegt hast, bis ich zurück bin, sehen wir weiter!“ Er griff sich sein Handtuch und den Pyjama, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Paul blieb empört zurück.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Petes Wut verflogen war. Der Wasserverbrauch des Studentenwohnheims stieg und stieg, während er sich in Verwünschungen und Grübeleien über Paul erging.

Als er in sein Zimmer zurückkehrte, fand er den Delinquenten schlafend im Sessel sitzend vor. „Du wirst dir ein paar heftige Verspannungen einfangen“, knurrte er und rüttelte Paul an der Schulter. „Komm schon, wach auf.“

„Was ist denn…?“ brummte Paul und blinzelte benommen. „Kann ich bei dir im Bett schlafen?“ murmelte er, während ihm die Augen schon wieder zufielen.

Pete zog die Augenbrauen zusammen. Einerseits konnte er Paul in diesem Zustand schlecht in den Schlafsack und unter den Tisch stopfen, andererseits könnte Paul aber auf falsche Gedanken kommen, wenn er seiner Bitte wirklich nachkam. Pete warf einen entnervten Blick auf den jungen Mann, der schon wieder halb schlief, und verfluchte ein weiteres Mal sein Gewissen. „Also gut.“

Paul entledigte sich schwerfällig seiner Hose und des Pullovers, bevor er sich neben Pete auf das Bett fallen ließ.

Pete knurrte etwas unverständliches und drehte sich zur Wand. Gerade wollte er die Augen schließen, als sich Paul plötzlich unverhofft an ihn schmiegte. „Was zum …?!“

„Ich liebe dich“, raunte Paul und vergrub sein Gesicht an Petes Schulter.

Pete stieß ihn zur Seite. „Lass mich in Ruhe“, drohte er leise. „Du weißt doch gar nicht, was du redest.“

Paul rückte trotzdem wieder näher. „Pete…“

„Kein Wort mehr!“ knurrte Pete wütend und rückte so weit wie möglich an die Wand. „Schlaf!“

Paul erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Einige Minuten lang blieb er mit geschlossenen Augen liegen, dann versuchte er vorsichtig die Lider zu öffnen. Die Helligkeit des Zimmers biss ihm ins Gehirn, und er hatte das Gefühl, als schlüge jemand glühende Nägel durch seine Schädeldecke. Trotzdem blinzelte er tapfer. Bis auf ihn selbst war der Raum leer, das erkannte er schnell. Mühsam versuchte er, sich an die Ereignisse des vergangenen Abends zu erinnern, doch eine riesige Lücke klaffte in seiner Erinnerung.

Vorsichtig setzte er sich auf und unterdrückte energisch die aufkommende Übelkeit. Nie wieder so viel Alkohol an einem Abend, schwor er sich und schleppte sich zittrig zum Wasserhahn, um seinen brennenden Durst zu stillen. Dann setzte er Wasser auf.

Wenige Minuten später lag er wieder im Bett, in Griffweite eine Tasse Kaffee und eine weitere mit Pfefferminztee. Er hatte sich beim besten Willen nicht entscheiden können, was ihm in seiner derzeitigen Verfassung besser bekäme, und so nippte er abwechselnd an beiden. Die Übelkeit ließ tatsächlich nach, und auch sein Kreislauf kam langsam wieder in Schwung.

Die Zimmertür öffnete sich, und Pete trat ein.

Paul lächelte schwach. „Morgen.“ Petes finsterer Gesichtsausdruck hielt ihn im Zaum. Da er nicht wusste, wie der Abend zuende gegangen war, konnte es durchaus möglich sein, dass Pete aus irgendeinem Grund wütend auf ihn war.

Pete sah ihn an. „Wie geht’s dir?“ wollte er wissen.

„Ziemlich mies“, gab Paul zu. „Aber langsam wieder besser. Ich hab mir Tee gemacht. Nur die Kopfschmerzen sind noch da. Und ein ziemlicher Blackout, was gestern betrifft.“ Er blickte vorsichtig zu Pete hinüber, der sich in den Sessel hatte fallen lassen. „Hab ich… irgendwas gemacht, was mir leid tun sollte? Bist du sauer auf mich?“

Pete gab den Blick zurück. „Du erinnerst dich an nichts?“

„Na ja…“ Paul runzelte die Stirn und grub angestrengt in seiner löchrigen Erinnerung. „Nicht wirklich. Ich weiß noch, dass mich Lea genervt hat und immer tanzen wollte. Und dass ich ziemlich viel getrunken habe, ist mir auch noch bewusst… Bin ich im Klub eingeschlafen?“

„Beinahe. Ich hab dich dann hergebracht.“

„Und…“ Paul zögerte. „hab ich wieder versucht, dich anzumachen?“

„Ja.“

„Oh.“ Paul sah ihn bestürzt an. „Heißt das, du schmeißt mich jetzt raus? Ich meine… Ich kann mich nicht mehr erinnern und… Ich war wohl ziemlich betrunken.“

„Ziemlich.“ Pete maß ihn mit einem finsteren Blick.

Paul senkte die Augen. „Scheiße.“

„Aber ich schmeiß dich nicht raus.“

Paul sah verständnislos auf.

„Es wäre unfair von mir. Du warst besoffen und hast nicht mehr gewusst, was du da von dir gibst.“

„Mann…“ Paul schnaufte. „Und ich dachte schon, ich muss im Park schlafen.“ Er war sichtlich erleichtert. Dann runzelte er nachdenklich die Stirn. Einzelne Ereignisse des vergangenen Abends schwirrten ihm durch den Kopf. „Ich hab mich wirklich ziemlich daneben benommen, oder?“

„Da kann ich dir nicht widersprechen.“ Pete lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Paul angelte nach seiner Kaffeetasse. „Tut mir leid, entschuldige.“

Pete sah ihn überrascht an. Das waren wirklich sehr ungewohnte Töne. War das wirklich der selbstverliebte Paul, der dort vor ihm auf dem Bett saß, oder war das jemand, der nur durch Zufall haargenauso aussah?

Paul hob den Blick und versuchte zu grinsen. „Macht es dir etwas aus, wenn ich mich noch mal für ein paar Stunden aufs Ohr haue? Ich glaube, das ist so ziemlich das einzige, für das ich gerade zu gebrauchen bin.“

„Nur zu.“ Pete erhob sich. „Ich hab sowieso noch was in der Bibliothek zu erledigen, dann hast du sogar Ruhe. Und ich glaube, das kannst du ganz gut gebrauchen, du siehst noch ziemlich scheiße aus.“

„Danke für die Blumen“, murmelte Paul ein wenig gekränkt. „Sowas muss ich mir sagen lassen.“

Pete blieb in der Tür stehen und wandte sich noch einmal um. „Na schön, ich nehme das zurück“, erklärte er einlenkend. „Sagen wir - mitgenommen. Also, schlaf.“

Auf dem Weg zur Bibliothek lief er McHarrington in die Arme. Er hatte nur, vor dem eisigen Wind Schutz suchend, die Kurve um eine Hausecke zu eng genommen und war beinahe mit dem jungen Kommilitonen zusammengestoßen.

„Na, du schmeißt dich ja ran.“ McHarrington grinste. „Brennt es irgendwo?“

„Quatsch“, knurrte Pete ungehalten. Ihm war kalt, und er hatte nicht die geringste Lust, sich durch so dämliche Fragen von der gut geheizten Bibliothek fernhalten zu lassen. „Ich will in die Bücherei.“

McHarrington verzog das Gesicht. „Lieber Himmel, es ist Sonnabend! Kannst du auch einmal nicht an die Uni denken?“

Pete funkelte ihn an. Offensichtlich war das Selbstbewusstsein dieses Hänflings innerhalb der letzten zwei Tage erheblich gewachsen. „Was geht es dich an, was ich mache?“ knurrte er drohend.

McHarrington stutzte. Ihm war wohl bewusst geworden, dass er sich zu weit vorgewagt hatte. „Ich dachte ja nur“, beeilte er sich zu erklären, „dass es bei so einem Wetter viel angenehmer ist, sich in ein Café zu verziehen und heißen Tee und Grog zu trinken, statt die Zeit in der Bibliothek totzuschlagen.“ Er blickte Pete fragend an. „Hast du Lust mitzukommen? Ich lade dich ein.“

Pete zog finster die Augenbrauen zusammen. „Wieso versuchen eigentlich plötzlich alle, sich an mich ranzuschmeißen?“

„Wieso alle?“ fragte McHarrington unschuldig zurück. „Außer mir dürfte da nur noch Paul sein, oder?“

„Das ist ja wohl mehr als genug“, knurrte Pete.

McHarrington grinste schon wieder. „Übertreibst du nicht ein bisschen? Außerdem will ich dich gar nicht anbaggern, sondern dich nur überreden, mit ins Café zu kommen. Allein ist es langweilig. Purer Eigennutz, gut, aber keine Anmache.“ Er blickte Pete ernst an. „Du hast mir gestern ziemlich deutlich klargemacht, dass du nichts von mir willst. Das hab ich akzeptiert. Ich möchte wirklich nur einen heißen Tee trinken gehen. Also, kommst du mit?“

Pete zögerte. Warum eigentlich nicht? Die Bücher rannten ihm nicht weg, er konnte schließlich noch die ganze nächste Woche an seiner Arbeit sitzen. „Also gut, meinetwegen“, gab er nach und schloss sich McHarrington an.

Wenige Querstraßen weiter betraten sie ein kleines, gemütliches Café und ließen sich an einem freien Tisch nieder. McHarrington schien hier öfter zu verkehren, denn die Bedienung grüßte ihn freundlich, als sie ihre Bestellungen entgegennahm. Auch brachte sie zusammen mit den Getränken unaufgefordert einen Teller mit Gebäck an ihren Tisch.

„Sag mal…“ Pete zögerte und blickte McHarrington an, der ihm gegenüber saß und mit beiden Händen sein Grogglas umfasst hielt. „Du hast ja gestern erklärt, wie du Beobachtungen auf dem Campus anstellst und dir dabei so deine Gedanken machst.“

McHarrington nickte. „Ich bemühe mich.“

„Ich habe mich gefragt… Was denkst du über Paul?“

„Über Paul?“ Er schien nicht wirklich überrascht. „Hm. Ich halte ihn für sehr intelligent. Die meisten Profs würden mir jetzt wahrscheinlich vehement widersprechen, aber ich denke, seine mittelmäßigen Leistungen und all das gehören zu seiner Imagepflege. Das tut er bewusst, so wie ich annehme, dass er alles bewusst tut. Er ist ein guter Schauspieler, der seine Rolle und ihre Bedeutung genau kennt. Er spielt den Leuten hier eine ganze Menge vor. Und er spielt mit den Leuten selbst. Er kann es sich leisten, er hat schließlich seinen Ruf, und - er sieht verdammt gut aus.“ McHarrington grinste, als er Petes unwilligen Blick auffing. „Doch, auf jeden Fall. Und er weiß das. Er schlägt Kapital daraus, und sein Image profitiert davon, dass ihm die Frauen hinterherschmachten. Ich halte ihn jedoch für oberflächlich, was Beziehungen zu anderen Menschen angeht. Allerdings kann auch das zu seiner Maske gehören. Was noch? Ach ja, mir ist aufgefallen, dass sich sein Verhalten in deiner Gegenwart geändert hat. Ich meine, dir gegenüber. Da fällt er seit einiger Zeit doch ziemlich aus der Rolle. Er ist dann auch weniger oberflächlich, hab ich das Gefühl. Ernsthafter, vielleicht.“

„Ernsthafter?“ Pete verzog vielsagend das Gesicht. Viel neues hatte er nicht erfahren. Das meiste hatte er sich selbst auch schon ganz ähnlich gedacht. Aber der letzten Bemerkung konnte er nicht zustimmen. „Das ist mir nicht aufgefallen.“

„Weil du ihn immer noch als das siehst, was er vorgibt zu sein. Du identifizierst ihn mit seinem Image, nicht mit dem, was er ist.“ McHarrington ließ sich nicht beirren. „Er hat Achtung vor dir, er respektiert dich.“

„Klar.“ Pete bezweifelte das stark. „Er hat nur Respekt vor meinen Fäusten und Angst davor, seine Bleibe zu verlieren. Das ist alles.“

„Das glaube ich nicht. Meiner Meinung nach hätte er sich bei seinen finanziellen Möglichkeiten auch eine Privatpension leisten können, aber er ist zu dir gekommen, als er rausgeschmissen wurde.“

„Ja, weil es seinem Ruf nutzt.“

„Vielleicht ja auch, weil er Vertrauen zu dir hat? Weil er wusste, dass du ihn aufnehmen würdest, weil du nicht so ein egoistisches Arschloch bist wie seine sogenannten Freunde?“

„Ich dachte, ich sei egoistisch und ein Arschloch?“ Pete sah plötzlich seinen eigenen Ruf gefährdet.

„Du möchtest so erscheinen, das ist der Unterschied“, grinste McHarrington und nippte an seiner Tasse. „Ich denke, in dieser Hinsicht hat Paul dich durchschaut.“

„Soso.“ Pete blickte ihn finster an. „Genau wie du, was? Vielleicht solltest du auf Psychologie umsteigen, Mr. Freud.“

McHarrington wurde wieder ernst. „Sei doch nicht immer so schnell wütend. Falls es dich beruhigt, kann ich dir ja sagen, dass dein Image bei den meisten Pappnasen hier immer noch ein verdammt schlechtes ist: Die haben weiterhin den Eindruck, es wäre gesünder für sie, dir lieber nachts nicht über den Weg zu laufen und auch tagsüber nicht in die Quere zu kommen.“ Er sah nachdenklich auf. „Ist dir das etwa lieber?“

„Allerdings“, erklärte Pete bestimmt. „Immerhin lassen sie mich so in Ruhe. Und du konntest schließlich auch schon davon profitieren.“

„Darf ich dich was anderes fragen?“

„Was denn?“

McHarrington rührte scheinbar teilnahmslos mit einem Metallöffel in seinem Glas herum. „Hast du eigentlich etwas übrig für Paul?“

„Was?!“ Pete war einen Moment sprachlos. „Wie kommst du denn auf sowas?“ wollte er dann lauernd wissen.

„Ich meine…“ McHarrington grinste verlegen. „Weißt du, es ist merkwürdig, dir gegenüber ein Wort wie Liebe zu benutzen. Es ist schon schwierig, sich dieses Wort im Zusammenhang mit dir überhaupt vorzustellen…“

Pete unterbrach ihn ärgerlich: „Willst du damit sagen, ich wäre nicht in der Lage, jemanden zu lieben?“

„Das habe ich nicht gesagt. Nur - die Vorstellung ist schwierig. Verstehst du mich?“

„Und trotzdem denkst du, ich könnte für Paul etwas empfinden?“ Pete schnaubte. „Ausgerechnet für dieses Windei.“

„Ich dachte nur, weil du wissen wolltest, was ich über ihn denke… Und außerdem hast du“, McHarrington griff nach einem Keks, „mit ihm geschlafen.“

„Schlimm genug.“ Pete knirschte mit den Zähnen. „Er kann froh sein, dass ich ihm dafür nicht den Kopf abgerissen habe.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Es hat seinem Ruf genutzt. Du hast doch selbst herausgefunden, dass er nichts ohne Berechnung macht.“

McHarrington schwieg nachdenklich und sah Pete aufmerksam an. Dann legte er die Stirn in Falten. „Du bist sauer auf ihn“, stellte er fest. „Verdammt wütend, und trotzdem lässt du ihn bei dir wohnen. Wieso?“

„Soll ich ihn etwa vor die Tür setzen?“

„Na ja, zu deinem Gemütszustand würde das eher passen.“

„Aha.“ Pete ödete das Gespräch langsam an. „Was wird das hier eigentlich? Psychoanalyse für Arme?“ Er stürzte den Rest seines Tees hinunter und erhob sich. „Ich habe besseres zu tun, ich nehme an, du verstehst das. Danke für den Tee.“ Damit griff er nach seinem Dufflecoat und wandte sich zum gehen.

McHarrington hielt ihn nicht auf. Er wusste, dass es unklug von ihm wäre, Pete noch weiter zu reizen.

Als Pete in sein Zimmer zurückkehrte, schlief Paul noch immer, und Pete musste ein weiteres Mal feststellen, dass im Schlaf ganz offensichtlich nicht mehr viel von Pauls Fassade übrigblieb. Das war kein Jim Morrison, der dort in seinem Bett lag. Kein gefallener Engel und kein selbstbewusster Weiberheld. Paul wirkte, ganz im Gegenteil, sonderbar verletzlich und angreifbar. Er lag auf dem Rücken, eine Hand auf der Brust, die andere auf dem Bauch, als wolle er die Decke festhalten. Die dunklen Locken umrahmten sein blasses Gesicht, das viel weicher und gelöster wirkte und nichts mehr von der Abgeklärtheit innehatte, die sonst Pauls Mimik beherrschte.

Pete setzte zum wiederholten Male an diesem Tag den Wasserkessel auf und griff nach der Teebüchse. Er gab sich Mühe, keinen unnötigen Lärm zu machen, um Paul nicht zu wecken. Erstaunlich behutsam stellte er die dampfende Teekanne auf dem Tisch ab und zog sich den Sessel heran. Dann vertiefte er sich für eine Weile in die Bücher, die er doch noch aus der Bibliothek geholt hatte. Allerdings ertappte er sich von Zeit zu Zeit dabei, wie er seine Augen von den vergilbten Blättern löste, um seinen Blick zum Bett wandern zu lassen. In diesen Momenten runzelte er ärgerlich die Stirn und schalt sich selbst einen Vollidioten, der auf wirklich jede Masche hereinfiel.

Paul erwachte am späten Nachmittag. Seine Kopfschmerzen waren vergessen, er fühlte sich wesentlich besser als am Morgen, nur noch ein wenig schwach, dafür aber sehr hungrig. Pete, der noch immer über seinen Büchern saß und nur kurz aufblickte, als Paul sich aufsetzte, schickte er ein zaghaftes Lächeln. „Hab ich lange geschlafen?“

Pete zuckte mit den Schultern. „Musst du selber entscheiden: Jetzt ist es kurz vor fünf.“

Paul erhob sich und gähnte. Dann griff er nach seinem Handtuch und machte sich auf den Weg ins Bad. Die lauwarme Dusche machte ihn vollends wach. Als er ins Zimmer zurückkehrte, schien er wieder ganz der alte Paria zu sein. „Was gibt’s zu Essen?“ wollte er wissen und fläzte sich Pete gegenüber auf den Stuhl.

„Das hängt von dir ab“, sagte Pete nur und warf ihm einen Blick zu, der Paul wieder auf den Teppich zurückbrachte.

Paul senkte die Augen und kratzte sich verlegen das frischrasierte Kinn. Dann sah er wieder auf und lächelte. „Ich meine, auf was hättest du Lust?“

„Ich hätte Lust, dir den Hals umzudrehen“, knurrte Pete, ohne den Blick aus seinem Buch zu heben.

„Hättest du nicht“, entgegnete Paul entschieden.

„Wollen wir es darauf ankommen lassen?“

„Und außerdem“, fuhr Paul unbeirrt fort, „weißt du ganz genau, dass ich vom Essen gesprochen habe. Wollen wir ausgehen?“ Er lächelte erneut, als Pete das Buch beiseite legte und ihn mit dunklen Augen ansah. „Ich meine das ernst. Ich lade dich ein.“

Es war wirklich nicht zu fassen. Hätte irgend jemand Pete vor einer Woche erzählt, dass er einmal mit dem Enfant terrible des Instituts in einem Nobelrestaurant dinieren würde, er hätte ihn für verrückt erklärt und diese Argumentation notfalls mit den Fäusten gestützt.

„Woher, zum Teufel, kennst du solche Lokale?“ wollte er leise von Paul wissen, während sie ein befrackter Kellner an einen freien Tisch führte. Ein Wunder, dass man sie überhaupt eingelassen hatte. Smokings schienen hier normalerweise die unterste Grenze dessen zu bilden, was die Kleiderordnung vorschrieb. Er selbst trug, nachdem er sein Dufflecoat an der Garderobe abgegeben hatte, nur seine schwarze Jeans und einen dunkelblauen Wollpullover.

„Du unterschätzt mich eben“, gab Paul zurück und blinzelte. Er schien kein Problem damit zu haben, nicht ordnungsgemäß gekleidet zu sein. Kein Wunder, er hätte wohl auch in Kartoffelsäcke gehüllt noch umwerfend ausgesehen.

Pete schüttelte den Kopf. Was für ein Quatsch. Seit wann benutzte er denn den Ausdruck „umwerfend“ im Zusammenhang mit Paul? Immerhin, musste er zugeben, passte Paul trotz seiner Alltagskleidung in gewisser Weise auch in diese Umgebung. Seine schwarze Cordhose und der ebenfalls schwarze,  sich dennoch eng um seinen schmalen Oberkörper schmiegende Rollkragenpullover waren keine Makel, sondern markante Details, die seine selbstbewusste, fast aristokratische Ausstrahlung und seinen schönen Kopf unterstrichen.

Jeder Zoll ein Mann von Welt, ließ Paul sich auf dem Stuhl nieder, den der Kellner ihm diensteifrig unterschob.

Pete verzichtete darauf und nahm einfach so ihm gegenüber Platz.

„Möchten die Herren schon bestellen?“

„Wenn Sie uns einen leichten Wein empfehlen könnten?“

„Selbstverständlich.“

„Und dann hätten wir gern die Karte.“

„Sehr wohl.“

Pete starrte Paul über den Tisch hinweg an, einerseits in leiser Bewunderung für dessen souveränen Auftritt, andererseits mit dem brennenden Verlangen, ihm den schweren, gläsernen Aschenbecher ins Gesicht zu schleudern. „Was, verdammt noch mal, soll das hier eigentlich werden?“

Paul grinste. „Ich will dich beeindrucken.“

„Wieso?“

„Weil du einen verdammt schlechten Eindruck von mir hast.“

„So.“ Das war allerdings wahr. „Und wie willst du den guten Eindruck bezahlen?“

Paul lächelte. „Ich zahle keine Miete mehr. Da kommt so einiges zusammen.“

„Das können wir sofort ändern“, bot Pete mit drohendem Unterton in der Stimme an.

Pauls Lächeln erlosch. „Das können wir wirklich“, bestätigte er ernst. „Ich merke ja, dass dein Budget verdammt knapp ist. Ich hingegen…“ Er winkte ab. „Du kennst meine Eltern nicht.“

„Alimentieren sie dich gut?“

Paul nickte. „Sie hoffen wohl, mich damit von meinem allzu lockeren Lebenswandel abbringen und noch ein wenig an sich binden zu können.“ Er grinste schon wieder. „Eltern…!“

Pete sah ihn unverwandt an. „Mein Vater reißt sich den Arsch auf, damit ich studieren kann.“

Pauls Grinsen erlosch. Deswegen also versuchte Pete alles, um sein Studium so schnell und so gut wie möglich durchzuziehen.

Der Kellner brachte den Wein und die Speisekarte.

„Wirklich gut“, stellte Paul fest, nachdem er den Wein probiert hatte. Über den Rand seines Glases hinweg beobachtete er, wie Pete ebenfalls einen Schluck nahm. „Findest du nicht?“

„Ich habe nicht viel Ahnung davon“, gab Pete zurück. „Aber er schmeckt ganz ordentlich.“

Sie bestellten Wild, und Paul machte sich mit einem Heißhunger über sein Essen her, der selbst in einem Schnellrestaurant unangemessen gewesen wäre, hier jedoch erst recht scheele Blicke auf ihn lenkte.

„Du frisst“, kommentierte Pete trocken und widmete sich gesittet seinem Teller.

„Na und?“ Paul griff ungerührt nach seinem Weinglas und spülte einen etwas zu großen Bissen mit einem kräftigen Schluck hinunter. „Bei den Preisen hier müsste ich eigentlich mit den Händen essen dürfen.“ Erst als auch der letzte Krümel von seinem Teller verschwunden war, lehnte er sich aufatmend zurück und schloss kurz die Augen. „Das war gut. Genau das hab ich gebraucht.“ Dann griff er nach der Weinflasche und goss beide Gläser wieder voll. „Auf Britanniens gute Küche.“ Er hob sein Glas und hielt es Pete entgegen.

„Auf die, die sie zu würdigen wissen“, konterte Pete spöttisch und stieß mit ihm an.

Paul trank langsam und stellte das Glas dann zur Seite. „Weißt du, was ich glaube?“

„Nein.“

Er maß Pete mit einem langen nachdenklichen Blick. „Du bist gar nicht so… In Wirklichkeit bist du nämlich verdammt umgänglich.“

„Ich beweise dir gern das Gegenteil. Auf der Stelle.“

Paul winkte ab. „Ich meine das ernst. Du bist eigentlich ein verdammt anständiger Mensch und - auch wenn du es nicht hören willst - manchmal sogar ein ziemlich sympathischer.“

Pete sah ihm in die Augen. „Und ich nehme dir das nicht ab“, erklärte er ruhig.

Paul schnaufte und lehnte sich zurück. „Ich meine das aber wirklich ernst“, beteuerte er ärgerlich.

Pete musterte ihn nachdenklich. „Ich habe heute Jake getroffen.“

„So.“ Paul griff erneut nach seinem Glas und stürzte den Wein in einem Zug hinunter. „Spaß gehabt?“

„Red keinen Unsinn.“ Pete war selbst überrascht, wie beherrscht er blieb. „Ich habe ihm gestern schon klargemacht, dass ich nichts von ihm will. Dabei bleibt es auch.“

„Und wieso bist du dir da so sicher?“ Pauls Stimme klang gereizt.

„Weil er mich nicht interessiert. Das weiß er auch. Wir haben nur einen Tee zusammen getrunken und ein bisschen geredet.“

„Soso. Geredet.“ Paul dehnte das Wort wie Kaugummi. „Worüber denn, wenn man fragen darf?“

„Über dich.“

Knock out. Paul war verblüfft. „Über mich?“

„Bist du taub?“ Pete griff nach seinem Glas und zog die Augenbrauen finster zusammen.

„Und“, Paul fing sich erstaunlich schnell, „was hat der liebe McHarrington freundlicherweise über mich gesagt?“

„Dass du Vertrauen zu mir hättest. Und wenn er recht hat, sollte ich dir vielleicht doch glauben.“

Paul brauchte eine Weile, um das zu verarbeiten. Dann hob er den Kopf und grinste Pete an. „Ich würde gern etwas tun, was wahrscheinlich ziemlich verrückt klingt. Aber dafür ist es notwendig, dass du auch Vertrauen zu mir hast.“

Auch? Pete blinzelte. „Worum geht es denn?“

„Ich möchte dich gern küssen.“

„Was?!“ Pete war laut geworden, doch nun senkte er die Stimme wieder, und sie klang nichtsdestotrotz gefährlich. „Bist du völlig übergeschnappt?“

„Nein, es…“ Paul machte eine hilflose Geste. „Du verstehst das falsch. Ich meine, ich würde dich gern hier küssen, vor all den Leuten.“

„Wozu?“

Paul grinste verlegen. „Schockeffekt. Sieh dich doch um, die würden uns eh am liebsten rausschmeißen lassen, weil wir denen nicht ins Bild passen.“

„Bei deinen Essgewohnheiten ist das auch kein Wunder“, knurrte Pete und blickte sich unauffällig um. Paul schien mit seiner Vermutung richtig zu liegen. Jedenfalls waren es nicht gerade wohlgesinnte Blicke, die ihnen von vielen Tischen zugeworfen wurden. Auch das vereinzelte gehässige Getuschel schien ihnen zu gelten. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet war Pauls Idee vielleicht doch gar nicht mehr so verrückt. Warum sollte man diesen Klatschmäulern nicht einen wirklichen Grund zum Lästern liefern?

Paul beugte sich vor. „Und? Überzeugt?“

„Gut.“ Pete gab sich einen Ruck. „Aber das ist eine Ausnahmesituation, ist das klar?“ warnte er.

Paul nickte und rückte um den Tisch herum auf den freien Stuhl neben Pete. „Klar.“ Er lächelte, während er sein Gesicht Pete näherte.

Als sich ihre Lippen berührten, schloss Pete die Augen. Ein Schauer jagte durch seinen Körper, und seine Nackenhärchen stellten sich auf. Vorsichtig tastete sich seine Zunge vorwärts, bis sie an Pauls Lippen stieß, die sich sofort öffneten, um ihr Einlass zu gewähren.

Auch Paul hatte die Augen geschlossen. Seine Nerven schienen bis zum Zerreißen gespannt, und dennoch spürte er nur ganz sacht Petes erstaunlich sanfte Hände, die seinen Hinterkopf und den Nacken umfassten. Nach einer Ewigkeit und doch, wie ihm schien, viel zu schnell, ließ Pete ihn los und lehnte sich zurück. Paul öffnete die Augen und sah ihn an. Jetzt erst registrierte er die entsetzten Gesichter und die Empörung um sich her. Er lächelte Pete zu und stand auf. „Zahlen!“

Auf dem Heimweg schwiegen beide. Pete hatte die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben und starrte finster vor sich hin. Paul, der neben ihm lief, spürte, dass mit ihm momentan nicht gut Kirschen essen war, und bemühte sich, nichts zu tun, was ihn noch weiter verärgern könnte.

Erst nachdem sie Petes Zimmer im Studentenwohnheim betreten hatten, wo Pete seinen Mantel sichtbar gereizt auf das Bett warf, wagte Paul ihn anzusprechen. „Hast du irgendwas?“ fragte er, bemüht, seinen Tonfall so ruhig und gelassen wie möglich klingen zu lassen.

Vergeblich. Pete explodierte: „Das geht dich einen Scheißdreck an!“ Einen Moment lang starrte er ihn an und ballte wutentbrannt die Fäuste, bereit, jederzeit auf ihn loszugehen, dann wandte er sich abrupt um, verließ den Raum und warf die Tür lautstark hinter sich zu.

Paul blickte ihm verdutzt nach.

Aufgebracht schritt Pete den Wohnheimflur entlang, zähneknirschend und mit wutblitzenden Augen. Vereinzelte Kommilitonen, die ihm begegneten, wichen ihm wohlweislich aus. Lieber hätten sie sich einer anrollenden Lokomotive in den Weg gestellt, als Pete in die Quere zu kommen. Ungehindert erreichte er das Treppenhaus und begab sich ins Erdgeschoss.

Der Studentenklub hatte geöffnet. Irgend ein ihm völlig unbekannter Student stand hinter dem Tresen. Pete ließ sich auf einem Barhocker an der Theke nieder. „Scotch“, orderte er finster. „Einen Doppelten.“

Die Tische in seinem Rücken beachtete er nicht. Dass weitere Studenten im Raum waren, hatte er zwar registriert, dennoch war er erstaunt, dass es jemand wagte, sich neben ihm niederzulassen. Mit einer knappen Bewegung stürzte er den Whisky hinunter, dann erst blickte er zur Seite.

Jake McHarrington saß neben ihm.

„Na wunderbar“, knurrte er. „Auch das noch. Der Menschenversteher.“

McHarrington ließ sich nicht abschrecken. „Was ist los?“ wollte er wissen. „Du siehst aus, als wolltest du jemanden umbringen.“

„Dann würde ich mich an deiner Stelle umsetzen.“

McHarrington sah ihn ernst an. „Ich habe keine Angst vor dir. Nicht mehr“, fügte er nach einer kurzen Gedankenpause hinzu und lächelte zaghaft. „Ich weiß, wie du wirklich bist. Du kannst mich nicht täuschen.“

„So?“ Pete warf ihm einen finsteren Blick zu. „Vielleicht lässt du dich ja durch eine Tracht Prügel vom Gegenteil überzeugen?“ Die ungewohnte Selbstsicherheit dieses Hänflings war ja nicht auszuhalten. Wofür hielt der sich eigentlich?

„Hör auf, mir zu drohen“, forderte McHarrington ruhig. „Bitte.“ Er wartete, ob Pete reagieren würde, doch der zog es vor, wütend zu schweigen. „Was ist denn nun los?“ wiederholte Jake daher seine Frage. „Warum bist du so geladen?“

„Warum?“ echote Pete aufgebracht. „Wenn du es wirklich wissen willst: Weil ihr mich alle ankotzt. Diese ganze verfluchte Uni, alle, dich eingeschlossen, und Paul ganz besonders!“

„Aha.“ McHarrington blieb unerschüttert. „Paul also ganz besonders. Was hat er dir denn jetzt schon wieder getan?“

„Er hat mich zum Essen eingeladen…!“ schnaubte Pete.

„So ein Unmensch!“ warf McHarrington ein und grinste.

„…Und er hat mich geküsst!“ ergänzte Pete mit zornsprühenden Augen.

„Nein, wie furchtbar!“ Jake verschluckte sich fast vor Lachen.

Pete erhob sich außer sich vor Zorn, unterdrückte mühsam den Impuls, McHarrington den Barhocker ins Gesicht zu schlagen, und verließ ohne ein weiteres Wort den Klub.

Im Flur holte McHarrington ihn ein. „Warte doch! Pete!“ Reumütig hielt er mit ihm Schritt, als Pete keine Anstalten machte, stehenzubleiben. „Das war doch nicht so gemeint. Nur - dein Auftritt war so… theatralisch.“

„Theatralisch?“ fauchte Pete und blieb nun doch stehen, um ihn anzusehen. Unwillkürlich ballte er die Fäuste.

„Na, vielleicht ist das nicht das richtige Wort, aber…“ McHarrington musste sich mühsam ein Grinsen verkneifen. „Hey, du hast den wahrscheinlich begehrenswertesten Menschen dieser Universität geküsst und regst dich darüber auf, als hätte er dich ausgeraubt.“

„Ich wüsste nicht, was an Paul begehrenswert sein sollte“, gab Pete bissig zurück. „Und ich rege mich auf, weil ich so dämlich war, auf sein bescheuertes Spielchen einzugehen. Klar?“

McHarrington schüttelte den Kopf. „Das musst du mir schon genauer erklären. Du hast gesagt, er hätte dich zum Essen eingeladen?“

„Ja“, knurrte Pete.

„Und im Restaurant habt ihr euch geküsst?“

Pete nickte wütend.

„Und warum ist das so schlimm?“

„Warum? Warum?“ Pete stieß aufgebracht die Luft aus. „Weil er sich produzieren wollte! Weil er provozieren wollte!“

„Und wieso hast du dann mitgemacht?“

„Weil er mich reingelegt hat. Eingewickelt.“

McHarrington grinste versonnen. „Hat es dir gefallen?“

„Zum Teufel, und wenn schon!“

„Hat es ihm gefallen?“

„Kann ich hellsehen?“

„Es hat ihm bestimmt gefallen.“ McHarrington war sehr überzeugt. „Schließlich küsst du verdammt gut.“

Pete zog es vor, diese Bemerkung zu ignorieren.

„Weißt du“, meinte McHarrington nach einer Weile nachdenklichen Schweigens, „man könnte fast das Gefühl bekommen, dass Paul mit allen Mitteln versucht, um deine Freundschaft zu werben. Und vielleicht steckt ja auch noch mehr dahinter…“

Was soll dahinterstecken?“ Pete fuchtelte mit dem Zeigefinger wie mit einer Waffe vor Jakes Gesicht herum. „Ich werde es dir sagen: Ein eingebildeter Fatzke, der mit seiner Überheblichkeit und seinem Egoismus derart überfrachtet ist, dass er die Realitäten um sich herum nicht mehr wahrnimmt. Dem alle Menschen - abgesehen von ihm selbst - absolut gleichgültig sind, bestenfalls dazu da, seinen Zwecken zu dienen und seinem absurden Image nützlich zu sein. Wieso ist er ein Weiberheld? Weil es zu seinem Image passt! Wieso verarscht er die Profs? Weil es zu seinem Image passt! Wieso spielt er verrückt? Weil es zu seinem Image passt! Wieso hat er mit mir geschlafen? Weil es zu seinem Image passt! Wieso versucht er weiterhin, mich rumzukriegen? Weil es zu seinem Image passt! Wieso sollte er also in aller Öffentlichkeit einen Mann küssen, wenn nicht, um sein verdammtes Image zu bedienen?!“

McHarrington schüttelte den Kopf. „Deine Analyse ist miserabel, aber das ist verständlich, schließlich kannst du nicht objektiv beurteilen, wenn du derart involviert bist.“

„Aha. Und deine Analyse ist natürlich streng objektiv“, gab Pete bissig zurück. „Darf ich auch erfahren, was du dir zusammengereimt hast?“

„Es wird dir nicht gefallen“, antwortete McHarrington gelassen. „Aber ich glaube, Paul hat wirklich eine Menge für dich übrig.“

Pete stieß wütend die Luft aus und starrte ihn einen Moment lang an wie einen Geisteskranken. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ McHarrington einfach stehen.

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