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Walhalla

Teil 1 - Das Schwarze Schiff

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Informationen

Vorwort

Vor langer Zeit in einer fremden Welt ...

"Erzähl mir meine Lieblingsgeschichte! Los, jetzt mach schon, komm schon ...", quengelte der rothaarige Junge mit seiner rauen Stimme Ragnar.

Ragnar kratzte sich am Kopf, strich sich dann eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und begann zu erzählen:

"Da gab es einmal ein sehr kleines Königreich mit Namen Donnerland. Es war berühmt für seinen ausgezeichneten Wein und seinen gütigen Herrscher Thorstein. Seine Bewohner waren sehr wohlhabend und glücklich.

Doch das änderte sich, als der König verstarb und seine Halbschwester Sigurd das Zepter übernahm. Sie regierte hart und selbstsüchtig über das Donnerland, was auch die Bewohner zu spüren bekamen: Die Steuern wurden so hoch, dass die Menschen in Hunger und Armut leben mussten. Sigurd konnte nur deshalb über Donnerland herrschen, da der Königssohn Nimba, der rechtmäßige Erbe des Thrones, noch zu jung war - kein Kind mehr, aber auch noch kein Mann.

Der junge Nimba war sehr traurig, da er von Sigurd den ganzen Tag in seinem Zimmer eingesperrt wurde und nichts von der düsteren Außenwelt sehen durfte. Oft saß er einsam und weinend vor seinem Fenster, blickte auf das ferne Land und sehnte sich Gesellschaft herbei.

'Einen Freund', seufzte er oft vor sich hin. 'Hätte ich doch nur einen Freund. Ich wünsche mir so sehr einen Freund herbei.'

Da die Königin keine Zeit hatte, sich um den unerwünschten Spross ihres Halbbruders zu kümmern, ließ sie Jungen und Mädchen aus dem ganzen Land zum Schloss kommen, doch keiner und keine von ihnen wollte Nimba zum Freund oder zur Freundin haben. Mit jedem neuen Gesicht, das er sah, wurde er nur trauriger und auch wütender. In der Nacht malte er sich immer schrecklichere Dinge aus: Dass er einsam als alter Mann sterben müsse, dass er seine gesamte Jugend in Trauer um den Vater und in Einsamkeit vergeuden würde.

Eines Nachts wurde der junge Königssohn von Räubern aus dem Schloss entführt. Ihr Anführer war nicht viel älter als Nimba selbst - ebenfalls ein Knabe noch, mit schwarzem Haar und freundlichem Gesicht.

Die Räuber wollten für Nimbas Freiheit bei der Königin mehr Brot und Arbeit für ihr Volk erpressen. Doch als die Königin mit dem kalten Herz dies verweigerte, beschlossen die Räuber, den Königssohn zu töten.

Doch Soran, der junge Anführer der Räuberbande, hatte Mitleid mit Nimba und ließ ihn in der Nacht vor dessen Hinrichtung frei.

Während er dessen Fesseln durchschnitt, fragte Nimba erstaunt: 'Wieso tust du das?'

'Weil ich nicht so werden will wie mein Vater. Hier, nimm mein Messer mit, du wirst es bei deiner Flucht vielleicht brauchen.'

Und so flüchtete Nimba mit Sorans Messer durch die Nacht zurück zum Schloss.

'Ich habe ihn gefunden', sagte er zu sich selbst, als er wieder zu Hause und in Sicherheit war. 'Ich habe jenen gefunden, dessen Freund ich sein will.'

Doch Nimba hatte ein Problem, denn Soran war ein Räuber und niemals würde ein Räuber einen Königssohn lieben können. So beschloss Nimba, seinem Glück etwas nachzuhelfen ...

Er suchte im Dunkelwald einen Hexer auf, der Soran mit einem Liebeszauber belegen sollte. Der Hexer sagte:

'Töte den Elch des Nebelwaldes mit einem Gegenstand, der die Spur der Person besitzt, die du begehrst und diese Person wird auf ewig verrückt nach dir sein. Doch bedenke, dass du dadurch deine Seele mir vermachst. Du wirst somit niemals altern, niemals sterben, niemals König werden können!'

Da Nimba blind vor Gier war, dachte er nicht über das nach, was der Hexer ihm da sagte und machte sich sofort auf den Weg zum Nebelwald. Dort trieb er Sorans Messer tief in die Brust des arglosen, weißen Elches. Das stolze Tier sank leblos zu Boden und Nimba kehrte mit dem blutigen Messer zurück zu seinem Schloss, in Erwartung dort seinen Geliebten zu treffen.

Und tatsächlich kam es, dass Soran noch in dieser Nacht von seltsamen Träumen und Sehnsüchten gequält am königlichen Schloss auftauchte und Nimbas Freund wurde."

KAPITEL EINS - Das Schwarze Schiff

1

Ragnar zeichnete zwei Strichmännchen, die sich an den Händen hielten, während er das Ende des Märchens erzählte. Er und Loki knieten auf dem Boden von Ragnars Hütte oder genauer gesagt: Jener Hütte, in der Ragnar mit seinen Eltern lebte. Loki, ein schmächtiger, blasser Junge mit roten Haaren, saß neben ihm und betrachtete skeptisch die Zeichnungen.

"Und dann?!", fragte er nach einer ganzen Weile.

"Was 'Und dann'?!"

"Was geschah dann?", wollte Loki wissen. Seine dunkelroten Augen schimmerten im Schein der brennenden Fackel, die den Raum erleuchtete, denn es war bereits Nacht und eigentlich sollte die beiden Jungen längst schlafen. Doch sie blieben oft bis spät in die Nacht wach und erzählten sich Geschichten. Ragnar zeichnete immer gerne dazu, deshalb waren die Wände seines Zimmers mit Zeichnungen zu allerlei Geschichten, Märchen und Legenden übersät.

"Nichts." Ragnar zuckte mit den Achseln. "Sie lebten glücklich und zufrieden."

Loki schnitt eine Grimasse und legte den Kopf schief. "Bis an ihr Lebensende oder was?!"

Ragnar runzelte die Stirn. "Was meinst du jetzt damit?"

"Naja", Loki erhob sich, zupfte seine blaue Tunika zurecht und verschränkte die Arme. "Nimba ist doch unsterblich. Wird nicht älter und so."

"Ja, und?" Ragnar begriff nicht so recht, worauf sein Freund hinaus wollte.

Loki seufzte ungeduldig. "Ist das bei Soran etwa auch so? Wird er auch nicht älter?"

"Loki ...", begann Ragnar langsam. "Es ist nur ein Märchen ..."

"Ja und wenn schon?", rief Loki und blickte Ragnar nach, wie dieser zu seinem Bett ging und eine Pergamentrolle aufnahm, die dort auf der Felldecke lag. "Woher stammt das Märchen überhaupt? Hat der Erfinder dieser Geschichte nicht bedacht, dass es bei Unsterblichen kein 'Und wenn sie nicht gestorben sind ...' geben kann?!"

Ragnar und Loki waren beide zwölf Wintermonde alt und Loki war schon immer ein Skeptiker gewesen, der Märchen wie jenes über Nimba und den Weißen Elch zu ernst nahm. Vielleicht lag es daran, dass er keine Eltern hatte, die ihm das besser erklären konnten. Jedenfalls wusste man nicht, wo Lokis Eltern steckten. Der Wikingerklan, zu dem Ragnar gehörte, fand Loki als kleines Baby im Wald, vermutlich ausgesetzt. Oder verloren.

Er entrollte das Pergament und betrachtete eine Zeichnung, die er selbst angefertigt hatte.

Loki trat neben ihn und sah es sich ebenfalls an.

"Ein Drachenschiff", sagte Loki leise und nickte. "Nicht übel."

Ragnar nickte ebenfalls und lächelte. "Eines Tages, Loki. Irgendwann werde ich so eines selbst fahren."

Loki hob eine Augenbraue. "Etwa in der Drachenflotte der Elfen?" Er lachte zynisch auf. "Ja klar. Träume weiter."

Der Junge mit den blonden, langen Haaren achtete nicht auf seinen Freund und betrachtete weiterhin eingehend die Zeichnung: Ein Schiff, dessen Vorderseite den riesigen Kopf eines Drachen trug und dessen Segel die Form von gigantischen Flügeln hatten. Drachenschiffe konnten nicht nur auf dem Wasser wie normale Schiffe fahren, sondern auch durch die Luft fliegen wie Vögel, nur viel eleganter und majestätischer.

Natürlich kannte er - wie jeder andere auf der Welt auch - die Drachenflotte von Asgard. Menschen und Elfen dienten der Drachenflotte, bereisten die Welt in jenen majestätischen Schiffen. Brachten Lebensmittel in ferne Länder, erforschten die Welt, besuchten fremde Völker.

Doch der absurde Gedanke, dass er als Sohn eines Wikingers, als Mitglied eines verarmten Clans hier auf einer kleinen Insel jemals Asgard auch nur aus der Nähe sehen könnte, stimmte Ragnar wieder traurig. Loki war zwar taktlos und zu weilen auch rücksichtslos, aber er hatte auch recht. Die Drachenflotte, die Elfen, Asgard ... das war alles so ewig weit weg.

Loki legte eine Hand auf seine Schulter und seufzte. "Naja, lass mal den Kopf nicht hängen. Hey, ich kann ja wieder ein paar Zaubertricks vorführen, das bringt dich auf andere Gedanken."

2

Mit diesem Worten sprang Loki zur Tür hinaus und nach einem kurzen Zögern folgte Ragnar seinem Freund ins Freie.

"Los, komm schon, was ist los?! Machst du etwa schon schlapp, Schwächling?!", rief Loki lachend über seine Schulter hinter sich, als er - von Ragnar mit einigem Abstand verfolgt - einen Hügel empor rannte. Die kleine Siedlung des Wikingerklans lag in einer Senke, umgeben von Hügeln und Bäumen. Es gab nur einen ebenen Weg durch die Hügel zum Strand, wo zwei kleine Drachensegler vor Anker lagen. Ragnars Klan hatte schon vor langer Zeit aufgehört, andere Siedlungen zu plündern und Schiffe zu überfallen: Der Ruf der raubenden Wikinger blieb jedoch auch an Ragnars Klan haften, was zur Folge hatte, dass die meisten Schiffe die Insel mieden, auf der die Wikinger lebten.

Es war bereits Nacht. Am Himmel funkelten Sterne und der Mond hatte einen "Hof", was wieder einmal eine sehr kalte Nacht versprach. Ragnar stapfte durch den pudrigen Schnee den Hügel empor, Lokis feuerroten Haaren folgend. Er blieb erst auf der Anhöhe stehen, stemmte die Arme in die Hüften und musterte den schnaufenden Jungen mit den hellblonden Haaren skeptisch, der sich durch den Schnee und den steinigen, unebenen Boden kämpfte.

"Die Nacht ist kalt, doch im Herzen eines Wikingers brennt immer das Feuer eines Drachen!"

Mit diesen Worten sprangen rote Funken aus Lokis Fingern. Er fuchtelte wild mit ihnen herum und formte einen Drachen aus purem Feuer, der durch die Luft flog und in tausend glitzernde Sterne zerbarst, als Loki in die Hand klatschte. Vor einem Jahr hatten sie beide - mehr oder weniger erschrocken - festgestellt, dass Loki die Fähigkeit besaß, Feuer zu entfachen. Bis jetzt hatten sie keiner Menschenseele davon erzählt - am wenigsten den Erwachsenen, denn sie hatten Angst davor, dass Loki dann aus dem Klan vertrieben werden würde. Wesen, die Feuer entfachen konnten, galten als nicht gerade "gute Wesen".

"Seht ihn Euch an - der Drache, der sich durch ein einziges Klatschen besiegen lässt! Kein Wesen, das Applaus vertragen kann!"

Ragnar klatschte erfreut in die Hände und lachte. Lokis Fähigkeit und seine ganz besondere Art von Humor schaffte es immer wieder, ihn aus seinem Tief herauszuholen und seine Sorgen vergessen zu lassen. Loki besaß nicht nur die Fähigkeit Feuer zu entfachen: Bereits sein Aussehen - rote Augen, spitze, lange Nase, grimmige Augenbrauen, grimmiges, freches Dauergrinsen - ließen manchmal in Ragnar die Frage aufkommen, ob Loki überhaupt ein Mensch war. Doch das war ihm auch egal. Loki war ein guter Freund. Er fühlte sich wohl bei ihm und wenn sie sich gegenseitig Geschichten erzählten und Loki seine feurigen Zauberstücke vorführte, war die Welt in Ordnung.

Bis zu jenem Augenblick, wo die Erde zu beben begann ...

Kreidebleich starrte Loki erschrocken in Richtung Strand.

"Was hast du?!", fragte Ragnar, zuerst grinsend, denn er glaubte an einen Scherz. Doch als Loki langsam den Kopf schüttelte und in Richtung Strand bedeutete, wurde Ragnar mulmig. Er sah zum Strand, wo die Drachensegler vor Anker lagen und sah etwas, was er nicht richtig verstand, was sein junger Verstand in diesem Augenblick nicht realisieren konnte:

Ein glühender Feuerball flog über das Wasser auf den Strand zu. Zuerst glaubte Ragnar an eine Sternschnuppe - an jene Sorte von Sternschnuppen, die die Angewohnheit hatten, einfach vom Himmel auf die Erde zu fallen. Noch ehe er beobachten konnte, wohin der Feuerball, der scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war, hinflog, warf Loki ihn schon zu Boden. Im nächsten Augenblick blitzte eine gewaltige Explosion auf, wobei die Erde ein weiteres Mal bebte.

Ragnar drückte sein Gesicht in den kalten Schnee und spürte, wie Loki ihn festhielt. Das WUMM! der Explosion vernahm er nur als dumpfen Raunen, im nächsten Augenblick spürte er jedoch die Erschütterung der Explosion. Er stemmte sich hoch, wobei er Loki zur Seite stieß, der das Gleichgewicht verlor und in den Schnee fiel.

Beide Jungen standen auf und starrten auf wackeligen Beinen zum Hafen, wo einer der Drachensegler im Flammen stand. Fast zeitgleich mit der Explosion war das Kreischen und Schreien der anderen Klansmitglieder aus dem Dorf zu hören. Männer und Frauen rannten aus ihren Hütten ins Freie, blickten zum Himmel und Richtung Strand, wo eine hellrote Feuersäule gen Himmel schoss.

"Was ..."

Ragnar konnte seine verblüffte Frage nicht zu Ende sprechen, als auch schon der zweite Drachensegler in einer gewaltigen Explosion zerbarst.

"Komm!", rief Loki, packte Ragnar am Oberarm und zerrte ihn in Richtung Berge, weg von der Siedlung und weg vom Feuer. "Wir müssen uns in Sicherheit ..."

"Meine Eltern sind da unten!", keuchte Ragnar entgeistert. "Und meine Sachen ..."

"Willst du verbrennen, oder was?!", schrie Loki, um den Lärm einer weiteren Explosion zu übertönen.

Aus der aufgebrachten Menschenmenge, die inzwischen die Hügel empor rannte und das Dorf verließ, wo die ersten Hütten zu brennen begannen - ein dritter, dann ein vierter Feuerball stürzte scheinbar aus dem Nichts mitten in die Siedlung und bombardierte wahllos die Häuser - waren Sätze zu hören wie "Wir werden angegriffen!", oder, "Das ist eine Ork-Invasion!", oder auch, "KRIEG! Wir haben KRIEG!!!"

Ragnar wurde übel und all seine Muskeln schienen zu versagen, jedenfalls konnte er sich im ersten Augenblick nicht mehr regen. Dann ließ er sich von Loki am Oberarm gepackt in Richtung Berge zerren, die sich in der Mitte der Insel befanden.

Sah er seinen Vater dort unten in der aufgebrachten Menge? Seine Mutter?

"Nein ..." Ragnar riss sich von Loki los und rannte stolpernd den schneebedeckten Abhang hinunter zum Dorf. Nur vage hörte er Loki hinter sich "Bist du verrückt?!", kreischen.

Er rannte durch ein Chaos aus aufgeregten Menschen und brennenden Trümmern, die auf die Erde herab regneten zu seinem Zuhause. In diesem Augenblick explodierte ein weiteres Haus - es war die Hütte des Schmieds. Metallteile und brennende Dachschindeln flogen durch die Luft, wie Geschosse in einer Schlacht. Ragnar wich einem Mann aus, dessen Kleider brannten: Es war Svenson, der Schmied. Einige andere Männer und Frauen stürmten aus ihren Häusern, Ragnar sah Frauen, die kleine, weinende Kinder mit sich trugen. Dann wieder eine Explosion und ein anderer Mann wurde von brennenden Trümmern erschlagen.

Die Luft war von Hitze und Rauch erfüllt. Ragnar erreichte hustend und mit tränenden Augen seine Hütte, die noch unversehrt war.

Die Tür sprang auf und Ragnars Vater stürmte hinaus ins Freie, wobei er seinen Sohn um ein Haar umgestoßen hätte.

"Schnell, weg hier!", brüllte der Mann mit dem langen Bart und zu langen Zöpfen geflochtenen Haaren. Auf seinem Kopf trug er einen typischen Wikingerhelm mit Hörnern.

Im Hintergrund war eine besorgte Frauenstimme zu hören: "Sind die Jungen in Sicherheit? Hol die Jungen da fort!"

"Ragnar ist wohlauf, Weib! Aber nicht mehr lange, wenn wir nicht schnell -", brüllte Thore gegen den Lärm des Erdbebens an.

Ragnar dränge sich an seinem Vater vorbei und rannte in sein Zimmer, wo er bei einer weiteren Erschütterung das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, als die Decke direkt über Ragnars Bett einstürzte und es Holz und Lehmgeröll regnete. Thore konnte seinen Sohn gerade noch rechtzeitig von den herabstürzenden Trümmern wegzerren. "Nein! NEIN!", kreischte Ragnar, riss sich aus den Armen seines Vaters los und stürmte zurück in sein Zimmer, das mit Rauch und Staub erfüllt war. "Mein Drachenschiff!"

Er warf sich auf den Boden und konnte die Pergamentrolle mit der Zeichnung eines Drachenschiffes gerade noch zu fassen kriegen, als Thore mit einem "Bist du von Sinnen?!", seinen Sohn am Bein packte und aus dem einstürzenden Zimmer und der Hütte zerren konnte.

Ragnar stopfte das Pergament unter seine Tunika, während er neben seinen Eltern ins Freie stolperte, wo scheinbar die Hölle selbst ausgebrochen zu sein schien.

3

Der Rauch und die Hitze brannten in seinen Lungen, als Loki nach kurzem Zögern Ragnar in die brennende Feuerhölle folgte. Er konnte Ragnar, der weit mehr als sein bester Freund war, nicht einfach seinem Schicksal überlassen, auch wenn er recht töricht war, wenn er glaubte, in dieser brennenden Hölle aus Chaos und Tod seine Eltern retten zu können.

Es wäre besser gewesen, wenn er mir sofort zu den Bergen gefolgt wäre, wie es die anderen schon tun. Dummer Ragnar ...

Als er bereits davon überzeugt war, dass Ragnar schon tot war, konnte Loki sein Glück umso mehr kaum fassen, als er Ragnar und seine Eltern am Fuße des Hügels zusammen mit den anderen flüchtenden Wikingern erblickte.

Ragnar blieb kurz stehen, als er Loki sah und für einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen: Lokis rote Haare schienen selbst wie Flammen auf seinem Kopf zu brennen. Der Lärm aus Schreien, Explosionen und Erdbeben war nur noch ein dumpfes Geräusch in seinen Ohren.

"Die Berge ... wir dürfen nicht auf die Berge zugehen ...", murmelte Ragnar. Dann schrie er es: "NICHT ZU DEN BERGEN! DORT IST ES GEFÄHRLICH!"

Er zerrte am Arm seines Vaters, doch dieser schien seinen Sohn gar nicht wahrzunehmen. Thore schleifte Ragnar hinter sich her in Richtung Berge.

Ragnar blickte zu Loki und wollte etwas sagen, als eine weitere Erschütterung alle flüchtenden Menschen zu Boden warf. Thore verlor seinen Halt und Ragnar rutschte ihm förmlich aus der Hand. Als schließlich noch der Boden unter ihren Füßen aufriss, verlor er seinen Kontakt zu Ragnar endgültig: Der Junge stolperte zu Boden und rollte zusammen mit Loki und anderen Männern und Frauen den Abhang wieder hinunter ins brennende Dorf. Felsen und Steine regneten auf sie herab, zerschlugen weitere Hütten und setzten Bäume und Büsche in Brand.

Die Jungen halfen sich gegenseitig auf die Beine und versuchte beide, Thore und Agna - Ragnars Mutter - in dem Chaos aus stolpernden und flüchtenden Menschen zu finden.

Männer in Metallrüstungen und mit Schwertern bewaffnet versperrten ihnen schließlich die Sicht.

"Sieh mal ...", keuchte Loki und deutete Richtung Strand. "Sie wollen kämpfen!"

Ohne zu erklären warum, rannte Loki den Kriegern nach und Ragnar folgte ihm.

Am Strand versammelten sich die Wikinger in ihren Rüstungen und mit ihren Waffen vor Beltar, ihrem Häuptling. Er brüllte Befehle, die die Jungen jedoch im Lärm der Katastrophe nicht richtig verstehen konnten:

"Wir werden angegriffen! Man will uns vernichten, doch wir werden denen diesen Gefallen nicht tun!", brüllte Beltar. "Während unsere Frauen und Kinder in die Berge flüchten, werden wir diese Bastarde aufhalten, so lange es nur -"

Wieder eine Explosion. Diesmal traf der Feuerball fast in der Mitte der kampfbereiten Wikinger ein.

Ragnar und Loki warfen sich auf den Boden, als brennende Trümmer auf die Erde nieder regneten. Direkt neben Ragnars Kopf fiel ein rauchender Helm. Sein Besitzer lag als verkohlte Leiche nur wenige Schritte daneben.

Die Krieger brüllten und rannten auf ihren Feind zu, den Ragnar und Loki jetzt zum ersten Mal erblickten:

Ein riesiges Schiff, mit schwarzem Segel und dunkelgrauem Rumpf schwebte über dem Wasser, nur wenige Schritte vom Strand entfernt. Es war umgeben von einer dunkelroten Wolke, aus der unentwegte Blitze aufzuckten. Mit jedem Aufblitzen bebte die Erde unter ihren Füßen. Und dunkle Gestalten schienen aus so einer Art Kanone die Feuerbälle auf die Wikingersiedlung abzufeuern.

"Komm, weg hier!", sagte Loki und zerrte Ragnar mit sich. Doch dies war nicht so einfach, wie sich beide Jungen das vorstellten. Felsen und brennende Hütten versperrten zusehends den Weg zu den Hügeln und Bergen, wohin die meisten Menschen bereits geflüchtet waren.

"Wir dürfen nicht zu den Bergen!", keuchte Ragnar.

"Was?! Wieso denn nicht?!", rief Loki, als sie am felsigen Strand stehen blieben um zu verschnaufen. Überall lagen tote Krieger. Die wenigen, die den letzten Angriff überlebt hatten, kämpften einen aussichtslosen Kampf gegen das Schwarze Schiff.

"Ich weiß es nicht ..." Ragnar schüttelte den Kopf. "Ich glaube, wir sind hier sicherer ..."

Plötzlich war es still. Die Jungen blickten zu dem Schwarzen Schiff, wo Beltar einer schlanken, hochgewachsenen Gestalt gegenüber stand. Viel konnten Ragnar und Loki durch die Rauchschwaden nicht erkennen, nur, dass die Gestalt sehr lange, weiße Haare zu haben schien, sowie einen roten Umhang und schwarze Stiefel trug.

"Wo ... wo ist der Gungnir ...?!", hörte Ragnar die Gestalt leise und doch hörbar Beltar fragen.

"Gungnir?!" Der Wikingerhäuptling machte einen unsicheren Schritt zurück. "Ich weiß nicht ... wovon Ihr sprecht ..."

Plötzlich war ein lautes, markerschütterndes Brüllen zu hören: Es war nicht wie das Schreien eines Menschen. Noch nicht einmal wie das Gebrüll eines Orks. Es klang wie ein wildes, bösartiges Tier und im nächsten Augenblick durchstieß die Gestalt mit einem riesigen, breiten Schwert Beltars Brust.

Die Wikingerkrieger stürzten sich brüllend auf die weißhaarige Gestalt und wurden sogleich von einem gewaltigen Feuersturm zu Asche verbrannt.

All das beobachten die beiden Jungen mit entsetzt aufgerissenen Augen von ihrem Versteck hinter einem Felsen aus.

Die Gestalt bestieg wieder das Schwarze Schiff, welches sich unmittelbar danach höher in die Luft empor bewegte.

"Bei Odins Herz ...", flüsterte Ragnar fassungslos.

Loki packte ihn an der Schulter und riss ihn in Richtung Meer. "Sieh nur, ich hoffe, das ist unsere Rettung!"

Am Horizont erschienen drei Schiffe mit silbernen Segeln. Sie schwebten dicht über dem Wasser, getragen von riesigen Drachen: Es waren Drachenschiffe!

Ragnar konnte nicht fassen, was er da sah: Schiffe der Drachenflotte! Sie kamen ihnen zu Hilfe, er wusste es.

Während sich die Drachenschiffe der Insel näherten, stieg das Schwarze Schiff immer weiter empor und bewegte sich Richtung Berge.

"Nein - Oh nein ... !", keuchte Ragnar entsetzt und rappelte sich wieder auf.

"He, wo willst du hin?!", rief Loki ihm nach und folgte seinem Freund.

"Die Berge! Wir müssen sie warnen. Meine Eltern ... sie sind auch dort ..."

Die beiden Jungen rannten an einem mit Leichen und brennenden Trümmern übersäten Strand entlang, während eines der Drachenschiffe direkt über ihnen zum Stehen kam. Die Elfen warfen Seile und Leitern herab.

Ragnar blieb stehen und konnte durch seine von Rauch und Hitze tränenden Augen schlanke Gestalten in hellen Gewändern und Rüstungen an den Seilen und Leitern herabklettern sehen. Einer der Elfen kam direkt auf ihn und Loki zu.

"Wo sind die Menschen?!", fragte der Elf und Ragnar konnte das Drachensymbol auf seiner Rüstung erkennen.

"Sie laufen Richtung Berge!", krächzte Ragnar und hustete. "Aber dorthin ... dürfen sie ... nicht ..."

Der Elf nickte. "Das wissen wir. Ihr kommt mit an Bord der Drakon, dort seid ihr sicher!"

Loki sah den Elf skeptisch an und machte einen Schritt zurück. "Nee, nee! Ich traue Euch nicht. Vielleicht seid Ihr auch -"

Der Elf packte beide Jungen ohne weitere Diskussion an den Oberarmen und übergab sie einem anderen Elfen, der sie eine herausgefahrenen Leiter zum Drachenschiff hochtrug.

"Meine Eltern! Mein Vater und meine Mutter ... !!!", schrie Ragnar und versuchte sich aus dem Griff des Elfen wieder los zu reißen.

Doch es war vergebens: Der Elfenkrieger hatte keine Zeit, sich um zwei panische Kinder zu kümmern. Er lud sie, als sie auf dem Schiff waren, einfach ab und sagte ihnen: "Wir tun alles, was wir können!" Dann verschwand er wieder.

Ragnar und Loki befanden sich zusammen mit anderen Menschen, die von den Elfen aus der Feuerhölle gerettet wurden, die einst ihre Heimat gewesen war, auf einer Art Promenadendeck: Jedenfalls war es ein riesiger, halbrunder Raum mit einer Aussichtsplattform, von der aus man auf die inzwischen fast völlig in Flammen stehende Insel blicken konnte.

Die Jungen rannten zum Geländer des Promenadendecks und beobachteten das Szenario:

Die beiden anderen Drachenschiffe nahmen die Verfolgung des Schwarzen Schiffes auf und bombardierten es mit weißen Feuerkugeln, welche jedoch keine Wirkung zu haben schienen. Ungerührt und ohne Zögern näherte sich das Schwarze Schiff den Bergen, wo sich dutzende von flüchtenden Menschen befanden, die aus der Höhe wie wuselnde Ameisen aussahen.

"Vater ... Mutter ...", flüsterte Ragnar, als er weitere Menschen in den Flammen umkommen und durch riesige Spalten in der Erde versinken sah.

Plötzlich packte eine kräftige Hand Ragnars Schulter und riss ihn herum.

"Wenn ich dir sage, dass du bei mir blieben sollst, dann hast du das gefälligst auch zu tun!", brüllte Thore. Ragnar konnte kaum glauben, dass er seinen Vater und seine Mutter vor sich stehen sah. Beide wurden von den Elfen anscheinend gerettet. Zusammen mit vielen anderen Wikingern auch, die sich nach und nach auf die Aussichtsplattform der Drakon drängten.

Ragnar stürmte vor und umschlang weinend den massigen Körper seines Vaters. Thore und auch Agna erwiderten die Umarmung.

Loki wandte seine Blick ab und sah zum Schwarzen Schiff, das so eben eines der Drachenschiffe in der Mitte gespalten zu haben schien. Jedenfalls stürzten die zwei brennenden Hälften des ehemals stolzen Schiffes herab. Der Drache, der das Schiff getragen hatte, torkelte brüllend ziellos durch die Luft und fiel zusammen mit den riesigen Trümmern seines Schiffes in die brennende Trümmerwüste, die einst das Dorf der Wikinger Siedlung - und auch seiner und Ragnars Heimat - gewesen war. Im nächsten Augenblick baute sich ein Ring aus roten Wolken um die Spitze des höchsten Berges auf. Das Schwarze Schiff schwebte knapp darüber und hellblaue Blitze stoben aus ihm hervor auf den Berg.

"Ragnar ...", flüsterte Loki leise und mit heiserer Stimme. Ragnar wandte sich langsam von seinen Eltern ab und blickte in Lokis Richtung. Dieser drehte sich um und zeigte der schrecklichen, apokalyptischen Szene den Rücken.

Ragnar hielt die Luft an, dann machte er den Mund auf, um etwas zu sagen, als im nächsten Augenblick die Drakon mit Wucht durch Seite gestoßen wurde. Alle Menschen und Elfen wirbelten wie Spielzeuge durch die Luft. Viele fielen über das Geländer des Aussichtsplattform in die Tiefe. Loki stürzte durch die Luft und prallte mit Ragnar und seinen Eltern zusammen. Die Welt um sie herum war zunächst von einem hellen, blauen Licht erfüllt, dann wurde alles Orange und schließlich Rot.

"Bei Oberon ...", keuchte Thore entsetzt, der sich zusammen mit anderen Menschen und Elfen am Geländer der Plattform festhielt und zu den Bergen der Insel blickte. "Seht euch das mal an!"

Die Spitze des Berges fiel in sich zusammen. Riesige Felsen und Steine überrollten jene Menschen, die versucht hatten, in die Berge zu flüchten. Was folgte, war so unfassbar, dass es noch nicht einmal die Elfen zu glauben schienen, waren sie doch für ihren kühlen Ernst und ihre geistige Beherrschung bekannt: Aus dem einfallenden Loch des Berges strömte eine glühende, rote Flüssigkeit, die sich in das Tal und die zerstörte Siedlung der Wikinger ergoss und alles in Flammen setzte, was sich ihr in den Weg stellte.

"Lava ... Es ist tatsächlich Lava ...", flüsterte Agna.

"Ein Vulkan!", schrie einer der Elfen in Hintergrund. "Der Todesgott kann tatsächlich Vulkane erschaffen!"

Loki kletterte über die überall sich verklammernden Menschen und Elfen hinauf zum Geländer. "Ein Vulkan? Lava?", keuchte er mit seiner heiseren Stimme. "Das ... muss ich ... sehen ..."

"Loki! Nein!", rief Ragnar und kletterte ihm hinterher. "Das ist zu gefähr -"

In diesem Augenblick fand der Drache, der die Drakon trug, wieder sein Gleichgewicht und dutzende von Menschen und Elfen, purzelten über das Deck, fielen von Leitern und Geländer, an denen sie sich festgeklammert hatten. Loki verlor ebenfalls sein Gleichgewicht, denn die Verlagerung der Lage des Schiffes, traf ihn genauso unerwartet, wie die anderen. Er stolperte über das Geländer und rutschte auf die Außenseite des Schiffes. Ragnar sprang nach vorne und konnte Loki gerade noch bei den Händen packen. Mehrere andere Menschen und Elfen verloren ihren Halt und fielen rechts und links von Ragnar schreiend in die Tiefe.

"Loki ...", stammelte Ragnar, der selbst kaum Halt finden konnte. Die Drakon schwankte immer noch auf und ab. Er spürte, wie Lokis Arme durch seine eigenen, schwitzigen Hände glitten.

Loki blickte hoch, sah Ragnar in die eisblauen Augen ... und lächelte. Fast unmittelbar unter ihm ergossen sich immer mehr Lavaströme über die Insel und vernichteten und töteten alles, was sich noch darauf befand.

"Loki, ich ..."

Der Junge mit den roten Haaren lächelte immer noch. "Wir sehen uns. Dann erzählst du mir wieder meine Lieblingsgeschichte, ja?!"

Ragnar spürte, wie ihm Tränen über das mit Asche und Rauch schwarz verschmierte Gesicht liefen. Er nickte widerwillig. "Oder du erzählst mir eine Geschichte."

Loki nickte und lächelte immer noch. Wieder schien die Zeit still zu stehen: Kein Geräusch war zu hören. Ragnar konnte nur seinen eigenen Atem und Herzschlag hören.

"Loki, ich ..."

Dann verlor er endgültig den Halt und Loki fiel in die Tiefe, verschwand in einer riesigen Mauer aus roten Wolken und Rauch und Blitzen, welche das Schwarze Schiff aussandte.

Der Vulkan verschlang die gesamte Insel und erlosch in einem gewaltigen, letzten Feuerblitz.

Das Schwarze Schiff verschwand hinter einer gigantischen Säule aus Feuer, Rauch und Asche.

Ragnar fiel rückwärts auf den Holzboden der Plattform und starrte in den inzwischen mit Rauch und Feuer erfüllten Himmel. Ein sich allmählich wieder abkühlender Wind, erfüllt von Asche und Rauch, wirbelte Ragnars hellblonde Haare über sein Gesicht.

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