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Walhalla

Teil 2 - Der Froggy mit dem blauen Stein

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL ZWEI - Aufbruch in ein neues Leben

(Acht Jahre später)

1

Das Vorhaben, die Westsiedlungen zu verlassen, hatte Ragnar schon lange beschlossen, jedoch bisher nicht den Mut aufgebracht, dies seinen Eltern mitzuteilen. Er war zwar seit fünf Jahren im Mannesalter - bei den Wikingern war man mit fünfzehn Wintern ein Mann und bekam dann auch zum ersten Mal ein echtes Schwert aus Metall in die Hand - aber er fühlte sich für das Wohl seiner Familie verantwortlich, für seine Eltern. Sein Vater Thore war seit drei Jahren fast blind, seine Mutter Agna hatte seit jener Nacht, in der sie ihre Heimat verloren hatten, nicht mehr aufgehört zu husten. Ragnar war seit jener schicksalshaften Nacht, in der er nicht nur seine Heimat, sondern auch seinen Bruder Loki verloren hatte, ständig mit Krankheit und Tod konfrontiert.

Alles begann unmittelbar mit dem, was die Elfen die "Umsiedlung der Alten Völker" nannten. Dies klang nach Zwang, nach etwas, was höheren Interessen galt: Platz machen, um Neues entfalten zu können. So, wie einst primitive Völker einfach aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, um jenen Platz zu machen, die schlicht weg die besseren Waffen hatten.

Doch in diesem Fall war es etwas anderes: Der Zwang kam nicht von den Elfen und dem "Hohen Volk des Südens", sondern aus der Not heraus. Es war nämlich nicht nur der Wikinger Klan, zu dem Ragnar und seine Eltern angehörten, der seine Heimat verloren hatte. In jener Nacht sollen laut mündlicher Überlieferungen mehrere Inseln und Städte von einem "geheimnisvollen, schwarzen Schiff" angegriffen worden sein. Diese Geschichte wurde deshalb mündlich überliefert, weil es verboten war, darüber zu schreiben oder auch nur darüber zu sprechen. Man tat es hinter vorgehaltener Hand, heimlich und mit größter Vorsicht.

Ragnar sollte im Jahr seines zwanzigsten Geburtstages erfahren, warum die Elfen und Menschen aus dem Hohen Volk alles daran setzten, die Existenz des Schwarzen Schiffes und seiner Schandtaten geheim zu halten. Doch gerade diese Geheimhaltung sollte letztendlich ihr Schaden werden.

2

Die Westsiedlungen befanden sich auf einer Inselkette zwischen dem Keltenland und dem Eisland, welches von den Ureinwohnern selbst "Midgard" genannt wurde. Das Keltenland war die Heimat der Menschen, Eisland gehörte offiziell ebenfalls den Menschen, doch es lebten dort mehr Trolle als Menschen. Die unwirtliche Gegend, die ständigen Vulkanausbrüche und das raue Klima gefiel den Trollen besser als den Menschen oder Elfen, sodass es schließlich den Trollen überlassen wurde.

Jene Inselkette, die Ragnar und seinem Klan sowie anderen verwaisten Völkern, die ausnahmslos alles Menschen waren, als "neue Heimat" diente, war beherrscht von einem gemäßigten Klima: Es gab keine echten Winter, aber auch keine richtig warmen Sommer. Zu Beginn der Besiedlung hatten die Wikinger und Nordmänner und Nordfrauen große gesundheitliche Probleme: Nicht wenige starben gar an den Folgen des ungewohnten Klimas. Ragnar erfuhr später in der Schule, dass das Klima nicht immer so gewesen war. Die Westsiedlungen sollen einst viel wärmer gewesen sein, doch mehrere Vulkanausbrüche und Brände sollen angeblich das Wetter "verändert" haben.

Ragnar war es gleich: Er mochte die Gegend nicht besonders, war sie zum einen kein wirklicher Ersatz für seine alte Heimat, und zum anderen zu weit von seinem Traum entfernt, Mitglied der Drachenflotte zu werden.

Einst hatte er seinem Vater davon erzählt, es war an seinem fünfzehnten Geburtstag gewesen. Thore war alles andere als begeistert. Zu dieser Zeit hatten seine Augen bereits begonnen, trübe zu werden.

"Was, du willst diesen hochnäsigen Spitzohren beitreten?!", hatte Thore wutentbrannt gebrüllt. "Mein Sohn ist ein Wikinger und kein Elf im Glitzerfummel!"

"Die Elfen haben uns das Leben gerettet, schon vergessen?!", hatte Ragnar seinem Vater entgegnet, was Thore noch wütender gemacht hatte:

"Ihre Waffen waren es, die die Insel zerstört haben!", brüllte er und verließ dann den Raum. Er wollte nichts mehr davon hören.

Welche Waffe oder welcher Zauber letztendlich die Insel zerstört hatte, blieb ein Geheimnis, welches keiner der Menschen hatte lösen wollen. Die Wikinger taten so, als wäre die Katastrophe niemals passiert. Ragnars Mutter pfiff und sang sogar leise und vergnügt gerade einmal zwei Tage nach dem Untergang ihrer Heimat. Thore hämmerte wie besessen mit seinem Hammer auf glühendes Metall - er arbeitete als Hufschmied in der Westsiedlung. Und auch die anderen seines Klans schienen die schreckliche Nacht verdrängen zu wollen.

Doch Ragnar nicht. Er konnte es nicht. Alleine schon Loki und all den anderen Opfern dieses feigen Angriffes war er es schuldig, dieses Geheimnis zu lüften; die Frage nach dem "Warum?" zu beantworten. Denn es gab immer eine Antwort auf das "Warum?"

Die "Neue Heimat", welche Ragnar nie als seine wahre Heimat akzeptiert hatte, zu verlassen, war weniger schwierig als seine Eltern zu verlassen. Sie wollten zwar wie alle anderen Überlebenden auch die Augen vor dem Geschehenen verschließen, doch es waren immer noch seine Eltern. Mit dem Wunsch, Pilot eines Drachenschiffes werden zu wollen, konnte er seinen Eltern nicht kommen. Deshalb arbeitete Ragnar seit jenem kurzen, aber heftigen und lauten Gespräch mit seinem Vater vor fünf Jahren, jeden Tag daran, seinem Traum auf einem anderen Weg näher zu kommen.

3

Er stand mit freiem Oberkörper auf einem Felsvorsprung, den Blick auf das Meer gerichtet. Sein hellblondes, schulterlanges Haar fiel ihm in Strähnen über die Stirn; seine Augenbrauen waren zu einem ernsten, fast grimmigen Blick verzogen. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt; er atmete ruhig, tief und konzentriert. In einer Hand hielt er das Breitschwert, welches ihm sein Vater vor fünf Jahren geschmiedet hatte, die andere Hand hielt er vom Körper weg ausgestreckt; mit den Beinen hielt er sich in einer wartenden Position, welche in der Kampfkunst als "Hab Acht!" - Stellung bezeichnet wurde.

Abgesehen vom Rauschen des Meeres und dem Pfeifen des Windes war alles still um ihn herum. Ragnar hatte sich bewusst diesen Platz zum Trainieren ausgesucht, denn hierher verirrten sich nur sehr selten andere Menschen. Noch nicht einmal die Elfen tauchten in diesem Teil der Insel auf, wenn sie nach den "ausgesiedelten Kolonien" sahen. Keiner, bis auf Tarian.

Ragnar hielt den Blick seiner eisblauen Augen wachsam und konzentriert auf den Horizont gerichtet und zuckte nicht mit einer Wimper, als er die Stimme jenes Elfen hinter sich vernahm:

"Für einen Wikinger hast du eine verdammt gute Mentalität."

"Und für einen Elfen bist du verdammt unvorsichtig.", sagte Ragnar tonlos. "Ich habe dich kommen hören, als du noch hinter den Dünen außer Sichtweite warst."

Der Elf blieb stehen und verschränkte die Arme. "Keine Angst davor, von hinten überwältigt zu werden?"

"Erstens", sagte Ragnar, ohne sich umzudrehen. "wird man hier in der Westsiedlung nicht von hinten überwältigt und Zweitens" Er wirbelte herum und schwang sein Schwert. "Habe ich vor nichts Angst!"

Tarian zog blitzschnell sein eigenes Schwert aus der Scheide und wehrte grinsend Ragnars Angriff ab. Sie tauschten einige Schwertschläge - Ragnar parierte Tarians Gegenwehr gekonnt ab, warf sich zur Seite, wirbelte herum und stoppte mit seinem Schwert dicht neben Tarians Halsschlagader.

"Du hast verloren, mein Freund", sagte Ragnar gelassen.

"Ach, wirklich?"

Ragnar hatte Tarians linke Hand übersehen, die den Griff des kunstvoll gefertigten Elfenschwertes verdreht von der anderen Seite gepackt hielt. Er schnellte mit dem Arm nach oben und drehte sich gleichzeitig zu Ragnar um, dessen Schwert durch die Luft flog und scheppernd auf dem harten Stein des Felsens aufprallte. Jetzt war es Ragnar selbst, der die scharfe Klinge eines Schwertes dicht neben seinem Hals spürte.

Er verdrehte die Augen und der Elf lächelte kühl.

"Komisch", begann Tarian und ließ sein Schwert sinken. "ich war davon überzeugt, dass du diesen Trick endlich durchschaut hast."

Ragnar hob sein Schwert auf und betrachtete es, während er mit Tarian sprach. "Ich glaube, dass nur Elfen diesen Trick wirklich gut beherrschen."

"Du meinst Elfen, die keinen Wert darauf legen, in der Drachenflotte zu dienen."

Ragnar blickte seinen elfischen Freund ernst an. Tarian hatte sich in den letzten acht Jahren, seit sie sich bei der Rettung durch die Drakon zum ersten Mal gesehen hatten, kaum verändert, nur, dass er sein hellblaues Haar viel kürzer trug und um seine Stirn ein rotes Stirnband gebunden hatte. Über seiner roten Tunika trug er einen Gürtel, an dem sein Schwert in der Scheide steckte.

"Schwertkampf ist wichtig", sagte Ragnar.

"Aber nicht die einzige Prüfung, die bestanden werden muss, um bei der Drachenflotte in die Ausbildung zu gehen", erwiderte Tarian. "Du hängst immer noch an diesem Traum, oder?"

Während sie miteinander sprachen gingen sie gemeinsam zur Siedlung zurück, die aus dutzenden Hütten und kleinen Häusern aus Lehm und Holz bestand.

"Ich fühle mich weder zum Landwirt noch zum Hufschmied berufen, mein Freund", sagte Ragnar. "Außerdem bin ich es jemandem schuldig."

Tarian seufzte. Er sprach ihn nicht darauf an, aber beide wussten, wovon Ragnar sprach. Natürlich hatte er nach der Übersiedlung die ganze Geschichte erfahren. Damals war Ragnar noch ein Knabe gewesen, ein Kind, und Tarian war beauftragt worden, sich vor allem um die jungen Überlebenden der Angriffe zu kümmern. Ragnar war jedoch der Einzige, der sich brennend von Anfang an für die Drachenflotte und ihre Schiffe interessierte. Aus den abendlichen Gesprächen am Lagerfeuer und der Hilfe beim Aufbau der Kolonie wurde eine echte Freundschaft. Sie sahen sich jeden Tag und als Ragnar fünfzehn wurde, begann der Elf ihn auch im Umgang mit dem Schwert zu unterrichten. Sein Vater, Thore, hatte schon damals nie wirklich Interesse daran gezeigt, was sein Sohn wirklich wollte, wofür sein Herz schlug. Im Gegensatz zu ihm und dem Rest der Überlebenden sprach Tarian über die erlebten Dinge; die Angriffe und auch über die Toten.

Vor einem Jahr war Tarian aus der Drachenflotte ausgeschlossen worden, weil er angeblich die Menschen zu sehr beunruhigte. Geschichten über das Schwarze Schiff und den Vulkan waren verboten, vor allem für die Mitglieder der Drachenflotte. Offiziell wurde der Befehl damit begründet, dass man die Menschen nicht beunruhigen, nicht grundlos in Angst und Panik versetzen sollte. Und obwohl Tarian nie mit Ragnar direkt über geheime und verbotene Informationen sprach - er wusste selbst nur sehr wenig - war er aus der Drachenflotte ausgeschlossen worden.

"Ja, ich weiß." Tarian nickte langsam. "Aber hör' mal Ragnar, ganz im Vertrauen." Er blieb stehen und berührte Ragnar an der Schulter. "Vielleicht ist es besser, die Geschichten ruhen zu lassen. Lass ihm seinen Frieden. Du musst ..."

Ragnar wich vor dem Elf zurück, streifte dessen Hand von seiner Schulter und funkelte ihn böse an. "Was? Was ... muss ich?!"

"Ihn ruhen lassen. Lass die Toten ruhen."

Ragnar erhob drohend seinen Zeigefinger. "Du sprichst von Loki. Das war nicht einfach irgendjemand, er war mein Bruder. Mehr als ein Bruder und das weißt du auch!"

"Aber hätte Loki das gewollt?!", fragte Tarian, deutlich erregt, aber mit immer noch beherrschter Stimme.

"Was weißt du denn schon?!", zischte Ragnar. "Du hast ihn nicht gekannt."

Dann wendete er sich von ihm ab und ging weiter auf die Siedlung zu, während Tarian stehen blieb und ihm nachblickte.

4

Ragnars Hände zitterten vor Aufregung - es war eine Mischung aus Wut und auch wiederaufkommender Trauer. Wut auf Tarian, Trauer um Loki. Oder war es vielmehr eine Wut auf das, was Tarian ihm da gesagt hatte? War er wütend, weil sein Elfenfreund vielleicht recht hatte?

"Ich wollte schon immer zur Drachenflotte", sagte er leise zu sich selbst, als er die enge Gasse entlang ging, die zu seinem Haus führte. "Damit hat Loki nicht das Geringste zu tun. Ich will hier nicht den Rest meines Lebens verbringen. Ich will raus aus diesem Moloch und endlich mein Leben leben."

Wenig später, es dämmerte bereits der Abend, saß Ragnar auf seinem Bett und betrachtete das inzwischen arg mitgenommene Pergament, welches er als Knabe mit der Skizze eines Drachenschiffes geziert hatte. Es war die Zeichnung eines Kindes und inzwischen konnte Ragnar weitaus bessere Zeichnungen anfertigen - vor allem von Schiffen, Drachen und Landkarten - aber jene Zeichnung war das Letzte, was Loki gesehen hatte. Er hatte das Pergament in seinen Händen gehalten, hatte es betrachtet, seine Sprüche und Witzeleien darüber zum Ausdruck gebracht. Nicht alles war nett und freundlich, was aus Lokis Mund gekommen war, doch Ragnar hatte inzwischen alle Frechheiten und Sticheleien seines Freundes, seines Bruders im Geiste, verziehen.

Er stand auf und zog sich an: Seine Hose aus blauem Stoff, die schlichte, hellgraue Tunika, Lederstiefel und den selbst gefertigten Gürtel mit seinem Schwert. Zum Schluss setzte er sich den Helm auf. Es war ein typischer Wikingerhelm aus Metall und Holz und zwei Hörnern an den Seiten gefertigt. Sein langes, blondes Haar hing in langen Strähnen auf beiden Seiten sowie über seinen Rücken herunter.

Ragnar hatte eine niedrige Stirn, die seinem Gesicht in Kombination mit dem vorstehenden Unterkiefer ein etwas grobes Aussehen verlieh. Er lachte sehr selten - eigentlich fast gar nicht. Loki hatte ihn immer zum Lachen gebracht, doch Loki war fort.

Er hielt kurz inne und seufzte. "Bitte, Oberon und Odin, lasst mich nicht mehr diese Träume haben. Lasst mich endlich den Schmerz vergessen", flüsterte er. Er betete immer zu beiden Göttern: Dem der Elfen und dem der Nordmenschen. Er bezweifelte, dass beide in Walhalla ihren Thron hatten, aber das war ihm auch egal. Elfen hatten ihm und den meisten seines Klans das Leben gerettet, deshalb hatte auch ihr Gott das Recht auf Anbetung.

Eine Verabschiedung würde es nicht geben, das hatte Ragnar vor einiger Zeit beschlossen. Er wusste, dass er so niemals von seinen Eltern fortkommen würde. Und er würde ja auch nicht für immer verschwinden, nur so lange, bis er seinen Traum erfüllt hätte. Deshalb: Keine Verabschiedung.

Ragnar hatte sich eine Tasche mit Vorräten und Wasserschläuchen gepackt, die er unter seinem Bett hervorzog. Und als die Sonne untergegangen war und die Nacht hereinbrach, verließ er sein Haus, seine Eltern und die Westsiedlungen.

KAPITEL DREI - Der Froggy mit dem blauen Stein

1

In den Ostsiedlungen nahe der Sorgenberge, welche die Ost- von den Westsiedlungen trennten, herrschte strahlender Sonnenschein. Es war gerade der Sommer angebrochen und die ersten Flaumblumen erblühten - jene Pflanzen, deren Blüten großen, weißen Schneebällen glichen - sowie Fleischpflanzen oder Steinpilze, welche vor allem in den Ostsiedlungen sehr zahlreich waren.

Durch diese idyllische Landschaft, begleitet von fröhlichem Vogelgezwitscher und dem Rascheln der Blätter in den Bäumen, hetzte eine kleine, magere Gestalt, die immer wieder verstört um sich blickte und in gebückter Haltung weiter und scheinbar ziellos über Steine und umgefallene Baumstämme stolperte und hastete. Gebückt war seine Körperhaltung deshalb, weil er etwas an seinen Körper drückte; einen Gegenstand. So fest mit seinen langen, dürren Armen umschlungen, als wäre es das wertvollste Ding der Welt und so wichtig, dass er alleine des Besitzes wegen um sein Leben fürchten würde. Und genauso war es auch.

Die grüne, barfüßige Gestalt mit dem langen Schwanz und den tiefschwarzen Haaren, welche ihm wirr vom Kopf abstanden, war mit nicht mehr als ein paar schmutzigen Lumpen bekleidet. An seinem linken Fuß war sie verletzt, doch das störte sie wenig. Die Schmerzen waren nichts im Vergleich zu dem, was sie zu erwarten hatte, wenn sie von ihren Verfolgern geschnappt werden würde.

Irgendwo hinter der nächsten Bergkette am Waldrand sollte eine Menschensiedlung sein. Jedenfalls glaubte er das wage noch in Erinnerung zu haben - die ganze Nacht war er fast pausenlos gerannt, hatte weder etwas zu Trinken oder zu Essen, geschweige denn Ruhe oder Schlaf gefunden. Seine Kehle war ausgetrocknet, seine Lungen brannten und überhaupt schmerzte sein ganzer Körper.

Vor seinem inneren Auge tanzten immer jene erlebten Grausamkeiten und die Bilder von Folter und Schmerz vorbei. Die Schreie, die Qual, die Erniedrigungen ...

In der Ferne glaubte er Rauchsäulen zu erkennen. Die Menschensiedlungen? Lagerfeuer? Ein hastiger Blick über seine Schulter nach hinten verriet ihm, dass er im Augenblick nicht verfolgt wurde. Was das grüne Wesen nicht wusste: Es wurde nie verfolgt. Seine Verfolger gab es nur in seiner Vorstellung. In Wirklichkeit wurde in diesem Augenblick erst bemerkt, dass er entkommen war. Doch sein Verstand, die Fähigkeit, vernünftig und klar zu denken, wurde ihm während der Sklaverei in den Minen genommen ... Er glaubte immer noch, Verfolger zu sehen. Jene Monster, die ihn zurück in die Bergmienen zerren und wieder auspeitschen würden ...

Er musste weiter. Weiter zu den Rauchsäulen. Weiter zu den Menschen, die ihm hoffentlich helfen konnten.

2

Ragnar stand an einem Felsvorsprung und blickte in die Tiefe. Unter ihm war das, was die Menschen der Ostsiedlungen den "Trollwald" nannten. Ein riesiges, mit Nadelhölzern bewachsenes Gebiet, in dem vorwiegend Trollstämme lebten. Die Trolle selbst nannten ihren Wald einfach "Wald" oder auch "Grüne Höhlen", legten aber ansonsten scheinbar kaum Wert darauf, ihrer Heimat einen richtigen Namen zu geben. Sie scherten sich kaum um Fragen über politische Dinge wie "Staat" oder "Reich". Die Menschen ließen die Trolle schon lange in Ruhe - wenn sie nur in ihrem "Wald", ihrer "Grünen Höhle" blieben.

Der junge Nordmann mit dem langen, blonden Haar, welches unter seinem Helm hervorlugte, atmete tief durch, schloss kurz die Augen, dann sprang er ab.

Für die Dauer eines Herzschlages war er im freien Fall. Er spürte die immer kühler werdende Luft, welche seinen Körper wie hundert sanfte Hände umschlang, sah ein dunkelgrünes Meer aus Bäumen auf sich zurasen und spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, sich einfach weiter fallen zu lassen. In kaum einer anderen Situation hatte ein Mensch das Gefühl der Intensität des Lebens wie im Angesicht des Todes.

Dieses Gefühl, diese Intensität, kostete Ragnar voll aus, ließ es durch seinen Körper strömen wie das berauschende Gefühl von Met, wie die Kraft der Sonnenwärme, wie das stärkende Gefühl der Kälte bei einem Eisbad.

Dann zog er an einem Seil und die eingefalteten Drachenflügel, welche sich in einem Rucksack auf seinem Rücken befanden, entfalteten sich und ließen ihn gemächlich durch die Luft gleiten.

Ragnar hatte bereits vier dieser "Drachengleiter", wie er sie nannte, gebaut. Seinen Traum vom Fliegen, dem Gefühl, dem Himmel so nah zu sein, hatte er nie aufgegeben. Nur hier, in der Luft und frei wie ein Vogel, konnte er seinen Schmerz vergessen, konnte er etwas (oder jemandem ...) so nahe sein wie sonst nirgendwo.

Seit einem Monat lebte Ragnar in einem Dorf der Ostsiedlungen, über hundert Luftmeilen vom Dorf seiner Eltern entfernt. Im Vergleich zu den Westsiedlungen waren die Ostsiedlungen keine "Notbehausungen" für Flüchtlinge der Vulkankatastrophe oder den Angriffen des Schwarzen Schiffes. Die Ostsiedlungen waren auch keine reinen Menschengemeinden. Zwar lebten hier hauptsächlich Menschen zusammen, doch fand man auch Elfen, einige Trolle und sogar Froggys, wenn sich diese Wesen auch meist von den Menschen absonderten. Den meisten Menschen waren ohnehin jene fremdartigen Wesen nicht ganz geheuer - vor allem, weil sehr vielen, vor allem älteren Menschen, immer noch der Krieg zwischen den Elfen und den Orks als böse Erinnerung in den Knochen lag, der vor fast dreißig Jahren fast auf der ganzen Welt getobt hatte. Seit die Orks sich friedlich zurückgezogen und die Elfen einen Teil ihrer Ländereien dem Kriegervolk überlassen haben, hat kein Mensch mehr Orks gesehen. Doch der Krieg hatte bei manchen Menschen ein generelles Misstrauen gegenüber fremden Völker erzeugt, vor allem jenen Wesen, die den Menschen wenig ähnlich waren.

Und so kam es, dass die wenigen Froggys und Trolle in den Ostsiedlungen als fahrendes Volk von Händlern oder Schaustellern tätig waren. Man war den grünen Amphibienwesen - den Froggys - und den meist dürren, behaarten Wesen - den Trollen - gegenüber freundlich aber reserviert eingestellt. Und auf seinem Grundstück oder gar in der Familie wollte man einen Troll sowieso nicht haben. Natürlich nicht offiziell, aber dem Getuschel und den Blicken der Dorfbewohner nach schon.

Ragnar waren diese Dinge jedoch recht gleichgültig. Er hasste Trolle oder Froggys zwar nicht, aber er liebte sie auch nicht. Wenn es Streit zwischen Menschen und Trollen gab, hielt er sich raus. Er wollte keinen Ärger haben. Leider, so musste Ragnar jedoch feststellen, machte man sich damit auch keine Freunde. Doch die brauchte er auch nicht. Alles, was Ragnar brauchte, war das Gefühl, frei wie ein Vogel (oder wie ein Drache) durch die Lüfte zu gleiten. Er genoss immer wieder die gewaltige, atemberaubende Aussicht - der dunkelgrüne Wald unter sich, die Sorgenberge als gewaltige Felsformation vor sich, in der Ferne das Glitzern des Meeres, wilde Tiere, und ...

Plötzlich sah er eine kleine Gestalt aus dem Wald in Richtung Siedlung laufen. Nur war es kein richtiges Laufen, sondern eher ein Stolpern. Ragnar kniff die Augen zusammen und konnte eindeutig erkennen, dass es kein Tier, aber auch kein Mensch war. Dies verriet der lange Schwanz mit dem schwarzen Fellbüschel an seiner Spitze. Sein Instinkt sagte ihm, dass das Wesen verfolgt wurde, jedenfalls blickte es ständig hinter sich.

"Was geht es mich an", murmelte Ragnar vor sich hin und zog an einem der Ledergriffe, mit welchen sich die Flugbahn des Drachengleiters steuern ließen. Er steuerte nach links zur Waldlichtung, auf der er wieder landen wollte, als er das scheinbar verfolgte Wesen über einen umgefallenen Baum stolpern und stürzen sah. Das Wesen schleuderte regelrecht durch die Luft und kreischte schrill auf, als es hart auf dem Boden aufschlug. Seine langen dürren Arme wirbelten herum und etwas schien ihm aus der Hand zu fallen. Jedenfalls konnte Ragnar einen großen, unförmigen Gegenstand erkennen, der zu Boden fiel. Das Wesen selbst landete mit dem Gesicht im Gras und blieb liegen.

Ragnar steuerte den Drachengleiter nach rechts und zog an einem anderen Griff, der die Flügel ein wenig anhob, sodass er landen konnte. Die Landung war immer das Schwierigste - er konnte nie genau abschätzen, wie er wo auf der Erde aufkommen würde. Doch diesmal hatte er Glück: Knapp über dem Boden konnte er Halt mit seinen Füßen finden und die Flügel so elegant in eine flache Position bringen, dass die Landung weniger schmerzhaft war als jene vor vier Tagen. Zudem landete er nicht wieder in einem See oder auf einer Geröllhalde wie vor einem Monat, sondern auf der Waldlichtung im weichen Gras, wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo das scheinbar verfolgte Wesen immer noch mit dem Gesicht im Gras bewegungslos dalag.

Ragnar öffnete seinen Brustgürtel, legte die schweren Drachenflügel ab und legte sie ins Gras ab. Dann ging er zögernd auf das immer noch reglos am Boden liegende Wesen zu.

"Hallo?! He, du da!", rief er unsicher. Er wollte keinen Ärger haben. Vielleicht war es ein entflohener Sträfling oder gar ein Wesen, welches seinem vermeintlichen Helfer die Kehle durchbiss.

Beim Näherkommen erkannte Ragnar nackte, grüne Beine und Füße sowie einen ziemlich dürren, zerschundenen Körper. Die Arme waren lang und dürr und wiesen unzählige Abschürfungen und Wunden auf. Die hellgrünen Fußsohlen waren ebenfalls zerschunden und sahen aus, als wäre das Wesen tagelang über Steine und Felsen gerannt.

Ragnar blieb einen Schritt entfernt abrupt stehen. "Ein Froggy ...", flüsterte er überracht. "Was macht der denn hier?!"

Einige Herzschläge lang stand er da und starrte auf den reglosen Körper, der sich langsam hob und senkte. Also lebte er noch, jedenfalls atmete er.

Vorsichtig ging Ragnar weiter auf den Froggy zu, ging in die Hocke und rüttelte an seiner Schulter. Ragnar trug Handschuhe, wie er es bei seinen Flügen immer tat. Deshalb hatte er auch keine Hemmungen, den Froggy zu berühren.

"He, du! Wach` auf!", sagte er etwas lauter und nachdrücklicher.

Der Froggy gab ein leises, aber langes Stöhnen von sich. Er öffnete kurz die Augen und Ragnar konnte die schwarz-gelben Augen - gelbe Pupillen, schwarze Augen - erkennen. Es waren die Augen eines Amphibienwesens und manche Menschen verglichen diese Augen mit Dämonenaugen. Beängstigend für so manche Leute. Nicht für Ragnar. Wie gesagt: Er liebte fremdartige Wesen zwar nicht, aber er hasste sie auch nicht. Sie waren ihm gleichgültig.

"He, wer bist du? Brauchst du Hilfe?!"

Der Froggy starrte Ragnar erschrocken an, dann riss er sich aus seiner Berührung an der Schulter los und krabbelte fauchend über den Boden von Ragnar weg.

"Hau` ab! Lass mich in Ruhe, Mensch!", fauchte der Froggy. "Ich lass` mich nicht mehr einsperren! Ich bin frei, hörst du?! FREI!"

Der Froggy hatte die zischelnde Aussprache einer Schlange und lispelte leicht. Sein Oberkiefer stand weit vor, sodass man seine langen, spitzen Eckzähne gut sehen konnte. Sein Gesicht sowie seine Arme und Beine waren sporadisch von schwarzen, borstigen Haaren bedeckt.

"Was tust du dann hier?!", fragte Ragnar trocken. "Du bist doch kein entlaufener Sträfling, oder?!"

"Bin entkommen!", rief der Froggy keuchend. "Bin dem Todesgott entkommen, der mich und mein Volk quält."

Ragnar verdrehte genervt die Augen und erhob sich. "Na toll, ein geistig verwirrter Froggy. Todesgott, so ein Schwachsinn ..." Während Ragnar leise vor sich hinmurmelte, wandte er dem Froggy den Rücken zu und entfernte sich von ihm. Er ging auf seine Drachenflügel zu, um sie aufzunehmen. Der Wind stand sehr günstig, er würde gleich noch mal einen Flug wagen. Er ging an dem Froggy vorbei und kickte dabei versehentlich gegen den Gegenstand, welchen das geflüchete Wesen verloren hatte.

"He, pass` doch auf, Menschenstinker!", rief der Froggy schrill und warf sich regelrecht mit dem Bauch auf den Gegenstand. Dabei hätte er um ein Haar Ragnar umgeworfen.

Der Nordmann wirbelte herum und funkelte das grüne Wesen böse an:

"Wag es ja nicht, mich anzugreifen, ja?!"

Der Froggy presste den Gegenstand an seine nackte, hellgrüne Brust und blickte den Menschen misstrauisch an. "Du greifst mich gefälligst nicht an, ja?!"

Ragnar winkte ab und wendete sich wieder seinen Drachenflügeln zu.

"Das Steinding ist wichtig und wertvoll."

"Ja, ja, aber sicher ..." Ragnar nahm den Rucksack mit den Flügeln an sich und begann, das Stoffgewebe der Flügel einzufalten.

"Damit baut man einen Gungnir-Speer", hörte er hinter sich die zischelnde Stimme des Froggys sagen und bei diesen Worten erstarrte Ragnar plötzlich in seiner Bewegung ...

...

Viel konnten Ragnar und Loki durch die Rauchschwaden nicht erkennen, nur, dass die Gestalt sehr lange, weiße Haare zu haben schien, sowie einen roten Umhang und schwarze Stiefel trug.

"Wo ... wo ist der Gungnir ...?!", hörte Ragnar die Gestalt leise und doch hörbar Beltar fragen.

"Gungnir?!" Der Wikingerhäuptling machte einen unsicheren Schritt zurück. "Ich weiß nicht ... wovon Ihr sprecht ..."

Plötzlich war ein lautes, markerschütterndes Brüllen zu hören: Es war nicht wie das Schreien eines Menschen. Noch nicht einmal wie das Gebrüll eines Orks. Es klang wie ein wildes, bösartiges Tier und im nächsten Augenblick durchstieß die Gestalt mit einem riesigen, breiten Schwert Beltars Brust.

...

3

Er drehte sich langsam zu dem Froggy um und starrte ihn einen Augenblick lang an. Der Froggy stand keuchend da und starrte ihn ebenfalls an.

"Was hast du da gesagt? Einen ... Gungnir-Speer? Du weißt, was das ist?!"

Der Froggy legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. "Ja, vielleicht."

Ragnar stürmte nach vorne und packte die dürre Gestalt an den Schultern. "Willst du mich hinters Licht führen, oder was?! Weißt du, was ein Gungnir-Speer ist oder nicht? Sprich!"

Der Froggy schluckte erschrocken, dann streckte er seine Hand aus und öffnete sie. Ragnar konnte den Stein, der etwa so groß wie eine Kinderfaust war, sehen: Er war blau und war mit schwarzen Linien, welche wie Schlangen oder Würmer aussahen, durchzogen.

"Ich weiß nur", begann der Froggy müde, "dass wir danach graben mussten. Meine Artgenossen müssen es immer noch. In den Sorgenbergen. Und es heißt, dass der sogenannte Todesgott daraus etwas fertigen will, das sich Gungnir-Speer nennt."

Ragnar nahm den blauen Stein an sich und betrachtete ihn. Nach einer Weile - er dachte darüber nach, ob der Froggy ihn anlog, denn die Geschichte klang etwas absurd in seinen Ohren - machte er den Mund auf um etwas zu fragen, als der Froggy vor ihm auf dem Boden lag.

"He, HE!" Ragnar stieß das grüne Wesen mit seinem Stiefel an, dann beugte er sich zu ihm herab und rüttelte an seiner Schulter.

"Ich ... kann nicht ... mehr ...", flüsterte der Froggy.

Ragnar seufzte, denn ihm wurde klar, dass er dem geheimnisvollen Flüchtling helfen musste, wenn er erfahren wollte, was es mit seiner Geschichte auf sich hatte. Er steckte den blauen Stein in seine Tasche und half dem Froggy auf die Beine.

"Na, komm' schon mit", murmelte Ragnar. "Wenn du verhungerst, kannst du mir nicht sagen, was es mit diesem blauen Stein auf sich hat."

"Etwas nasses wäre nicht schlecht ...", kicherte der Froggy schwach.

4

Der Froggy stellte sich als "Morke der Traumwächter" vor; ein Name, der Ragnar sofort stutzig machte.

"Traumwächter?", fragte er skeptisch.

Morke nickte heftig und riss mit seinen spitzen Eckzähnen ein Stück von dem Trockenfleisch ab, kaute es gierig und schluckte.

Sie befanden sich in Ragnars Hütte, die etwas abgelegen von der Siedlung am Waldrand stand. Im Kamin prasselte ein Feuer, auf dem Herd kochte ein Sud aus Wasser und verschiedenen Kräutern.

"Lest ihr Menschen keine Bücher über fremde Wesen? Oh, halt -", unterbrach Morke sich selbst, ohne eine Antwort abzuwarten, "ihr interessiert euch sowieso nur für euch und euch selbst, oder nicht?! Andere Völker und Wesen sind euch unheimlich, deshalb meidet ihr uns oder nicht?!"

Ragnar schnaubte verächtlich. "Der Krieg mit dem Orks hat das Vertrauen der Menschen in fremde Völker nicht gerade unterstützt. Und außerdem: Ich halte mich aus diesen Dingen heraus. Ich interessiere mich nur für mich selbst."

Morke nickte langsam und kaute sein Fleisch. Er saß auf einer Holzbank, seine Füße befanden sich in einem Trog mit Wasser.

"Ich verstehe", sagte er leise.

Während er weiter aß, ließ der Froggy Ragnar nicht aus den Augen. Als schien er ihn zu beobachten; abzuwarten, was der Mensch tun würde.

"Du verstehst nichts", sagte Ragnar kühl und nickte in Richtung Tisch, wo der blaue Stein lag. "Und du lenkst ab. Was hat es mit diesen Steinen auf sich und was weißt du über den Gungnir-Speer?"

Morke kaute und musterte Ragnar. "Du bist ein Nordmann, oder nicht?"

"Ich weiß nicht, was das ..."

"Du müsstest eigentlich besser als ich wissen, was es mich dem Gungnir-Speer auf sich hat. Gerade als Mensch, gerade als Nordmann."

"Das war auch nicht meine Frage", entgegnete Ragnar kühl. "Meine Frage war, was DU damit zu tun hast."

"Ich? Ich habe damit gar nichts zu tun. Aber der Todesgott. Oh ja, der hat damit sehr wohl was zu tun."

Ragnar verschränkte die Arme und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. "Vor dem du entkommen bist, nachdem du ihm einen wertvollen Stein gestohlen hast?! Aber ja doch, natürlich."

Morke seufzte und senkte den Kopf. "Du hast keine Ahnung, Nordmann. Oder soll ich sagen: Nordknabe?! Du bist doch noch ein halbes Kind."

"Pass auf, was du ...", fuhr es Ragnar heraus, doch der Blick des Froggys ließ ihn erstarren und verstummen.

"Du beurteilst mich nach meiner Größe. Und nach meiner Rasse. Glaubst, dass wir Froggys eh nur wilde Tiere sind, oder?! Wild und dumm. Wie ihr es auch von den Orks glaubt. Menschen -" Er schnaubte verächtlich. Wo Morke zuvor noch naiv und einfältig gewirkt hatte, war das grüne Wesen plötzlich ernst und wirkte alt. Sehr alt. Ragnar fragte sich in diesem Augenblick, wie alt Froggys eigentlich werden konnten und wie alt jenes Exemplar war, das er hier in seiner Hütte beherbergte.

"Menschen sind so arrogant und selbstsicher. Sie glauben, bei ihnen fängt die Welt an. Und endet auch, wenn es sein muss."

"Natürlich weiß ich, warum du dich Traumwächter nennst", begann Ragnar nach einer Weile des Schweigens. "Froggys besitzen angeblich die Fähigkeit, in die Träume anderer Wesen einzudringen und sie zu beobachten wie ein Theaterspiel. Mehr noch: Ihr könnt Träume sogar beeinflussen und schlechte Träume in gute, schöne Träume verwandeln."

Morke nickte wie ein zufriedener Lehrer. "So ist es."

Ragnar lächelte, ebenfalls wie ein Lehrer, der selbstzufrieden doch noch einen Fehler in der Arbeit seines Schülers gefunden hatte und er sagte:

"Und: Das ganze ist ein Märchen, das man Kindern vor dem Einschlafen erzählt. Hab keine Angst vor bösen Träumen, denn ein jedes Menschenkind hat einen Froggy, der seine bösen Traumdämonen verjagt."

Morke lachte leise. Es klang ein wenig verächtlich. "Du unwissender, kleiner Mensch."

"Jetzt bist du dran, Froggy", sagte Ragnar und bedeutete abermals zu dem blauen Stein. "Was weißt du über den Gungnir-Speer?"

"Gungnir ist der Name von Odins Speer. Einst wurden über Gungnirs Spitze Eide geschworen, so heilig ist diese Waffe gewesen. Und als Waffe soll der Speer unbezwingbar sein: Er verfehlt niemals sein Ziel und lässt dessen Besitzer zum mächtigsten Krieger der Welt werden. In den falschen Händen würde dieser Speer den Untergang bedeuten für alles Lebende.

Einer weiteren Sage nach soll Odin selbst den Speerschaft geschnitzt haben, aus dem Holz eines Astes der Yggdrasil. Den Kopf des Speers schmiedete der Zwerg Dvalin. Angeblich aus einem blauen Metall, welches als unzerstörbar und tödlich beschrieben wird."

Morke zuckte mit den Achseln und grinste breit. "Aber das ist nur eine Geschichte, die man kleinen Froggy-Jungen vor dem Einschlafen erzählt."

Ragnar biss sich auf die Unterlippe und verkniff es sich, die freche Bemerkung des Froggys mit einem Faustschlag auf die Tischplatte zu kommentieren. Zu ernst war die Situation. Und auch gefährlich, denn wenn der Froggy die Wahrheit sprach, waren sie hinter ihm her. Jene, die hinter den blauen Steinen her waren.

Wieder sah er das Bild jener Nacht vor seinem inneren Auge, als diese Gestalt den Wikingerhäuptling nach dem Gungnir-Speer fragte. Wer war so verrückt, so bösartig und krank, dass er eine ganze Insel zerstörte um eine Waffe zu finden, die es nur in Märchen und Legenden gab? Sollte dieser Froggy die Wahrheit sagen und einem Bergwerk entkommen sein, in dem blaue Steine - jenes Mineral, aus dem der Kopf des "echten" Gungnir-Speers gefertigt war - gefördert werden, dann waren sie nun hinter dem Flüchtling her. Und ein ungutes Gefühl sagte Ragnar, dass hinter all dem jene Gestalt steckte, die seine Heimatinsel von einem Vulkankrater hatte verschlingen lassen. Und somit auch für Lokis Tod verantwortlich war. Erwähnten jene Elfen von damals nicht auch einen Todesgott?

"Ob Legenden oder nicht", begann Ragnar nach einigen Minuten schweigenden Nachdenkens. "Dieser Stein könnte sehr wertvoll sein. Und auch sehr wichtig. Wir sollten ihn an einen Ort bringen, wo er sicher ist."

"An einen Ort? Ich wollte eigentlich nur eine Stärkung, vielleicht neue Klamotten und dann ..."

"Nichts da!", sagte Ragnar und begann in seiner Kleidertruhe zu stöbern. "Du bist diesen Sorgenbergen entkommen und kennst als Einziger den Weg dorthin." Er kramte sein Schwert hervor, zog es aus der Scheide und prüfte flüchtig seine Klinge.

"Äh, du willst da hingehen?! Nee, ohne mich ..."

"Red' keinen Blödsinn!", sagte Ragnar, während er hastig seine Tasche packte. "Ich kenne jemanden, der weiß, was zu tun ist."

5

Als Gasthof konnte man jenes Gebäude, welches aus einem Sammelsurium von Felsen, gebrannten Steinen und Holz zusammengebaut war, wirklich nicht nennen. Obwohl dort Met ausgeschenkt und hin und wieder Fleisch und Brot serviert wurde, nannten es die Einheimischen lieber die "Bierhütte". Und genauso, wie die "Bierhütte" zusammengeschustert war, war auch sein Innenleben bunt, chaotisch, aber dafür auch sehr lebhaft und abwechslungsreich. Viele Menschen kamen weniger um sich zu betrinken als eher mit der Hoffnung, Zeuge eines Streites, einer Prügelei gar oder auch lustigem Gesang oder Seemannsgarn der durchreisenden Seefahrer zu erleben.

Ragnar wollte keines von alledem, als er mit Froggy im Schlepptau die Bierhütte betrat. Keiner der Männer und Frauen achtete auf Morke, denn in der Bierhütte kamen allerhand Gestalten zusammen; alles, was die Seefahrer bei ihren Durchreisen eben so mitbrachten.

Morke trug eine von Ragnars alten Tuniken, die ihm etwas zu lang war und deshalb beinahe bis auf dem Boden schleifte. Der Froggy konnte mit dem jungen Nordmann kaum Schritt halten, der sich seinem Ziel scheinbar sehr sicher zu sein schien. Viel redete der Junge ja nicht, fand Morke, aber vor allem wollte er nicht damit herausrücken, warum er ihn hierher geschleift hatte. Die Umgebung war Morke sehr gruselig: Überall ziemlich schwergewichtige, verschwitzte Exemplare der Sorte "Mensch"; dazu allerhand zwielichtige Gestalten in Kapuzenmänteln, Männer, die Karten spielten, lauthals grölten und mit ziemlich schiefen Stimmen Lieder sangen.

Ragnar blieb am Tresen stehen, hinter dem er dürrer Mann mit Ziegenbart stand, dessen Alter Morke nicht abschätzen konnte: War es ein junger Mann, der alt aussah, weil er so ausgezehrt wirkte oder ein alter Mann, der sich gut gehalten hatte, weil er so schlank war?! Auch seine hohe und dennoch kratzige Stimme verriet kaum etwas über das Alter dieses seltsamen Kerls.

"Tarian habe ich schon seit Tagen hier nicht mehr gesehen", sagte der Wirt und wischte sich mit dem Hemdärmel über die Stirn.

Ragnar schnaubte. "Er ist doch immer am Donnerstag hier."

"Soviel ich weiß", fuhr der Wirt fort. "fährt er eine andere Route. Liefert jetzt Gewürze nach Britannien und kommt deshalb nicht mehr hier an der Küste vorbei."

Morke zupfte an Ragnars Ärmel. "Ich könnte was zu Trinken vertragen ..."

"Ich suche aber dringend einen Piloten oder wenigstens jemand, der mir seinen Segler leihen könnte. Komm schon Bruko, du kennst hier doch jeden."

Bruko, der auf Morke den Eindruck machte, als seien seine Eltern Mensch und Goblin gewesen, rieb sich nachdenklich das Kinn. Im Hintergrund schlug ein Hüne von einem Kerl mit beiden Fäusten auf die Tischplatte, eine Frau lachte kreischend auf. Irgendwo schien - jedenfalls dem klirrenden Geräusch nach - ein Tonkrug zu Bruch zu gehen. All dies schien Bruko nicht im Mindesten zu interessieren; jedenfalls zuckte er mit keiner Wimper bei all dem Lärm.

"Hmm ... Soviel ich weiß, besitzen nur wenige Menschen Drachensegler."

"Ich will nicht über das Meer. Es soll eher …", Ragnar hielt kurz inne, "ein kurzer Flug werden. Ich muss zur Elfenstadt am anderen Ende der Insel."

Bruko zuckte mit den Achseln. "Bedaure, aber ich kann dir nicht weiterhelfen, Ragnar."

Morke zupfte abermals wie ein ungeduldiges Kind an Ragnars Ärmel. "Auch was zum Beißen wäre nicht verkehrt ..."

Bruko lehnte sich nach vorne und verschränkte die Arme. "Hey, wer ist denn dein Begleiter, Ragnar?! Ich wusste gar nicht, dass du einen Freund hast ..."

"Er ist kein Freund, sondern ..."

"Und er scheint Hunger zu haben."

"Und Durst!", rief Morke empört.

"Hier musst du aufpassen, nicht selbst am Drehspieß zu enden!", rief einer der fetten Männer von hinten und fast die ganze Bierhütte stimmte grölend in das donnernde Lachen mit ein.

Bruko winkte ab. "Ach, das sind alles ganz harmlose Kerle. Hast du Geld dabei, Ragnar?!"

Ragnar machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch eher er zu Wort kam, sagte jemand neben ihm:

"Lasst Euren Geldbeutel mal stecken, mein Freund. Ich lade Euch beide ein."

Ragnar drehte sich um und erblickte einen jungen Mann in etwa seinem Alter. Allerdings war er sehr schlank, um nicht zu sagen dürr und trug eine ungewöhnliche Kleidung: Eine hellbraune Weste, darunter ein Hemd aus rotem Stoff und eine dunkelbraune Hose und statt Schuhen zusammengenähte Lederstücke. Insgesamt wirkte die Kleidung des Fremden so, als wäre sie eben erst notdürftig und dennoch mit sehr viel Verstand und Geschick zusammengenäht worden. Doch all das machte auf Ragnar nicht so viel Eindruck wie die Fliegerkappe, die der junge Kerl auf seinem Kopf trug. Und noch etwas war ungewöhnlich an dem jungen Mann mit der Fliegerkappe: Er hatte nicht nur große, spitze Ohren sondern auch einen langen, hellbraunen Schwanz mit einem Büschel gepflegt aussehender Fellhaare am Ende.

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