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Doorway to Auroria

Kapitel Drei - Laxus und ein Rundgang durch Auroria

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Informationen

 

Laxus wohnte in einer weniger dicht besiedelten Gegend. Die Häuser sahen dort so aus, als hätte man sie notdürftig auf die Schnelle aus Holzbretter und Lehmbrocken zusammengesetzt. Razon erkannte jedoch sofort, dass jene primitiv erscheinenden Gebäude nur den Anschein erwecken sollten, primitiv zu sein; er hatte ein Auge dafür, wenn beim Bauen geschlampt wurde, und hier wurde nicht geschlampt. Allerdings hatte Razon noch nie davon gehört, dass Leute ihre Behausungen mit Absicht veraltet oder primitiv bauten. Und noch etwas fiel ihm beim Anblick jener Holz- und Lehmbauten auf: der Stil. Die Architektur erinnerte ihn an jene der Yadana; an jene Gebäude, die in seiner alten Heimat gebaut wurden, auf dem Zwielicht-Gebiet von Titania.

Amatoris schien mal wieder seine Gedanken gehört zu haben, denn er lächelte, klopfte ihm sanft auf die Schulter und sagte: "Jaa, Laxus kommt aus derselben Gegend wie du, Razon. Er ist auch kein Eiself. Und er hat noch etwas mit dir gemeinsam."

Sie blieben etwa zwanzig Schritte vor einem kleinen Haus mit Anbau, das Razon an seine alte

Werkstatt erinnerte, stehen. Das Gelände war von einem niedrigen Zaun umrandet und hinter dutzenden von Nadelbäumen halb versteckt. Es roch nach Kiefernharz und feuchtem Waldboden. Ein seltsames, vertrautes Gefühl: Razon fühlte sich fast wie Zuhause, nur, dass er Yadana nicht als sein Zuhause betrachtete, als er vor wenigen Tagen noch dort gelebt hatte; doch jetzt ergriff ihn beinahe ein Gefühl von Heimweh.

"Also, hör' mir gut zu, bevor wir zu Laxus gehen", begann Amatoris ernst. "Er ist nicht so, wie

jeder andere hier. Ich meine, er ist schon eburisch und so weiter und so fort, aber den meisten hier ist er unheimlich. Laxus schottet sich gern von den anderen ab, und das ist auch in Ordnung."

"Abschotten?", fragte Razon. "Ich verstehe nicht. Ich dachte, hier in Auroria leben alle zusammen wie eine große Familie."

"Ja, das schon. Aber Laxus ist ... na ja, ich glaube, er ist verklemmt oder schämt sich. Du musst wissen, es gibt die unterschiedlichsten Möglichkeiten, hier in Auroria zu leben. Die meisten leben polygam, viele monogam, andere wieder völlig alleine. Viele, die hier ankamen, haben sehr viel Leid erleben müssen und sind auch glücklich, wenn sie alleine sind."

Amatoris sah über seine Schulter zu Laxus’ Haus. "Ich glaube, er hat viel mit dir gemein."

"Wie meinst du das?", fragte Razon, obwohl er schon ahnte, was der Ebura meinte.

"Er ist eburisch, will es aber aus irgendeinen Grund nicht ausleben."

"Hey, ich bin NICHT eburisch -", schnappte Razon, und Amatoris erhob beschwichtigend seine Hände. "Ja, ja, schon gut, ich meinte nur: Laxus gibt es offen zu, zieht es aber vor, alleine zu leben."

Nach einer kurzen Pause fuhr Amatoris fort: "Jedenfalls ist Laxus wie du ein Meister der Technik. Er baut und bastelt den ganzen Tag. Er bestand darauf, sein Haus selbst zu bauen und auch diese Bäume hier anzupflanzen. Er sorgt dafür, dass in Auroria die Lichter nie verlöschen oder die Abwasserrohre funktionieren."

"Ah, er ist so eine Art Hausmeister", folgerte Razon und nickte.

Sie gingen auf Laxus Haus zu, während sie noch mit ihm sprachen.

"Genau", meinte Amatoris. "Razon, ich sage es dir noch mal: Hier in Auroria darf jeder so leben,

wie er glücklich ist. Wenn du mit niemandem zusammen sein möchtest, dann verbietet es dir auch niemand. Es gibt nicht viele, aber es gibt sie, die ähnlich denken wie du und Laxus. Lass dir Zeit, dich an Auroria zu gewöhnen, und wer weiß ..."

"Nein, oh nein!", sagte Razon, lächelte jedoch, als er die unausgesprochenen Worte von Amatoris verneinte. "Darauf kannst du lange warten."

Amatoris lächelte gütig. "Wie immer du willst."

Dann klopfte er an Laxus' Tür.


In der Tat: Laxus war ein Elf wie Razon. Er hatte eine leicht gebräunte Haut, wildes, dunkelbraunes Haar und ein stoppeliges Gesicht. Er kaute immerzu auf einem kleinen Holzstäbchen und sein Blick schien eine Mischung aus Langeweile und Überlegenheit auszudrücken. Seine großen, spitzen Ohren waren ausgefranst wie die Ohren eines wilden Tieres, seine Augen hellwach und jugendlich, obwohl der Rest seines Körpers ein höheres Alter zu verraten schien.

"Amatoris, du verwegener Honigtau-Schlucker! Was führt dich in meine Hütte?!", lachte Laxus mit einer rauchigen, aber irgendwie eindrucksvollen Stimme.

Die beiden Elfen umarmten sich kurz und lachten.

"Honigtau ...", fragte Razon Amatoris leise, und der Eiself winkte schnell ab.

"Das erkläre ich dir ein andermal."

"Kommt in meine bescheidene Behausung. Ihr habt Glück, ich habe gerade aufgeräumt."

Razon staunte nicht schlecht: Laxus' Hütte war ein Wirrwarr aus unzähligen Regalen, Tischen und Werkbänken, auf denen sich Pergamentrollen, Bücher und Lineale stapelten. Kreuz und quer waren Werkzeuge, Werkstücke, Holzspäne, Schrauben und Metallteile über den Boden verstreut. Die Elfen mussten wie ein Storch im Salat über die Teile steigen und Razon fragte sich, ob dies jetzt die Werkstatt, das Wohnzimmer oder die Vorhalle zu noch Schlimmerem war.

"Macht es euch ruhig gemütlich - fühlt euch ganz wie zu Hause!", rief Laxus und ging in einen

Nebenraum. "Komme gleich wieder!"

"Ganz wie zu Hause?", sagte Razon laut und blickte sich kritisch um.

"Jaa", rief Laxus aus dem Nebenraum, begleitet von Geklapper, das an die Geräusche erinnerte, die in einer Küche herrschten, "will aber nicht heißen, dass Amatoris jetzt seinen Lendenschurz fallen lassen darf!" Er lachte rauchig und kam aus der Küche wieder zurück in den chaotischen Raum.

Amatoris verdrehte die Augen und seufzte; Razon glaubte zu wissen, was Laxus wohl gemeint hatte, schwieg jedoch dazu und dachte sich seinen Teil.

Laxus fegte mit einem Handstreich einen riesigen Stapel Bücher und Pergamentrollen von einem Tisch und stellte einen Krug und drei Becher darauf, die er umständlich auf nur einem Arm aus der Küche hierher balanciert hatte. Razon war beeindruckt: Um in solch einem Chaos überleben zu können, musste man solche Zirkuskunststücke bestimmt gut beherrschen.

Der Gastgeber goss eine blaue Flüssigkeit in die drei Becher und bedeutete seinen Gästen, sich zu bedienen.

"Trinken wir auf den Neuen!", rief Laxus, als hätte er nicht nur zwei, sondern zwanzig Gäste vor sich, erhob den Becher und sagte weiter: "Möge er sich wohl fühlen in Auroria, dem Land, wo der Regenbogen niemals untergeht!" Dann kippte er den ganzen Inhalt des Bechers in seine Kehle.

Razon nippte zögerlich, musste jedoch feststellen, dass das Gebräu angenehm nach Zitronen und Ananas schmeckte. Amatoris trank unbekümmert; er schien Laxus' Getränke zu kennen.

"Nun", sagte Laxus und wischte sich den Mund ab. "Was führt euch zu mir?"

"Ich möchte dir Razon vorstellen", begann Amatoris. "Wie du ja weißt, ist er -"

"Ja, er ist neu hier und sorgte schon für mächtig Wirbel, wie?!" Laxus nickte und grinste schief.

"Hast den netten Leuten hier mächtig viel Schrecken eingejagt, mein Junge. So einfach vom

Rathausdach in die Tiefe stürzen - das macht man doch nicht, Junge."

Razon legte die Stirn in Falten. "Woher -"

Laxus lachte. "Hey, du bist hier in Auroria. Hier gibt es keine Geheimnisse. Na ja, sagen wir mal, kaum welche." Er blickte wieder zu Amatoris. "Ich nehme mal an, du bringst den Jungen aus einem gewissen Grund zu mir, oder?!"

Amatoris nickte. "Razon ist Techniker, genauso wie du."

"Verstehe." Laxus goss sich einen weiteren Drink ein und kippte ihn in einem Zug herunter. "Und von den Freuden des eburischen Leben hält er nicht viel."

Razon war wieder verwirrt.

Laxus, der sein fragendes Gesicht richtig interpretierte, nickte und sagte: "Du musst wissen, dass unser lieber Amatoris hier beinahe jeden neuen Ankömmling in das eburische Leben hier in Auroria einführt. Bei dir schien er auf verdammt harten Granit zu beißen, sonst wäre er nicht mit dir hier."

Razon strich sich nachdenklich über seinen Kinnbart, zum ersten Mal seit er hier war, und

versuchte aus dem Geschwätz dieses seltsamen Elfen irgendwie schlau zu werden. Er war ihm auf Anhieb sympathisch, aber von Laxus ging auch etwas aus, das ihm irgendwie nicht behagen wollte.

"Musst wissen, dass ich von dem ganzen Zeug wie körperliche Lust und so weiter auch nicht so viel halte. Ich hatte genug davon in meinem langen Leben draußen in der Welt der Spießer." Er lachte heiser und schritt um Razon herum wie ein Raubtier, das seine Beute beäugte. "Siehst auch nicht so aus, als wärst du eburisch. Ich denke mal, unser lieber Amatoris hier hat dir erklärt, was hier in Auroria so abgeht, und vor allem, was die vielen Feste und Feiern zu bedeuten haben."

"Von den Feiern weiß er noch nichts", sagte Amatoris schnell.

Wieder ein rauchiges Lachen von Laxus. "Oh, dann wird noch sehr viel Neues auf dich zukommen, mein Junge."

Razon blickte verwirrt zwischen Laxus und Amatoris hin und her.

Laxus seufzte. "Na schön, ich bin dir ja noch was schuldig, Amatoris, und denke mal, ich habe

verstanden."

Der Ebura nickte. "Ich möchte, dass du auf ihn aufpasst. Zeige ihm, wie die Technik auf Auroria funktioniert, erzähle ihm von der Funktion der Lichtkristalle und hilf ihm, wenn er Rat braucht bei seinen eigenen Bauwerken." Er blickte Razon freundlich an. "Du willst doch wieder etwas bauen, oder?"

Razon war immer noch verwirrt. "Ähm ... ich verstehe nicht ..."

"Was unser lieber Amatoris sagen möchte", begann Laxus gelassen, "du bist hier in Auroria, und jeder kann hier leben, wie er möchte. Du bist ein Baumeister - ich bin auch einer - und deshalb darfst du hier bauen, konstruieren und erforschen so viel du lustig bist."

Razon verstand und nickte langsam. "Ah, gut. Ja, würde ich gern ..."

"Und", unterbrach Laxus, "jetzt meine Bitte an dich, Amatoris. Ich werde Razon zusammen in

unseren Interessen und Leidenschaften - dem Bauen und Konstruieren - schwelgen, aber DU wirst ihm die Gebräuche und Rituale der Ebura nahebringen. Rein theoretisch, selbstverständlich",

fügte er schnell mit Blick auf Razon hinzu. "Glaub' mir, mein Junge. Es ist besser, du weißt über bestimmte Dinge Bescheid, damit du ihnen ausweichen kannst."

Amatoris klatschte in die Hände. "Gut, das wäre soweit geklärt."

Laxus nickte in Razons Richtung. "Hast du noch was auf dem Herzen, mein Junge, bevor wir

anfangen?"

Razon verschränkte die Arme und kniff seine Augen kritisch zusammen. "Ja, nenne mich bei

meinem Namen. Ich bin nämlich kein 'Junge' mehr."


In den folgenden zwei Tagen lernte Razon Auroria aus zwei Perspektiven kennen: Laxus erklärte ihm Auroria aus der Sicht eines Technikers, Amatoris aus der Sicht des eburischen Lebenskünstlers.

Auroria war ein gigantisches Gelände, dessen wahre Größe niemand bekannt war. Es bestand zum größten Teil aus Wäldern, Wiesen und Seen. Die Häuser, wie die bescheidene Technologie, schienen förmlich zu wachsen und sich an den Bedürfnissen ihrer Bewohner anzupassen. Jedenfalls, so Laxus, musste kaum etwas in Auroria gewartet werden.

"Aber ich dachte, du bist dafür zuständig, dass in Auroria nicht das Licht verlöscht", wollte Razon kritisch wissen.

"Das ist nur symbolisch zu verstehen. Ich sorge dafür, dass jene Dinge, die erbaut wurden, ihre Funktion nicht verlieren. Dinge, die der Ort selbst erschaffen hat, brauchen nicht gepflegt zu werden. Hast du dich denn nicht gefragt, woher dein Haus gekommen ist?"

"Ich denke mal, es stand leer und man bot es mir an ..."

"Falsch", sagte Laxus. "Es war Auroria, das dir dein Haus geschenkt hat. Der Ort ließ es einfach aus dem Nichts entstehen. Es sieht genau so aus, wie du dir schon immer ein Zuhause vorgestellt hast, oder nicht? Und je nach Stimmung in deinem Herzen verändert es sich."

Razon erschien es logisch: Ein blaues Haus mit schwarzen Ziegeln ... heimlich war dies immer sein innigster Traum gewesen, solch ein Haus zu bewohnen. "Das heißt, Auroria ist eine Art

Wunschmaschine?"

"Ja und nein. Nicht immer funktioniert es so, wie man sich das vorstellt. Hier kann beispielsweise niemand alleine ein riesiges Schloss bewohnen. Manche sind auch richtig überrascht, was sie bekommen. Auroria kennt dich besser, als du dich selbst kennst."

Das faszinierte Razon. Ein Ort, der sich den Wünschen und Bedürfnissen seiner Bewohner

anpasste. Laxus erklärte ihm, dass dies nicht hieß, dass man in Auroria nicht arbeiten musste. Die meisten Bewohner gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach: Es gab Bäcker, Köche, Musiker oder Handwerker.

"Aber niemand muss wirklich arbeiten. Du musst wissen, hier in Auroria gibt es kein Geld.

Niemand wird hier bezahlt. Wir arbeiten nur zum Vergnügen oder aus der Motivation heraus, dass unsere Arbeit wichtig ist."

Razon war zunächst verwirrt, doch Laxus war geduldig mit ihm: In Auroria tat jeder Bewohner etwas für den anderen. Der Bäcker sorgte dafür, dass frisches Brot auf dem Tisch stand, dafür sorgte der Gärtner dafür, dass der Bäcker seinem Geliebten schöne Blumen zum Geburtstag schenken konnte. Der Mediziner versorgte die Kranken, dafür bekam er wieder von anderen etwas zu Essen, oder ein schönes Lied.

"Oder", fuhr Laxus grinsend fort, "eine Liebesnacht. Oder einen reizvollen Tanz. Aber das soll dir Amatoris erklären."

Razon wusste nicht, ob er diesen Aspekt von Auroria wirklich erfahren wollte, aber er sagte

nichts. In Auroria gab es kein Geld, seine Bewohner arbeiteten, aber nur zum Spaß und um sich einander zu helfen. Das Land selbst lag in einer Senke, die, wie er von Laxus erfuhr, vor Urzeiten durch einen Kometeneinschlag entstanden war.

"Als Titania noch ein lebloser Felsbrocken war. In dieser Senke sind die Wände mit den Kristallwaben ausgekleidet und genau diese Kristalle nennen wir hier die Lichtkristalle."

"Von denen geht die Energie aus, die in Auroria das Leben möglich macht", folgerte Razon

begeistert. Sein Herz klopfte, er war in seinem Element: Endlich erfuhr er mehr über diesen Ort, nicht das fröhliche, das leidenschaftlich Verträumte, sondern die technischen und

wissenschaftlichen Tatsachen.

"Ja und nein", sagte Laxus. "Siehst du, die Kristalle fangen die Strahlung des Saturn und der Sonne auf. Und diese Strahlung erfüllt Auroria wiederrum mit Leben. Deshalb leuchtet in der Nacht die Luft blau und violett -"

"Es ist die magnetische Strahlung des Saturn", erkannte Razon aufgeregt.

"Genau, jetzt hast du es erfasst, mein Junge - ich meine, Razon."

"Aber wie kommt es, dass dieser Ort Häuser aus dem Nichts erschaffen kann?"

Laxus zuckte mit den Achseln und seufzte. "Das, mein Freund, wüsste ich auch gerne."


Razon war mit Laxus bis spät in den Abend durch die Straßen und Gassen von Auroria gewandert und hatte den zum Teil endlos scheinenden Monologen des Elfen gelauscht. Inzwischen störte er sich auch nicht mehr an den eburischen Sitten (hier zwei Händchen haltende blutjunge Elfen, ein Ork mit brutal aussehendem Muskelkörper, der mit seinen Pranken und einem verträumten Blick Blumen pflückte, dort zwei küssende und eng umschlungene Jünglinge und so weiter und so fort), da er seine ganz eigene Leidenschaft hier in Auroria gefunden hatte: Den Ort Auroria selbst. Razon hatte sich im Laufe des Tages, während er Laxus' Ausführungen folgte, ein Ziel gesetzt: Er wollte Auroria erforschen, wollte es verstehen, begreifen, erklären können.

Sie blieben beide auf einem freien Platz, der an einen Marktplatz erinnerte, stehen und blickten beide zum Himmel. War es der Himmel oder nur eine unglaublich hohe Decke, auf die sie da blickten? Razon sah Wolken in einem blauen und violett lumineszierenden Lichtspiel.

"Es ist der echte Himmel", sagte Laxus leise, als hätte er Razons Frage geahnt. "Nur sieht man ihn von hier aus durch eine Decke von Nebeln. Auch das ist ein Geheimnis: Wieso sieht keiner aus der Außenwelt diese gigantische Öffnung?"

"Weil kaum jemand in die Eiswüste kommt.", vermutete Razon nachdenklich. "Auf dieser Seite von Titania herrscht ewige Nacht und ewiges Eis."

"Ja, aber sieh' dich mal um: Hier leben über zweitausend Elfen, Orks, Gnome, Goblins, Menschen und sogar ein Gremlin." Laxus schüttelte den Kopf. "Wie sind die alle hier hergekommen?!"

Razon blickte den Elf mit der rauchigen Stimme kritisch an. "Ich weiß, wie ich hier hergekommen bin."

Laxus hob eine Braue. "Ach, weißt du das wirklich? Lass mich raten: Du siehst in der Ferne ein Lichtspiel, als würde die Sonne auf einen Kristall treffen. Es sind die Farben des Regenbogens, richtig? Und plötzlich bricht unter deinen Füßen die Schneedecke ein und du wachst im nächsten Augenblick in einem Bett auf. Du hast keine wirkliche Erinnerung mehr daran, was du zuvor gemacht oder gedacht hast. Du bist einfach ... hier, stimmt’s?"

Wieso war Razon nicht überrascht? Vielleicht, weil Laxus die Dinge genauso nüchtern und kritisch betrachtete, wie er? Vielleicht ...

"Ist es dir genauso ergangen?"

Laxus nickte. "Ja und nein. Ich war geschäftlich in Nabura unterwegs."

Razon glotzte den anderen Elfen verdutzt an. "Nabura? Aber das liegt doch ..."

"Weit im Süden, mitten in der Wüste, ganz genau. Und etwa viertausend Fußmeilen vom Circus Maximus entfernt." Laxus lachte und schüttelte den Kopf. "Was glaubst du, wie überrascht ICH erst war? Jedenfalls", fuhr er fort, "geriet ich mitten in der Sandwüste in einen Schneesturm und plötzlich war ich hier."

"Wurdest du auch von Amatoris empfangen?"

Laxus schüttelte den Kopf. "Nee, von einem Jüngling namens Lateo. Ein junger Bursche, ebenfalls Eiself und Ebura, mit einem Engelsgesicht. Jedenfalls war ich unglaublich überrascht, verängstig, aber auch aufgeregt. Ein ganzes Land, wo es vor hübschen Kerlen und leicht bekleideten Jünglingen nur so wimmelte ..."

Razon winkte ab. "Jaaa, das habe ich inzwischen auch schon mitbekommen, und weiter?"

Laxus zuckte mit den Achseln. "Nichts weiter. Lateo begrüßte mich und meinte, er wäre jetzt mein Gefährte. Aber ich sagte nur: 'Halt halt, nicht mit mir! Ich baue mir mein Haus schon selbst, und von Sex und Orgien halte ich auch nichts. Dafür bin ich zu alt.' Nun ja, es wurde hingenommen."

"Ja, Amatoris erwähnte schon, dass du eburisch bist, aber enthaltsam lebst."

Laxus lachte. "Dieser Amatoris, was der so alles weiß, nein, also wirklich. Weißt du, ich habe in meinem Leben viel mitgemacht und sehr viel Mist ging da auf mein Konto. Ich habe nichts gegen Ebura, ich bin ja selbst einer, aber zum Ausleben dieser Leidenschaft habe ich keine Lust mehr."

Razon verstand - und er verstand es auch wieder nicht. Wenn Auroria ein Paradies war, und es keine wirklichen Verpflichtungen gab, wieso musste man dann enthaltsam leben? Aber er behielt diese Frage für sich, und folgerte, dass Laxus vielleicht einsam glücklicher war. Vielleicht war er auch nur verklemmt oder hatte sonst einen wichtigen Grund.

"Ein Schneesturm in der Wüste ...", murmelte er nachdenklich.

"Tja, seltsame Sache, das Wetter, was?!"

Sie sahen sich an und begannen dann zu lachen, während sich über Auroria die Nacht legte.


Die Frage, wie es möglich war, dass Häuser nach Wunsch einfach aus dem Nichts erstanden, ging Razon wieder durch den Kopf, als er sein eigenes Haus betrat. Und es stimmte: Dieses Haus war, als hätten seine Träume und tiefsten Wünsche einen ganzen Trupp Baumeister beauftragt, es zu bauen. Die Außenfassade war blau mit einem leichten Grauton. Das Dach trug schwarzlackierte Ziegel. Insgesamt war das Haus achteckig, das Dach pyramidenförmig. Innen schien das Gebäude aus nur einem einzigen Raum zu bestehen, in dessen Mitte ein großer, runder Teppich lag. An den acht Wänden lagen das Bett und eine Badewanne angeordnet, sowie leere Bücherregale und Schränke. Lediglich die Toilette und eine kleine Kochnische waren separate Räume. Alles wirkte gemütlich, kuschelig und doch einfach und zweckmäßig.

"Wieso habe ich keine Werkstatt?", murmelte Razon vor sich hin, während er sich auszog, um ein Bad zu nehmen. Danach würde er etwas essen wollen. Auch das - eine silberne Platte gefüllt mit Brot, Käse, Obst und getrockneten Früchten - stand auf dem Tisch neben dem Fenster bereit. Wer hatte es dorthin gestellt? War es auch von selbst entstanden wie das Haus?

Während er sich im warmen Badewasser, das angenehm nach Blumenöl roch und reichlich

Schaum hatte, entspannte, vergaß Razon tatsächlich weiter darüber nachzudenken, wie und warum die Dinge in Auroria so funktionierten, wie sie funktionierten. Für kurze Zeit schloss er die Augen und hatte zum ersten Mal, seit er an diesem seltsamen Ort angekommen war, das Gefühl, sich keine Sorgen machen zu müssen. War das das Geheimnis der Glücklichen und Sorglosen? Sich einfach keine Sorgen zu machen? Einfach nicht mehr nachzudenken und sich treiben zu lassen? In der Welt, die Razon kannte, war das nicht immer möglich; es gab Probleme und Situationen, bei denen man nicht einfach mal so "eine Pause machen" konnte. Wenn es kein Brot mehr im Haus gab, musste man welches besorgen, wollte man nicht verhungern. Aber war es in Auroria genauso? Dem ersten Eindruck nach nicht; Auroria wurde ihm als ein vollkommener, von Glück erfüllter Ort angepriesen. Aber auch hier musste es Probleme geben. Amatoris erwähnte schließlich, dass sämtliche "normalen" Berufsgruppen auch hier in Auroria vertreten waren und gebraucht wurden. Wo es Mediziner gibt, musste es auch Kranke geben.

Später, als Razon sich in seinem gemütlichen Bett ausstreckte und langsam in den Schlaf hinabglitt, fragte er sich ernsthaft, ob er tatsächlich in einem Paradies gelandet war. Einfach so, ohne etwas dafür tun zu müssen. Konnte es denn so einfach sein? Lag es in der Natur der meisten Wesen, alles zu hinterfragen und misstrauisch zu sein? Er war nicht eburisch, trotzdem hatte dieser Ort ihn "erwählt".

'Du kennst dich vielleicht selbst nicht wirklich gut genug, mein Freund.'

Razon seufzte und murmelte: "Wenn ich mich nicht kenne, wer denn dann?!"

Die innere Stimme, die wie die Stimme aus einer weit entfernten Erinnerung klang, blieb stumm.

Und Razon selbst blieb es auch und schlief ein.


Am zweiten Tag war Amatoris dran, etwas über Auroria zu erzählen.

Razon hatte vor diesem "Rundgang" etwas Angst, denn der Ebura wollte ihm die eburische Seite von Auroria zeigen und erklären - immer wieder mit dem Versprechen, ihn mit nichts zu überrumpeln oder zu schockieren.

Amatoris betrat einfach ohne anzuklopfen Razon's Haus, als dieser gerade dabei war, sich

anzukleiden.

"Guten Morgen, Razon!"

Der Elf wirbelte erschrocken herum und wäre beinahe über seine Hosenbeine gestolpert.

Amatoris kicherte und verschränkte die Arme. Er musterte Razon, der sich zwar erschrocken

hatte, aber beherrschte und Amatoris nicht deswegen anfuhr.

"Warum quälst du dich immer noch in diese Hosen, und diese Stiefel ..."

"Dass ich so einen Fummel anziehe, mit dem ich wie einer meiner wilden Vorfahren aussehe,

kannst du lange erwarten", sagte Razon keuchend und zog sich sein Hemd über den Kopf.

"Nervös? Aufgeregt?", fragte Amatoris mit seiner gewohnten Gelassenheit.

"Wieso sollte ich?"

"Nun, ich dachte vielleicht, dass du dich freust, mich zu sehen ..."

Razon erhob abwehrend beide Hände. "Lass dieses Herumgebalze, du hast es versprochen."

Amatoris seufzte. "Na gut. Es ist nur so ungewohnt."

"Was, dass es noch einen Kerl gibt, der nicht über dich herfallen will?!"

Der Ebura kicherte. "Jaaa, das war gut, mein Kompliment. Können wir los?"

"Ich habe noch nichts gegessen."

"Das macht nichts", sagte Amatoris und bedeutete Razon mit einer Kopfbewegung, ihm zu

folgen. "Ich weiß, wo wir frühstücken können. Komm' oder willst du nicht mal mit mir was

zusammen essen?"

Razon seufzte und schüttelte innerlich den Kopf. Er betete zu Oberon, dass dieser Tag möglichst schnell vorbeigehen möge und er endlich mit Laxus zusammen seiner wahren Leidenschaft, dem Konstruieren von Maschinen, nachgehen konnte.

Gemeinsam verließ er mit Amatoris sein Haus und folgte dem Ebura eine schmale Gasse entlang zu einer breiten, belebten Straße. Der Ebura schnüffelte laut hörbar und schnurrte:

"Oh, du hast in Blumenöl gebadet. Das riecht vielleicht gut ..."

Razon schnaubte und biss sich auf die Unterlippe.

'Lieber, guter Oberon: Lass den Tag GANZ SCHNELL verstreichen ...'


Die eburische Seite von Auroria kennen zu lernen war weniger schlimm, als Razon befürchtet

hatte. Amatoris führte ihn zunächst die "Promenade" entlang, eine breite Straße, die quer durch die Innenstadt führte und an beiden Seiten von Geschäften und Gaststätten gesäumt war. Es roch herrlich nach Gebäck, Ölen, gebratenem Essen, Blumen und Gewürzen. Razon war alleine von den Gerüchen viel zu sehr ergriffen, als dass ihm die nicht wenigen Paare auffielen, die Hand in Hand oder Arm in Arm überall herumflanierten. Wie üblich wurden sowohl er wie auch Amatoris freundlich und herzlich begrüßt.

"Ein herrlicher Morgen!"

"Wünsche euch beiden einen wundervollen Tag."

"Oberon sei Dank für dieses schöne Wetter."

Razon kam nicht einmal auf die Idee, darüber nachzudenken, ob sich das Wetter in Auroria auch ändern konnte. Es erschien ihm wie eine bizarre Mischung aus ewigem Winter - wegen der Eis- und Schneeskulpturen - und einem ewigen Sommer - die meisten Ebura trugen nicht mehr als einen Lendenschurz und geschnürte Sandalen, einige waren auch barfuß.

Noch etwas fiel Razon auf: Überall waren Wesen zu sehen, die Musik machten oder Kunststücke vorführten. Da war zum Beispiel eine Gruppe Elfen, die wie Gaukler im Gesicht geschminkt und in bunten Seidenanzügen gekleidet waren und mit Keulen, Bällen oder Blumen jonglierten. Ein dunkelhäutiger junger Mann (an den Ohren konnte Razon erkennen, dass es ein Mensch war) mit Waschbrettbauch und kurzen, schwarzen Haaren, vollführte akrobatische Kunststücke und war obendrein auch noch Feuerspucker. An anderen Stellen wurden Flöte oder Xylophon gespielt.

Razon fühlte sich wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal in den Zirkus ging, und erfuhr bei

diesem Gedanken sogleich einen tiefen, schmerzhaften Stich in seinem Herzen ...

"Wundervoll, nicht wahr?", fragte Amatoris.

"Hm?"

Amatoris lachte. "Du bist ja wirklich ganz hingerissen, oder?"

"Wo-wovon?!", fragte Razon verwirrt.

"Na, der Feuerspucker. Beeindruckend, nicht wahr?"

Razon nickte verwirrt den Kopf. "Oh, ja, wirklich nicht schlecht."

Der Ebura fragte nicht weiter danach, woran er in diesem Augenblick noch gedacht hatte, und das war Razon auch nur recht. Er wollte diesen Stich im Herzen wieder vergessen.

Sie speisten in einem Gasthaus, das die Ebura "Café" nannten. Dort tranken er und Amatoris

heiße, würzige Getränke mit Milch und Zucker, aßen Gebäck mit Käse, Tomaten, grünen

Fleischblättern und süßen Trockenfrüchten mit Honig.

"Du wirst dich übrigens an solches Essen gewöhnen müssen", erklärte Amatoris mit vollem Mund.

"Hier in Auroria gibt es zwar auch Tiere, aber keine, die man essen kann."

"Ihr esst kein Fleisch?"

Der Ebura nickte. "Ja, das ist so ziemlich die einzige Regel, die hier jeder streng befolgen muss. Kein Fleisch, kein Tier absichtlich töten, schon gar nicht, um es zu essen oder nur zum Spaß."

Razon musste an die Jäger denken, die Tiere im Wald erlegten, um ihr Fleisch zu essen und sich aus ihren Häuten Kleider zu machen. Er trug selbst Kleidung aus Leder.

"Und woher kommt dann das Leder für die Kleidung und die Pelze und Felle?", fragte er verwirrt.

"Diese Tiere sind von selbst gestorben", erklärte Amatoris und trank einen Schluck. "Und wir

haben hier Leute, die aus Baumwolle fellartige Stoffe herstellen können."

Wieder war Razon schwer beeindruckt. Es war allerdings schwer zu verstehen, warum er für das Frühstück, das er mit Amatoris eingenommen hatte, nichts bezahlen musste - ja, gar nicht konnte, da es kein Geld gab!

"Das ist Teil der eburischen Kultur", sagte Amtoris, als sie wieder auf der Promenade unterwegs waren. "Sie beruht auf Vertrauen und gegenseitiger Hilfe. Der Wirt, der uns das Frühstück serviert hat, wird von uns und all seinen anderen Gästen wiederrum erwarten, dass wir ihm irgendwann einen Gefallen tun."

"Aber", fragte Razon verwirrt, "was, wenn ich das jetzt niemals tun werde? Bekomme ich dann immer noch bei ihm was zu Essen?"

Amatoris lachte leise und verständnisvoll. "Du wirst immer von jedem etwas bekommen, Razon. Sieh' mal, wenn jeder jedem hilft und jeder jedem einen Gefallen erweist, ist er auch noch so klein, dann muss man sich diese Frage erst gar nicht stellen."

"Und wer stellte mir gestern Abend das Essen in mein Haus?", fragte Razon, wieder mit einem leicht misstrauischen Unterton.

"Das war Dulcis", sagte Amatoris gelassen. "Er bestand darauf."

In diesem Augenblick erübrigte sich auch die Frage, ob jeder in jedes Haus gelangen konnte, ohne einen Schlüssel benutzen zu müssen. Razon war auch dieser Umstand befremdlich, aber irgendwie auch nicht störend.

"Warum sollte dir jemand etwas stehlen wollen?", sagte Amatoris, als hätte er Razons Gedanken gelesen. "Oder dir etwas antun wollen? Jeder hat hier alles was er braucht und ist glücklich."

Sie blieben vor einem Gebäude stehen, durch dessen bogenförmigen, bodentiefen Schaufenster Razon Marmorsäulen und dampfende Bäder erkennen konnte.

"Du glaubst jetzt an Magie, an einen Zauber oder sonst eine übernatürliche Tatsache, aber das ist es nicht", sagte Amatoris ernst. "Alles, was hier übernatürlich ist, sind die Lichtkristalle, die uns mit Energie versorgen. Alles andere ..." Er machte eine umschweifende Handbewegung. "... ist Werk von den Entscheidungen, die die Bewohner treffen. Diese Fähigkeit, in vollkommenen Frieden und Harmonie zu leben, liegt in jedem Wesen verborgen, egal ob Mensch, Elf, Ork oder Gremlin."

Er lächelte. "Komm' mit, ich zeige dir jetzt den Tempel der Träume."

Razon wagte nicht die Frage zu stellen, welche Götter in diesem Tempel angebetet wurden, und folgte Amatoris in das Gebäude, vor dem sie stehen geblieben waren.

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