zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Doorway to Auroria

Kapitel Vier - Lateo und der Tempel der Träume

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Der Tempel der Träume ... Razon betrat zusammen mit Amatoris eine riesige Halle mit Bogensäulen und Marmorfliesen. An jeder Säule standen grüne Palmen in kunstvoll geschnitzten Pflanzkübeln, die Decke bestand aus einem komplizierten Geflecht vielfarbiger Mosaike, die sich bei genauerem Hinsehen als transparente Kristalle entpuppten, in denen sich wie auf magische Weise das Licht ständig zu brechen schien. Die Luft roch nach einer Mischung aus salziger, frischer Meeresluft und einem süßlichem Öl.

Ihre Schritte hallten in dem riesigen Raum, der erfüllt war von Leben, wieder: Überall, wohin Razon auch hinsah, waren Elfen, Menschen und auch Orks. Die meisten trugen Tuniken oder einen Lendenschurz. Er selbst, mit seinen Stiefeln und der Fliegerausrüstung, wirkte in dieser exotischen Umgebung wie ein Exot und wurde angeglotzt und hinter vorgehaltenen Händen wurde über ihn getuschelt und gekichert.

Razon schnappte nach Luft und wollte seinen Unmut, dass man anscheinend wieder über ihn lachte, kundgeben, als Amatoris ihn an der Schulter berührte und mit belustigtem Unterton sagte: "Lass es gut sein, du bist hier ein Exot. Man lacht nicht über dich, sondern es ist reine Freude, mal was Anderes als eine Tunika, Toga oder einen Lendenschurz zu sehen."

"Wie meinst du das?", schnappte Razon und bemerkte selbst, dass er wieder dazu neigte, genervt und gereizt zu reagieren, obwohl ihn diese exotisch-mystische Umgebung auch beeindruckte.

Amatoris kicherte. "Du siehst in deiner Kleidung interessant aus", erklärte er. "Vor allem diese komische Brille ..."

"Das ist eine Fliegerbrille."

"Und dieser Schal ..."

Razon funkelte den Ebura wütend an, doch dann zwang er sich selbst Einhalt zu gebieten. Ebura und vor allem Eiselfen hatten doch keine Ahnung. Er war hier derjenige, der rational und technokratisch zu denken und auch zu handeln hatte. Diese Leute hier schienen den ganzen lieben langen Tag nichts anderes zu tun zu haben, als sich zu vergnügen. Er war ein Techniker, ein Forscher, der Erfinder und Konstrukteur einer Flugmaschine. Er sollte über diesem weibischen Getue stehen und wie ein Erwachsener reagieren.

Sein wütendes Funkeln wandelte sich zu einem überlegenen Grinsen. "Ja, ein schöner, roter Schal. Ich weiß. Er betont meine blauen Haare", sagte er sarkastisch.

Amatoris nickte. "Stimmt. Komm' jetzt weiter, ich möchte dich jemanden vorstellen."

Er führte Razon durch die große Vorhalle, in deren Mitte die riesige Statue zweier männlicher Elfen stand, die nackt Rücken an Rücken standen und sich dabei an den Händen hielten. Am Fuße dieser Statue standen kreisförmig angeordnet Sitzbänke mit roten Polstern, auf denen Pärchen lagen und einander die Haare, das Gesicht oder die Brust streichelten, sich gegenseitig Rücken oder Nacken massierten oder sich lachend unterhielten.

Razon fiel immer wieder die scheinbar makellose Schönheit und auch Gesundheit und körperliche Unversehrtheit dieser Wesen auf. Vor allem die Elfen sahen so aus, als hätten sie in ihrem ganzen Leben noch nie körperlich arbeiten oder kämpfen müssen. Keine Wunden, keine Narben, nichts. Lediglich ihre Haarfarbe verriet das Alter, denn Razon sah auch graue oder weiße Haare.

Er folgte Amatoris weiter einen bogenförmigen Korridor entlang, der mit grünen Pflanzen und weiteren Statuen - selbstverständlich alles muskulöse Männer - gesäumt war.

Amatoris sprach einen jungen Mann mit kurzen, tiefschwarzen Haaren an, der gedankenlos in einem Buch blätterte und an ihnen vorbeiging. Razon sah an seinen Ohren, dass es ein Mensch war.

"Verzeihung", sprach Amatoris ihn an, "aber wir suchen Lateo."

"Der ist im Bäderraum", sagte der Mensch knapp und ging weiter, in sein Buch vertieft.

"Das war einer der Menschen aus dem Süden", erklärte Amatoris. "Die sind alle sehr ernst. Seit Jahren tobte dort der Krieg, und ..."

"Ja, ja, ja", sagte Razon wieder genervt. "Ich kenne die Geschichte der Südländer."

Amatoris blieb stehen und seufzte. "Razon, ich rate dir etwas gelassener und auch freundlicher zu sein. Hier in Auroria haben alle sehr viel Geduld, vor allem mit den Neuen. Aber auch unsere Geduld und Gutmütigkeit ist nicht grenzenlos." Er machte eine kurze Pause und als Razon entschuldigend nickte, fuhr er fort: "Also, Lateo ist der Erbauer und auch Leiter dieses Tempels. Es ist kein Tempel, in dem man eine Gottheit anbetet ..."

"Sondern nur ein Wortspiel. Ja, das habe ich mir schon gedacht."

"Genau. Hier kommen die Leute zu baden her oder um sich massieren und verwöhnen zu lassen. Jene, die keinen Gefährten oder so was haben."

"Jaa, aber ..." Razon lachte verlegen. Ihm war nicht nach Lachen zumute. Je mehr er sich ausmalte, was dieser "Tempel" in Wirklichkeit war - ein "Freudenhaus" nämlich - um so unangenehmer wurde es ihm in seiner Haut. "Was habe ICH dann hier zu suchen?"

"Lateo richtet immer das große Begrüßungsfest für die Neuankömmlinge aus. Du bist der erste Neue seit Monaten und alle freuen sich darüber, dich begrüßen zu dürfen. Keine Angst", fügte Amatoris schnell hinzu, "jeder weiß, dass du nicht eburisch bist. Das haben wir jetzt alle begriffen, aber du bist deshalb nicht weniger willkommen."

Razon verschränkte die Arme. "Gut, und du willst mich jetzt dem Gastgeber dieser Party vorstellen?"

Amatoris nickte. "Genau. Lateo ist noch sehr jung und sieht aus, als würde er noch die Knabenschule besuchen, dabei hat er schon einiges in seinem Leben mitmachen müssen. Lass dich nicht von seinem Aussehen täuschen. Auch nicht von seiner Art zu sprechen. Und bitte - BITTE -

benimm dich und raste nicht gleich wieder aus, wenn er oder jemand anderes dir Komplimente

macht, in Ordnung?"

Razon seufzte. "Ich werde mir Mühe geben."

"Nein", sagte Amatoris entschieden. "Das reicht mir nicht. Du musst mir versprechen, Lateo nicht zu beleidigen. Das ist ganz wichtig."

"Gut, gut", sagte Razon. "Wir sind doch alle erwachsen und ich weiß, was sich gehört." Der Ebura nickte und lächelte zufrieden. "Gut, dann komm' mit."

~*~

Razon bekam nicht nur den Bäderraum und Lateo zu Gesicht, sondern ihm wurde erst jetzt das gigantische aber trotzdem atemberaubende und schöne Ausmaß des "Tempels" bewusst, als er mit Amatoris zusammen einen mit Dampf erfüllten Raum betrat. Er versuchte die lauten Atemgeräusche aus den verschlossenen Nebenräumen, an denen sie durch den Korridor vorbeigegangen waren, zu ignorieren, obwohl er sich sehr gut ausmalen konnte, was dort wohl vor sich ging. Und Amatoris schien es ihm anzusehen - oder wieder seine Gedanken zu lesen - denn er knuffte Razon sanft in die Rippen und grinste ihn an.

Der Bäderraum war kreisrund und an seiner runden Innenwand war ein einziges, rundes Panoramagemälde angebracht. Der oder die Künstler mussten viele Wochen, vielleicht sogar

Monate oder Jahre damit verbracht haben, es anzufertigen. Es zeigte eine riesige Szene, die sich in einer märchenhaften Landschaft abspielte. Das Wandbild erschlug Razon regelrecht, so dass er gar nicht wusste, wohin er zuerst sehen sollte: Bäume, Berge, ein Wasserfall, Tiere (Elche und Vögel), Drachen, und natürlich ...

"Jede Menge hübsche Jungs."

Razon zuckte vor Schreck regelrecht zusammen und wirbelte herum. Hatte er für einen Augenblick vergessen, dass er nicht alleine war? Hatte er laut vor sich her gesprochen? Amatoris lachte leise und amüsiert, und der Elf, der auf ihn und Razon zuging, sah aus, als wäre er einem Gemälde entsprungen: Ein engelsgleiches, fein geschnittenes Gesicht mit großen, beinahe kindlichen Augen, deren Glanz jedoch Intelligenz und Wachsamkeit verrieten. Seine Körperhaltung war anmutig, seine Bewegungen schienen ausgeglichen und geruhsam zu sein, wie bei einem Tänzer. Seine kurzen, honigfarbenen Haare schimmerten wie Gold. Er trug einen roten Lendenschurz und eine Kette aus großen, violetten Glasperlen um den Hals.

"Ich bin Lateo, freut mich, dich kennen zu lernen", sagte der junge Elf, der auf Razon den Eindruck erweckte, als stünde er einem fleischgewordenen Engel gegenüber, und reichte ihm die Hand.

Razon nahm sie an, konnte sie jedoch weder fest packen noch schütteln, sondern einfach reglos in diesen weichen, geschmeidigen Fingern liegen lassen.

Amatoris lachte und klopfte ihm auf die Schulter.

"Du musst Razon entschuldigen, Lateo", begann er, "aber er ist sonst nicht so schüchtern, weißt du?!"

Razon sah in Lateos hellgrüne Augen und er bemerkte, wie ihm der Schweiß die Achseln und auch die Wangen herunterrann wie Rinnsale.

Schnell zog er seine Hand zurück. "Ähm, ja, freut mich, Euch kennen zu lernen ..."

"Du", sagte Lateo und patschte mit seiner Handfläche auf Razons Brust. "Ich werde nicht förmlich angesprochen, das bin ich nicht gewohnt."

"Lateo wird sehr sauer, wenn man ihn förmlich anspricht", sagte Amatoris und kicherte.

Razon schreckte wieder zusammen, als er ein platschendes Geräusch vernahm; jemand war in das kreisrunde Wasserbecken in der Mitte des Raumes gesprungen. Nebel- und Dampfschwaden stieben zur Seite und legten den Blick frei auf mehrere Elfen und auch Menschen, die in dem warmen Wasser saßen und sich entspannten.

Amatoris lachte wieder leise. Er schien es sehr amüsant zu finden, Razon so verwirrt und unsicher zu sehen.

"Nun", begann Lateo und ging um Razon musternd wie ein Pferdehändler einen Gaul begutachtend herum, "du siehst aus, als wärst du sehr verspannt und verkrampft. Am besten, du

entkleidest dich und ..."

Razon schnappte nach Luft und wollte etwas sagen, doch Amatoris kam ihm zuvor: "Nein, du braucht nicht, wenn du es nicht willst, Razon. Ich empfehle es dir aber. Es ist nur ein Bad."

Er musste zugeben, dass ein heißes Quellenbad jetzt genau das Richtige war, vor allem, weil Razon seine Gastgeber nicht verärgern wollte. Er nickte. "Gut, aber ..."

Lateo lachte leise und bedeutete ihm, ihm zu folgen. "Komm mit, ich zeige dir, wo du dich

umziehen kannst."


In den Seitengängen, die strahlenförmig vom Bäderraum wegführten, waren überall kleine Räume mit Sitzbänken und überall lag Kleidung verstreut.

"Ich dachte, hier tragen alle nur diese Fetzen", sagte Razon.

"Oh, du meinst unsere Lendenschurze", sagte Lateo kichernd. "Naja, jeder kann tragen, was er möchte. Wer will, kann auch nackt herumlaufen, aber das tun die wenigsten. Es gibt Leute, die genauso spießig sind wie du und lange Hosen und Jacken tragen."

Razon bemerkte, dass er irgendwie nervös wurde. Auf der einen Seite wäre er am liebsten abgehauen, einfach weggerannt. Aber auf der anderen Seite gefiel es ihm hier irgendwie. In der Luft lag ein angenehmer, weicher Geruch, den Razon nicht wirklich beschreiben konnte. Und Lateo ... alleine die Nähe dieses Elfen machte ihn nervös, aber auch wieder zufrieden.

'Reiß dich jetzt bloß zusammen, Mann!', ermahnte er sich selbst. 'Du bist kein Ebura, du bist hier nur ein Gast, bis du einen Weg gefunden hast, hier wieder zu verschwinden.'

Er zog sich in die Kabine zurück, die Lateo ihm zuwies, und begann sich umzuziehen. Überall drangen leise, gedämpfte Stimmen auf ihn ein von Ebura, die sich in den anderen Kabinen befanden und leise unterhielten.

"Hast du schon gehört, der Neue wollte sich gleich am ersten Tag umbringen."

"Ja, schlimm. Aber er wird bestimmt bald merken, dass er hier im Paradies gelandet ist."

Razon seufzte und schüttelte den Kopf. "Was mache ich hier eigentlich?!", flüsterte er und überlegte, ob er einfach einen Ausgang suchen und abhauen sollte. Er würde sich viel lieber wieder mit Laxus unterhalten; der einzige Elf weit und breit, der ihn wirklich zu verstehen schien. Doch wie in Trance entkleidete er sich und streifte sich den weißen Lendenschurz um, der in der Kabine bereit lag. Irgendwie war Razon auch neugierig, was er von Lateo erfahren würde, denn der Junge (oder junge Mann?!) interessierte ihn.

"Nur als Elf, einfach als Person!", sagte er laut, als im selben Augenblick der Vorhang vor seiner Kabine zur Seite geschoben wurde und ein zwei Meter großer grüner Muskelberg vor ihm stand: jener Ork, den er schon in der Stadt gesehen hatte.

"Ups, Verzeihung!", sagte der Ork und schob den Vorhang wieder zu.

Razon wusste nicht, wie lange er erstarrt und bewegungsunfähig dagestanden hatte - vor Schreck, vor Scham, wovor auch immer - aber schließlich löste er sich von seiner Lethargie und ging zurück in den Bäderraum.


Dort wurde er schon erwartet. Razon stieg zu Amatoris und Lateo in sprudelndes, warmes Wasser und seufzte entspannt auf.

"Ich freue mich darüber, dass ihr mir als Neuankömmling ein Fest bereiten wollt, auch wenn ich immer noch nicht begreifen will, was ich hier zu suchen habe", begann Razon, nachdem Lateo ihn gefragt hatte, wer er nun war, woher er kam und vor allem: Warum er der Meinung war, nicht nach Auroria zu gehören. Und selbstverständlich war auch die Party Thema des Gesprächs. "Dieser Ort ist mir so fremd und ungewohnt wie sich ein Elch auf dem Grund des Meeres heimisch fühlen würde. Oder ein Fisch auf dem höchsten Berg der Welt. Oder ..."

"Ich glaube, wir haben verstanden", unterbrach Amatoris ihn. "Aber das Fest findet regelmäßig einmal alle sieben Tage statt."

"Jeder", fuhr Lateo mit der Erklärung fort. "erzählt seine Geschichte. Wie er nach Auroria kam oder was er vorher in der Außenwelt so gemacht hat. Niemand ist dazu verpflichtet; es gibt auch Ebura, die eine heiße Liebeschichte aus ihrem Leben auf Lager haben.

Razon schnaubte. "Ich weiß nicht, ob ich mich für eburische Liebesgeschichten begeistern könnte, aber wenn es was Gutes zu Essen gibt."

"Aber die Frage ist weiterhin ...", begann Amatoris und wechselte das Thema.

"Ja, warum bist du trotzdem hier", sagte Lateo leise. Es war keine Frage; es klang wie eine Feststellung.

Razon, der den beiden Eiselfen gegenüber gegen den Rand des Beckens lag und das sprudelnde Wasser genoss, zuckte mit den Achseln.

"Ich denke mal, euer Auroria hat sich geirrt, anders kann ich es mir nicht erklären."

"Auroria irrt sich nie", sagte Lateo ernst. "Das hat es noch nie, jedenfalls ..." Er verharrte und seufzte.

Razon runzelte seine Stirn und neigte den Kopf zur Seite. "Ich habe den Eindruck, dass du etwas weißt. Gab es schon mal einen Irrtum wie in meinem Fall?"

Lateo und Amatoris wechselten kurze Blicke, dann ergriff Amatoris das Wort. "Du musst wissen, wir haben hier weder einen Sprecher noch einen Anführer. Es gibt niemanden, den du hier um Rat fragen kannst, der dir dann sagen wird, was du tun sollst oder nicht. Wir sind alle eine Gemeinschaft, und ..."

"Es gibt keine Aufzeichungen", sagte Lateo und legte seinen Arm um Amatoris Schultern.

"Entschuldige, mein Freund, dass ich dich so unterbrochen habe, aber", er blickte wieder Razon an, "wir wissen es nicht. Es ist gut möglich, dass es auch andere wie dich in Auroria gab."

"Ihr habt keine Schriftgelehrten, keine Druiden oder andere Wissenshüter hier?", fragte Razon.

Lateo schüttelte den Kopf. "Wir sind auf die Berufsgruppen angewiesen, die hier in Auroria ankommen. Außerdem", fügte er hinzu, "halten wir es nicht für notwendig, Aufzeichungen anzufertigen."

Razon seufzte. "Na ja, was soll's. Würde mich sowieso nicht weiterbringen. Ich weiß, dass ich nicht hierher gehöre, und das reicht auch."

Amatoris grinste. "Entweder das, oder du weißt es eben selbst noch nicht ..."

Er legte seine Hand auf Razons Oberschenkel und dieser entzog sich sofort gewaltsam und ruckartig dieser Berührung.

"Versuche das nich’ noch mal", zischte Razon, "oder ..."

Er verharrte und blickte in zwei erschrockene Gesichter. Dann senkte er den Blick, schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe.

"Es ist schon gut", hörte er Amatoris leise sagen. "Ich muss mich daran gewöhnen."

Als Razon seine Augen wieder öffnete, sah er, dass Amatoris das Becken verlassen hatte und er mit Lateo alleine war. Der Ebura kam auf ihn zu und Razon spürte, wie dessen Nähe sein Herz wieder schneller zum Schlagen brachte.

"Amatoris hat etwas für dich übrig", sagte Lateo ernst. "Du solltest das respektieren."

"Er respektiert mich auch nicht", konterte Razon gepresst.

"Heißt das, dass dir die Gefühle anderer egal sind?"

"Ich bin kein Ebura!", sagte Razon und blickte Lateo an. Diese hellgrünen Augen versetzten ihm schon wieder diesen Stich ins Herz; er hatte urplötzlich das Gefühl, etwas vor sich zu haben und anzublicken, von dem er wusste, dass er es niemals bekommen würde. Er zitterte und wieder geisterte diese Stimme durch seinen Kopf ...

Bist du sicher, dass es dich tragen wird? Komm lieber wieder runter und gehe kein Risiko ein ...

Lateo war ihm jetzt so nahe, dass Razon seinen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Der Eiself verströmte diesen ganz besonderen Geruch, den Razon nicht zu beschreiben vermochte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Erst jetzt fiel ihm Lateos schlanker und doch muskulöser Körperbau auf. Als hätte ihn jemand extra geschaffen; geschaffen, um geliebt zu werden ...

Er strich Razon eine blaue Haarsträhne aus dem Gesicht und berührte in an der Brust, genau an jener Stelle, wo sein Herz schlug.

"Woher willst du es wissen?", hauchte Lateo. "Kämpfe nicht dagegen an. Lass dich einfach gehen und warte ab, was passiert."

Razon war wie gelähmt. Dieser Elf hatte ihn mit Worten und Blicken gefesselt und geknebelt; hatte ihn verhext, verzaubert ...

Er spürte die weichen Hände auf seiner Haut und war für einen Augenblick willenlos, gedankenlos, atemlos ...

Bis Razon wieder seine Stimme fand und wie ein Irrer brüllte: "NEIN! LASS MICH BLOß IN FRIEDEN!"

Er riss sich von Lateo los, wühlte sich durch das sprudelnde Wasser an den Rand und verließ das Becken. Auf dem glatten und nassen Steinboden glitt Razon beinahe barfuß aus, konnte jedoch gerade noch Halt an der runden Wand finden. Für einige Herzschläge blieb er nach Atem ringend so stehen; als er jedoch hinter sich hörte, wie auch Lateo das Becken verließ und seinen Namen rief, setzte Razon sich wieder in Bewegung und steuerte den Korridor an, suchte die Kabine, in der seine Kleider lagen. Tropfnass und mit zitternden Händen streifte er sich seine Kleidung über; es war das einzige, was noch aus seiner Welt übrig war. Der letzte Rest aus der echten, der "normalen" Welt ...


"Wie konntest du ihm das antun?!", bellte Amatoris. "Ich dachte, wir hatten einen Abmachung?!" Sein Gegenüber stand mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf da wie ein kleiner Junge, der von seinem Lehrer oder Vater zusammengestaucht wurde.

"Du weißt doch, dass Razon noch Zeit braucht, deshalb war ich mit ihm zu dir gekommen!"

"Ich habe seine Gedanken gesehen und wusste, dass es der richtige Augenblick war", verteidigte sich Lateo.

Beide befanden sie sich in einem Palmengarten, einer der vielen Rückzugsorte im Tempel der Träume.

"Für was sollte es der richtige Augenblick sein?", bellte Amatoris. "Sich gleich von ihm besteigen zu lassen oder was?!"

Lateo grunzte abfällig. "Wer weiß ... Er war bestimmt daran interessiert."

"Lateo", sagte Amatoris entnervt. "Du weißt als Empath genauso gut wie ich, dass Razon eine schlimm verkrüppelte Seele hat. Ihm ist irgendetwas Furchtbares geschehen, das spüre ich. Und er ist hier, um genau diese Verkrüppelung loszuwerden, davon bin ich überzeugt."

"Ach ja?", rief Lateo trotzig. "Und warum widersetzt er sich dann Auroria? Wieso lässt er sich nicht mit uns ein?"

"Weil er noch nicht bereit ist. Ich wollte ihm den Tempel zeigen und dir vorstellen, damit er uns endlich Glauben schenkt, dass er vor uns keine Angst zu haben braucht, und was machst du? Du gibst ihm das Gefühl, dass hier alle nur Sex von ihm wollen."

Sie schwiegen sich einen Augenblick lang an, dann nickte Amatoris heftig. "Ja, ja, ich gebe es ja zu. Auch ich versuche es immer wieder. Aber ..."

"Er ist anders", sagte Lateo nachdenklich. "Und er ist ..."

"Was Besonderes. Gerade das macht ihn so interessant."

"Ja", stieg Lateo ein, "seine Unnahbarkeit ..."

"Das Spröde und Widerwillige ..."

"Schreit geradezu danach, verführt zu werden."

Beide Ebura sahen sich an, dann seufzten sie und setzten sich in weiches Gras.

"Schade", sagte Lateo. "Razon hat einen wunderbaren Körper. Er wäre bestimmt ein toller Liebhaber."

"Ja", stimmte Amatoris zu, "aber solange er es nicht will, dürfen wir ihn nicht mehr zu verführen versuchen. Damit verschlimmern wir seinen Schmerz scheinbar nur."

Lateo nickte. "Ja. Es tut mir leid, dass ich ihm zu nahe gekommen bin. Aber ich spürte Razons Herzschlag, und seine Erregung. Ich bin davon überzeugt, dass ich ihm gefalle."

"Vielleicht erinnerst du ihn aber auch an jemanden, den er kannte", schloss Amatoris nachdenklich. "Ist aber nur so ein Gefühl."

Sie schwiegen wieder eine ganze Weile, bis Amatoris sich schließlich erhob. "Ich muss jetzt so langsam gehen. Vielleicht finde ich unseren Neuen irgendwo und werde versuchen, ihn wieder aufzumuntern. Vielleicht kauft er es mir ab, dass du nichts weiter als ein sexhungriger Dackel bist, der niemandem schaden möchte."

"Oh, wie reizend", entgegnete Lateo mit einem Unterton von Sarkasmus.

"Außerdem möchte ich früh nach Hause und früh zu Bett, wenn du verstehst, was ich meine." "Dulcis?"

Amatoris nickte. "Oh ja. Diesmal war ich der böse Junge und muss morgen meinem Herrn den ganzen Tag lang dafür zu Diensten sein."

Während sie miteinander sprachen, verließen sie den Palmengarten durch einen gläsernen Korridor.

"Sag' bloß, unser Bruchpilot hat morgen keinen Aufpasser?!", lachte Lateo.

"Doch, er hat einen. Laxus nimmt ihn unter seiner Fittiche."

Lateo blieb abrupt stehen, hielt Amatoris am Oberarm fest und starrte ihn erschrocken an. "DEN Laxus?!"

"Ja. Die beiden sind sich ja so ähnlich. Nur über Maschinen und ..." Amatoris verharrte und nickte.

"Ach so ja, stimmt. Deine erste Begegnung mit ihm war ja nicht so toll, oder?!"

"Kann man wohl sagen. Dieser alte Knacker", knurrte Lateo. "Na dann passen die beiden ja gut zusammen."

Amatoris seufzte und klopfte Lateo auf die Schulter. "Sieh' es doch mal so: Dann sind die beiden wenigstens ungestört und lassen dich in Frieden."

"Ja", sagte Lateo. "Hoffentlich.“

Lesemodus deaktivieren (?)