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Höhen und Herzen
Zwischen Kletterwand, Kamera und der Suche nach sich selbst
Teil 12 - Vergangene Schatten, neue Hoffnung
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Informationen
- Story: Höhen und Herzen
- Autor: TrioXander
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Abenteuer, Diverses
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Vergangene Schatten
- Rosen für die Ewigkeit
- Zwischen Dankbarkeit und Vorfreude
- Ein Herzschlag bis zu dir
- Ein Zimmer voller Wahrheit
- Einblicke ins Herz
- Vertraute Nähe
- Zwischen Sichtbarkeit und Selbstkontrolle
Vorwort
Wenn Erinnerungen tiefer schneiden als die Wirklichkeit
Vergangene Schatten
Es ist dunkel. Regen prasselt gegen die Fensterscheiben, so laut, dass ich kaum ihre Stimme hören kann, obwohl sie direkt vor mir sitzt. Ihre Augen lachen mich im Rückspiegel an, warm, lebendig, sicher. Er fährt ruhig, seine Hände umklammern das Lenkrad, während draußen die Straßenlaternen vorbeiziehen und die Tropfen auf der Windschutzscheibe verschwimmen.
„Gleich zuhause, Justin“, sagt sie leise, beruhigend. Ich nicke müde, kuschle mich tiefer in meine Jacke, während mein Blick aus dem Fenster wandert. Ich bin müde, glücklich, und fühle mich sicher. Wir haben den ganzen Tag draußen verbracht, ein perfekter Tag, voller Lachen und Wärme, trotz des Regens.
Dann verändert sich plötzlich alles.
Ein grelles Licht schneidet durch die Dunkelheit, blendet mich, raubt mir jede Orientierung. Mamas Augen weiten sich im Rückspiegel, ihr Mund formt einen stummen Schrei, Papas Hände reißen am Steuer. Reifen quietschen, das Auto bricht aus, meine Welt kippt zur Seite, dreht sich, überschlägt sich. Ich höre Schreie, spüre, wie mein Körper gegen den Gurt gedrückt wird, viel zu hart. Mein Kopf schlägt gegen etwas Festes, Schmerz explodiert hinter meinen Augen, ich schmecke Blut, warm und metallisch.
Dann Stille.
Unwirklich, ohrenbetäubend, endlos. Ich höre nur mein eigenes Atmen, hektisch, panisch. Mein Blick verschwimmt, ich blinzle, suche nach Orientierung. Der Wagen liegt auf der Seite, alles ist seltsam verzerrt. Ich spüre Nässe, Regen oder Blut, vielleicht beides. Angst schnürt mir die Kehle zu, ich versuche mich zu bewegen, aber der Gurt hält mich fest.
„Mama? Papa?“, wimmere ich schwach. Mein Herz rast, während ich nach ihnen suche.
Mama bewegt sich nicht. Ihr Kopf hängt zur Seite, Haare kleben in ihrem Gesicht, dunkel vom Blut. Ich rufe ihren Namen, immer lauter, verzweifelter. Keine Reaktion. Meine Brust verkrampft sich vor Panik, Tränen laufen über mein Gesicht, vermischen sich mit Blut und Regen. Ich winde mich, zappele, schreie, bis meine Stimme bricht.
Dann höre ich Papas Stimme, schwach, kaum hörbar. „Justin... alles gut... wir... schaffen das.“ Seine Worte klingen gebrochen, voller Schmerz, verzweifelt beruhigend.
Ich versuche ihn anzusehen, aber mein Blickfeld ist verschwommen, verzerrt. „Papa... Mama wacht nicht auf! Mach, dass sie aufwacht!“ Ich weine lauter, panischer, bis ich Schritte höre, schnelle, schwere Schritte.
„Hier drüben!“, schreit jemand. Hände greifen nach mir, öffnen hektisch den Gurt. Ein fremder Mann zieht mich raus, weg vom Auto, raus in die Kälte. Ich kämpfe, will zurück, will nicht von ihnen weg, aber er hält mich fest, drückt mich sanft aber bestimmt auf den Boden.
„Ruhig, Junge, ruhig. Hilfe kommt“, sagt er beruhigend, doch ich höre die Panik in seiner Stimme.
Sirenen heulen auf, Blaulicht flackert über mein Gesicht, lässt alles unwirklich wirken. Menschen schreien Anweisungen, laufen hektisch umher. Ich sitze da, zitternd, völlig durchnässt und beobachte, wie Sanitäter Mama und Papa aus dem zerstörten Auto ziehen. Ihre Körper sind schlaff, blutverschmiert, reglos.
„Mama! Papa!“ Meine Stimme überschlägt sich, verzweifelt, heiser. „Wacht doch auf!“
Niemand hört mich, oder niemand antwortet. Sie schieben meine Eltern auf Tragen, laufen schnell zum Rettungswagen. Ich werde in einen zweiten Wagen gesetzt, Decken um meinen Körper gelegt, ich spüre die Blicke der Rettungssanitäter, die mitleidig, sorgenvoll auf mir ruhen. Meine Hände zittern so stark, dass ich sie kaum stillhalten kann.
Im Krankenhaus ist alles grell, weiß, steril. Menschen laufen hektisch an mir vorbei, Gesichter verschwimmen, niemand erklärt mir etwas. Ich sitze allein auf einer kalten Plastikbank, höre entfernt Stimmen, Gesprächsfetzen:
„… schweres Schädelhirntrauma… massive innere Blutungen… kaum Puls…“
Die Worte prallen auf mich ein, jeder Satz wie ein Schlag. Ich verstehe nicht alles, aber ich fühle, dass es schlimm ist, zu schlimm. Mein Herz klopft so laut, dass es wehtut. Ich sehe immer wieder Mamas Gesicht, ihr Lächeln von heute Nachmittag, Papas Stimme, beruhigend und sicher. Ich will zu ihnen, will sie sehen, aber ich darf nicht. Ich darf nicht.
Irgendwann kommt ein Arzt auf mich zu. Sein Blick ist müde, voller Trauer. Er kniet sich vor mich, sagt Worte, die mein Herz in tausend Stücke reißen: „Justin, wir haben alles versucht, aber deine Eltern haben es nicht geschafft.“
Die Welt kippt erneut. Alles wird dunkel, kalt, leer. Ich höre mich schreien, fühle, wie meine Beine nachgeben, wie mein Körper auf den kalten Krankenhausboden aufschlägt. Ich schluchze, brülle, wimmere – doch nichts bringt sie zurück. Sie sind weg. Für immer.
Und dann, während ich auf dem Boden liege und schreie, verändert sich alles erneut—
„Justin! Justin, wach auf! Du träumst!“
Die Stimme klingt weit entfernt, aber ich erkenne sie sofort. Hände schütteln mich sanft, stark, beruhigend. Meine Augen öffnen sich ruckartig, ich sehe Bobbys Gesicht verschwommen vor mir. Er sieht erschrocken aus, voller Sorge und Schmerz.
„Bobby…“, schluchze ich laut, meine Stimme ist brüchig, schwach, verloren.
„Ich bin hier, ich bin hier. Alles ist gut“, sagt er ruhig, zieht mich in seine Arme. Ich halte mich verzweifelt an ihm fest, schluchze so heftig, dass ich kaum atmen kann. Die Bilder sind noch da, so real, so nah, als wäre der Unfall gerade erst passiert.
„Ich hab sie gesehen… Mama und Papa, sie waren einfach weg, ich konnte nichts tun…“, stammele ich heiser zwischen den Schluchzern. „Sie waren einfach weg!“
Bobbys Griff wird noch fester, seine Stimme rau, voller Schmerz und Verständnis. „Ich weiß, Kleiner. Ich weiß. Es tut mir so leid, dass ich nicht da war, damals.“
Ich klammere mich an ihn, spüre seinen ruhigen Herzschlag, seine Wärme, seine Stärke. Die Tränen laufen weiter, unaufhaltsam, aber seine Nähe gibt mir Halt. Er streicht mir beruhigend über den Rücken, murmelt leise Worte, die langsam die Dunkelheit vertreiben.
„Du bist nicht allein, Justin. Nie mehr. Hörst du mich? Nie wieder.“
Ich nicke schwach, drücke mein Gesicht noch fester gegen ihn, lasse alles los, all die Trauer, den Schmerz, der sich jahrelang versteckt hatte. Bobby hält mich fest, gibt mir Sicherheit, lässt nicht los.
Ich liege da, zitternd, erschöpft, noch immer in Bobbys Armen. Die Bilder verblassen nur langsam, die Schreie verklingen erst nach und nach in meinem Kopf. Mein Atem beruhigt sich zwar langsam, aber schlafen kann ich nicht mehr. Nicht nach diesem Traum. Nicht nach diesen Bildern, die so erschreckend real waren.
„Bobby“, flüstere ich irgendwann, meine Stimme ist rau, noch immer schwer von Tränen. „Es war so… echt. So nah, als wäre ich wieder dort. Ich hab wirklich alles gefühlt – die Kälte, den Regen, das Blut, einfach alles.“
Er hält mich etwas fester, streicht mir beruhigend über den Rücken. „Es ist lange her, Justin, aber manchmal… manchmal fühlt es sich an, als wäre es gestern passiert.“
„Ich weiß.“ Ich schlucke schwer. „Aber so schlimm war es lange nicht mehr. Ich dachte wirklich, ich verliere sie wieder.“
Bobby seufzt tief, zieht mich näher zu sich, bis ich fast ganz in seinen Armen liege. „Ich weiß, Kleiner. Ich bin hier.“
Er schweigt einen Moment, lässt die Stille wirken, und ich höre seinen ruhigen Herzschlag, der mir Halt gibt. Schließlich beginnt er sanft, mit leiser, warmer Stimme zu sprechen. „Weißt du noch, wie Mama immer diesen schrecklich falschen Beatles-Song gesungen hat, wenn sie morgens Frühstück gemacht hat? Sie konnte sich nie den Text merken.“
Ich muss trotz allem leicht lachen. Ein winziges, zerbrechliches Lachen, aber es fühlt sich an, als würde es die Dunkelheit ein Stück weit vertreiben. „Ja, und Papa hat jedes Mal die Augen verdreht, obwohl er eigentlich total verliebt aussah.“
Bobby grinst leicht in die Dunkelheit hinein. „Stimmt. Er hat sie so angesehen, als wäre sie die beste Sängerin der Welt.“
Wir schweigen kurz, und dann fallen mir plötzlich weitere Momente ein, warme, schöne Erinnerungen, die sich langsam durch die Kälte des Albtraums kämpfen. „Oder weißt du noch, wie wir jeden Sommer im Garten gezeltet haben?“
Bobby lacht leise, sanft, nostalgisch. „Ja, und jedes Mal hast du mitten in der Nacht Panik bekommen und wolltest wieder ins Haus.“
„Hey!“ Ich boxe ihn sanft in die Seite, aber er lacht nur noch mehr. „Ist doch wahr! Und Papa hat jedes Mal so getan, als wäre er überrascht, wenn du bei ihnen im Bett auftauchtest.“
Ich schmunzle, kuschle mich etwas tiefer in die Decke, atme langsam aus. „Aber er hat nie was gesagt. Er hat mich einfach zu sich gezogen und festgehalten, bis ich eingeschlafen bin.“
„Genau wie jetzt“, sagt Bobby leise, fast so, als würde er zu sich selbst sprechen.
Meine Brust fühlt sich plötzlich warm an, leichter irgendwie. „Genau wie jetzt“, wiederhole ich leise.
Wir reden weiter, erzählen uns abwechselnd kleine Geschichten, lachen über Mamas verrückte Ideen, Papas trockenen Humor, all die Eigenheiten, die uns damals vielleicht genervt, aber die wir später so schmerzlich vermisst haben.
„Weißt du noch“, sagt Bobby schließlich, und seine Stimme wird ganz weich, „wie Mama dich immer ‚meinen kleinen Sonnenschein‘ genannt hat? Du hast jedes Mal gestrahlt, egal wie wütend oder traurig du warst.“
„Hab ich nicht“, murmele ich verlegen, fühle aber, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln verziehen.
„Hast du wohl“, erwidert er leise, zieht mich noch ein Stück näher zu sich heran. „Sie wusste genau, wie sie dich aufheitern konnte.“
Ich seufze tief, fühle, wie die Erinnerung mich mit einer Mischung aus Schmerz und Glück erfüllt. Aber der Schmerz ist nicht mehr scharf, nicht mehr überwältigend. Er fühlt sich sanfter an, bittersüß, begleitet von Dankbarkeit dafür, dass wir diese Erinnerungen überhaupt haben.
Langsam wird es draußen heller, der Himmel verfärbt sich von einem tiefen Schwarz in ein weiches Grau. Wir liegen immer noch nebeneinander, erzählen uns die letzten Geschichten, während die Müdigkeit jetzt angenehm in meinen Knochen sitzt. Schlafen werde ich nicht mehr, aber das ist okay. Ich fühle mich sicher, geborgen, nicht mehr allein.
Irgendwann setzt Bobby sich auf, streckt sich kurz, gähnt leise. „Wir sollten langsam aufstehen, Kleiner. Der Tag beginnt bald.“
„Ja“, sage ich leise. „Ich komm gleich.“
Unter der Dusche spüle ich das Letzte des Albtraums von mir ab. Ich lasse das heiße Wasser über meinen Körper laufen, schließe die Augen und fühle, wie die Bilder sich endlich lösen, sich in weicher Wärme auflösen. Meine Gedanken wandern zurück zu Bobby, zu seinen beruhigenden Worten, zu all den guten Erinnerungen, die mich wieder aufgebaut haben. Ich atme tief durch, fühle mich wieder ganz bei mir, spüre, wie der Schmerz zwar noch da ist, aber nicht mehr dominiert.
Rosen für die Ewigkeit
Die Küche liegt still vor uns. Nur das leise Klappern von Geschirr und die gedämpften Geräusche des Wasserkochers durchbrechen die Ruhe. Ich sitze am Tisch, den Blick auf die blanke Holzoberfläche gerichtet. Bobby gießt heißen Tee in unsere Tassen. Der Dampf steigt sanft nach oben, zeichnet unruhige Muster in die Luft, bevor er verschwindet.
Keiner von uns sagt viel. Worte wirken heute schwer, fremd, unpassend. Meine Augen sind noch immer gerötet, leicht geschwollen von letzter Nacht. Bobby vermeidet es, mich direkt anzusehen. Wahrscheinlich weiß er, dass ich mich dann wieder verletzlich fühlen würde, verletzlicher, als ich es sein will.
Er stellt ein kleines Glas Honig auf den Tisch und setzt sich schließlich gegenüber. „Wir gehen dann nachher noch Blumen kaufen, ja?“, fragt er leise, fast vorsichtig.
Ich nicke langsam. „Wie jedes Jahr.“
„Wie jedes Jahr“, bestätigt er sanft.
Für einen Moment bleibt die Stille zwischen uns hängen. Ich halte mich an der warmen Tasse fest, während sich ein Gefühl von Melancholie in meiner Brust ausbreitet. Ich erinnere mich, wie Mama früher hier saß, morgens, direkt an diesem Tisch. Mit einem Kaffee in der Hand, während Papa das Frühstück machte. Damals roch es nach frischen Brötchen und ihrer Lieblingsmarmelade. Jetzt ist der Duft verschwunden, genau wie ihre Stimmen. Nur das leise Summen des Kühlschranks erinnert daran, dass hier noch immer Leben ist.
Ich schlucke den Kloß herunter, der sich in meiner Kehle gebildet hat. „Wann willst du los?“
Bobby sieht kurz auf die Uhr. „In einer Stunde? Dann haben wir noch Zeit.“
„Okay.“
Wir essen langsam, fast mechanisch. Obwohl Bobby extra versucht hat, etwas zu machen, das uns beiden schmeckt, schmecke ich kaum etwas. Mein Kopf ist bereits woanders – auf dem Friedhof, bei dem Grabstein, der mit jedem Jahr vertrauter und gleichzeitig schmerzhafter wird.
Nach dem Frühstück ziehen wir uns schweigend an. Draußen liegt ein kühler, grauer Tag vor uns, der Himmel bedeckt, passend zu meiner Stimmung. Auf dem Weg zum Blumenladen sprechen wir kaum, doch hin und wieder blickt Bobby zu mir, als wolle er sichergehen, dass ich noch da bin. Dass ich noch okay bin.
Im Laden begrüßt uns der Duft von frischen Blumen. Es ist seltsam beruhigend. Ich laufe zwischen den Reihen hindurch, lasse meine Finger leicht über die weichen Blüten gleiten, bis wir vor den Rosen stehen bleiben. Mama liebte Rosen. Tiefrote Rosen, die nach Sommer und Leben rochen. Jedes Jahr dieselben.
„Diese hier?“, fragt Bobby leise und deutet auf die dunkelroten, fast samtig wirkenden Blüten.
„Ja“, murmle ich. „Genau die.“
Als wir wenig später den Friedhof erreichen, ist es stiller als sonst. Kaum jemand unterwegs, nur ein älterer Mann, der langsam über die Kieswege schlurft. In meiner Brust spüre ich die Schwere, die ich jedes Jahr fühle, wenn wir hier ankommen. Ein beklemmendes Gefühl, das mich gleichzeitig tröstet und schmerzt.
Wir folgen dem vertrauten Weg zwischen den Grabreihen hindurch. Ich kenne diesen Weg so genau, dass ich ihn mit geschlossenen Augen gehen könnte. Das Rascheln unserer Schuhe auf dem Kies, das leise Zwitschern der Vögel in den Bäumen – jedes Detail wirkt lauter, schärfer, eindringlicher.
Dann taucht er vor uns auf.
Der Grabstein meiner Eltern. Schlicht, dunkelgrau, mit ihren Namen eingraviert. Benjamin und Marie Müller. Darunter zwei Daten, viel zu nah beieinander.
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Selbst nach sechs Jahren tut es noch weh. Ich trete langsam näher, knie mich vor den Stein und lege die Rosen vorsichtig davor ab. Mein Blick streift die Namen, während Bobby neben mir in die Hocke geht und schweigend auf den Stein schaut.
„Hey Mama. Hey Papa“, flüstere ich heiser, während ich mit den Fingern sanft über die kalten Buchstaben streiche. „Wir sind wieder hier.“
Meine Augen brennen, aber ich lasse die Tränen noch nicht zu. Stattdessen atme ich tief durch, kämpfe gegen das beklemmende Gefühl an, das mir die Kehle zuschnürt. Bobby legt still eine Hand auf meine Schulter, drückt sie kurz, schweigend, aber tröstend.
Wir setzen uns nebeneinander ins Gras, ignorieren die Kälte des feuchten Bodens. Hier, an diesem Ort, fühlt sich alles intensiver an – Erinnerungen, Gefühle, selbst das Atmen fällt schwerer.
„Sechs Jahre“, murmelt Bobby irgendwann leise. Seine Stimme klingt rau, älter, verletzlicher als sonst. „Ich frag mich immer noch, wie wir das geschafft haben.“
Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter, schließe kurz die Augen. „Weil wir keine Wahl hatten.“
Bobby seufzt, legt seinen Arm um meine Schulter und zieht mich näher. „Vielleicht. Aber ich glaube auch, weil wir uns hatten.“
Ich spüre, wie meine Kehle sich wieder zuschnürt, doch dieses Mal lasse ich die Tränen zu, lautlos und langsam. Ich nicke nur stumm, zu erschöpft für Worte. Wir sitzen so eine Weile, halten uns fest, trösten uns gegenseitig, während die Zeit um uns herum langsamer vergeht.
Die Rosen liegen vor uns, rot und lebendig, ein starker Kontrast zu der Kälte des Steins. Ihre Blüten erinnern mich an Mama, an ihr warmes Lachen und ihre sanften Hände. Ich fühle Papas ruhige Präsenz, höre seine tiefe, beruhigende Stimme irgendwo in meinem Hinterkopf.
Ich hole tief Luft und fühle, wie Bobbys Wärme und Nähe mich langsam beruhigen.
Der Schmerz wird leichter, aber er verschwindet nie. Doch vielleicht muss er das auch gar nicht.
Vielleicht ist er einfach ein Zeichen dafür, dass sie noch immer bei uns sind – auch nach sechs Jahren.
Ein Sonnenstrahl bricht plötzlich durch die graue Wolkendecke und trifft genau auf mein Gesicht. Ich blinzle überrascht, spüre die Wärme auf meiner Haut – eine Wärme, die tiefer zu gehen scheint als nur die der Sonne. Für einen Moment schließe ich die Augen, lasse mich von diesem Gefühl umfangen. Es ist, als würden meine Eltern hier sein, als stünden sie neben mir und legten ihre Hände sanft auf meine Schultern.
Ich atme tief ein, spüre, wie etwas in mir leichter wird. Fast instinktiv hebe ich den Blick zum Himmel, als könnte ich sie dort oben irgendwo entdecken, irgendwo zwischen den Wolken.
„Mama, Papa…“, beginne ich leise. Meine Stimme zittert ein wenig, aber ich spreche trotzdem weiter. „Ich wollte euch etwas erzählen. Ich wünschte, ihr könntet hier sein, damit ich es euch direkt sagen könnte.“
Neben mir bleibt Bobby still sitzen, sein Arm ruht ruhig und schützend um mich. Ich hole Luft, sammle meine Gedanken, bevor ich weiterspreche.
„Ich hab mich verliebt“, sage ich schließlich und lächle, obwohl die Tränen erneut heiß in meinen Augen brennen. „Es ist das erste Mal, dass ich sowas fühle, und ich wünschte, ihr könntet ihn kennenlernen. Er heißt Leo, und er… er ist wirklich besonders. Ich bin mir sicher, dass ihr ihn mögen würdet.“
Ich spüre, wie meine Stimme weicher wird, unsicherer. „Ich hoffe, ihr könnt verstehen, dass ich mich in einen Jungen verliebt habe. Ich weiß nicht, ob ihr damit gerechnet hättet, ob ihr enttäuscht wärt oder glücklich für mich. Aber ich hoffe… nein, ich weiß eigentlich, dass ihr mich verstehen würdet.“
Meine Finger spielen unruhig mit einem Grashalm, während ich weiterspreche, die Worte kommen jetzt von selbst, als hätten sie lange darauf gewartet, ausgesprochen zu werden.
„Leo ist nicht einfach nur irgendein Junge“, erzähle ich dem Stein, den Namen meiner Eltern darauf fixierend. „Er ist jemand, der mich versteht. Er lässt mich fühlen, dass ich gut bin, so wie ich bin. Bei ihm muss ich mich nicht verstellen, und ich glaube, das hättet ihr euch immer für mich gewünscht, oder? Dass ich jemanden finde, bei dem ich glücklich bin, bei dem ich ICH selbst sein kann.“
Die Tränen laufen mir jetzt offen über die Wangen, doch ich lächle gleichzeitig, weil ich spüre, wie richtig es sich anfühlt, ihnen davon zu erzählen.
„Ich weiß, dass ihr immer wolltet, dass ich glücklich bin“, sage ich sanft. „Und ich bin es jetzt. Wirklich. Es ist nicht immer leicht, und manchmal habe ich Angst. Aber wenn Leo bei mir ist, dann fühlt sich alles irgendwie besser an.“
Ich verstumme, spüre, wie die Wärme auf meinem Gesicht zunimmt, als wollten sie mir antworten. Die Sonnenstrahlen, ihre Wärme, ihre Liebe, es ist alles eins. Ich lasse meinen Kopf gegen Bobbys Schulter sinken, fühle die Mischung aus Erleichterung und Schmerz, als ich realisiere, dass ich all das nur einem kalten Grabstein erzählt habe.
„Ich vermisse euch“, flüstere ich heiser. „Ich vermisse euch jeden Tag.“
Bobby zieht mich fester in seine Arme, hält mich schweigend, während ich die Augen schließe und tief durchatme. Für eine Weile bleiben wir so sitzen, irgendwo zwischen unendlicher Traurigkeit und stillem Glück. Trauer über ihren Verlust, Glück über das Leben, das ich gerade entdecke.
Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich hören können, aber irgendwie bin ich mir plötzlich sicher, dass sie es getan haben. Dass sie stolz auf mich sind. Und dass sie sich für mich freuen würden – egal wen ich liebe.
Zwischen Dankbarkeit und Vorfreude
Wir sitzen in einem kleinen Bistro nahe des Friedhofs, das leise Klirren von Geschirr und das Murmeln der anderen Gäste bilden eine angenehme Hintergrundmusik. Die Atmosphäre hier drin ist warm, fast beruhigend, ein Gegensatz zu den Gefühlen, die mich eben noch überwältigt haben. Ich nippe an meinem Getränk, lasse meinen Blick durch den Raum wandern, bis er schließlich bei Bobby hängen bleibt. „Danke“, sage ich plötzlich, meine Stimme leise, aber deutlich genug, dass er aufblickt und mich verwundert ansieht. „Wofür?“ „Für heute. Für alles eigentlich.“ Ich atme tief durch, suche nach den richtigen Worten, die sich irgendwie viel zu klein anfühlen für das, was ich ihm sagen will. „Ich weiß, dass du dein Leben für mich zurückgestellt hast. Dass du alles aufgegeben hast, um für mich da zu sein. Ich… ich weiß gar nicht, ob ich mich je richtig bei dir bedankt habe.“
Bobby senkt kurz den Blick, sein Gesichtsausdruck wechselt zwischen Verlegenheit und Rührung, ehe er lächelt und die Schultern hebt. „Justin, du musst dich nicht bedanken. Das ist doch selbstverständlich.“
„Nein, ist es nicht.“ Ich lege die Hand auf den Tisch, spiele mit der Serviette, während ich versuche, seine Reaktion zu lesen. „Ich frag mich oft, wie es dir eigentlich geht. Ich meine, wirklich geht. Nicht nur dieses ‚Alles ist gut‘, das du mir immer sagst, um mich zu beruhigen.“
Er seufzt leise, betrachtet mich einen Moment lang nachdenklich, bevor er schließlich antwortet. „Ganz ehrlich? Manchmal ist es schon schwer. Nicht, weil ich bereue, für dich da zu sein. Niemals. Sondern, weil ich manchmal nicht weiß, ob ich es richtig mache.“
Seine Ehrlichkeit trifft mich unvorbereitet. Bobby wirkt immer so sicher, so stark, dass es mir nie in den Sinn gekommen wäre, dass er genauso zweifelt wie ich.
„Du machst alles richtig“, sage ich entschieden, und diesmal bin ich derjenige, der ihn beruhigen will. „Ohne dich hätte ich das alles nicht geschafft. Ich hab dir nie gesagt, wie dankbar ich bin, dass du für mich da warst. Dass du immer da bist.“
Ein warmes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Danke, Justin. Das bedeutet mir echt viel.“
Wir schweigen einen Moment, lassen die Ehrlichkeit des Gesprächs wirken. Dann grinst Bobby plötzlich, kippt leicht den Kopf zur Seite und hebt eine Augenbraue. „Aber genug von mir. Jetzt erzähl mal.“ Ich runzle die Stirn. „Erzähl mal was?“ Sein Lächeln wird breiter, wissender. „Na ja, du dachtest doch nicht wirklich, dass du so davonkommst. Du bist morgen mit Leo verabredet, oder?“
Ich spüre, wie mein Gesicht sofort heiß wird. „Woher weißt du das?“ Bobby lacht leise, zufrieden über meine Reaktion. „Justin, ich bin vielleicht dein Bruder, aber ich bin nicht blind. Du hast es vorhin am Grab doch sogar laut gesagt. Außerdem strahlst du wie ein Weihnachtsbaum, wenn sein Name fällt.“
Ich rolle die Augen, kann aber ein Lächeln nicht verhindern. „Es ist nicht irgendeine Verabredung. Es ist… also, na ja, es ist mein erstes richtiges Date. Irgendwie.“
Er grinst noch breiter, lehnt sich vor und stützt den Kopf in seine Hand. „Na endlich erzählst du mal was. Wird ja auch Zeit. Und? Was macht ihr? Geht ihr schick essen? Ins Kino? Händchen halten im Park?“
Ich schüttle lachend den Kopf, versuche meine Aufregung zu überspielen. „Keine Ahnung, ich gehe einfach zu ihm. Wir haben nichts geplant. Es ist ja auch nicht so, dass wir jetzt offiziell… na ja, zusammen sind oder so.“
„Noch nicht offiziell“, korrigiert Bobby grinsend, hebt seinen Kaffee und trinkt einen Schluck. „Aber wenn ich dich so ansehe, dauert das nicht mehr lange.“
„Sei nicht blöd“, murmle ich, merke aber, wie mein Lächeln breiter wird.
„Ich? Niemals.“ Bobby tut übertrieben beleidigt. „Ich bin nur froh, dass du endlich mal dein Leben genießt. Außerdem kann ich es kaum erwarten, Leo mal richtig kennenzulernen. Vielleicht sollte ich morgen spontan vorbeikommen, bisschen peinliche Geschichten auspacken…“
„Bobby!“, protestiere ich lachend und werfe eine Serviette nach ihm, die er geschickt auffängt.
„Keine Sorge“, sagt er schmunzelnd. „Ich geb dir einen Tag Vorsprung. Danach behalte ich mir vor, dich so richtig zu blamieren.“
Ich seufze gespielt genervt, fühle aber gleichzeitig, wie die Vorfreude auf morgen in mir wächst. Das Kribbeln im Bauch kehrt zurück, mischt sich mit einer angenehmen Wärme, die meine Brust erfüllt. Bobby lehnt sich entspannt zurück, beobachtet mich zufrieden.
„Es steht dir übrigens verdammt gut“, sagt er dann leise und aufrichtig. „Dieses verliebt sein.“
Mein Lächeln wird sanfter, und ich nicke stumm. Ja, es fühlt sich wirklich verdammt gut an. Vor allem jetzt, in diesem Moment, während mein Bruder mich anlächelt, mir Mut macht und mich aufzieht. Und ich weiß genau, dass ich genau hier und genau jetzt richtig bin. Mit Bobby. Mit Leo.
Mit allem, was gerade passiert.
Ein Herzschlag bis zu dir
Die Adresse, die Leo mir gestern Abend geschickt hat, führt mich in eine Gegend, die ich bisher nur aus Filmen kenne. Alles hier ist ruhig, beinahe zu perfekt. Der Asphalt unter meinen Fahrradreifen ist glatt, die Häuser stehen weit auseinander, versteckt hinter hohen Hecken oder geschickt platzierten Bäumen. Ich fahre langsamer, spüre die Nervosität in meinem Magen stärker werden, während ich die Hausnummern an mir vorbeiziehen sehe.
Dann halte ich an, setze einen Fuß auf den Boden und sehe hoch.
Ich bin da.
Vor mir erhebt sich ein Haus, das sofort aus der Umgebung hervorsticht – modern, elegant, beinahe minimalistisch. Klare Linien, viel Glas und Beton, aber nicht kalt oder unnahbar, sondern offen, hell und irgendwie beruhigend. Die große Fensterfront erstreckt sich über zwei Stockwerke, spiegelt sanft die Bäume und den Himmel wider. Die Sonne bricht sich im Glas und erzeugt kleine, funkelnde Reflexe, als würden tausend winzige Sterne darin wohnen. Der Eingangsbereich wirkt einladend, eine breite Holztür in einem warmen, natürlichen Farbton bildet den Kontrast zur kühlen Glasfassade.
Überall um mich herum ist Grün. Alte Bäume stehen hier, große Büsche rahmen den Weg zum Haus, verleihen allem etwas Privates, Geborgenes. Die Stille hier draußen ist fast greifbar – kein Verkehrslärm, kein hektisches Treiben, nur das leise Rascheln der Blätter im Wind. Ich atme tief durch, spüre, wie die Anspannung mit jedem Atemzug wächst.
Mein Blick fällt auf meine Klamotten, die ich heute extra sorgfältig ausgewählt habe. Ein Outfit aus der Kampagne, eines, das Leo für mich ausgesucht hatte – zumindest glaube ich das. Es fühlt sich weich und angenehm auf meiner Haut an, fast wie eine stille Berührung von ihm selbst. Ich zupfe nervös am Saum meines Shirts, schließe kurz die Augen und atme tief durch.
„Du schaffst das, Justin“, flüstere ich mir leise selbst zu, dann stelle ich mein Fahrrad an den Rand des Weges und gehe langsam auf die Tür zu.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich den Klingelknopf betätige. Ein kurzer, melodischer Ton hallt im Haus wider. Es passiert nichts, zumindest nicht sofort. Ich höre meinen eigenen Atem, spüre, wie meine Hände schwitzig werden, und wische sie unauffällig an meiner Hose ab.
Dann endlich höre ich Schritte hinter der Tür, und im nächsten Moment öffnet sie sich langsam.
Leo steht vor mir.
Mein Herz bleibt kurz stehen. Alles um mich herum verschwimmt zu einem einzigen Gefühl, das mich völlig überwältigt.
Er lächelt, sanft und zugleich unsicher, während sein Blick mich langsam von oben bis unten streift. Seine Haare sind heute lockerer als sonst, etwas zerzauster, als hätte er nervös mit den Fingern darin gespielt. Seine Kleidung ist entspannt, leger – ein weißes Shirt, das perfekt zu seinem schlanken, sportlichen Körper passt, und eine lockere Hose, die leicht an seinen Hüften sitzt. „Hey“, sagt er schließlich, seine Stimme warm und leise. Ich merke, dass auch er nervös ist.
„Hey“, erwidere ich, und meine Stimme klingt fremd, viel zu rau, viel zu angespannt. Meine Augen halten seine fest, ich kann mich nicht abwenden, selbst wenn ich wollte.
„Toll siehst du aus“ sagt er, während er mich noch immer von oben bis unten anschaut. „Schön, dass du da bist.“ Er tritt zur Seite, macht Platz, damit ich eintreten kann. „Komm rein.“
Ich nicke, lächle vorsichtig, trete einen Schritt vor und fühle mich, als würde ich gerade eine unsichtbare Schwelle überschreiten. Seine Nähe überwältigt mich beinahe, sein Duft streift mich flüchtig, vertraut und beruhigend zugleich.
Kaum fällt die Tür hinter mir ins Schloss, bleibt mein Blick an Leo hängen. Die Welt da draußen verschwindet völlig, es gibt nur noch ihn. Nur uns. Wir stehen uns direkt gegenüber, nur wenige Zentimeter trennen uns voneinander, und ich spüre, wie sich die Luft zwischen uns verändert. Sie wird dichter, wärmer, geladen von all dem, was wir nicht sagen, aber fühlen.
Leo sieht mir in die Augen, und in diesem Moment fühlt es sich an, als könnte er direkt durch mich hindurchsehen. Sein Blick ist so offen, so verletzlich, dass mein Herz beinahe schmerzt. Mein Atem stockt, während mein Puls wild gegen meine Brust schlägt. Langsam, fast unbewusst, bewegen wir uns aufeinander zu, als würden uns unsichtbare Fäden näher ziehen.
Seine Hand streicht sanft über meinen Arm, hinterlässt eine Spur warmer, elektrischer Funken auf meiner Haut. Mein Körper reagiert sofort, alles in mir sehnt sich nach ihm, nach seiner Nähe, nach seinem Atem auf meiner Haut. Ich hebe mein Gesicht, er senkt seines, und unsere Lippen treffen sich in einem Kuss, der so sanft beginnt, dass ich für einen Moment fürchte, mir alles nur einzubilden.
Doch dann vertieft sich der Kuss. Seine Lippen bewegen sich zärtlich, fast vorsichtig über meine, und ich öffne meinen Mund leicht, lasse ihn näher kommen, gebe nach. Meine Hände finden wie von selbst seinen Rücken, fühlen die Wärme seiner Haut durch den dünnen Stoff seines Shirts. Seine Finger wandern zu meinem Nacken, halten mich sanft, als könnte ich jeden Moment zerbrechen.
Alles andere verschwindet – keine Gedanken, keine Sorgen, nur noch er. Sein Geschmack auf meinen Lippen, süß und warm. Sein Geruch, vertraut und berauschend. Unsere Körper pressen sich enger aneinander, meine Brust hebt und senkt sich schneller, während der Kuss intensiver wird, tief und voller unausgesprochener Gefühle. Ich höre mein Herz in meinen Ohren schlagen, spüre seinen Puls unter meinen Fingern rasen, fühle, wie unsere Wärme ineinanderfließt. Die Zeit steht still. Bis ein leises, höfliches Räuspern den Moment abrupt beendet.
Wir zucken gleichzeitig zusammen, lösen uns hastig voneinander. Hitze schießt in mein Gesicht, ich fühle, wie sich meine Wangen dunkelrot färben, während mein Blick erschrocken zur Seite wandert. Dort steht Thomas, die Arme entspannt vor der Brust verschränkt. Leos Onkel.
„Sorry, Jungs“, sagt er schmunzelnd, und obwohl seine Stimme sanft ist, fühle ich mich, als wäre ich auf frischer Tat ertappt worden. „Wollte euch nicht unterbrechen.“
Leo räuspert sich verlegen, fährt sich nervös durchs Haar. „Schon okay.“
Thomas lächelt warm, und ich sehe sofort, dass er uns nichts Böses will, im Gegenteil. In seinem Blick liegt ehrliche Freude. Er dreht sich halb um, winkt uns zu sich. „Kommt doch kurz mit rein, Sabine wartet schon im Wohnzimmer.“
Leo wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, aber ich sehe, dass auch er noch völlig durcheinander ist. Er berührt kurz meine Hand, fast beruhigend. „Okay?“
Ich nicke erneut, atme tief durch. Mein Puls beruhigt sich kaum, aber ich folge ihm langsam in das Wohnzimmer, das sich direkt vor uns öffnet.
Der Raum überrascht mich, genau wie der Rest des Hauses. Er ist großzügig geschnitten, lichtdurchflutet durch die riesigen Glasfronten, die direkt in den Garten hinausführen. Der Stil ist modern, aber nicht steril – viel helles Holz, warme, gedeckte Farben, bequeme Möbel und dezente, aber persönliche Dekorationen. Ein flauschiger Teppich in Cremetönen liegt auf dem dunklen Holzboden, auf dem Couchtisch stehen kleine Schalen mit Obst und Nüssen, es riecht angenehm nach frischem Kaffee.
Auf dem Sofa erhebt sich eine Frau mit offenem, freundlichem Gesicht und schulterlangen dunklen Haaren, Sabine, wie ich vermute. Sie begrüßt mich mit einem warmen Händedruck und einem herzlichen Lächeln. „Hi Justin, freut mich sehr.“
Ich erwidere ihr Lächeln schüchtern. „Mich auch.“
Wir setzen uns gemeinsam auf das Sofa, Leo direkt neben mich. Thomas wirft uns einen kurzen, gutmütigen Blick zu, als er sich in einem Sessel niederlässt. „Wir wollten euch gar nicht stören. Aber es tut wirklich gut, Leo mal wieder so glücklich zu sehen.“
Ich werfe Leo einen kurzen Seitenblick zu, der erneut leicht errötet. Sabine nickt zustimmend, ihr Blick sanft, aber aufmerksam. „Leo wirkt wirklich wie ausgewechselt in letzter Zeit. Schön zu sehen, wie gut du ihm tust.“
Leo blickt verlegen zur Seite. „Okay, ihr könnt jetzt aufhören“, murmelt er, aber ich merke, dass er insgeheim lächelt.
Thomas zögert kurz, seine Stimme wird etwas ernster, aber weiterhin warm. „Es war in den letzten Jahren nicht immer einfach für Leo.“ Er blickt seinen Neffen an, vorsichtig, fragend. Leo spannt sich leicht an, senkt kurz den Blick.
„Nicht jetzt, Thomas“, sagt er ruhig, aber bestimmt. „Bitte.“
Thomas hebt beschwichtigend die Hände. „Natürlich, alles gut. Nur falls du reden willst, Justin – Sabine ist Psychologin. Manchmal hilft es, wenn man jemanden hat, mit dem man sprechen kann.“
Ich nicke langsam, verwirrt, unsicher. Ein kurzer Schatten zieht über Leos Gesicht, doch dann hebt er den Kopf und sieht mich wieder an, und das Lächeln kehrt zurück.
„Das erklär ich dir später“, sagt er leise zu mir, seine Hand findet ganz beiläufig meine, gibt ihr einen kurzen Druck. „Versprochen.“
Ich erwidere den Druck sanft, beruhigt von seiner Nähe, während ich gleichzeitig spüre, dass es da noch etwas gibt, das zwischen uns steht. Etwas, das er mir erst erzählen wird, wenn er bereit ist. Etwas, das unsere Verbindung vielleicht sogar noch tiefer macht.
„Wir lassen euch gleich wieder in Ruhe“, sagt Sabine schließlich mit sanftem Lächeln. „Aber ich freue mich wirklich, dich endlich kennenzulernen, Justin.“
Ich entspanne mich langsam wieder, atme tief durch und lächle zurück. „Danke. Das geht mir genauso.“
Leo wirft mir einen Seitenblick zu, warm und erleichtert, und ich fühle mich wieder ganz bei ihm. Egal was kommen wird – gerade jetzt, in diesem Moment, will ich einfach nur hier sein. Bei ihm.
Ein Zimmer voller Wahrheit
Thomas und Sabine verabschieden sich diskret mit einem letzten warmen Blick und lassen uns schließlich allein zurück. Einen Moment herrscht Stille zwischen uns, während wir beide versuchen, die Intensität des Augenblicks von eben wiederzufinden. Leo hebt schließlich den Blick und lächelt schüchtern, fast entschuldigend. Seine Finger streichen vorsichtig über meine Handfläche, so sanft, dass ich kaum glauben kann, wie vertraut sich diese Berührung bereits anfühlt.
„Komm, ich zeig dir mein Zimmer“, murmelt er schließlich leise, seine Stimme klingt beinahe rau vor Aufregung.
Ich nicke langsam, fühle mein Herz sofort wieder schneller schlagen, während ich aufstehe und ihm folge. Unsere Finger lösen sich nur kurz voneinander, aber die Wärme seiner Berührung bleibt noch immer auf meiner Haut zurück.
Leo führt mich nach oben über eine schmale, elegante Treppe, die sich geschwungen ins Obergeschoss windet. Ich beobachte ihn dabei, wie er sich bewegt – geschmeidig und sicher, jeder Schritt so selbstverständlich wie alles andere an ihm. Oben angekommen, öffnet er eine helle Holztür und lässt mich eintreten.
Das Zimmer überrascht mich sofort – es ist groß und lichtdurchflutet, beinahe eine kleine Wohnung für sich. Der Boden ist aus warmem Parkett, der Geruch von Holz und frischer Wäsche liegt sanft in der Luft. Große Fenster öffnen den Blick hinaus in den Garten, lassen die Bäume fast in den Raum hineinragen. Alles wirkt ruhig, aufgeräumt, irgendwie klar und doch voller Persönlichkeit.
Mein Blick wandert durch den Raum, nimmt alles neugierig auf. Auf einer Seite steht ein großes Bett, schlicht bezogen in hellem Grau und Weiß, das mit weichen Kissen bedeckt ist. An der Wand hängen einige gerahmte Fotografien, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen – Momentaufnahmen von ihm selbst beim Skateboarden, eingefangen in genau jenem perfekten Moment zwischen Konzentration und Freiheit, den ich mittlerweile mit ihm verbinde. Die Fotos wirken so echt, so lebendig, dass ich sie länger betrachte, als mir bewusst ist.
„Die hat Finn gemacht“, sagt Leo leise, bemerkt mein Interesse sofort. „Ich hab lange überlegt, ob ich sie aufhängen soll, aber irgendwie motivieren sie mich jedes Mal, wenn ich sie ansehe.“
Ich lächle, spüre, wie stolz er darauf ist – nicht auf sich selbst, sondern auf das Gefühl, das diese Bilder vermitteln. Die Echtheit, die Verletzlichkeit. „Sie passen zu dir“, sage ich schließlich ehrlich. „Echt und irgendwie mutig.“
Leo wirft mir einen warmen, aber auch verlegenen Blick zu. „Danke.“
Mein Blick gleitet weiter. An einer anderen Wand entdecke ich ein volles Bücherregal, auf dem alles sorgsam sortiert steht: Romane, Sachbücher über Psychologie und Fotografie, einige Graphic Novels, aber auch ältere, deutlich gelesene Bücher, deren Einbände liebevoll abgegriffen wirken. Leo folgt meinem Blick erneut, tritt neben mich und zieht eines der Bücher vorsichtig heraus, lässt seinen Daumen sanft über das Cover gleiten.
„Ich lese gern“, erklärt er leise, fast etwas verlegen. „Vor allem wenn ich mal abschalten muss. Skateboarden hilft dabei natürlich auch, aber manchmal brauche ich einfach nur Ruhe. Keine Musik, keine Geräusche, nur Worte.“
Ich sehe ihn neugierig an. „Was liest du am liebsten?“
Er lächelt sanft, wirkt dabei nachdenklich. „Bücher, die etwas mit mir machen, weißt du? Geschichten, die mich bewegen, bei denen ich das Gefühl hab, dass ich hinterher irgendwie anders bin als vorher. Sachbücher mag ich auch, besonders Psychologie und Philosophie. Sabine hat mich da angesteckt, glaube ich.“ Er lacht leise. „Es hilft mir, mich selbst besser zu verstehen. Und manchmal hilft es mir auch, andere besser zu verstehen.“
Die letzten Worte spricht er vorsichtig, als wäre ihm plötzlich bewusst, wie viel er gerade von sich preisgibt. Seine Augen halten meinen Blick fest, aufmerksam, fast fragend, ob ich verstehe, was er mir damit sagen will.
Ich nicke langsam, spüre, wie mein Herz schwerer schlägt. „Ich verstehe.“
Leo wirkt erleichtert, stellt das Buch behutsam zurück und geht dann weiter. An einer Ecke entdecke ich schließlich sein Skateboard, sorgfältig an die Wand gelehnt, darunter ein kleiner Stapel mit Schutzausrüstung und ein paar abgegriffene Sneakers, die von vielen Fahrten erzählen.
„Wann warst du das letzte Mal fahren?“, frage ich neugierig, während ich mir vorstelle, wie er draußen auf seinem Board steht, völlig konzentriert und zugleich völlig frei.
„Gestern Morgen.“ Er schmunzelt kurz. „Ich brauchte irgendwie einen klaren Kopf, nachdem du Freitagabend gegangen bist. Ich konnte kaum schlafen und musste irgendwas machen, um mich abzulenken.“
Ich spüre sofort Wärme in meiner Brust aufsteigen. „Geht mir genauso. Die letzten Tage hab ich kaum an was anderes denken können als an heute.“
Er grinst breit, ehrlich erfreut, bevor sein Ausdruck wieder ernster wird. „Justin, ich wollte dich noch was fragen.“
Ich drehe mich ihm ganz zu, sehe ihn aufmerksam an. „Was denn?“
Er holt tief Luft, wirkt plötzlich unsicher, fast verletzlich. „Freitag war ja ziemlich intensiv, aber du hast gesagt, dass du gestern mit deinem Bruder was Wichtiges vorhattest. Es wirkte irgendwie… schwierig. Willst du mir erzählen, was los war?“
Ich schlucke kurz, fühle den Kloß in meiner Kehle sofort wiederkommen. „Gestern war der Todestag meiner Eltern“, erkläre ich leise. „Wir gehen jedes Jahr ans Grab, legen Blumen nieder, reden ein bisschen mit ihnen. Das ist mir wichtig.“
Leo nickt langsam, sanft verständnisvoll. „Danke, dass du’s mir erzählst.“
Ich atme tief durch, spüre, wie schwer es mir fällt, die richtigen Worte zu finden, doch ich will, dass Leo versteht. Wirklich versteht, was gestern passiert ist – was gestern Nacht passiert ist. „Es ist nicht nur das Grab, weißt du? Gestern Nacht hatte ich einen Albtraum. Eigentlich ist es immer der gleiche Albtraum, aber gestern war er schlimmer. Viel schlimmer als sonst.“ Meine Stimme zittert leicht, aber ich zwinge mich weiterzusprechen, weil ich will, dass er es hört, weil ich will, dass er es versteht. „Ich hab geträumt, dass ich wieder zehn Jahre alt bin, im Auto mit meinen Eltern. Es war dieser Abend, an dem sie gestorben sind. Ich war plötzlich wieder genau dort, in diesem Moment.“
Leo sieht mich jetzt voller Aufmerksamkeit an, seine Hand umschließt sanft und beruhigend meine Finger, gibt mir Halt, obwohl ich merke, wie angespannt er plötzlich ist, als würde er selbst fühlen, was ich fühle. Ich hole erneut tief Luft, kämpfe gegen den Kloß in meiner Kehle an.
„Es war so echt, Leo. Ich hab den Regen gehört, der gegen die Scheiben geprasselt ist, Mamas Stimme gehört, die mir gesagt hat, dass wir gleich zu Hause sind. Alles war okay, und dann…“ Meine Stimme bricht kurz, aber ich rede weiter, zwinge mich dazu, auch wenn meine Augen bereits heiß vor Tränen sind. „Dann war da dieses grelle Licht, das Auto hat sich überschlagen. Ich hab alles gespürt, die Panik, die Angst, den Schmerz. Ich hab gesehen, wie meine Eltern verletzt da lagen und ich konnte nichts tun, gar nichts. Ich war hilflos.“
Ich merke, dass meine Hände inzwischen zittern, aber Leos Griff wird fester, entschlossener, und das gibt mir die Kraft weiterzusprechen. „Dann kamen die Sanitäter, haben mich rausgezogen. Ich hab geschrien, ich wollte nicht weg, aber niemand hat auf mich gehört. Ich konnte nur zusehen, wie sie meine Eltern weggebracht haben, reglos. Später im Krankenhaus haben sie mir gesagt, dass meine Eltern es nicht geschafft haben. Ich hab geschrien, bin zusammengebrochen, aber niemand konnte etwas tun, niemand konnte mir helfen.“
Leo sieht mich jetzt direkt an, in seinen Augen liegt so viel Mitgefühl, so viel ehrlicher Schmerz, dass es mich tief im Inneren berührt. Er sagt nichts, wartet geduldig darauf, dass ich weiterspreche, wenn ich bereit bin.
„Gestern Nacht war Bobby da, als ich aufgewacht bin. Ich hab mich in seinen Armen ausgeweint, hab ihm alles erzählt, so wie ich dir jetzt alles erzähle.“ Ich halte kurz inne, sehe Leo tief in die Augen, bevor ich weiterspreche. „Und weißt du, warum ich dir das alles erzähle, Leo?“
Er schüttelt leicht den Kopf, schweigend, aber aufmerksam.
„Weil ich will, dass du es weißt. Weil ich dir vertraue. Weil ich will, dass du verstehst, dass ich zwar manchmal verletzt bin, kaputt oder zerbrochen wirke, aber genau deswegen weiß ich auch, wie wertvoll das hier gerade mit dir ist.“ Meine Stimme ist jetzt fester, entschlossener. „Ich will, dass du weißt, wer ich wirklich bin. Mit allem, was ich erlebt habe. Weil ich mich bei dir nicht verstellen will, weil ich das Gefühl habe, dass ich das bei dir nicht muss.“
Leo atmet tief aus, zieht mich näher zu sich heran, so dass unsere Stirnen sich beinahe berühren. Seine Stimme klingt leise, aber klar und stark, als er spricht. „Justin, du musst dich niemals vor mir verstellen. Niemals. Ich bin froh, dass du mir all das erzählst. Danke, dass du mir vertraust.“
„Ich hab lange gebraucht, um das zu können“, gebe ich ehrlich zu, spüre die Erleichterung in mir, die Wärme, die Leos Nähe mir schenkt. „Aber bei dir fühlt es sich richtig an.“
„Das tut es“, flüstert er, sanft und ernst zugleich. „Ich bin hier, Justin. Und ich werde bleiben, solange du willst.“
Seine Worte lösen etwas in mir, eine tiefe, ehrliche Dankbarkeit, ein Gefühl von Sicherheit und Ruhe, wie ich es lange nicht empfunden habe. Wir bleiben so sitzen, schweigend, nah beieinander, bis sich mein Atem schließlich beruhigt und ich spüre, wie der Schmerz langsam einer leichten, zarten Hoffnung weicht.
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„Und bei dir?“, frage ich vorsichtig zurück. „Thomas meinte vorhin, dass du es nicht leicht hattest. Du musst nicht, wenn du nicht willst, aber…“
Er atmet hörbar aus, lächelt dann weich, fast erleichtert. „Ich will's dir erzählen. Nur nicht alles auf einmal, okay? Es ist kompliziert. Ein bisschen weißt du ja schon von mir, aber…“ Er setzt sich aufs Bett, zieht mich sanft neben sich. Unsere Beine berühren sich, warm und beruhigend. „Ich bin bei Thomas und Sabine, seit ich dreizehn bin. Meine Eltern… waren nicht gerade begeistert, als ich mich geoutet hab. Es war kompliziert. Und sehr verletzend. Thomas ist der Bruder meiner Mutter, und er hat mich aufgenommen, als es nicht mehr ging. Sabine hat mir geholfen, mit allem klarzukommen.“
Seine Stimme klingt jetzt ruhiger, klarer, aber auch tiefer, als würde er bewusst zurückhalten, wie schwer das alles für ihn war. Ich fühle sofort den Drang, ihn zu berühren, ihn wissen zu lassen, dass er nicht allein ist. Meine Hand findet wie von selbst seine, verschränkt die Finger fest miteinander.
„Ich bin froh, dass sie für dich da sind“, flüstere ich ehrlich. „Und ich bin froh, dass du es mir erzählt hast.“
Leo lächelt erleichtert, atmet tief aus. „Ich auch.“
Wir sitzen schweigend da, einfach zusammen, nah genug, um einander zu spüren, um einander Sicherheit zu geben. Alles, was vorher war – alle Sorgen, alle Fragen – tritt langsam in den Hintergrund.
Schließlich lehnt Leo seinen Kopf gegen meinen, atmet leise aus. „Danke, dass du hier bist, Justin.“
„Danke, dass du mich eingeladen hast“, erwidere ich genauso leise.
Er drückt meine Hand, sieht mich dann an, mit diesem vertrauten, warmen Ausdruck, der mir das Gefühl gibt, endlich genau dort zu sein, wo ich hingehöre.
„Bleibst du noch eine Weile?“, fragt er fast flüsternd.
Ich lächle. „Solange du willst.“
Und ich weiß bereits jetzt, dass ich nirgendwo anders sein will als hier – in Leos Zimmer, mit ihm, ganz nah und ganz echt.
Ich schaue mich noch etwas in seinem Zimmer um. Auf einem kleinen Tisch liegt ein Skizzenblock offen, daneben mehrere Bleistifte und Marker.
„Wow“, murmle ich beeindruckt und lasse meinen Blick weiter schweifen. „Ich wusste gar nicht, dass du zeichnest.“
Leo lächelt etwas schüchtern. „Meistens, wenn mir alles zu viel wird. Sabine hat mir beigebracht, Gefühle aufs Papier zu bringen, wenn ich sonst nicht weiter weiß.“
Ich trete näher, blättere vorsichtig durch die Seiten des Skizzenblocks. Die Zeichnungen sind erstaunlich gut – teilweise abstrakt, teilweise detailreiche Porträts von Menschen, Händen, Gesichtern, Momenten voller Emotion.
„Du bist richtig gut“, sage ich ehrlich, bewundernd. Leo lächelt verlegen, setzt sich auf sein Bett, das weich unter seinem Gewicht nachgibt. Ich folge ihm, nehme neben ihm Platz, spüre seine Wärme sofort neben mir.
Für einen Moment schweigen wir, während draußen durch die geöffnete Balkontür die leisen Geräusche des Windes und vereinzeltes Vogelzwitschern zu uns dringen.
„Justin“, beginnt Leo schließlich vorsichtig, seine Stimme plötzlich tiefer, ernster, „was Thomas eben meinte…, da gibt es noch etwas, das du wissen solltest.“
Ich spüre, wie sich mein Herzschlag sofort beschleunigt, aber ich nicke stumm, bereit, zuzuhören. Leo holt tief Luft, ringt sichtlich mit sich, bevor er weiterspricht.
„Damals, als ich dir erzählt hab, warum ich zu Thomas und Sabine gezogen bin – das war nicht die ganze Geschichte.“ Sein Blick fällt kurz auf seine linke Hand, die so natürlich wirkt, so echt, dass ich beinahe vergessen habe, was darunter verborgen liegt. „Du weißt, ich hatte einen heftigen Streit mit meinen Eltern. Ich war so wütend, so verletzt, dass ich einfach nur weg wollte. Ich hab mein Skateboard genommen, bin einfach drauflosgefahren, ohne wirklich zu wissen, wohin.“
Leo stockt kurz, atmet tief durch, bevor er mit leiserer Stimme fortfährt. „Dann kam der Unfall. Ich bin über eine Kreuzung gefahren und hab nicht richtig aufgepasst. Ein LKW hat mich erwischt, und das nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich im Krankenhaus aufwache. Ich wusste nicht, was passiert war, hatte überall Schmerzen und dann…“ Er hebt seine Hand, blickt sie lange an. „Dann hab ich gemerkt, dass da etwas fehlt.“
Ich schlucke schwer, spüre einen Kloß im Hals, greife vorsichtig nach seiner rechten Hand, halte sie fest. Leo lächelt traurig, aber dankbar, drückt meine Finger leicht.
„Meine Eltern sind nicht ein einziges Mal gekommen“, fährt er bitter fort, aber seine Stimme klingt gleichzeitig erschöpft, als hätte er schon längst akzeptiert, dass sich das niemals ändern wird. „Thomas und Sabine waren da. Immer. Tag und Nacht. Sie haben mich aufgefangen, haben sich um alles gekümmert – nicht nur um Ärzte und Operationen, sondern auch um mich. Ohne sie hätte ich das niemals geschafft.“
Ich fühle seine Traurigkeit so deutlich, dass sie fast greifbar ist. Sein Blick verliert sich für einen Moment in einer Erinnerung, die ich nicht sehen kann, aber ich spüre, dass sie ihm wehtut.
„Weißt du“, erzählt er leise, „ich war schon früher oft bei ihnen, bevor das alles passierte. Ich hab jede freie Minute hier verbracht, weil ich mich bei meinen Eltern einfach nie richtig zuhause gefühlt habe. Sabine und Thomas können keine eigenen Kinder bekommen, und irgendwie war ich für sie mehr als nur ein Neffe – fast wie ein eigenes Kind.“
Seine Stimme wird weicher, wärmer, als er von ihnen spricht. „Sabine war diejenige, die mich nach dem Unfall wieder aufgebaut hat. Nicht nur körperlich. Sie hat mir gezeigt, wie man weiterlebt, wenn man denkt, dass es nicht mehr weitergeht. Sie hat mich zum Zeichnen gebracht, mich motiviert, mir geholfen, mit allem klarzukommen.“
Ich sehe ihn sanft an, während er weitererzählt. Seine Stimme klingt nun fester, zuversichtlicher. „Die Reha war heftig. Anfangs hab ich gedacht, ich pack das nicht, dass ich niemals wieder normal leben kann. Aber irgendwie hab ich dort neue Stärke gefunden – oder vielleicht auch erst entdeckt, dass ich die schon immer in mir hatte.“
Leo lächelt nun wieder, etwas selbstbewusster, blickt direkt in meine Augen. „Und dann kam plötzlich dieses Forschungsprojekt. Diese Chance, wieder etwas zurückzubekommen, von dem ich dachte, es wäre für immer verloren.“
Er hebt seine linke Hand, bewegt vorsichtig die Finger, als könnte er noch immer nicht ganz glauben, dass das möglich ist.
„Und dann“, sagt er mit leuchtenden Augen, „kamst du. Wie ein Zeichen, dass alles doch irgendwie Sinn ergibt. Dass alles gut werden kann.“
Mein Herz schlägt so schnell, dass es mir schwerfällt, normal zu atmen. Langsam lege ich meine Hand sanft an seine Wange, streichle leicht mit dem Daumen darüber.
„Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast“, flüstere ich. „Und ich bin froh, dass du hier bist. Genau hier.“
Leo lächelt warm, lehnt sich leicht in meine Berührung. Sein Atem geht tiefer, ruhiger, während er die Augen schließt und für einen Moment einfach nur genießt, dass wir uns nahe sind. Es fühlt sich an, als wären all unsere Geheimnisse plötzlich miteinander verwoben – verbunden zu einem Ganzen, das stärker ist, als ich mir je hätte vorstellen können.
„Ich hab dir das alles erzählt“, sagt Leo schließlich leise, öffnet langsam wieder die Augen, „weil ich wollte, dass du verstehst, warum du mir so wichtig bist. Warum es sich so richtig anfühlt, bei dir zu sein.“
Sein Blick hält meinen fest, so intensiv und klar, dass ich kaum atmen kann. In diesem Moment verstehe ich mehr denn je, wie zerbrechlich und gleichzeitig stark er ist – und dass ich genau hier sein will, um all das mit ihm zu erleben, zu teilen, zu tragen.
Langsam beuge ich mich vor, berühre seine Lippen sanft mit meinen, lasse den Kuss tiefer werden, als würde ich ihm zeigen wollen, dass ich alles verstanden habe – jedes Wort, jeden Schmerz, jede Sehnsucht.
Und während wir uns erneut küssen, fühlt es sich an, als würden wir gemeinsam eine neue Geschichte schreiben. Eine, die gerade erst beginnt.
Einblicke ins Herz
Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen wir uns langsam voneinander, und ich lehne meine Stirn sanft gegen seine, während wir beide leicht außer Atem sind. Unsere Hände haben sich inzwischen ineinander verschränkt, fest und vertraut, und ich spüre, wie meine Finger sich an seine klammern, als könnte ich ihn sonst verlieren.
Ich lege meine Hand sanft auf seine Brust, spüre seinen ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag, der mir versichert, dass wir beide gerade genau dort sind, wo wir hingehören.
„Leo“, flüstere ich leise, atemlos. „Darf ich dich was fragen?“
Er nickt leicht, lächelt warm, beinahe erwartungsvoll. „Natürlich. Alles, was du willst.“
Ich zögere kurz, suche nach den richtigen Worten. „Ich hab irgendwie das Gefühl, du weißt inzwischen fast alles über mich. Meine Eltern, mein Training, meine Träume, meine Ängste. Aber bei dir…“ Ich halte kurz inne, schlucke nervös. „Ich weiß so wenig. Ich will dich richtig kennenlernen.“
Leo mustert mich aufmerksam, ein sanftes, liebevolles Funkeln in seinen Augen. „Frag einfach. Ich verspreche dir, dass ich nichts verschweigen werde.“
Ich atme erleichtert auf, fühle mich sofort sicherer. „Das Forschungsprojekt, von dem du gesprochen hast – wie genau bist du da reingekommen? Ich meine, das klingt alles so unglaublich. Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie du es geschafft hast, dich von dem Unfall so sehr zu erholen, dass du heute so stark bist.“
Leo setzt sich etwas aufrechter hin, betrachtet seine Hand nachdenklich, bevor er schließlich antwortet. „Der Unfall passierte, als ich 13 war, jetzt bin ich 17. Kurz danach bin ich über Thomas und Sabine mit diesem Forschungsprojekt in Kontakt gekommen. Es ging darum, Prothesen zu entwickeln, die von echten Gliedmaßen kaum noch zu unterscheiden sind. KI-gesteuerte Prothesen, die natürliche Bewegungen perfekt nachahmen.“
Er hebt die linke Hand und bewegt langsam die Finger, beinahe fasziniert von sich selbst. „Diese Hand hier ist nicht einfach nur eine Prothese. Sie ist das Ergebnis von jahrelanger intensiver Forschung. Künstliche Intelligenz, Sensorik, Neuroverbindungen… alles in einem. Ich bin fast jeden Vormittag bei der Forschung dabei, gehöre inzwischen richtig zum Team. Viele Details sind natürlich noch geheim, weil wir kurz vor einer großen Innovation stehen, aber eins kann ich dir sagen – die Ergebnisse sind unglaublich.“
Seine Augen glänzen plötzlich begeistert, fast stolz. „Ich bin eine Art lebender Beweis, dass die Technologie funktioniert. Das alles hier ist ein riesiges Geheimnis, aber es könnte das Leben von vielen Menschen verändern.“
„Wow“, flüstere ich beeindruckt. „Das klingt nach etwas wirklich Großem.“
Leo nickt zustimmend. „Ist es auch. Und es fühlt sich toll an, ein Teil davon zu sein. Ich meine, ich habe inzwischen schon mit so vielen Menschen aus der Firma zusammengearbeitet. Verschiedene Trainer haben mich begleitet, um die Bewegungen möglichst natürlich hinzukriegen. Finn hat mich mehrfach fotografiert, um die Fortschritte zu dokumentieren. Ich kenne eigentlich jeden dort, und es fühlt sich an wie eine große Familie.“
Ich lächle sanft. „Das ist schön. Dann verstehe ich jetzt auch, warum du so sicher wirkst, wenn es um das Projekt und die Kampagne geht.“
Leo lächelt etwas verlegen. „Das ist nicht der einzige Grund. Ich hab durch all die Arbeit in der Firma ein richtig gutes Auge für Ästhetik entwickelt, für Farben, Design… und irgendwie auch dafür, was den Leuten steht. Ich weiß nicht warum, aber ich kann Konfektionsgrößen ziemlich exakt abschätzen, oft sogar auf den ersten Blick.“
Ich hebe überrascht die Augenbrauen. „Deswegen hast du also sofort gewusst, welche Größe mir passt?“
Leo lacht leicht, nickt. „Ja, genau. Ich merke mir so etwas sofort. Ich liebe es einfach, mit Farben, Formen und Materialien zu spielen. Deshalb hab ich mir vorgenommen, eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann für Sportausrüstung zu machen. Ich will unbedingt später in einem Bereich arbeiten, wo ich all diese Dinge kombinieren kann. Design, Sport, Mode, Ästhetik – und vor allem Menschen beraten und ihnen helfen, genau das Richtige zu finden.“
Ich sehe ihn bewundernd an. „Ich glaube, du wirst großartig darin sein. Du hast ein richtiges Gespür dafür.“
Sein Lächeln wird etwas wärmer, offener, und ich spüre, wie seine Finger meine noch etwas fester drücken. „Danke, Justin. Das bedeutet mir echt viel. Du glaubst gar nicht, wie unsicher ich anfangs war. Durch die Hand dachte ich, ich könnte niemals ein normales Leben führen. Aber Sabine hat immer gesagt, meine größte Schwäche könnte irgendwann zu meiner größten Stärke werden.“ Er schaut mich sanft, fast zärtlich an. „Ich hab so lange versucht, mich zu verstecken, weil ich dachte, niemand könnte mich so akzeptieren, wie ich bin. Bis du kamst.“
Meine Kehle schnürt sich für einen Moment zusammen, berührt von seinen Worten. „Ich… Ich wusste nicht, dass ich so viel für dich bedeute.“
Leo hebt die Hand, streicht sanft über meine Wange. „Du bedeutest mir alles, Justin. Bei dir fühle ich mich sicher, verstanden, und ich kann einfach ich selbst sein.“
Ich schließe die Augen, lehne meinen Kopf in seine Berührung, fühle, wie mein Herz schneller schlägt. Leo betrachtet mich intensiv, seine Stimme ist leise, voller ehrlicher Zuneigung. „Genau deswegen wollte ich dir all das erzählen. Ich möchte, dass du wirklich weißt, wer ich bin. Mit allem, was dazugehört.“
Ich öffne langsam meine Augen wieder, halte seinen Blick fest, spüre, wie mein Herz vor Glück und Aufregung pocht. „Ich bin froh, dass du es mir erzählst. Und ich will alles von dir wissen. Wirklich alles.“
Leo lächelt zärtlich, nickt langsam. „Dann haben wir ja noch viel Zeit.“
„Ja“, erwidere ich leise, glücklich und entschlossen. „Und ich will jeden einzelnen Moment davon nutzen.“
Wir sehen uns tief in die Augen, und in diesem Moment spüre ich, dass zwischen uns etwas Großes beginnt – größer als alles, was ich je zuvor erlebt habe.
„Ich bin so froh, dass du hier bist“, murmelt Leo noch einmal sanft, bevor er mich erneut küsst, langsamer und zärtlicher als zuvor, während ich jede Berührung tief in mich aufnehme, bereit, jede seiner Narben, jede seiner Stärken und jede Sehnsucht in mir aufzunehmen.
Vertraute Nähe
Nachdem Leo und ich noch eine Weile in seinem Zimmer verbracht haben, ruft uns Sabine zum Mittagessen. Wir folgen dem Duft frischer Kräuter und gebratener Gewürze in die geräumige Küche, wo der große Esstisch bereits gedeckt ist. Sabine steht entspannt am Herd, rührt lächelnd in einem Topf, während Thomas gerade frisches Brot schneidet. Der Raum wirkt hell und einladend – voller Leben, Wärme und diesem Gefühl von Geborgenheit, das ich bereits spürte, seit ich das Haus betreten habe.
„Setzt euch schon mal“, sagt Thomas locker und wirft uns einen freundlichen Blick über die Schulter zu. „Sabine ist gleich fertig.“
Leo zieht mir den Stuhl neben sich zurecht, und ich lasse mich dankbar darauf sinken. Mein Blick gleitet neugierig über die liebevoll gestaltete Küche. An den Wänden hängen abstrakte Bilder in warmen Farben, auf der Fensterbank stehen Pflanzen in handbemalten Töpfen. Sabine folgt meinem Blick und lächelt.
„Kunst ist eine meiner Leidenschaften“, erzählt sie entspannt. „Vor allem aber die Kunst, Menschen zu verstehen. Das Unterrichten an der Uni ist eine tolle Ergänzung zu meiner Arbeit als Therapeutin.“
Ich hebe interessiert die Augenbrauen. „Ich wusste nicht, dass du an der Uni lehrst.“
Sabine nickt, rührt noch einmal um und stellt dann den dampfenden Topf in die Mitte des Tisches. „Ich gebe Kurse in klinischer Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung. Macht mir wirklich Spaß, gerade jungen Menschen dabei zuzusehen, wie sie wachsen und sich entwickeln.“
Leo lächelt anerkennend, während er sich etwas von dem Gemüseauflauf auf den Teller gibt. „Sabine ist unglaublich gut darin. Ohne sie wäre ich heute vermutlich nicht hier.“
Ich spüre, wie Thomas mir einen prüfenden, aber freundlichen Blick zuwirft, während er sich neben Sabine setzt. „Leo hat wirklich große Schritte gemacht“, beginnt er sanft. „Ich erinnere mich noch gut daran, wie er direkt nach dem Unfall zu uns kam. Es war, als wäre plötzlich die ganze Welt zu Ende. Und jetzt…“. Er lächelt warm zu seinem Neffen hinüber. „Jetzt sitzt er hier, mit dir, und sieht glücklicher aus als je zuvor.“
Leo sieht verlegen zur Seite, aber sein Lächeln spricht Bände. Ich fühle, wie mein Gesicht sich wieder leicht erwärmt, aber gleichzeitig fühlt es sich gut an, dass wir hier so offen miteinander reden können.
„Du hast dich aber auch verändert“, sage ich schließlich zu Thomas gewandt, und meine Stimme klingt leicht neckend. „In der Firma wirkst du immer so… seriös und distanziert.“
Thomas lacht leise, fast etwas verlegen. „Berufsrisiko. Wenn man für Marketing und Geschäftsführung zuständig ist, muss man eben professionell wirken. Privat bin ich lieber einfach nur Thomas.“
„Das merkt man“, erwidere ich mit einem Schmunzeln. „Du bist hier irgendwie ganz anders.“
„Danke“, erwidert er warm. „Es ist schön, dass du das sagst. Mir bedeutet es viel, dass Leo jemanden wie dich gefunden hat, der ihn wirklich sieht. Er verdient jemanden, der ihn glücklich macht.“
„Und umgekehrt“, ergänzt Sabine zwinkernd, während sie ihr Brot in die Sauce tunkt. „So oft wie Leo in letzter Zeit von dir spricht, Justin, war eigentlich klar, dass da etwas Besonderes entstehen würde.“
Leo stöhnt gespielt genervt auf, verdreht die Augen, doch das warme Funkeln darin verrät, dass er ihre Worte genießt. „Ihr seid schrecklich. Könnt ihr nicht einfach mal normal sein?“
„Normal ist langweilig“, erwidert Sabine lächelnd, bevor sie sich wieder an mich wendet. „Aber mal ganz im Ernst – es tut gut zu sehen, wie Leo seit eurem Kennenlernen aufblüht. Früher war er oft sehr verschlossen, gerade nach dem Unfall. Er hat sich zwar schnell wieder körperlich erholt, aber seelisch war es ein langer Weg.“
Leo nickt langsam, plötzlich nachdenklicher. „Es stimmt schon. Es war nicht einfach, mich zu öffnen. Ich dachte, ich wäre schwach, wenn ich über meine Probleme rede.“
„Dabei war genau das seine eigentliche Stärke“, ergänzt Thomas ruhig. „Leo hat gelernt, dass Stärke nicht bedeutet, immer alles alleine schaffen zu müssen. Die Stärke liegt darin, Hilfe anzunehmen und über Dinge offen zu sprechen.“
Ich sehe Leo bewundernd an. „Das verstehe ich jetzt besser. Vielleicht hat mich genau das an dir fasziniert – diese Offenheit und gleichzeitig deine Entschlossenheit, nicht aufzugeben.“
Leo sieht mich liebevoll an, seine Stimme ganz leise. „Ich hatte aber auch Unterstützung. Sabine und Thomas waren immer für mich da. Nicht nur nach dem Unfall. Ich war schon früher oft hier, wenn es Zuhause schwierig wurde. Für mich sind die beiden wie zweite Eltern.“
Thomas wirkt berührt von diesen Worten, während Sabine liebevoll ihre Hand auf seinen Arm legt. „Wir konnten selbst keine Kinder bekommen, deshalb war Leo für uns immer ein besonderes Geschenk. Dass er heute so offen und selbstbewusst hier sitzt, ist unser größter Stolz.“
Leo wirkt nun endgültig verlegen, doch ich erkenne die tiefe Verbundenheit in seinem Blick. Die Atmosphäre am Tisch ist entspannt, warm und vertraut. Der Smalltalk ist locker, mal neckend, mal ernst, aber immer spüre ich die Zuneigung, die hier alle verbindet.
Nach einer kurzen, entspannten Gesprächspause lehnt sich Thomas etwas zurück, betrachtet mich einen Moment lang mit einem nachdenklichen Lächeln und sagt schließlich: „Weißt du eigentlich, Justin, dass dein erster Besuch bei VERTIX damals ganz anders geplant war?“
Ich sehe überrascht auf. „Wie meinst du das?“
Thomas lächelt sanft und nickt in Richtung Leo, der neugierig zu seinem Onkel blickt. „Der Tag, als du das erste Mal mit Robert bei uns warst, das mit Leo war eigentlich gar nicht geplant. Eigentlich sollte einer der Trainer euch herumführen, aber kurzfristig hatte niemand Zeit. Leo war gerade zufällig da, und ich dachte spontan, er könnte dir vielleicht ein bisschen was zeigen. Ehrlich gesagt habe ich ihn dir damals bewusst nur als ‚Praktikanten‘ vorgestellt, weil ich nicht wusste, wie du auf seine Rolle reagieren würdest.“
Leo grinst leicht, erinnert sich offenbar genau daran, während ich langsam verstehe, warum unser erstes Treffen damals so ungezwungen war.
Thomas’ Stimme wird weicher, fast emotional. „Aber als wir euch zusammen beobachtet haben, war sofort klar, dass Leo genau die richtige Person für dich ist. Ihr hattet von der ersten Minute an eine Verbindung zueinander, die uns sofort aufgefallen ist.“
Sabine nickt zustimmend, während sie meine Reaktion beobachtet. „Es war tatsächlich erst später, nachdem wir merkten, wie gut du auf Leo reagiert hast, dass wir ihm offiziell die Aufgabe gegeben haben, für dich da zu sein und dafür zu sorgen, dass du dich wohlfühlst.“
„Erinnerst du dich noch an den einen Freitag, als Leo dich nicht direkt in Empfang nehmen konnte, weil er noch beim Arzt war? Ich holte dich in der Lobby ab, aber du warst ganz durcheinander. Es war so offensichtlich, dass du Leo erwartet hattest und nicht mich“, meinte Thomas mit einem Augenzwinkern.
„Aber diese Entwicklung zwischen euch…“. Thomas zögert kurz, wirkt beinahe ein wenig verlegen, ehe er mit einem warmen Lächeln fortfährt: „Damit haben wir nie gerechnet. Natürlich haben wir uns gewünscht, dass du, Justin, dich bei uns wohl fühlst – vor allem angesichts der Kampagne, deiner Fotos. Aber dass Leo dabei jemanden findet, der ihm so nah kommt, und dass du dich in der Firma so gut einfindest, war ein echter Glücksfall.“
Leo blickt mich nun mit einem Ausdruck an, der zugleich überrascht, berührt und glücklich wirkt. Ich fühle, wie sich in meiner Brust Wärme ausbreitet, während Thomas’ Worte langsam in mir einsickern.
„Leo ist seitdem wirklich wie ausgewechselt“, ergänzt Sabine sanft. „Er hatte vorher schon viele Fortschritte gemacht, aber seit ihr beiden euch nähergekommen seid, wirkt er deutlich gelassener, ausgeglichener, glücklicher. Es ist, als hättet ihr euch gegenseitig genau das gegeben, was euch gefehlt hat.“
Mein Blick wandert zu Leo, der mir nun sanft seine Hand auf mein Bein legt und meinen Blick erwidert. In diesem Moment spüre ich tiefer als je zuvor, dass hier tatsächlich etwas Besonderes entstanden ist. Diese Verbindung, die uns so unerwartet getroffen hat, ist mehr, als ich mir jemals hätte wünschen können.
„Ich habe damals echt geglaubt, dass Leo einfach nur Praktikant ist“, sage ich schließlich schmunzelnd. „Jetzt ergibt vieles plötzlich viel mehr Sinn.“
Leo lacht leise, verlegen, aber glücklich. „Sorry, dass ich nicht direkt alles erklärt habe. Aber ich wollte einfach erstmal schauen, wie du reagierst. Dass wir jetzt hier sitzen, zusammen mit meinem Thomas und Sabine, und du all das über mich weißt und trotzdem bei mir bist…, das bedeutet mir echt unglaublich viel.“
Ich nicke langsam, genieße für einen Moment schweigend dieses Gefühl, verstanden und angenommen zu sein. „Es fühlt sich wirklich perfekt an“, erwidere ich schließlich leise. „Als wäre alles irgendwie genau so passiert, wie es passieren sollte.“
Thomas lächelt warm, sieht kurz zu Sabine, bevor er wieder zu uns blickt. „Die Ergebnisse der Kampagne und all das, was wir von dir bisher gesehen haben, Justin – auf der Leinwand, auf Finns Fotos, bei den Trainings – übertreffen wirklich alle Erwartungen. Ihr seid beide unglaublich stark, jeder auf seine Weise. Gemeinsam aber seid ihr wirklich unschlagbar.“
Leo sieht mich mit glänzenden Augen an. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemanden finde, der mich so versteht wie du, Justin. Aber du hast mir gezeigt, dass es okay ist, alles von mir zu zeigen, – auch das, was ich selbst manchmal schwer annehmen konnte.“
Meine Stimme klingt rau, als ich antworte: „Genau das Gleiche fühle ich bei dir.“
Sabine wirft uns einen liebevollen Blick zu und sagt sanft: „Es ist wirklich schön, euch so glücklich zu sehen. So etwas erlebt man nicht oft. Und dass ihr es gemeinsam in so kurzer Zeit soweit geschafft habt, macht uns wirklich stolz.“
Ich fühle, wie mein Herz schneller schlägt, während ich Leos Hand sanft umschließe. In diesem Moment gibt es für mich keine Zweifel mehr, keine Ängste, nur noch die Gewissheit, dass wir zusammen genau das sind, was wir beide gesucht haben.
Eine perfekte Symbiose – unerwartet, aber genau richtig.
Als ich meinen Blick wieder auf Leo richte, fühlt es sich plötzlich an, als wäre ich schon immer Teil dieser kleinen Familie gewesen. Thomas ist für mich nicht mehr nur der Geschäftsführer und Marketingchef von VERTIX, sondern jemand, den ich verstehen und mögen lerne. Sabine beeindruckt mich mit ihrer ruhigen, kompetenten Art, und Leo… Leo ist mir noch vertrauter geworden, seit ich verstanden habe, wie viel er schon erlebt und durchstanden hat.
Als das Mittagessen sich langsam dem Ende zuneigt, legt Leo vorsichtig eine Hand auf mein Knie unter dem Tisch. Ich spüre die Wärme seiner Berührung, blicke auf und treffe direkt auf sein sanftes, zärtliches Lächeln.
„Danke, dass du hier bist“, flüstert er kaum hörbar.
Ich lächle zurück, drücke sanft seine Hand. „Es fühlt sich an, als würde ich hierher gehören.“
Und als Thomas und Sabine sich miteinander unterhalten, sitzen Leo und ich noch einen Moment schweigend da, genießen einfach nur diesen Moment, die Nähe und das Gefühl, angekommen zu sein. Genau hier, genau jetzt, genau miteinander.
Zwischen Sichtbarkeit und Selbstkontrolle
Warum auch immer kommen mir in genau diesem Moment Claras Worte in den Sinn. Es ist, als würde ihre Stimme plötzlich in meinem Kopf auftauchen – klar, bestimmt, fast als wäre sie gerade erst ausgesprochen worden. „Du musst die Kontrolle übernehmen, Justin. Entscheide selbst, was du zeigst. Teile Dinge, die dich ausmachen, Dinge, die dir wirklich wichtig sind – nicht das, was andere von dir sehen wollen. Poste mit Bedacht, aber bleib echt.“
Ich atme tief ein, spüre, wie mein Puls etwas schneller schlägt. Die Erinnerung daran, wie sie mir damals meinen Instagram-Account gezeigt hatte, die Fotos, die Kommentare, all das, was mich nach außen hin repräsentieren sollte, fühlt sich plötzlich wieder sehr präsent an. Seitdem habe ich kaum etwas gepostet. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil ich nicht genau wusste, was von mir erwartet wird. Ich will mich zeigen, will ehrlich sein, vielleicht sogar über das hinaus, was die Firma plant. Fotos von den Shootings, Eindrücke von den Trainingseinheiten, vielleicht sogar Dinge aus meinem Alltag – Momente, die echt sind, Momente, die mir wirklich etwas bedeuten. Aber gleichzeitig spüre ich eine unterschwellige Unsicherheit. Wie viel von mir ist zu viel? Wo verläuft die Grenze zwischen echter Nähe und zu großer Offenheit? Ich muss wohl etwas zu nachdenklich gewirkt haben, denn Sabine wirft mir plötzlich einen sanften, aufmerksamen Blick zu.
„Alles in Ordnung, Justin?“, fragt sie ruhig und legt ihren Kopf leicht schräg. Ihre Stimme wirkt beruhigend, so wie ihre ganze Art.
Ich zögere kurz, aber schließlich entscheide ich mich, offen zu sein. „Ich musste gerade an etwas denken, was Clara, die Mentaltrainerin bei VERTIX, mir über Social Media gesagt hat. Dass ich die Kontrolle behalten soll und selbst entscheiden, was ich teile und was nicht. Ich merke gerade, dass ich eigentlich gerne mehr zeigen würde, aber…“. Ich verstumme, suche nach den richtigen Worten, aber Sabine nickt verständnisvoll: „Du bist dir unsicher, was genau du zeigen darfst oder sollst, ohne dabei verletzt zu werden.“
Ich nicke erleichtert, dass sie meine Gedanken so schnell versteht. „Genau das. Ich würde mich gern mehr öffnen, aber ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was passiert, wenn ich plötzlich wirklich sichtbar bin.“
Sabine lehnt sich nachdenklich zurück, betrachtet mich einen Moment, bevor sie spricht. „Social Media ist tatsächlich eine Gratwanderung, Justin. Es kann dir viele Türen öffnen, gerade jetzt, wo du anfängst, bekannter zu werden. Gleichzeitig birgt es aber auch Risiken – es erzeugt Erwartungen, öffnet dich der Bewertung durch andere, und es ist oft schwierig, die Kontrolle darüber zu behalten, wie Menschen dich wahrnehmen.“
Ich spüre, wie Leos Finger meine Hand unter dem Tisch etwas fester drücken, fast als wolle er mir Halt geben. „Wie meinst du das genau?“, frage ich neugierig.
Sabines Stimme ist ruhig, klar und voller Verständnis, genau wie in einer ihrer Vorlesungen. „Social Media gibt dir ein Gefühl von Kontrolle, aber oft bist du in Wahrheit fremdgesteuert. Likes, Kommentare, Followerzahlen – all das erzeugt eine scheinbare Bestätigung, die sehr schnell zur Belastung werden kann. Besonders wenn du plötzlich merkst, dass Menschen Erwartungen an dich stellen, denen du gar nicht gerecht werden kannst oder willst.“
Thomas nickt zustimmend, ergänzt ruhig: „Genau deswegen betont Clara ja, dass du selbst bestimmen sollst, was du postest. Deine Authentizität ist dein größter Wert. Du musst nichts darstellen, das du nicht bist.“
Leo, der die ganze Zeit still neben mir saß, berührt leicht meine Hand, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Und du bist echt, Justin. Genau deshalb funktionierst du in der Kampagne ja so gut. Egal, was andere erwarten. Du hast die Kontrolle darüber, wie viel du von dir zeigst.“
Ich atme langsam aus, fühle mich plötzlich erleichtert, weil ich merke, dass diese Menschen wirklich verstehen, was in mir vorgeht. Doch ein Gedanke lässt mich noch nicht los. „Aber was, wenn die Leute nicht mögen, was sie sehen? Oder wenn ich plötzlich Zielscheibe werde?“
Sabine lächelt beruhigend. „Du kannst niemals kontrollieren, was andere denken oder fühlen. Was du kontrollieren kannst, ist, wie du damit umgehst. Social Media ist auch eine Chance, deinen Weg zu zeigen, andere zu inspirieren, deine Geschichte zu erzählen. Deine Stärke liegt darin, dass du offen über das redest, was dich ausmacht, aber gleichzeitig bestimmte Dinge bewusst für dich behältst.“
Ich fühle, wie sich langsam eine angenehme Wärme in meiner Brust ausbreitet. Ihre Worte machen Sinn, beruhigen mich und nehmen etwas von der Unsicherheit, die mich eben noch fest im Griff hatte.
„Danke“, sage ich schließlich ehrlich, während ich in die Runde blicke. „Ich glaube, ich will das wirklich machen. Nicht nur, weil es erwartet wird, sondern weil es sich richtig anfühlt, jetzt einen Schritt weiter zu gehen.“
Leo lächelt stolz neben mir, drückt sanft meine Hand und nickt mir ermutigend zu. „Ich helfe dir dabei, wenn du möchtest.“
Ich sehe ihm tief in die Augen und erwidere sein Lächeln warm. „Das würde mir viel bedeuten.“
Thomas lehnt sich entspannt zurück und lächelt zufrieden. „Ich erinnere mich noch, wie unsicher du am Anfang warst, als du zum ersten Mal bei uns in der Firma warst. Jetzt bist du so viel selbstbewusster, und Leo trägt definitiv seinen Teil dazu bei.“
Sabine nickt zustimmend. „Social Media kann dir helfen, genau diese Entwicklung zu zeigen. Menschen wollen echte Geschichten, keine perfekten Inszenierungen.“
Leo schmunzelt und ergänzt: „Perfektion ist sowieso langweilig.“
Ich lache leise, fühle mich endgültig bestärkt und merke, wie die Unsicherheit langsam nachlässt. Ich sehe Sabine dankbar an. „Vielleicht ist es an der Zeit, genau das zu zeigen – das Unperfekte, das Echte, das, was mich wirklich ausmacht. Mit Leo an meiner Seite fühlt sich das irgendwie richtig an.“
Ich zögere noch einen Moment, bevor ich weiterspreche. „Ich würde gerne mehr von meinem neuen Leben zeigen. Aber ehrlich gesagt, kenne ich ja bisher nur die offiziellen Fotos von Finn, die speziell für die Kampagne ausgesucht und bearbeitet wurden. Und die darf ich ja sicher nicht einfach so vorab posten, oder?“
Thomas schmunzelt überrascht und wirft mir einen leicht irritierten, aber amüsierten Blick zu. „Warte mal, hat dir das noch keiner erklärt?“
Ich sehe ihn verwirrt an. „Erklärt? Was denn?“
„Die Fotos hinter den Kulissen, die Outtakes, die Aufnahmen, die Finn zusätzlich macht, die sogenannten Backstage- und Outtakes-Fotos“, erläutert Thomas geduldig und lehnt sich nach vorne, „die sind genau für solche Zwecke da. Die sind extra gemacht, damit ihr Athleten sie jederzeit posten könnt. Wir wollen doch genau das zeigen – die Persönlichkeit hinter den Hochglanzfotos.“
Ich blinzle ihn überrascht an, fühle gleichzeitig eine wachsende Begeisterung und Erleichterung. „Das wusste ich wirklich nicht.“
Thomas lacht gutmütig. „Genau deshalb reden wir ja darüber. Diese Fotos sind in erster Linie echt. Sie zeigen Momente zwischen den Aufnahmen, wo niemand posiert. Momente, die sonst verloren gehen würden. Damit kannst du zeigen, was dich wirklich ausmacht, ohne den offiziellen Bildern von Finn vorwegzugreifen.“
Leo nickt zustimmend und lächelt mich ermutigend an. „Ich hatte ehrlich gesagt angenommen, Clara hätte dir das längst erzählt. Die Bilder sind alle in einem separaten Ordner in der Cloud gespeichert, auf die alle Crew-Mitglieder Zugriff haben. Quasi eine Sammlung echter, ungefilterter Momente – für dich genau das Richtige.“
Sabine sieht mich aufmerksam an, ihre Stimme wird sanft und unterstützend. „Gerade diese Fotos sind, psychologisch betrachtet, perfekt für dich, Justin. Sie zeigen deine Natürlichkeit, deine echte Persönlichkeit, ohne Druck, ohne Zwang. Du entscheidest, was du teilen willst, und kannst gleichzeitig authentisch bleiben. Das ist wichtig, um sich selbst treu zu bleiben.“
Ich fühle mich plötzlich unglaublich erleichtert, aber auch ein wenig aufgeregt. All die Bilder, die ich bisher nicht kannte – Momente, die zeigen, wie ich wirklich bin. Echt, ungeschönt, menschlich. „Ich würde die Fotos echt gern sehen“, sage ich schließlich, sehe Leo erwartungsvoll an. „Kannst du mir das zeigen?“
Leo nickt sofort. „Natürlich. Komm, ich zeig dir gleich, wie du darauf zugreifen kannst.“ Er steht auf und zieht mich mit sanftem Druck an meiner Hand ebenfalls hoch.
Sabine wirft uns beiden ein wissendes Lächeln zu. „Viel Spaß euch Beiden.“
Leo führt mich zurück in sein Zimmer, und als sich die Tür hinter uns schließt, fühle ich, wie die Aufregung noch stärker in mir wächst. Leo setzt sich auf die Bettkante, zieht seinen Laptop heran und öffnet routiniert ein paar Fenster.
„Hier, das ist der Ordner“, erklärt er, während er zur Seite rückt, damit ich neben ihm Platz nehmen kann. „Fotos, die niemand sonst gesehen hat, außer uns aus der Crew. Es gibt wirklich tolle Momente, die perfekt für dich sind.“
„Hast du die etwa alle schon gesehen?“
Dabei wird Leo regelrecht verlegen und sieht mich verträumt an. Anstatt darauf zu antworten, meint er nur: „Warts ab!“
Gespannt lasse ich mich neben ihm auf dem Bett nieder. Unsere Schultern berühren sich leicht, und für einen kurzen Moment fühle ich, wie mein Herz schneller schlägt. Leo öffnet den ersten Ordner, und ich sehe sofort, was Thomas gemeint hat. Die Bilder sind anders. Lebendig. Natürlich. Nah. Finn hat Momente eingefangen, in denen ich nicht mal gemerkt habe, dass eine Kamera auf mich gerichtet war – Szenen, in denen ich mit Erik lachend auf der Trainingsmatte sitze, Momente, in denen ich konzentriert auf die Kletterwand starre oder verschwitzte Haare aus meinem Gesicht streiche. Es gibt Aufnahmen, in denen Leo und ich nebeneinander stehen, miteinander reden oder lachen, manchmal sogar so nah, dass es mir beim Anblick eine angenehme Gänsehaut bereitet. „Wow“, sage ich leise und spüre, wie meine Wangen wieder warm werden. „Die Bilder sind… unglaublich.“
Leo lächelt stolz. „Finn hat echt ein Händchen für diese Sachen. Er weiß genau, wann er den Auslöser drücken muss. Und das Beste ist, niemand posiert auf diesen Bildern. Wir sind einfach wir selbst.“
Ich scrolle weiter und entdecke plötzlich ein Bild, auf dem Leo und ich gemeinsam an der Kletterwand stehen. Wir lachen beide, aber mein Blick bleibt sofort an Leo hängen – wie er mich ansieht, diese Mischung aus Freude und Zuneigung in seinen Augen. „Das sieht fast aus, als hättest du in dem Moment gerade etwas besonders Nettes über mich gedacht“, necke ich ihn vorsichtig.
Leo grinst breit, leicht ertappt. „Vielleicht hab ich das ja auch. Du siehst aber auch verdammt gut aus in deinem Trainingsoutfit.“
Ich verdrehe spielerisch die Augen, merke aber sofort, wie ich leicht erröte. „Du bist unmöglich.“
„Nur ehrlich“, erwidert er schmunzelnd, bevor er weiterscrollt. Dann hält er plötzlich inne, sein Grinsen wird verschmitzter. „Oh, und dieses Bild hier. Das ist definitiv mein Favorit.“
Ich sehe sofort, was er meint. Die Aufnahme zeigt mich während einer Yoga-Session. Ich hatte keine Ahnung, dass Finn überhaupt da war. Die Pose, in der ich mich befinde, lässt wirklich nicht viel der Fantasie übrig. Der enganliegende Stoff meiner Hose betont jede einzelne Körperkontur, vor allem meinen Po, und die Perspektive des Fotos tut ihr Übriges. Mir wird sofort heiß, als ich sehe, wie eindeutig alles aussieht.
„Oh Gott“, murmle ich verlegen, schlage mir die Hand vors Gesicht. „Das ist ja wirklich… sehr deutlich.“
Leo lacht jetzt offen, stößt mich sanft mit der Schulter an. „Wieso? Sieht doch super aus. Du hast definitiv nichts zu verstecken. Außerdem, knackiger geht’s ja wohl kaum.“
Ich gebe ihm einen halbherzigen Schubs zurück, kann aber ein Lächeln nicht verhindern. „Jetzt hör schon auf. Sowas kann ich auf keinen Fall posten, was würden die Leute denken?“
Leo betrachtet mich amüsiert, seine Augen funkeln schelmisch. „Sie würden denken, dass du unglaublich gut in Form bist. Und vielleicht, dass sie dich gern näher kennenlernen würden.“
Ich sehe ihn skeptisch an, spüre aber gleichzeitig, wie mir seine freche Bemerkung gefällt. „Würdest du etwa wollen, dass ich sowas poste?“
Er lehnt sich etwas näher zu mir heran, seine Stimme wird leiser, fast flüsternd. „Natürlich nicht. Ich teile dich nämlich äußerst ungern.“
Mein Herz klopft schneller, und ich merke, wie mein Atem kurz stockt. „Gut zu wissen“, erwidere ich ebenso leise, unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
Nach einem Moment lösen wir uns lachend voneinander und konzentrieren uns wieder auf den Bildschirm. Ich blättere weiter durch die Bilder, entdecke immer wieder überraschende Aufnahmen: Leo, der unkonzentriert auf sein Handy blickt, ich, wie ich mir verschlafen durch die Haare fahre, oder wir beide, wie wir in einem unbeobachteten Moment heimlich miteinander tuscheln und lachen.
„Finn ist manchmal echt ein Spion“, scherzt Leo, „man merkt nie, wann er Fotos macht.“
„Aber genau deshalb wirken die Bilder auch so echt“, erwidere ich nachdenklich. „Ich glaube, Sabine hatte Recht. Wenn ich etwas poste, dann genau solche Bilder. Keine perfekten Inszenierungen, sondern diese echten Momente. Das ist genau das, was ich zeigen will.“
Leo sieht mich von der Seite warm an, seine Augen leuchten zufrieden. „Ich wusste, dass du das verstehst. Du bist jemand, der andere inspirieren kann – einfach weil du bist, wie du bist. Ich bin echt stolz auf dich.“
Ich lächle ihn verlegen an. „Ohne dich hätte ich mich das wahrscheinlich nie getraut.“
Leo schüttelt lächelnd den Kopf. „Doch, vielleicht nicht sofort. Aber das steckt schon immer in dir, Justin. Du musst es nur rauslassen.“
Ich atme tief durch, fühle, wie diese Worte mich stärken. „Dann werde ich genau das tun. Ich will Kontrolle übernehmen, aber vor allem will ich ehrlich sein.“
Leo legt sanft seine rechte Hand auf meine. „Und ich bin bei jedem Schritt an deiner Seite.“
Mein Herz schlägt schneller, und ich merke, wie ich mich endgültig bereit fühle, nach außen zu zeigen, was ich fühle, was mich bewegt, wer ich wirklich bin.
„Vielleicht sollten wir direkt anfangen“, sage ich plötzlich entschlossen und deute auf ein Foto, auf dem wir beide lachend nebeneinander sitzen, natürlich und ungezwungen. „Wie wäre es, wenn wir mit diesem hier beginnen?“
Leo betrachtet das Bild kurz und nickt zufrieden. „Perfekte Wahl. Damit zeigen wir unsere Freundschaft und sind trotzdem nicht zu direkt.“
„Dann tun wir es“, sage ich entschlossen, spüre die Sicherheit, die er mir gibt, und fühle, wie ich bereit bin, diesen Schritt gemeinsam mit ihm zu gehen.
Leo lächelt breit, ein Funkeln in seinen Augen. „Perfekte Wahl. Es ist echt. Genau wie wir.“
Ich lasse meinen Blick langsam von dem Bildschirm abwandern, betrachte Leo, während er konzentriert noch ein paar letzte Klicks auf dem Laptop ausführt. In diesem Moment merke ich erst, wie sehr mich allein seine bloße Anwesenheit berührt. Die Art, wie seine Augen aufmerksam zwischen den Fotos hin und her springen, wie eine Haarsträhne widerspenstig in seine Stirn fällt und er sie immer wieder beiläufig zurückschiebt. Ich beobachte, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt, und verliere mich darin, jedes Detail von ihm aufzunehmen.
Irgendwann spürt Leo meinen Blick, hält in seiner Bewegung inne und dreht langsam den Kopf zu mir. Sein Blick trifft meinen, und für einen Moment scheint die Zeit tatsächlich stillzustehen. Die Welt um uns herum verblasst, wird unwichtig, löst sich völlig auf. Was bleibt, ist dieses tiefe, warme Gefühl zwischen uns – Sehnsucht, Anziehung, Zärtlichkeit.
Leo lächelt sanft, schließt langsam den Laptop und schiebt ihn vorsichtig zur Seite, ohne dabei meinen Blick loszulassen. Ich spüre, wie mein Puls immer schneller schlägt, als er sich mir wieder zuwendet. Sein Gesicht ist so nah, dass ich jedes Detail erkennen kann – das feine Muster seiner Iris, die langen, dunklen Wimpern, die leichte Röte auf seinen Wangen.
Er atmet tief ein, seine Stimme ist kaum hörbar, als er leise meinen Namen sagt: „Justin…“
Dieses eine Wort lässt mein Herz regelrecht springen. Fast instinktiv nähern wir uns einander an, langsam, zögerlich, aber voller Erwartung. Ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Haut, und kurz bevor sich unsere Lippen treffen, halten wir beide inne – genießen für einen kurzen, elektrisierenden Moment diese unglaubliche Nähe.
Dann endlich verschließen sich unsere Lippen ineinander. Der Kuss beginnt sanft, beinahe vorsichtig, aber er gewinnt schnell an Intensität. Seine Lippen fühlen sich warm, weich und vertraut an, und ich öffne meinen Mund ganz leicht, um ihm näherzukommen. Unsere Zungen berühren sich sanft, erkunden einander vorsichtig, und ich spüre, wie eine Welle aus Gefühlen und Wärme durch meinen Körper strömt. Jeder Gedanke verschwindet, jede Unsicherheit löst sich auf, und es bleiben nur wir zwei – Leo und ich, vollkommen ineinander verloren.
Ich lasse mich langsam nach hinten fallen, ziehe ihn sanft mit mir, bis wir beide nebeneinander auf seinem Bett liegen. Seine Lippen lösen sich nur kurz von meinen, um Luft zu holen, bevor sie sich wieder intensiver, leidenschaftlicher auf meine senken. Seine rechte Hand legt sich sanft auf meinen Bauch, gleitet vorsichtig unter den Stoff meines Shirts, und ich halte für einen Moment die Luft an, als seine Finger meine Haut berühren. Diese eine Berührung fühlt sich so intensiv an, dass mir ein wohliger Schauer über den Rücken läuft, und ich spüre, wie sich mein ganzer Körper nach ihm sehnt.
Leo küsst mich tiefer, seine Finger gleiten langsam weiter nach oben, streicheln meine Haut, während wir uns weiter ineinander fallen lassen. Mein ganzer Körper reagiert auf ihn, auf seine Nähe, seine Wärme, seine Berührungen. Es fühlt sich an, als würde ich in diesem Moment alles intensiver wahrnehmen – seinen Duft, die Wärme seiner Haut, jeden einzelnen Herzschlag, der uns verbindet.
„Justin“, flüstert Leo erneut, seine Stimme heiser und voller Gefühl, während er mich erneut küsst, und ich merke, dass er genauso überwältigt ist wie ich.
Ich ziehe ihn noch enger an mich heran, unsere Körper schmiegen sich aneinander, verschmelzen förmlich. Die Realität verschwindet völlig, und ich fühle nichts außer Leo – seine Hände auf meiner Haut, seinen Körper neben meinem, seine Lippen, die mir zeigen, wie sehr er mich begehrt.
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