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Höhen und Herzen

Zwischen Kletterwand, Kamera und der Suche nach sich selbst

Teil 11 - Schritte ins Licht

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zwischen Nähe, Ängsten und Wahrheiten

Zwischen Licht und Schatten

Die Morgensonne tastet sich durch die halb geöffneten Vorhänge. Weiche Streifen aus Licht und Schatten ziehen sich über die Bettdecke, über meine Hand, die auf dem Stoff liegt. Mein Kopf ist schwer, nicht von Müdigkeit, sondern von Gedanken, die sich ineinander verhaken.

Gestern Abend war… intensiv. Nicht, weil irgendetwas Spektakuläres passiert ist. Sondern weil es so viele Momente gab, die sich angefühlt haben, als würden sie in mir nachklingen. Bobby saß mit uns auf der Couch, während wir uns das Besprechungsprotokoll angeschaut haben.

Leo hatte es irgendwie schon auf seinem Tablet. Ich weiß nicht, wann er das bekommen hat – oder von wem. Während des Pressetermins? Ich habe mich auf die Kameras und die Fragen konzentriert, auf das Summen im Raum und darauf, mich nicht zu verhaspeln. Aber Leo…, er hatte offensichtlich genug Fokus, um noch ganz nebenbei alles zu organisieren. Natürlich hatte er das. Er ist Leo.

Ich hab ihn beobachtet, während er durch das Dokument scrollte, die Details erklärte, mit ruhiger, fast beiläufiger Stimme. Seine Finger, die über das Display wanderten, sein Blick, scharf und konzentriert. Er hat so viel verstanden, so viele Zusammenhänge erkannt, die mir im ersten Moment entgangen sind.

„Das hier ist wichtig“, hatte er gesagt, sein Zeigefinger auf eine Passage gelegt, während er mich ansah. „Das zeigt genau, wie sie dich positionieren wollen. Das ist nicht nur irgendein Werbeding, Justin. Das ist die Strategie, die für dich gemacht wurde.“

Ich hatte geschluckt, genickt. Seine Worte haben ein Echo in mir hinterlassen. Für mich gemacht. Ich, Teil einer Strategie. Ein Konzept mit Gesicht und Namen – meinem Gesicht, meinem Namen. Die Vorstellung fühlt sich immer noch fremd an, irgendwie zu groß für mich.

Bobby saß mit verschränkten Armen neben uns, sein Blick wanderte immer wieder zwischen mir und Leo hin und her. Als wir später die Clips und Fotos durchgingen, grinste er manchmal, schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, wie sehr sich alles verändert hat. „Ihr zwei seid echt ein Team, hm?“ Seine Stimme war weich, fast nachdenklich.

Ich hatte ihn angesehen, wusste nicht genau, was ich darauf sagen sollte. Weil es sich richtig angefühlt hat, als Team. Aber auch nach so viel mehr. Etwas, das ich immer noch nicht ganz fassen kann.

Leo hatte nur gelächelt, seinen Blick auf den Bildschirm gerichtet, als wäre da nichts Besonderes. Als wäre DAS völlig selbstverständlich.

Später, als Bobby mir eine gute Nacht wünschte, hielt er einen Moment inne. Er sah mich an, mit diesem Ausdruck, der gleichzeitig stolz und vorsichtig war. „Ich find’s schön, dass du Leo gefunden hast, Justin. Dass ihr…, na ja, zusammen seid.“

Mein Magen hatte sich kurz verkrampft, nicht unangenehm, aber intensiv. Wie eine Welle, die mich kalt erwischt. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, also nickte ich nur. Bobby hatte mir über die Schulter gestrichen, mir ein letztes Lächeln geschenkt, bevor er mein Zimmer verließ.

Zusammen. Das Wort hat sich die ganze Nacht über in meinem Kopf gedreht.

Und jetzt liege ich hier, die Sonne streift mein Gesicht, und ich spüre Leos Nähe, auch wenn er nicht hier ist. Ich höre noch, wie er gelacht hat, als wir die Clips angesehen haben. Wie er sich nach vorn gelehnt hat, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, sein Blick auf mir.

Ich weiß, was als nächstes kommt. Die Freigaben für die Kampagne. Die Fotos und Clips aus den ersten Shootings – mein Gesicht, mein Name, mein Leben, sichtbar für alle. Ich weiß, dass es dazugehört. Dass es Teil der Sache ist. Aber ein Teil von mir hat Angst davor. Davor, wie transparent ich werde. Davor, was das in der Öffentlichkeit bedeutet. Davor, was es mit mir macht.

Und doch…, wenn ich an Leo denke, an seinen Blick, an das leichte Zucken in seinen Mundwinkeln, wenn er etwas nicht sagt, aber meint – dann fühlt sich die Welt für einen Moment leichter an.

Mein Atem stockt, als meine Gedanken abschweifen, zurück zu diesem einen Moment. Unserem ersten Kuss gestern. So kurz, dass er fast nur eine Berührung war, aber so intensiv, dass er sich in mein Gedächtnis gebrannt hat. Leos Lippen, warm und weich gegen meine. Mein Herzschlag, laut in meinen Ohren. Die plötzliche Wärme, die sich von meinem Brustkorb ausbreitete, bis – „Ey, Jungs, Essen ist fertig“, Bobbys Stimme.

Und damit war der Moment vorbei. Aber das Gefühl blieb. Ich atme tief durch. Ich träume von mehr. Von einem zweiten Kuss, einem längeren. Von Leos Hand an meinem Nacken, seinem Blick, der mir sagt, dass es okay ist, dass wir genau hier sein sollten. Aber jetzt muss ich aufstehen. Die Schule ruft.

Ein seltsamer Schultag und ein fehlender Begleiter

Heute erstmal Schule. Ich sitze am Fenster, starre hinaus, während die Lehrerin etwas an die Tafel schreibt. Mein Kopf ist noch nicht wirklich hier. Gedanken treiben zurück zu gestern, zu Bobby, zu Leo, zu allem, was sich langsam, aber unaufhaltsam verändert. „Hey Justin, wie war dein großer Tag gestern?“ Ich blinzele und drehe mich zu Tom um. Sein Grinsen ist breit, neugierig. Neben ihm lehnt Emma am Tisch, ihre Augen funkeln genauso erwartungsvoll. „War cool“, murmele ich und versuche, es beiläufig klingen zu lassen.

Aber natürlich lassen sie nicht locker. Die Fragen prasseln auf mich ein: „Wie war der Pressetermin?“ Ich frage mich, woher sie das denn schon wieder wissen. Bevor ich richtig antworten konnte ging es weiter - Gab’s viele Kameras? Haben sie dir komische Fragen gestellt? Wie fühlt sich das an, so im Mittelpunkt zu stehen?

Ich beantworte das Nötigste, halte mich zurück. Nicht, weil ich nicht erzählen will, sondern weil es mir immer noch surreal vorkommt. Ich, der Junge, der nie besonders aufgefallen ist, soll jetzt plötzlich ein „Gesicht“ für Etwas sein. Es fühlt sich groß an. Vielleicht zu groß.

Und dann ist da noch etwas anderes. Ein neues, merkwürdiges Phänomen, gestern schon, aber das mir im Laufe des Tages immer mehr auffällt: Mädchen, die sonst kaum Notiz von mir genommen haben, suchen plötzlich meine Nähe. Ein paar kichern, wenn ich vorbeigehe. Eine aus der Parallelklasse spricht mich in der Pause an – einfach so: „Hey Justin, du warst doch gestern bei diesem Event, oder? Voll cool! Wir haben die Bilder gesehen.“

Sie schaut mich erwartungsvoll an. Ich bringe ein: „Äh, ja, danke“, hervor, bevor sie weiterplappert, irgendwas von „voll interessant“ und „voll professionell“. Neben ihr kichern zwei ihrer Freundinnen. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Ich bin mir nicht mal sicher, was hier gerade passiert. Vielleicht bilde ich es mir nur ein. Vielleicht ist es Zufall. Oder vielleicht ist es genau das, wovor ich Angst hatte – dass die Dinge sich verändern, ohne dass ich Kontrolle darüber habe. Die Stunden ziehen sich, bis ich mich irgendwann daran erinnere, dass ich heute früher gehen kann. Die letzten beiden Stunden Sport bin ich entschuldigt – J2-Untersuchung.

Das erste Mal, dass ich allein zu einem Arzttermin gehe. Sonst hat mich immer Bobby begleitet, aber ich bin ja jetzt sechzehn. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, aber innerlich spüre ich die Unruhe. Nicht vor der Untersuchung selbst, sondern vor diesem seltsamen Gefühl, plötzlich für Dinge verantwortlich zu sein, die vorher einfach… geregelt waren. Auf dem Weg zur Bushaltestelle ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Ich öffne den Chat mit Leo. Ich: „Muss jetzt zum Arzt, J2. Das erste Mal allein. Irgendwie weird.“

Es dauert nicht lange, bis die Antwort kommt. Leo: „Das packst du easy. Und falls du umkippst, kannst du ja meinen Namen murmeln, dann kümmern die sich doppelt gut um dich.“

Ich lache leise und schüttle den Kopf. Ich: „Haha. Sehr hilfreich. Ich vermisse dich irgendwie. „Punkt. Ich zögere, bevor ich auf „Senden“ drücke, aber dann tue ich es einfach.

Die drei Punkte tauchen auf. Dann verschwindet die Nachricht kurz. Dann wieder die Punkte. Leo: „Du hast mich doch erst gestern Abend gesehen.“ Dann, ein paar Sekunden später: Leo: „Ich vermisse dich auch.“ Mein Bauch fühlt sich an, als hätte ich eine Achterbahnfahrt angefangen.

Der Bus kommt. Ich steige ein, lehne den Kopf gegen das Fenster. Ich wünschte, Leo wäre hier.

Zwischen Herzschlag und Stille

Der Wartebereich beim Kinderarzt sieht genauso aus wie früher. Zu bunt. Zu viele Plakate mit lächelnden Kindern, die Zahnbürsten halten oder fröhlich auf gesunden Gemüse-Tellern herumstochern. Ein riesiger, abgewetzter Teddy lehnt in der Spielecke, ein paar Bauklötze daneben. Irgendwo quietscht eine Tür, eine Mutter spricht leise auf ihr Kleinkind ein.

Ich spüre, wie meine Schultern sich unbewusst anspannen. Ich bin sechzehn. Zum letzten Mal hier. Mein Blick bleibt an einem Aufkleber mit Comicfiguren auf der Anmeldung hängen, den ich schon als Kind gesehen habe. Damals hat Bobby mich begleitet. Jetzt sitze ich allein hier.

Ein Junge, vielleicht acht oder neun, starrt mich mit großen Augen an, während er einen Lutscher lutscht. Seine Mutter liest irgendwas auf ihrem Handy. Ich überlege, was er wohl denkt. Warum ist dieser große Typ hier? Sollte der nicht längst beim „richtigen“ Arzt sein?

Vielleicht sollte ich. Aber ich bin hier. J2. Meine letzte Jugenduntersuchung. Ein bisschen zu spät, ehrlich gesagt – die meisten gehen mit vierzehn oder fünfzehn. Aber Bobby hat darauf bestanden. „Lass das checken, Justin. Dein Körper verändert sich, dein Leben auch. Sei schlau und zieh es durch.“

Also sitze ich hier. Und warte. Ich ärgere mich, dass ich nicht vorher gefragt habe, was genau auf mich zukommt. Oder zumindest nachgelesen. Aber in den letzten Tagen hatte ich genug andere Dinge im Kopf – Leo, die Kampagne, Bobby, das plötzliche Rampenlicht. Mein Leben ist ein Wirbelsturm, und diese Untersuchung fühlt sich wie ein Fremdkörper darin an. Etwas, das nicht in den Rhythmus passt. „Justin Müller?“

Ich zucke leicht zusammen, reiße mich aus meinen Gedanken. Die Sprechstundenhilfe, freundlich, mittleren Alters, mit einer Brille, die tief auf ihrer Nase sitzt, lächelt mich an. „Du kannst schon mal reinkommen.“

Ich nicke, schnappe meine Jacke und folge ihr den Flur entlang. Der Untersuchungsraum riecht nach Desinfektionsmittel und Papier. Die Wände sind hellblau, in einer Ecke steht eine große Waage, daneben ein Messstab. Mein Arzt, Dr. Friedrich, kommt herein. Ich kenne ihn seit Jahren, aber trotzdem fühlt sich das heute anders an. Ich bin nicht mehr das Kind, das wegen einer Erkältung hier sitzt.

„Justin, schön dich zu sehen. Letzte Jugend-Untersuchung, was?“ Er blättert in meiner Akte, schiebt seine Brille hoch.

„Ja, wird Zeit“, sage ich und setze mich auf die Untersuchungsliege.

Er grinst. „Genau. Dann schauen wir mal, wie du dich in den letzten Jahren entwickelt hast.“

Er beginnt mit den Basics: Größe, Gewicht, Blutdruck. Ich ziehe meine Schuhe aus, stelle mich auf die Waage. 169 cm. 53 Kilo. Leicht für mein Alter, aber das wusste ich schon. Mein Körper ist auf Effizienz getrimmt – wenig Fett, wenig Masse. Kletterer eben.

„Alles im Rahmen“, murmelt er und notiert etwas. Dann folgt das Übliche – Herz abhören, Lunge checken, Reflexe. Ich hebe meine Arme, folge seinem Licht mit den Augen. Spüre seinen kalten Stethoskop-Kopf auf meiner Brust. Tief einatmen. Ausatmen. Wieder einatmen.

„Sport machst du ja regelmäßig, oder? Klettern war’s, richtig?“

Ich nicke. „Ja, ziemlich intensiv in letzter Zeit.“

„Sieht man. Deine Muskulatur ist gut definiert, besonders in Armen und Schultern.“

Ich merke, wie ich leicht erröte. Seltsam, dass jemand so analytisch über meinen Körper spricht, als wäre ich eine Maschine. Aber ich weiß, dass er nur seinen Job macht.

Dann kommt der Teil, auf den ich nicht vorbereitet bin. „So, Justin. Es gibt bei der J2 ein paar Themen, die wir kurz besprechen sollten. Vor allem Dinge, die dich körperlich oder psychisch betreffen könnten. Ist das okay?“ Ich nicke. Meine Kehle fühlt sich plötzlich trocken an. „Gibt es gesundheitliche Beschwerden, die du bemerkt hast? Schmerzen, Unwohlsein, irgendetwas Auffälliges?“ Ich schüttle den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.“

„Gut. Wie sieht es mit deiner Ernährung aus? Du bist ziemlich schlank. Achtest du darauf, genug zu essen?“ Ich überlege kurz. Manchmal vergesse ich es, besonders wenn mein Kopf voll ist. Aber meistens passt es. „Ja, denke schon.“

Dann wird es noch unangenehmer. „Jetzt noch die körperliche Untersuchung. Bitte zieh auch deine Unterhose aus, damit ich deine Genitalien checken kann.“

Mein Gesicht wird heiß, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Mein Puls hämmert so laut in meinen Ohren, dass ich kaum noch etwas anderes wahrnehme. Ich tue, was er sagt, weil es keine Alternative gibt, weil es einfach dazu gehört. Trotzdem fühlt es sich an, als würde ich gerade einen Schritt ins Unbekannte machen, einen, den ich nicht kontrollieren kann.

Ich stehe da, nackt, die Luft in meinen Lungen flach und gezwungen, während seine Hände prüfend über meine Leiste wandern. Sein Griff ist neutral, professionell, nur ein Arzt, der seinen Job macht. Und trotzdem spüre ich, wie meine Muskeln sich unbewusst verspannen, meine Finger sich in den Rand der Untersuchungsliege krallen. Die Kälte seiner Berührung auf meiner Haut lässt mich innerlich zusammenzucken. Ich will nicht, dass es unangenehm ist, aber es ist es. Mein Körper fühlt sich fremd an, als würde er mir nicht mehr gehören, als wäre ich nur eine Hülle, die durch die Bewegung seiner Hände definiert wird.

Ich presse die Lippen aufeinander, starre an die Decke. Einatmen. Ausatmen. Meine Atmung ist nicht ganz gleichmäßig, aber ich halte sie unter Kontrolle. Die Sekunden ziehen sich, werden zu Minuten in meinem Kopf. Dann endlich, endlich zieht er sich zurück. "Alles in Ordnung", sagt er schließlich, während er einen Schritt zurücktritt und mir Raum gibt. Seine Stimme ist sachlich, unaufgeregt, als hätte er nie etwas anderes getan. „Du kannst dich wieder anziehen“ meint er noch.

Ich tue es schnell. Zu schnell. Meine Finger zittern leicht beim Schließen der Hose. Er nickt und schreibt etwas auf. Dann kommt die nächste Frage. „Sexualität und Intimität sind auch ein Thema bei der J2. Hast du Fragen oder Unsicherheiten?“

Mein Herz klopft sofort schneller. Ein unwillkürlicher Reflex, als hätte jemand einen versteckten Schalter in meinem Körper umgelegt. Ich wusste irgendwie, dass es kommen würde, es gehört ja dazu, aber trotzdem fühlt es sich plötzlich unglaublich… intim an. So, als hätte jemand mit einem einzigen Satz eine Tür geöffnet, hinter der all die Dinge liegen, über die ich normalerweise nicht laut spreche.

Ich öffne den Mund, will irgendwas sagen, aber mein Gehirn klemmt. Gedanken prallen in meinem Kopf gegeneinander wie Billardkugeln, ohne dass ich einen sinnvollen Satz daraus formen kann.

Dr. Friedrich hebt eine Hand, als hätte er genau diesen Moment erwartet. „Keine Sorge. Das ist ein Standardteil der Untersuchung. Du musst nichts sagen, was du nicht möchtest. Aber falls du Fragen hast, egal, ob es um Beziehungen, Gefühle oder körperliche Veränderungen geht, das hier ist der richtige Ort dafür.“

Seine Stimme ist ruhig, sachlich. Kein unangenehmes Zögern, kein merkwürdiges Lächeln, keine dieser „Wir tun jetzt mal so, als wäre das nicht peinlich“-Blicke, die manche Erwachsene aufsetzen, wenn sie über Sex reden. Es ist einfach eine Tatsache. Genau wie Größe, Gewicht oder Blutdruck.

Und trotzdem rutscht mein Blick automatisch zur Tür. Ein irrationaler Impuls, als könnte ich einfach aufstehen und rausgehen, bevor es unangenehm wird. Aber dann höre ich eine andere Stimme in meinem Kopf, viel vertrauter.

Du musst nicht alles allein machen, Justin. Leos Worte. Ich erinnere mich an den Moment, in dem er sie gesagt hat, an die Wärme in seinem Blick. Und mit einem Mal wird mir klar, dass ich es nicht einfach wegschieben kann. Dass ich es gar nicht wegschieben will. Ich schlucke. Dann sage ich leise: „Ich bin schwul.“

Dr. Friedrich schaut mich an. Sein Blick bleibt ruhig, professionell, freundlich. „Okay.“

Nicht überrascht. Nicht irritiert. Kein Hochziehen der Augenbrauen oder ein Sekundenbruchteil zu langer Blick. Nur ein einfaches okay. Er sagt es, als wäre es das Normalste der Welt. Und vielleicht ist es das auch. Vielleicht sollte es das sein.

„Wie sieht es mit Beziehungen aus? Fühlst du dich wohl mit deiner Identität?“

Ich spiele mit meinen Fingern, rolle den Stoff meines T-Shirts zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ja. Also… meistens. Ich habe einen Freund. Es ist noch ganz neu.“ Und ich strahle unbewusst. Ich merke es selbst erst, als Dr. Friedrich leicht schmunzelt. Aber es ist egal. Leo ist in meinen Gedanken, in diesem Moment, und das fühlt sich richtig an. Er nickt verständnisvoll. „Das ist völlig normal. Beziehungen sind ein Prozess, egal in welchem Alter. Und Verhütung ist auch ein Thema. Hast du dich damit schon beschäftigt?“

Mein Gesicht wird noch wärmer. „Nicht wirklich… Ich meine, ich…, wir sind noch nicht… so weit.“ Ich spüre, wie sich die Aufregung mit Erleichterung vermischt. Das Gespräch ist ungewohnt, ja, aber nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.

„Das ist völlig in Ordnung.“ Seine Stimme bleibt ruhig, nicht wertend. „Aber wenn es irgendwann soweit ist, solltest du wissen, worauf es ankommt. Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten ist bei Männern, die mit Männern schlafen, besonders wichtig.“

Er hält kurz inne, als wolle er sicherstellen, dass ich ihm noch folge. „Das Wichtigste ist, sich bewusst zu machen, dass auch zwischen Männern das Risiko für Infektionen besteht. HIV ist eine der bekanntesten Gefahren, aber es gibt auch andere sexuell übertragbare Krankheiten wie Chlamydien, Syphilis oder HPV. Deshalb ist es wichtig, sich zu schützen.“

Ich nicke langsam. Mein Kopf fühlt sich schwer an von all den Informationen. Ich weiß über HIV Bescheid, irgendwie. Aber ich habe noch nie konkret darüber nachgedacht, wie es mich selbst betreffen könnte.

„Kondome sind der beste Schutz“, fährt er fort. „Und falls du irgendwann in einer festen Beziehung bist und ihr euch beide habt testen lassen, gibt es auch die Möglichkeit von PrEP. Das ist eine vorbeugende Medikamenteneinnahme, die das HIV-Risiko fast vollständig senken kann.“

Ich runzle leicht die Stirn. „PrEP?“ „Ja. Es ist eine Tablette, die du täglich einnimmst und die verhindert, dass sich HIV im Körper festsetzt, falls du in Kontakt mit dem Virus kommst.“

Ich nicke langsam. Die Vorstellung, eine Tablette gegen HIV zu nehmen, klingt seltsam. Aber, gleichzeitig… auch irgendwie beruhigend? Dass es sowas gibt. Dass ich mich nicht völlig hilflos fühlen muss.

„Und… ähm… also, gibt es sonst noch etwas, worauf man achten muss? Ich meine… beim Sex?“ Meine Stimme ist leiser als gewollt, aber jetzt will ich es wissen. Ich kann es ja nicht einfach googeln, oder? Na gut, könnte ich schon. Aber jetzt ist es raus.

Dr. Friedrich bleibt ruhig, professionell. „Ja, es gibt ein paar Dinge. Gerade beim Analverkehr besteht ein höheres Verletzungsrisiko, weil die Schleimhaut empfindlicher ist. Das macht es leichter für Viren und Bakterien, in den Körper zu gelangen. Deswegen sind Kondome und Gleitgel so wichtig – um Verletzungen und Infektionen vorzubeugen. Und regelmäßige Gesundheitschecks, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.“

Ich spüre, wie mein Magen sich leicht zusammenzieht. Nicht aus Angst, sondern weil es… realer wird. „Muss man sich oft testen lassen?“ „Wenn du ein aktives Sexualleben hast, dann ja. Es ist gut, sich einmal im Jahr oder bei einem neuen Partner checken zu lassen. Aber wenn du gerade erst am Anfang stehst, dann brauchst du dir noch keine großen Sorgen machen. Es geht nur darum, dass du vorbereitet bist, wenn es irgendwann soweit ist.“

Ich atme langsam aus. Es ist komisch – die Vorstellung, mit einem Arzt darüber zu sprechen, hätte mir vorher totale Panik gemacht. Aber jetzt? Jetzt fühlt es sich irgendwie… beruhigend an. Ich bin noch nicht soweit, aber ich werde es irgendwann sein. Und dann weiß ich wenigstens, was wichtig ist.

„Danke“, murmele ich, während er meine Akte zuklappt. „Ich glaube, das hilft.“

Ich sehe, wie er noch ein paar Dinge in seinen Laptop tippt, seine Brille nach oben schiebt, kurz über den Bildschirm huscht, dann wieder etwas eintippt. Es ist merkwürdig – dieser Moment danach. Ich sitze immer noch auf der Untersuchungsliege, die Füße baumeln leicht über dem Boden, als würde mein Körper nicht ganz realisieren, dass alles schon vorbei ist.

Das war es also. All die Unsicherheiten, die ich vorher hatte, die leichte Panik, als es um das Thema Sexualität ging, die unangenehme Untersuchung – und trotzdem fühle ich mich jetzt… irgendwie leichter. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Dasselbe sterile Licht. Derselbe antiseptische Geruch. Aber ich bin nicht mehr ganz derselbe wie vor dreißig Minuten. Ich ziehe mich langsam wieder an, schließe den letzten Knopf an meinem Hemd und streiche mit den Händen über die Hose, als könnte ich damit die Anspannung aus meinem Körper vertreiben. Dr. Friedrich murmelt noch eine letzte Notiz in seinen Computer, dann druckt er etwas aus und legt es in eine Mappe. Meine Akte. Plötzlich fühlt sich dieses Stück Papier seltsam bedeutungsvoll an. Es ist mehr als nur ein Haufen medizinischer Daten, es ist ein schriftlicher Beweis, dass ich existiere, dass mein Körper sich verändert hat, dass ich von einem Kind zu einem Jugendlichen und jetzt langsam zu einem Erwachsenen werde. Und dass ich jetzt Dinge selbst regeln muss.

Er schiebt mir die Mappe zu. „Hier ist deine Akte für den Sportmediziner. Du meintest doch, dass du wegen des Kletterns bald einen Termin hast, oder?“ Ich nicke, nehme die Mappe entgegen und fühle das leichte Gewicht in meiner Hand. Meine Wachstumskurve. Mein Blutdruck. Meine Schwächen. Meine Stärken. All das, was bisher nur in der Akte eines Kinderarztes gespeichert war, gehört jetzt offiziell zu mir.

Dr. Friedrich lehnt sich leicht zurück. „Falls du Fragen hast, Justin, auch später noch, du kannst dich immer melden. Alles Gute dir.“

Ich nicke. „Danke, Dr. Friedrich.“ Meine Stimme klingt ruhig, aber in mir wirbelt alles durcheinander. Dann stehe ich auf, nehme die Mappe fester in die Hand und verlasse das Untersuchungszimmer. Die Anmeldung ist nicht weit. Die Dame dort lächelt freundlich, nimmt meine Akte entgegen und reicht mir die Kopie für Erik. Das war es.

Ich trete durch die Glastür nach draußen, und die kalte Frühsommerluft schlägt mir entgegen. Ein tiefer Atemzug. Die Welt draußen fühlt sich realer an als vorher, als hätte ich die letzten dreißig Minuten in einer anderen Dimension verbracht. Ich lasse meine Schultern fallen, schiebe die Akte in meinen Rucksack und ziehe mein Handy aus der Tasche.

Der Chat mit Leo ist noch offen. Ich tippe schnell: Ich: „Überlebt. War nicht so schlimm.“ Es dauert nur ein paar Sekunden, bis die drei kleinen Punkte auf dem Bildschirm erscheinen. Leo: „Told you. Und? Noch alles dran?“ Ich grinse und schüttele leicht den Kopf. Ich hätte es wissen müssen. Ich tippe zurück: Ich: „Jap. Immer noch derselbe Justin.“ Wieder kurze Stille. Dann ploppt die nächste Nachricht auf. Leo: „Gut. Ich mag den.“ Mein Herz macht einen kleinen Satz. Es ist eine simple Nachricht, und doch schickt sie eine warme Welle durch meinen Körper. Ich lehne mich an die Bushaltestelle, mein Daumen schwebt über dem Display, aber ich tippe nichts mehr. Stattdessen halte ich für einen Moment inne. Ich habe es geschafft. Nicht nur die Untersuchung, nicht nur das Gespräch – sondern mich selbst ein kleines Stück mehr zu akzeptieren. Und das fühlt sich vielleicht nach der wichtigsten Erkenntnis des Tages an.

Zwischen Gedanken und Bewegung

Der Nachmittag zieht sich. Ich habe die Sprachhausaufgaben vor mir liegen, aber die Worte auf dem Blatt verschwimmen irgendwann. Konjunktionen, Satzstellungen, grammatische Regeln, die mir nicht in den Kopf gehen wollen. Ich verstehe die Struktur, aber nicht das Gefühl dahinter. Sprache ist nicht wie Mathe. Nicht logisch. Nicht zuverlässig.

In Mathe gibt es klare Lösungen. Eine Gleichung ist entweder richtig oder falsch. Ein Beweis hat eine Struktur, ein Muster. Aber Sprache? Sprache ist dehnbar, unberechenbar. Worte haben Schichten, Bedeutungen, Zwischentöne. Man kann mit Sprache spielen, mit Wörtern Dinge sagen, die man eigentlich nicht sagt. Genau das macht es mir so schwer.

Mein Kopf fühlt sich vollgestopft an, als hätte sich all das Chaos der letzten Tage zwischen den Vokabeln und Satzanalysen versteckt. Ich muss raus. Bewegen. Mein Körper braucht die klare Struktur, die mein Kopf nicht findet. Also ziehe ich meine Laufschuhe an, setze Kopfhörer auf und verlasse die Wohnung.

Die Luft ist kühl und riecht nach Asphalt und feuchtem Laub. Ich laufe los. Langsam erst, meine Muskeln sind noch steif vom Sitzen, aber nach den ersten hundert Metern finde ich meinen Rhythmus. Der Puls steigt, meine Atmung passt sich an. Mein Körper weiß, was er zu tun hat.

Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug.

Die ersten Minuten denke ich noch. An die Schule, an die Kampagne, an den nächsten Schultag, der sich wie eine Wand vor mir auftürmt. Aber irgendwann verblassen die Gedanken. Die Bewegung übernimmt. Mein Herzschlag wird zum Takt, meine Beine arbeiten von allein. Das einzige, was zählt, ist der Moment.

Die Straße vor mir. Der nächste Schritt. Die nächste Kurve.

Es ist wie Klettern. Man kann nicht woanders sein als genau hier. Sonst fällt man. Oder verpasst den richtigen Griff.

Nach zehn Minuten bin ich warmgelaufen. Mein Körper ist jetzt richtig wach, meine Gedanken klarer. Ich nehme meine Umgebung deutlicher wahr: Die Straßenlaternen werfen lange Schatten, irgendwo bellt ein Hund, das Geräusch meiner Schritte auf dem Pflaster mischt sich mit der Musik in meinen Ohren. Der Bass treibt mich voran, aber meine Gedanken haben sich verändert. Sie treiben nicht mehr, sie ordnen sich.

Leo. Ich denke an den Chat vorhin. Daran, wie er sagte, dass er jetzt lieber mit mir irgendwo sitzen würde, wo es ruhig ist. Mein Atem geht schneller, aber nicht nur wegen des Laufens. Ich spüre die Nachricht immer noch in mir nachklingen. Mit mir irgendwo sitzen. Das klingt nicht nach Zufall. Nicht nach einem flüchtigen Satz.

Ich laufe schneller. Ein bisschen, als könnte ich vor der Unruhe in mir davonlaufen. Aber es funktioniert nicht. Denn da ist dieses Ziehen in meiner Brust, diese Vorfreude, die langsam zu einem festen Knoten wird. Freitag. Ich will, dass Freitag ist. Jetzt. Sofort.

Ich weiß nicht genau, was ich von dem Tag erwarte. Ich weiß nur, dass ich Leo sehen will. Dass ich wissen will, ob er das Gleiche fühlt wie ich. Dass ich vielleicht nicht mehr nur warten will, sondern weiß.

Meine Füße schlagen im festen Rhythmus auf den Boden. Meine Atmung ist gleichmäßig, meine Beine stark. Mein Kopf ist freier als vorher, aber nicht leer. Im Gegenteil. Er ist voller Leo.

Zwischen Kontrolle und Vertrauen

Der Tag zieht sich. Minuten fühlen sich an wie Stunden, Stunden wie eine Ewigkeit. Mein Handy vibriert immer wieder in meiner Hosentasche. Jedes Mal ein kleiner Stromschlag in meinen Fingern, wenn ich danach greife. Leo.

Seit dem Morgen schreiben wir. Nichts Weltbewegendes. Aber auch nicht nichts. Kleine Nachrichten, kurze Kommentare, ein paar Fotos – von seinem Frühstück (irgendwas mit Avocado und viel zu gesund), von seinem Schreibtisch (aufgeräumt, aber mit einem chaotischen Stapel Skizzen daneben), von seinem Fuß, den er unterm Tisch ausgestreckt hat: „Fühle mich gefangen. Hilfe!“.

Ich habe mit einem Bild von meinem zerknitterten Mathe-Heft geantwortet. „Ich sterbe hier.“ Seine Antwort kam sofort. „Überleb. Sonst hab ich nachher keinen mehr, den ich abholen kann.“ Ich hatte gestutzt. Dann nochmal gelesen. Nochmal. „Was meinst du mit abholen?“, hatte ich zurückgeschrieben. Die drei Punkte tauchten auf, verschwanden wieder und tauchten erneut auf. „Wirst du sehen. :)“

Und jetzt sitze ich hier. Letzte Stunde. Noch zehn Minuten. Mein Fuß wippt unter dem Tisch, meine Hände schwitzen, und ich versuche mich darauf zu konzentrieren, nicht völlig durchzudrehen. Was, wenn es nur ein Scherz war? Oder wenn er doch nicht kommt? Oder wenn… Der Schulgong reißt mich aus meinen Gedanken. Meine Bücher klappen zu, Stühle rücken. Stimmen, Gelächter, das übliche Chaos. Ich schiebe meine Sachen in meinen Rucksack, mein Herz schlägt viel zu schnell.

Dann trete ich aus dem Gebäude. Und mein Kopf wird leer. Er steht da. Lehnt lässig gegen sein Fahrrad, ein Bein auf den Pedalen, die Haare vom Wind zerzaust. Sonnenstrahlen fangen sich in seinen Wimpern, in seinen Augen, die mich mustern, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass er hier auf mich wartet. Mein Herz setzt aus. Dann stolpert es nach vorne.

Er wartet auf mich. Ich bleibe stehen. Zu abrupt. Zu unsicher. Um uns herum laufen Schüler vorbei, in Grüppchen, laut, lachend. Ich spüre ihre Blicke nicht wirklich, aber ich weiß, dass sie da sind.

Leo hebt eine Braue. „Guck nicht so, als hätte ich gerade dein Fahrrad geklaut.“

Mein Mund ist trocken. „Was machst du hier?“

„Habe dir doch gesagt, dass ich dich abhole.“ Sein Tonfall ist leicht, aber sein Blick nicht. Irgendwas daran hält mich fest. „Hast du etwa was vor?“

Nein. Ja. Ich habe keine Ahnung. Mein Kopf ist ein einziger Knoten. Ich würde ihn so gerne umarmen. Oder wenigstens näher treten. Ihn berühren, nur kurz, um zu sehen, ob das, was ich fühle, wirklich echt ist. Aber hier? Vor all den anderen?

Leo scheint meine Gedanken zu lesen. Er mustert mich einen Moment lang, dann zuckt er mit den Schultern und schiebt sein Fahrrad ein Stück näher an mich heran. „Dann halt nicht hier. Komm, gehen wir.“ Er sagt es einfach so. Ohne zu zögern. Und ich? Ich folge ihm.

Wir laufen ein Stück die Straße entlang, vorbei an der Bushaltestelle, an der ich sonst immer stehe. Ich weiß nicht, wohin er will. Aber er läuft langsam, als würde er warten, dass ich etwas sage. Dass ich mich traue.

„Ich habe kein Fahrrad“, murmele ich irgendwann, einfach um irgendwas zu sagen.

Leo schnaubt amüsiert. „Und ich dachte, du seilst dich einfach über die Dächer ab.“

Ich lache leise. Die Anspannung löst sich einen Hauch. „Ich nehme sonst immer den Bus, wenn ich zur Firma muss. Zu Fuß ist es zu weit.“

Leo nickt, als hätte er das erwartet. „Wir müssen eh vorher noch woanders hin.“ Ich sehe ihn fragend an. „Erik will deine Blutwerte nehmen.“ „Erik?“ Ich blinzele. „Hier? Ich dachte, das macht er nur in der Firma?“ „Hat noch eine Praxis in der Stadt.“ Leo tritt gegen einen Kieselstein auf dem Gehweg. „Erik hat mich vorhin angerufen, gefragt, ob ich dich direkt mitbringen kann. Dachte, das wäre praktischer, als dass du nachher alleine durch die halbe Stadt fahren musst.“ Ich starre ihn an. „Du hast das für mich organisiert?“ Er zuckt mit den Schultern, aber sein Mundwinkel zuckt. „Ist doch logisch.“

Irgendwas in mir zieht sich zusammen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Stattdessen gehe ich einfach weiter. Wir laufen durch eine kleine Seitenstraße, weg vom Verkehr, weg von den Menschen. Plötzlich hält Leo an. Ich stolpere fast in ihn hinein. „Was…?“ Dann spüre ich es. Seine Hand an meinem Handgelenk. Warm, fest. Nicht grob, aber bestimmt. Mein Herz rast. Ich hebe den Blick.

Leo sieht mich an. Und in seinem Blick ist etwas, das sich wie eine Welle über mich stürzt. Als hätte er sich den ganzen Tag zurückgehalten, genau wie ich. Und jetzt nicht mehr will.

Er zieht mich näher. Mein Körper reagiert schneller als mein Kopf. Mein Rucksack rutscht von meiner Schulter, meine Hände greifen automatisch nach seinem Hoodie. Sein Atem streift meine Wange, sein Herz schlägt gegen meine Brust. So nah. Endlich.

Er sagt nichts. Ich auch nicht. Es gibt nichts zu sagen. Nur Wärme, nur Herzschläge, nur das Gefühl, dass ich genau hier sein sollte. Sein Griff an meinem Rücken wird fester. Ich presse mein Gesicht gegen seine Schulter, schließe die Augen. Die Welt draußen existiert nicht mehr. Es gibt nur ihn. Nur uns. Ich weiß nicht, wie lange wir so stehen. Sekunden. Minuten. Eine Ewigkeit, die zu kurz ist.

Dann löst Leo sich ein Stück, nur so weit, dass er mich ansehen kann. Sein Blick wandert über mein Gesicht, bleibt an meinen Lippen hängen. Meine Finger krallen sich unbewusst in seinen Ärmel. Mein Körper schreit danach, dass er bleibt. Dass er mich noch näher zieht. Aber dann räuspert er sich leise. „Wir sollten los.“ Ich nicke. Aber ich mache keine Anstalten, ihn loszulassen. Nicht sofort. Er merkt es. Ich sehe es an seinem Lächeln. Dem echten. Dem, das er nur zeigt, wenn er denkt, dass niemand hinsieht. „Du kannst mich später wieder umarmen“, murmelt er. „So oft du willst.“

Mein Brustkorb zieht sich zusammen. Zu viel. Zu schön. Ich kann nicht anders, als kurz zu lachen. „Versprochen?“ Er lehnt sich vor, nur ein kleines bisschen. Aber genug. „Versprochen.“ Dann treten wir zurück auf den Bürgersteig, zurück in die Welt. Und ich weiß: Ab jetzt ist alles anders.

Ich runzle die Stirn, während wir durch die Straßen laufen. Die Umgebung kommt mir nicht bekannt vor – jedenfalls nicht als den Ort, an dem ich Erik erwarten würde. „Warte mal“, sage ich schließlich und blicke zu Leo. „Warum sind wir hier? Ich dachte, Erik hat seine Praxis nur in der Firma?“ Leo grinst schief. „Hat er auch. Aber er hat noch eine private Praxis in der Stadt. Wusste ich auch lange nicht. Ist halt mehr für besondere Fälle. Weniger Leute, mehr Ruhe.“ Ich blinzele. „Und warum ausgerechnet hier? Ich hätte doch später in der Firma…“. „Er wollte es jetzt machen. Meinte, es sei praktischer, als wenn du nachher nochmal extra los musst.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Hat er das so gesagt? Oder hast du das für mich organisiert?“ Leo zuckt mit den Schultern, aber sein Blick weicht nicht aus. „Vielleicht beides.“ Ich will etwas erwidern, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Er hat das für mich gemacht. Einfach so.

Mein Magen zieht sich auf diese seltsame, warme Weise zusammen, die ich immer noch nicht ganz verstehe. Dann bleiben wir vor einem modernen Gebäude stehen. Groß, Glasfassade, aber nicht kalt. In der Lobby ist es ruhig, fast schon einladend. „Komm schon.“ Leo hält mir die Tür auf. „Wird nicht lange dauern.“ Ich atme tief durch und trete ein. Die Praxis von Erik ist nicht das, was ich erwartet habe.

Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe – vielleicht etwas Kühles, Steriles, eine Klinik mit weißen Wänden und dem Geruch von Desinfektionsmittel in der Luft. Aber stattdessen fühlt es sich an, als wäre ich in eine andere Welt gestolpert. Die Räume sind modern, aber warm. Holzvertäfelungen, große Fenster, durch die das Licht in weichen Streifen auf den Boden fällt. Auf dem glatten Boden liegt ein dicker, dunkler Teppich, und an den Wänden hängen keine langweiligen medizinischen Poster, sondern große Schwarz-Weiß-Fotografien von Athleten. Kletterer, Läufer, Boxer. Bewegungen, eingefangen in der Schwebe, genau in dem Moment, in dem sich alles entscheidet. Mein Blick bleibt an einem Foto hängen. Ein Freeclimber, weit über dem Boden, nur noch mit einer Hand an der Felswand. Ich schlucke. Das Gefühl kenne ich. Dieses eine, schmale Band zwischen Griff und Fall. Leo lehnt sich mit einer Hand gegen den Tresen, mustert mich mit einem kleinen Lächeln. „Beeindruckt?“ Ich reiße mich von dem Bild los und tue so, als würde ich mir einfach nur beiläufig den Nacken reiben. „Geht so.“

Erik taucht fast lautlos auf. Ich habe ihn nicht kommen hören, aber plötzlich steht er in der Tür zu einem der Behandlungsräume. Groß, schlank, helles Haar, immer leicht zerzaust, als wäre er gerade noch selbst in der Kletterhalle gewesen. Er sieht mich an, als hätte er schon alles erfasst, was er wissen muss. „Justin.“ Er nickt. „Du siehst besser aus als letzte Woche.“ „Das hoffe ich doch.“ Sein Mundwinkel zuckt. „Komm rein.“

Leo bleibt an der Tür stehen, als ich an ihm vorbeigehe. Für einen Sekundenbruchteil streift sein Blick mein Gesicht, und ich frage mich, ob er wohl merkt, dass meine Hände leicht zittern. Ich merke es selbst erst, als ich mich auf die Liege setze und meine Finger über den Stoff meiner Hose streichen, um sie zu beruhigen. „Nur eine kurze Kontrolle.“ Erik öffnet eine Schublade, holt eine Spritze und ein paar Röhrchen heraus. „Deine Blutwerte sahen beim letzten Mal nicht so gut aus, und ich will sicherstellen, dass du dich wirklich vollständig erholt hast. Dein Körper hat viel mitgemacht.“

Ich nicke. Schaue zu, wie er den Stauschlauch um meinen Oberarm legt. Sein Griff ist routiniert, professionell, und trotzdem spannt sich mein ganzer Körper automatisch an. Ich mag Nadeln nicht. Aber ich werde mich jetzt nicht wie ein Idiot anstellen. „Einmal tief durchatmen.“ Ich tue es. Schaue demonstrativ an die Decke. Spüre den kurzen Stich, dann das Ziehen, als das Röhrchen sich füllt. „Gleich vorbei“, murmelt Erik. Ich presse die Lippen aufeinander. Zwinge mich, ruhig zu bleiben. Ich habe viel Schlimmeres durchgemacht. Das hier ist nichts. Nach einer gefühlten Ewigkeit – eigentlich nicht mal zwanzig Sekunden – zieht Erik die Nadel raus, drückt ein Stück Watte auf die Stelle. „Halten.“ Ich tue es. Spüre meinen eigenen Puls unter den Fingern schlagen.

Er dreht sich um, sortiert die Röhrchen in eine kleine Box. „Ich spreche heute Abend mit Kai über deinen Trainings- und Ernährungsplan. Wir werden ein paar Anpassungen machen.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Anpassungen?“ Erik wirft mir einen scharfen Blick zu. „Ja. Damit du nicht wieder fast kollabierst, weil du mehr gibst, als dein Körper kann.“

Ich will protestieren. Sagen, dass ich mich gut fühle. Aber dann sehe ich Leo, der immer noch an der Tür lehnt. Seine Arme sind vor der Brust verschränkt, aber sein Blick sagt alles. Er hat mich letzte Woche gesehen. Er weiß, wie ich aussah. Also sage ich nichts. Erik notiert noch ein paar Dinge auf einem Klemmbrett, dann sieht er mich wieder an. „Heute Abend um acht?“ Ich nicke. „Gut. Dann los mit euch.“ Leo nimmt sein Fahrrad einfach mit in den Bus. Wir quetschen uns in die hintere Ecke, er lehnt sein Rad gegen die Haltestange und setzt sich neben mich. Sein Bein streift meines, nur für eine Sekunde, aber lang genug, dass ich es bemerke.

Draußen zieht die Stadt vorbei. Ich starre durch das Fenster, während der Bus sich langsam durch den Verkehr schiebt. Leo tippt gegen mein Knie. „Alles okay?“ Ich blinzele. Drehe den Kopf zu ihm. Und dann passiert es. Die Welt um uns herum existiert nicht mehr. Die Gespräche der anderen Fahrgäste, das Rattern des Motors, das unregelmäßige Zischen der Haltestellenansage – alles verschwindet. Seine Augen sind dunkel, warm, viel zu intensiv. Ich will ihm sagen, dass ich okay bin. Dass es nichts ist. Aber dann merkt er es doch. Er legt eine Hand auf meine, ganz leicht, kaum mehr als eine Berührung. Aber es ist genug. Ein tiefer Atemzug. Ich schließe die Finger um seine, drücke ganz kurz. Nur für eine Sekunde. Er versteht. Er drückt zurück.


Wir kommen durch den Hintereingang an. Tiefgarage. Der Beton hallt dumpf unter unseren Schritten, irgendwo summt ein Lüftungsschacht. Das Licht ist gedämpft, Neonstreifen an der Decke werfen lange Schatten auf den Boden. Leo schiebt sein Fahrrad durch die Tür zum Aufzug. Ich folge ihm. Mein Herzschlag ist immer noch nicht ganz normal. Er drückt den Knopf, und die Türen gleiten auf. Wir steigen ein. Die Tür schließt sich. Und für einen Moment gibt es nur uns. Er lehnt sich gegen die Wand, sein Blick folgt mir, als würde er darauf warten, dass ich etwas sage. Ich sage nichts. Weil meine Gedanken sich wieder überschlagen. Der Moment heute Mittag, seine Nähe, der Druck seiner Hand um mein Handgelenk. Die Art, wie er mich ansieht, wenn er denkt, dass ich es nicht bemerke. Ich weiß, dass ich etwas sagen sollte. Aber dann macht Leo eine kleine Bewegung. Ein Schritt nach vorne. Gerade so nah, dass ich seinen Atem spüre.

Mein Magen zieht sich zusammen. Er hebt eine Hand, langsam, als würde er mir alle Zeit der Welt geben, um zurückzuweichen. Ich tue es nicht. Sein Daumen streift meine Wange, ganz sanft, kaum mehr als eine Berührung. Aber sie brennt sich in mich ein. Mein Herz hämmert. Dann, ganz leise, ganz ruhig: „Justin.“ Es ist keine Frage. Kein Befehl. Nur mein Name, aber mit so viel Bedeutung, dass ich mich daran festhalten könnte. Ich schlucke. Der Aufzug ruckt leicht, hält an. Die Türen gehen auf. Die Spannung hat sich abrupt aufgelöst und wir treten wieder hinaus in die Welt.

Hautnah - Zwischen Sichtbarkeit und Sehnsucht

Der Stoff des Shirts fühlt sich ungewohnt leicht auf meiner Haut an. Weich, dünn, fast als wäre ich gar nicht richtig angezogen. Mein Blick wandert über mein Spiegelbild, bleibt kurz an der Stelle hängen, wo sich der Stoff sanft über meine Schultern legt. Es ist nicht nur ein Shirt, es ist Teil von etwas Größerem. Teil der Kampagne. Ein weiteres Zeichen dafür, dass mein Leben gerade eine Richtung einschlägt, die ich noch nicht ganz begreife.

Leo steht am Türrahmen, verschränkte Arme, sein Blick wachsam, aufmerksam. Ein schiefes Lächeln zieht an seinen Mundwinkeln. „Passt perfekt.“

„Meinst du?“ Ich zupfe unsicher am Saum des Shirts, das sich fremd und vertraut zugleich anfühlt.

Er tritt näher, mustert mich kurz von oben bis unten. Sein Blick lässt meinen Puls höher schlagen. „Ja, definitiv. Sieht echt gut aus.“

Ich merke, wie sich meine Wangen erhitzen, während ich den Blick senke und kurz lächle. „Danke.“ Bevor ich mich weiter in meinen Gedanken verliere, deutet Leo mit einem Nicken in Richtung Tür. „Komm, Mia wartet schon.“

Ich nicke, folge ihm den Flur entlang. Jeder Schritt fühlt sich eigenartig bewusst an, als könnte ich jede Berührung meiner Füße auf dem kühlen Boden spüren. Die Dusche vorhin hat meine Gedanken nur kurz beruhigt, aber sobald ich Leo in der Nähe weiß, kehren sie mit voller Kraft zurück. Mias Styling-Raum liegt nur wenige Türen weiter. Sie begrüßt mich mit einem Lächeln, das warm und ehrlich wirkt. „Hey, Justin! Na, bereit für die nächste Runde?“ „Irgendwie schon“, murmle ich und nehme auf ihrem Drehstuhl Platz.

Ihre Hände sind schnell, präzise. Sie fährt mir sanft durch die Haare, richtet ein paar Strähnen zurecht, trägt minimal Puder auf, um den Glanz auf meiner Stirn zu verringern. Dabei summt sie leise vor sich hin, konzentriert und trotzdem entspannt. „Siehst super aus heute“, sagt sie schließlich mit einem anerkennenden Lächeln, während sie einen Schritt zurücktritt und mich im Spiegel betrachtet.

„Danke, Mia“, murmle ich, und merke erst jetzt, dass Leo die ganze Zeit in der Tür steht und uns beobachtet hat. Sein Blick ruht auf mir, aufmerksam, aber nicht drängend. Als unsere Blicke sich treffen, lächelt er leicht, fast verlegen. Mein Magen zieht sich kurz zusammen. Ich lächle zurück, bevor ich mich räuspere und von der Bank rutsche.

„Dann los.“ Leo stößt sich vom Türrahmen ab, hält mir kurz die Tür auf. Ich gehe an ihm vorbei, spüre seinen Blick auf meinem Rücken, und wünsche mir für einen kurzen Moment, wir wären allein.

Die Tür zu Claras Büro taucht auf. Leo öffnet sie, tritt zur Seite, lässt mich vor. Als ich an ihm vorbeigehe, streift sein Arm meinen, warm und sicher. Meine Finger zucken kurz, als wollten sie ihn festhalten, aber ich tue es nicht. Ich bin nicht sicher, ob ich es mir traue. Noch nicht. Clara sitzt hinter ihrem Schreibtisch, umgeben von ihrem vertrauten Chaos aus Büchern, Post-its und Pflanzen, die scheinbar überall in ihrem Büro wachsen dürfen, wie sie wollen. Ihr Lächeln wirkt beruhigend, als sie zu mir aufsieht. „Justin, schön dich zu sehen.“ Leo nickt mir kurz zu. „Ich hol dich später ab.“ „Ja.“ Ich sehe ihm noch kurz nach, bevor er die Tür hinter sich schließt.

Clara beginnt sofort, aber ich höre nur mit einem halben Ohr zu. Ihre Stimme ist ruhig, angenehm, wie immer. Doch meine Gedanken hängen noch bei Leo, bei der Art, wie sich seine Nähe gerade angefühlt hat. Ich frage mich, warum er diesmal nicht mit dabei bleibt. Normalerweise ist er immer irgendwo in der Nähe. Er organisiert, plant, beruhigt mich, ist da. Aber heute ist irgendwas anders. Warum fühlt es sich an, als hätte er mich gerade verlassen, obwohl er doch nur nebenan ist? Ich atme tief durch, versuche, mich wieder auf Claras Worte zu konzentrieren. Doch die Frage hängt in meinem Kopf fest: Habe ich vielleicht zu viel erwartet? Bin ich ihm zu nah gekommen, zu schnell, zu offensichtlich?

Claras Stimme holt mich langsam wieder in den Raum zurück. Ihre ruhige, warme Art erinnert mich daran, warum ich hier bin. „Es geht darum, wie du dich der Öffentlichkeit präsentierst, Justin. Nicht nur, was du sagst, sondern vor allem wie. Du bist jetzt ein Gesicht. Menschen werden etwas in dir sehen, vielleicht mehr als du selbst gerade sehen kannst.“

Ich schlucke, versuche, das Gewicht ihrer Worte einzuordnen. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“

Sie lächelt sanft. „Es geht nicht darum, dich zu verstellen. Aber es geht darum, dass du entscheidest, was du von dir zeigst. Dass du deine Grenzen kennst und respektierst. Gerade online.“

Ich nicke langsam, schreibe mir ein paar Stichpunkte auf. Authentisch wirken, ohne zu viel Privates preiszugeben. Persönlich, aber nicht angreifbar. „Wie soll das gehen?“, frage ich, meine Stimme klingt plötzlich jünger, unsicherer, als ich es möchte.

Claras Blick wird weicher. „Indem du entscheidest, wie viel von dir du teilen willst. Social Media gibt dir Kontrolle, aber du musst sie aktiv übernehmen. Teile Dinge, die dir wirklich etwas bedeuten, nicht das, was andere erwarten. Poste über das Klettern, über deinen Alltag, vielleicht auch mal einen Gedanken, der dir wichtig ist – aber setze Grenzen. Du musst nicht jede Emotion öffentlich zeigen. Halte die Dinge zurück, die dir zu nahe gehen.“

Ich schlucke erneut, diesmal fällt es mir schwerer. „Und wenn ich Fehler mache?“

„Das wirst du“, sagt sie ruhig, ohne zu zögern. „Und das ist in Ordnung. Sei ehrlich damit. Menschen folgen dir nicht, weil du perfekt bist, sondern weil du echt bist. Sei greifbar, sei offen. Aber niemals verletzlich genug, dass dich jemand verletzen kann.“

Ihre Worte beruhigen mich, zumindest ein wenig. Die Spannung in meinen Schultern lässt langsam nach. Clara beginnt mit ein paar mentalen Übungen, Atmung, Fokus, Visualisierung. Ich schließe die Augen, folge ihren Anweisungen, und mit jedem Atemzug wird mein Kopf klarer, freier. Die Sorge, dass Leo mich heute allein gelassen hat, tritt langsam zurück, löst sich auf, wird leichter.

Nach einer Weile öffne ich die Augen wieder. Der Raum fühlt sich anders an, heller irgendwie. Ich fühle mich ruhiger, mehr bei mir. „Danke, Clara.“ Sie lächelt, warm und ehrlich. „Dafür bin ich hier.“ Als ich ihre Tür hinter mir schließe, atme ich tief durch. Leo wartet schon draußen. Lässig gegen die Wand gelehnt, Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als hätte er die ganze Zeit gewusst, wann ich fertig sein würde.

„Und?“, fragt er, während er sich langsam aufrichtet. „Alles okay?“ „Ja. Jetzt wieder.“ Ich sehe ihn an, lasse mir Zeit, bevor ich weiterrede. „Warum hast du mich heute allein gelassen?“ Er zuckt leicht zusammen, überrascht von der Direktheit meiner Frage. Seine Finger fahren nervös durch sein Haar, und für einen kurzen Moment wirkt er unsicher – ganz anders als sonst. „Ich dachte, …du brauchst vielleicht mal Raum. Ohne mich ständig im Nacken.“

„Raum?“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch, versuche die Nervosität in meiner Stimme zu verbergen. „Habe ich dir je gesagt, dass ich Raum will?“ Leo grinst schief, wirkt erleichtert. „Nicht direkt.“ „Gut“, sage ich leise. „Weil ich will gar keinen.“ Er tritt näher, sein Schulterblatt streift meines, nur für einen Augenblick. Eine Berührung, kaum wahrnehmbar, aber ich fühle sie überall. „Gut zu wissen“, murmelt er. Ich atme aus, merke, wie meine Finger kribbeln, als würden sie schon nach seiner Nähe greifen. „Ich vermiss dich sonst.“ Leo sieht mich an. Seine Stimme ist so leise, dass ich sie kaum hören kann. „Ich dich auch.“ Mein Herz schlägt schneller. Ich möchte ihn berühren, will die Hand heben, einfach nach seiner greifen. Aber noch ist es zu früh, hier, mitten auf dem Flur. „Komm“, sagt er schließlich sanft, fast beruhigend. „Wir haben heute noch viel vor.“

Ich nicke, gehe mit ihm weiter, meine Schulter berührt seine, und diesmal halte ich den Kontakt bewusst. Ich will ihn nicht wieder verlieren, nicht mal für einen kurzen Moment. Und während wir durch die Gänge laufen, bleibt ein Gedanke in meinem Kopf hängen:

Vielleicht muss ich ihm beim nächsten Mal einfach sagen, dass er nicht gehen soll. Dass ich seine Nähe brauche – nicht irgendwann, sondern jetzt. Denn egal, wie unsicher ich bin, eines weiß ich sicher: Ohne ihn fühlt sich all das hier viel zu groß an.

Zwischen Anspannung und Loslassen

Leo und ich laufen durch die vertrauten Gänge zur Trainingshalle. Meine Schritte fühlen sich leichter an als vorher, als hätte Claras ruhige Stimme ein Stück der Schwere aus meinem Kopf genommen. Trotzdem spüre ich eine gewisse Anspannung – ich weiß, dass Kai heute den neuen Trainingsplan vorstellen will. Irgendwie fühlt sich das wichtig an, entscheidend, fast wie ein weiterer Schritt in eine Zukunft, die ich immer noch nicht ganz greifen kann.

Als wir die Halle betreten, sehe ich Erik bereits neben Kai stehen. Sein Blick ist konzentriert auf das Tablet in seiner Hand gerichtet, aber als er uns bemerkt, hebt er den Kopf und lächelt kurz. „Da seid ihr ja.“

„Alles klar mit den Werten?“, fragt Leo sofort, bevor ich selbst zu Wort kommen kann. In seiner Stimme liegt eine leichte Anspannung, kaum hörbar, aber ich kenne ihn inzwischen gut genug, um sie zu bemerken. Erik nickt, entspannt und beruhigend wie immer. „Ja, alles bestens. Justins Blutwerte sind top. Du hast dich gut erholt, Justin. Dein Körper ist wieder voll leistungsfähig.“ Erleichterung breitet sich in mir aus. Ich merke erst jetzt, wie angespannt ich selbst war, wie sehr ich insgeheim gefürchtet hatte, dass irgendetwas nicht stimmt. „Heißt das, ich kann wieder normal trainieren?“ Erik wirft einen kurzen, aber eindringlichen Blick zu Leo, bevor er antwortet. „Ja, kannst du. Aber ich möchte, dass du auf deine Ernährung achtest. Du musst genug Kalorien und Flüssigkeit zu dir nehmen – keine Ausnahmen. Dein Körper braucht eine konstante Zufuhr an Energie, besonders, wenn dein Training jetzt intensiver wird.“

„Okay“, murmle ich, irgendwie eingeschüchtert von seiner direkten Art. „Also keine Pizza mehr?“ Erik schmunzelt, seine Augen blitzen kurz amüsiert auf. „Natürlich kannst du mal Pizza essen. Aber nicht jeden Tag. Achte auf ein ausgewogenes Verhältnis von Kohlenhydraten, Proteinen und gesunden Fetten. Und denk daran, regelmäßig zu trinken. Mindestens zwei bis drei Liter Wasser pro Tag.“ Er richtet seinen Blick wieder auf Leo, dieses Mal etwas ernster. „Du bist ab jetzt dafür verantwortlich, dass er diese Vorgaben einhält. Justin vergisst das Trinken manchmal.“ Leo hebt die Hände, halb defensiv, halb spielerisch. „Verstanden. Ich passe auf ihn auf.“ Erik nickt zufrieden. „Sehr gut.“

Ich zögere, kratze mich leicht verlegen am Hinterkopf. „Was heißt das genau mit Ausnahmen? Was darf ich denn noch so? Ich will ja nicht nur wie ein Roboter leben.“ Eriks Miene wird wieder milder, verständnisvoller. „Natürlich nicht. Es geht darum, deinen Körper zu unterstützen, nicht darum, dir den Spaß zu nehmen. Dein Körper braucht Nährstoffe für Muskeln, Ausdauer und Konzentration. Wenn du dich nicht richtig ernährst, steigt dein Verletzungsrisiko, und du regenerierst langsamer.“ Ich nicke, verstehe langsam, worauf er hinaus will. „Okay, ergibt Sinn.“ „Gut.“ Er klopft mir kurz auf die Schulter, bevor er zu Kai schaut. „Dann überlasse ich euch jetzt dem Training. Viel Spaß, Jungs.“

Kai tritt näher, ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Na dann, lass uns loslegen, Justin.“ Ich folge ihm zum Trainingsbereich. Er zeigt mir die neuen Übungen, die Kombinationen aus Kraft- und Ausdauertraining, die ab jetzt meinen Alltag bestimmen werden. Während er redet, merke ich, wie meine Muskeln automatisch auf die Anweisungen reagieren, sich erinnern, wissen, was zu tun ist. Kai beobachtet mich genau, korrigiert hier und da meine Haltung, erklärt mir, warum jede Übung wichtig ist und wie sie sich auf meine Leistung auswirkt.

Irgendwann, mitten im Training, bemerke ich eine vertraute Gestalt etwas entfernt in der Halle. Finn. Die Kamera in seiner Hand ist unauffällig, fast unsichtbar. Sein Blick fokussiert, konzentriert auf mich, ohne mich aus dem Rhythmus zu bringen. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass er da ist. Genau das ist seine Kunst – Momente einfangen, ohne sie zu stören. Er fängt mich ein, wie ich wirklich bin, nicht gestellt, sondern authentisch. Ich schmunzle innerlich, fühle mich gleichzeitig eigenartig beobachtet und doch nicht. Finn hat es wirklich drauf. Kai bemerkt meinen Blick, grinst kurz. „Keine Sorge. Finn ist Profi. Mach einfach weiter wie bisher. Konzentrier dich nur auf dich.“

Ich nicke und richte meinen Blick wieder nach vorn, konzentriere mich auf meinen Körper, auf meine Atmung, auf das Gefühl meiner Muskeln, die sich anspannen und entspannen. Mein Puls hämmert, der Schweiß rinnt langsam meinen Rücken hinab, aber ich fühle mich gut, richtig gut. Leo steht am Rand, beobachtet aufmerksam, macht sich hin und wieder Notizen auf seinem Tablet. Ich spüre seinen Blick auf mir, warm und ruhig, fast beschützend. Mein Herz schlägt nicht nur wegen der Anstrengung schneller. Seine Nähe gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, von etwas, an das ich mich gerade erst gewöhne – etwas, das ich nicht mehr missen will.

Ich hole tief Luft, gehe über zur nächsten Übung, während Finn weiterhin unauffällig fotografiert. Ich fühle mich plötzlich erstaunlich sicher, in meiner Rolle, in meinem Körper, sogar in diesem Moment vor der Kamera.

Vielleicht, denke ich, während ich eine weitere Wiederholung mache, ist es genau das, worum es geht. Dass ich langsam lerne, genau dort zu sein, wo ich gerade bin – authentisch, verletzlich und echt. Genau hier und jetzt.

Kai zieht das Tempo deutlich an. Meine Muskeln brennen, aber ich heiße es willkommen. Mit jeder Wiederholung, mit jedem Zug, mit jedem Griff, der mich höher zieht, lasse ich mehr von mir selbst zurück. Die Anspannung der letzten Tage, die Fragen, das Chaos in meinem Kopf – alles löst sich mit jeder Bewegung ein kleines bisschen mehr auf, bis ich irgendwann nur noch das Spannen meiner Muskeln und den Rhythmus meines eigenen Atems spüre. „Noch fünf!“, ruft Kai. „Fokus, Justin!“ Ich atme tief durch. Noch fünf. Machbar. Nicht mehr denken, nur noch fühlen. Nur das Hier und Jetzt zählt. Genau das liebe ich am Klettern – es gibt keine Ablenkungen, kein Gestern, kein Morgen, nur die Bewegung meines Körpers, den perfekten Griff, den sicheren Halt, die Kontrolle. Als ich schließlich auf dem Boden lande, zittern meine Arme leicht, aber ich fühle mich großartig. Frei. Mein Herz schlägt wild, das Blut rauscht in meinen Ohren. Kai nickt anerkennend, reicht mir eine Trinkflasche und tippt auf meine Schulter. „Sehr gut. Jetzt auskühlen und dehnen. Dein Körper muss runterkommen.“

Ich setze mich auf die Matte, beginne mit den Dehnübungen, die Kai mir erklärt hat. Er setzt sich neben mich und zeigt mir noch einmal genau, wie ich jede Bewegung ausführen soll. „Das Dehnen danach ist genauso wichtig wie das Training selbst“, erklärt er. Seine Stimme ist ruhig, geduldig, fast väterlich. „Damit beugst du Muskelkater und Verletzungen vor, und du bleibst beweglich. Gerade beim Klettern kommt es nicht nur auf Kraft an, sondern auch auf Flexibilität.“ Ich nicke, spüre, wie die Spannung langsam aus meinen Muskeln weicht. „Und das macht mich besser?“ „Nicht nur besser. Du regenerierst schneller, kannst häufiger intensiv trainieren. Und vor allem vermeidest du Verletzungen.“ Er blickt mich ernst an. „Dein Körper ist dein Kapital, Justin. Wenn du ihm jetzt zeigst, dass du ihn ernst nimmst, wird er dich später nicht im Stich lassen.“

Ich atme tief ein, fühle mich gut bei dem Gedanken. Kontrolle über meinen Körper zu haben, über meine Grenzen, über meinen Fortschritt. Es fühlt sich gut an, zu wissen, was ich tue – und warum ich es tue. Als ich fertig bin, richtet Kai sich auf und nickt Richtung Dusche. „Ab unter die Dusche. Danach bist du fertig für heute.“ Leo steht am Rand und beobachtet uns. Er hält ein Tablet in der Hand, tippt etwas darauf herum, bevor er aufblickt. Sein Blick ist aufmerksam, analytisch, aber gleichzeitig warm. „Komm mit, ich zeig dir noch was.“

Ich folge ihm in die Umkleidekabine. Er öffnet eine Tür, zeigt auf einen großen Spind, an dem mein Name steht. Mein Herz klopft einen Moment schneller, als ich die Buchstaben sehe. Das ist meins. Ein eigenes Fach, hier bei VERTIX. „Du hast jetzt deinen eigenen Spind. Groß genug für deine ganzen Outfits aus der Kampagne.“ Leo grinst mich von der Seite an. „Hat Vorteile, ein Star zu sein.“ Ich verdrehe die Augen, schüttle grinsend den Kopf. „Danke, Manager. Noch irgendwelche Tipps?“ Leo hebt mahnend einen Finger. „Nicht vergessen zu trinken. Erik killt mich, wenn du wieder fast umkippst.“ „Passiert nicht nochmal. Versprochen.“ „Gut.“ Er deutet auf die Dusche. „Jetzt mach dich frisch, ich bring dir gleich was Neues zum Anziehen.“

Ich verschwinde in der Dusche, lasse das warme Wasser über meinen Körper laufen. Die Tropfen trommeln auf meine Haut, waschen Schweiß und Anspannung weg. Ich schließe die Augen, genieße das Gefühl, wie Wärme die letzten Verspannungen aus meinen Muskeln löst. Jetzt atme ich tief durch und fühle, wie das Wasser meine Gedanken klärt. Alles, was mich heute beschäftigt hat, wird fortgespült. Alles, außer Leo.

Ich frage mich, warum er mich heute bei Clara allein gelassen hat. War es wirklich nur, um mir Raum zu geben? Oder gibt es etwas, das er mir nicht sagt? Die Zweifel nagen an mir, während ich meinen Kopf unter den Wasserstrahl halte, die Augen schließe und versuche, das beklemmende Gefühl abzuschütteln. Ich vermisse ihn schon jetzt. Ich sehne mich nach seiner Nähe, seiner Stimme, dem sanften Druck seiner Hand, der mich erdet. Warum fühlt sich diese kurze Trennung plötzlich so schwer an? Ich seufze, schließe die Dusche, trockne mich ab. Gerade als ich mein Handtuch um meine Hüften wickle, klopft es an die Tür. „Justin? Bist du fertig?“ „Ja“, rufe ich zurück und er öffnet die Türe zur Umkleide. Leo reicht mir ein neues Set Kleidung. Sein Blick bleibt kurz auf meinem Oberkörper hängen, bevor er den Kopf hebt und mich schnell anlächelt. „Neue Kollektion. Extra bequem, genau dein Ding.“

Ich nehme die Sachen entgegen. Der Stoff fühlt sich weich und geschmeidig an, ganz anders als erwartet. Ich ziehe das Shirt über den Kopf, lasse den dünnen Stoff über meinen Körper gleiten. Es fühlt sich leicht an, fast als hätte ich nichts an. Bequem. Natürlich. Modern.

Ein Teil von mir fragt sich, ob Leo das ausgewählt hat – extra für mich.

Ich ziehe mich um und sehe ihn dort stehen. Sein Blick wandert über mich, anerkennend, warm, irgendwie stolz. „Gefällt’s dir?“ „Ja.“ Ich lächle leicht. „Sehr sogar.“ Leo sieht mich an, und sein Blick wird weicher, irgendwie verträumt, während er den Kopf leicht zur Seite neigt. Ein Lächeln liegt auf seinen Lippen, warm und gleichzeitig zurückhaltend. „Du siehst toll aus, Justin.“ Mein Herz schlägt plötzlich schneller, mein Puls rast, während ich versuche, seinen Blick zu deuten. „Meinst du?“, frage ich, unsicher lächelnd, und merke, wie meine Stimme leicht zittert. Leo tritt einen Schritt näher, dann noch einen. Langsam. Vorsichtig. Seine Augen halten mich fest, warm und fragend zugleich, fast so, als wollte er mir jede Möglichkeit lassen, mich zurückzuziehen. Etwas in seiner Haltung hat sich verändert – offen, aber gleichzeitig zurückhaltend, erwartungsvoll, als würde er darauf warten, dass ich ihm zeige, ob ich das hier wirklich will.

Mein Herzschlag wird immer lauter, pocht in meinen Ohren, während ich automatisch einen Schritt zurückweiche. Nur einen kleinen Schritt, und mein Rücken trifft sanft auf die Wand hinter mir. Leo folgt mir langsam, hebt eine Hand und stützt sie neben meinem Kopf an der Wand ab. Sein Gesicht ist mir jetzt ganz nah, so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren kann. Warm, weich, mit einem Hauch von Minze. Alles in mir zieht sich zusammen, meine Finger kribbeln, und ich weiß kaum, wie ich atmen soll.

Mein Kopfkino läuft auf Hochtouren, während unsere Blicke ineinander versinken. Ich kann jede kleine Veränderung in seinen Augen sehen, jede Unsicherheit, jede Hoffnung. Er ist hier, direkt vor mir, so verletzlich wie ich selbst. Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Ist das echt? Ist das wirklich Leo, der mich ansieht, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als diesen einen Moment?

„Justin“, murmelt er leise. In seiner Stimme liegt eine Sanftheit, die mich zutiefst berührt. „Ich wollte das schon so lange tun.“ Seine Lippen sind nur Zentimeter von meinen entfernt, so nah, dass ich fast ihre Wärme spüren kann, aber er hält inne, zögert. Wartet. Gibt mir Raum, die letzte Entscheidung selbst zu treffen. In diesem Moment weiß ich, dass ich nicht länger warten kann – nicht länger warten will. Ich schließe langsam die letzte kleine Distanz zwischen uns, hebe den Kopf und drücke meine Lippen auf seine.

Die Welt hört auf, sich zu drehen. Es ist wie ein elektrischer Strom, der durch meinen ganzen Körper fließt. Meine Lippen fühlen sich heiß an, als sie seine berühren. Der Kuss ist zuerst zaghaft, fast scheu, aber dann spüre ich, wie Leo leicht gegen meinen Mund lächelt, als würde er sich endlich entspannen, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihm zeige, dass es okay ist. Sein Mund öffnet sich ein wenig, die Berührung wird weicher, tiefer, und plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich aufhöre und er anfängt. Alles um uns herum verschwimmt. Ich schmecke ihn, warm, süß und ein bisschen nach dem Tee, den er immer trinkt. Meine Hände wandern wie von selbst zu seinem Shirt, greifen sanft nach dem weichen Stoff, halten ihn fest, ziehen ihn noch näher. Seine Finger gleiten vorsichtig an meinen Hals, legen sich sanft in meinen Nacken, lösen eine Gänsehaut auf meiner Haut aus. Ich höre meinen eigenen Atem, laut und schnell, während mein Herz gegen meinen Brustkorb hämmert. Mein ganzer Körper ist angespannt und entspannt zugleich, ein Gefühl, das ich so noch nie erlebt habe. Dieser Moment – unser Moment – fühlt sich perfekt an, überwältigend und vertraut gleichzeitig. Als wäre es genau das, worauf ich die ganze Zeit gewartet habe. Leos Lippen bewegen sich langsam gegen meine, warm und weich, und ich fühle, wie mein Herz überläuft. In diesem Augenblick fühle ich mich gesehen, gewollt, geliebt. Es ist nicht nur ein Kuss. Es ist die Bestätigung, dass alles, was ich fühle, real ist, dass ich mich nicht geirrt habe, dass ich ihn nicht falsch verstanden habe. Dass Leo genau so fühlt wie ich.

Nach einer Ewigkeit, die mir gleichzeitig viel zu kurz vorkommt, lösen wir uns langsam voneinander, bleiben aber ganz nah beieinander stehen, Stirn an Stirn. Mein Atem geht flach, mein ganzer Körper prickelt vor Adrenalin. Leo öffnet die Augen langsam und sieht mich an, als könnte er selbst kaum glauben, was gerade passiert ist.

„Wow“, flüstere ich kaum hörbar. „Ja“, sagt er leise, mit einem kleinen Lachen, das genauso atemlos klingt wie meins. „Endlich.“ Seine Arme legen sich sanft um mich, ziehen mich an sich, und ich vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter, halte ihn fest, als wollte ich diesen Moment für immer festhalten. Irgendwann spüre ich, wie Leo sich sanft löst, seine Hand langsam meine Wange streift. „Wir sollten los“, sagt er leise. „Du musst noch zur Physio.“

Ich nicke langsam, atme tief aus, fühle mich leicht und schwer zugleich. Noch einmal sehe ich ihn an, lächle zögerlich, bevor wir uns voneinander trennen. Doch in diesem Moment weiß ich, dass nichts mehr sein wird wie vorher. Denn jetzt gehört Leo nicht mehr nur in meine Gedanken – sondern endlich auch zu meiner Wirklichkeit.


Ich schwebe eher durch die Gänge, als dass ich gehe. Meine Füße fühlen sich leicht an, fast so, als würde ich jeden Moment abheben. Der Geschmack von Leos Lippen hängt noch immer auf meinen, warm und süß. Meine Finger zittern noch ganz leicht, und ich atme tief durch, versuche, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen.

Leo läuft direkt neben mir. Unsere Schultern streifen sich immer wieder kurz, eine sanfte Erinnerung an den Moment, den wir gerade geteilt haben. Er sieht mich an, schmunzelt leicht, und mein Magen zieht sich erneut warm zusammen. „Was?“, frage ich leise, fast flüsternd. „Nichts“, antwortet er, doch seine Augen verraten ihn. Sie funkeln zufrieden, glücklich, vielleicht sogar ein bisschen erleichtert. „Du lächelst nur die ganze Zeit.“ „Ach echt?“ Ich fahre mir verlegen durchs Haar. „Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Leo lacht leise, warm. „Steht dir.“ Ich senke verlegen den Blick, versuche, mich zu konzentrieren, aber mein Kopf ist immer noch bei dem Kuss, bei dem Gefühl seiner Lippen, bei der Art, wie seine Hand sich sanft in meinen Nacken gelegt hat. Alles fühlt sich so frisch an, so unglaublich real, und gleichzeitig irgendwie surreal.

Als wir die Tür zu Sophias Behandlungsraum erreichen, öffnet Leo sie für mich und lässt mich vor. Sophia erwartet mich bereits, ihre Haltung entspannt, ihr Lächeln wie immer herzlich und einladend. „Hey, Justin. Bereit für die Massage?“ Ich nicke langsam. „Mehr als bereit.“

Leo setzt sich auf einen Stuhl direkt neben der Behandlungsliege, sein Tablet auf dem Schoß. Unsere Blicke treffen sich noch einmal kurz, und mir wird bewusst, dass er mich die ganze Zeit beobachten wird. Mein Herz klopft erneut schneller, und ich spüre, wie meine Wangen leicht warm werden. Ich ziehe mein Shirt aus, lege mich vorsichtig auf die Liege und vergrabe mein Gesicht in der Öffnung der Kopfstütze. Sophias Hände beginnen sanft, aber bestimmt, meine Schultern zu massieren. Die Massage fühlt sich unglaublich gut an. Ihre Finger lösen jeden einzelnen verspannten Muskel, arbeiten sich langsam an meinem Rücken entlang. Ich spüre, wie meine Gedanken zu wandern beginnen, erst ziellos, dann immer klarer – zurück zu Leo. Zu dem Moment eben, an der Wand, wo alles plötzlich so leicht war, so klar, so einfach. Wo ich nicht denken musste, sondern einfach fühlen durfte. Ich spüre immer noch das Kribbeln in meinem Bauch, während Sophias Hände die Verspannungen lösen. Leo ist ganz nah, ich höre seinen ruhigen Atem, spüre fast seinen Blick auf meinem Rücken. Ich frage mich, was er gerade denkt. Ob er auch an den Kuss denkt, an den Moment, an alles, was wir gesagt und nicht gesagt haben. Meine Gedanken werden träger, beginnen sich aufzulösen, und langsam gleite ich in einen sanften Zustand zwischen Wachsein und Träumen. Ich sehe Leo vor mir, spüre wieder seine Lippen auf meinen, höre seinen ruhigen Atem, fühle seinen Körper, der meinen berührt. In diesem Moment gibt es nichts anderes. Kein Training, keine Kampagne, keine Unsicherheit. Nur Leo und ich. „Justin?“, dringt Sophias sanfte Stimme in mein Bewusstsein. „Nicht ganz einschlafen.“ Ich blinzele, seufze leicht, komme langsam zurück in den Moment. „Sorry. War gerade woanders.“ Sophia schmunzelt. „Habe ich gemerkt.“ Ich drehe leicht den Kopf zur Seite, sehe zu Leo hinüber. Er blickt von seinem Tablet auf, lächelt mich sanft an, und in seinem Blick liegt so viel Wärme, dass mein Herz einen kurzen Sprung macht. „So“, sagt Sophia schließlich und beendet die Massage mit einem letzten sanften Druck ihrer Hände. „Du bist fertig für heute.“

„Danke“, murmle ich, richte mich langsam auf und ziehe mir das Shirt über. Mein Körper fühlt sich locker und warm an, entspannt wie lange nicht mehr. Aber noch viel mehr als die Massage hat der Gedanke an Leo in mir ausgelöst – ein Gefühl von Glück, Sicherheit, und ein bisschen überwältigender Aufregung.

Leo steht auf, tritt neben mich. „Und? Wieder fit?“ Ich nicke, ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. „So gut wie schon lange nicht mehr.“ Seine Augen funkeln leicht. „Freut mich.“ Für einen Moment sehen wir uns nur an, bis Leo sich schließlich räuspert. „Wir sollten jetzt zu Finn. Er will mit uns noch kurz die Ergebnisse von heute durchsprechen.“

Ich nicke langsam, stehe auf und folge Leo hinaus. Während wir nebeneinander durch die Gänge laufen, wünsche ich mir erneut, einfach seine Hand zu nehmen. Bald, sage ich mir, bald werde ich mich auch das trauen. Denn jetzt weiß ich sicher, dass ich mit meinen Gefühlen nicht alleine bin.

Bilder, die mehr zeigen

Finn sitzt entspannt an seinem Laptop, begrüßt uns mit einem kurzen Nicken, bevor er auf den Bildschirm deutet. „Setzt euch. Ich will euch kurz zeigen, was heute rausgekommen ist.“

Ich lasse mich auf den freien Stuhl neben Leo sinken, lehne mich leicht nach vorne, gespannt, aber auch ein bisschen nervös, was ich gleich sehen werde. Ich habe nicht einmal wirklich bemerkt, wann Finn fotografiert hat. Genau das ist seine Stärke – unsichtbar zu sein, Momente einzufangen, die niemand sonst bemerkt.

Die ersten Bilder erscheinen auf dem Bildschirm, und ich spüre, wie mein Herz etwas schneller schlägt. Es fühlt sich immer noch seltsam an, mich selbst so deutlich zu sehen, jedes Detail meines Körpers so präsent. Aber gleichzeitig faszinieren mich die Fotos sofort. Auf einem Bild bin ich mitten in einer Klimmzugbewegung eingefangen. Meine Arme sind angespannt, klar definiert, die Muskeln zeichnen sich deutlich ab. Die Adern auf meinem Unterarm treten hervor, verschwinden dann in meinen angespannten Fingern, die sich um die Metallstange krallen, so fest, als ginge es um alles. Mein Gesichtsausdruck ist konzentriert, fast angespannt, aber nicht gestresst. Eher entschlossen. Es sieht aus, als wäre ich komplett in meiner eigenen Welt – nichts zählt, außer dieser eine Moment, diese eine Bewegung.

Auf einem anderen Bild stehe ich am Ende einer Ausdauereinheit, die Brust hebt und senkt sich sichtbar unter dem dünnen Shirtstoff, der sich an meinen verschwitzten Oberkörper schmiegt. Die Linien meiner Schulter und meines Halses wirken lang, elegant, aber gleichzeitig kraftvoll. Mein Blick geht in die Ferne, irgendwohin, weit weg von der Kamera. Es ist seltsam, wie viel Ausdruck in diesem einen Moment liegt – die Anstrengung, die Befreiung, und gleichzeitig etwas Zerbrechliches, Echtes, das ich nicht bewusst gezeigt habe, sondern das Finn einfach gefunden hat.

Leo lehnt sich neben mir etwas vor, betrachtet die Fotos mit einer Mischung aus Stolz und Bewunderung. „Krass, wie viel die Bilder erzählen. Da sieht man genau, wie sehr du es ernst meinst.“

Ich nicke langsam, irgendwie verlegen, aber auch stolz. „Ich wusste gar nicht, dass ich dabei so aussehe.“

Finn grinst. „Genau darum geht’s ja. Keine Posen, keine gestellten Szenen. Du bist echt, Justin. Das spüren die Leute. Genau deswegen funktionierst du perfekt für die Kampagne.“

Leo wirft mir einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten kann, aber der warm ist, vertraut. Ich spüre ihn tief in mir drin. Ein Gefühl, an das ich mich sehr schnell gewöhnen könnte.

Finn klickt weiter durch die Bilder, erzählt mir zwischendurch noch kurz, was er sich dabei gedacht hat, welche Bilder er besonders gut findet, warum sie zur Kampagne passen. Es geht immer wieder um Echtheit, um Kraft und zugleich Verletzlichkeit – genau das, was VERTIX ausdrücken will.

Irgendwann schließt er den Laptop und sieht mich ernst an. „Jetzt kommt die nächste Phase der Kampagne, Justin. In der Nacht zu Montag gehen die Interviews und Kurzclips online, mit dir und den anderen Athleten aus den ersten Shootings.“

Ich schlucke leicht. Interviews, Öffentlichkeit. Ich hatte die letzten Tage fast vergessen, wie groß das hier eigentlich werden könnte.

Finn bemerkt meine Anspannung und lächelt beruhigend. „Mach dir keine Sorgen. Wir sind vorbereitet. Aber es könnte sein, dass es erstmal einen ziemlichen Hype gibt. VERTIX hat Reichweite, und du wirst sichtbar sein. Wahrscheinlich bekommst du bald viel mehr Aufmerksamkeit, als dir gerade bewusst ist.“

Leo berührt kurz sanft meinen Arm, beruhigend, aber gleichzeitig so leicht, dass es kaum merklich ist. „Wir sind ja da. Du schaffst das.“

Ich nicke langsam, fühle mich trotz allem ein bisschen überfordert. Aber wenn Leo bei mir ist, fühlt sich sogar diese Herausforderung irgendwie machbar an.

Wir verabschieden uns von Finn und laufen schweigend durch die Flure, bis wir an der Tür ankommen, durch die ich nach draußen gehe. Leo bleibt stehen, lehnt sich leicht gegen den Türrahmen. Sein Blick ist warm, vielleicht sogar ein bisschen nervös, und ich fühle, wie mein Herz schneller schlägt.

„War ein intensiver Tag“, sagt er schließlich leise. Sein Blick hält meinen, viel zu lang, viel zu intensiv.

„Sehr intensiv“, stimme ich zu. Ich spüre den Drang, näher zu kommen, ihn wieder zu berühren, aber ich halte mich noch zurück. „Aber irgendwie gut. Vor allem…“ Ich stocke kurz, atme tief ein, wage mich einen Schritt weiter. „Vor allem wegen dir.“

Leo lächelt verlegen, fast so, als würde ich ihn überraschen. „Geht mir genauso.“

Wir schweigen kurz, während der Moment zwischen uns länger wird. Dann richtet Leo sich etwas auf, seine Stimme ist leise, fast vorsichtig. „Sehen wir uns am Wochenende?“

Mein Herz setzt kurz aus. Er fragt mich. Er will mich sehen. Freiwillig. Ohne Termine, ohne Verpflichtungen. Ein kurzer Schauer huscht über mein Gesicht, als ich plötzlich realisiere, welcher Tag morgen ist. Der sechsjährige Todestag meiner Eltern. Bobby und ich hatten längst geplant, etwas gemeinsam zu unternehmen. Leo weiß davon nichts. Ich habe ihm bisher nichts erzählt, vielleicht auch, weil ich selbst nicht genau weiß, wie ich darüber reden soll. Ich senke kurz den Blick, schlucke schwer. „Morgen geht nicht. Bobby und ich haben schon was vor. Ich hab ihn die ganze Woche kaum gesehen und wir…“. Ich breche ab, lasse den Satz unvollendet hängen.

Leo mustert mich aufmerksam. Er spürt, dass da etwas ist, fragt aber nicht nach. Stattdessen lächelt er sanft, verständnisvoll. „Okay. Sonntag vielleicht? Du könntest zu mir kommen.“

Ich hebe den Blick wieder, fühle eine warme Erleichterung, dass er nicht nachfragt, dass er versteht, ohne alles wissen zu müssen. „Sonntag klingt gut. Sehr gut sogar.“

Leo nickt langsam, sein Blick wird wieder intensiver, ernster. Ich sehe, wie er mit sich ringt, einen Schritt näher kommt, dann wieder zögert. Mein Herz hämmert lauter, mein Atem geht flacher. Und plötzlich ist die Distanz weg. Er ist direkt vor mir, so nah, dass ich die Wärme seines Körpers spüren kann. Seine Hand legt sich vorsichtig auf meinen Nacken, seine Finger streichen über meine Haut, kaum merklich, aber es reicht, um mich innerlich erbeben zu lassen. „Justin“, murmelt er leise. Ein einziges Wort, aber es bedeutet alles. Und dann küsst er mich. Intensiv, anders als beim letzten Mal, tief und echt. Meine Lippen öffnen sich fast von selbst, ich spüre ihn überall, wie seine Wärme sich auf mich überträgt, wie seine Lippen weich und fordernd zugleich auf meinen liegen. Ich verliere jede Orientierung, schlinge instinktiv meine Arme um ihn, ziehe ihn näher zu mir. Alles in meinem Körper schreit danach, diesen Moment festzuhalten, ihn nicht loszulassen, niemals mehr.

Meine Sinne scheinen sich auszudehnen. Ich fühle jede Berührung, jedes Zucken seiner Finger auf meiner Haut, jeden Herzschlag, der in uns beiden tobt. Leos Hand wandert tiefer, sanft über meine Schulterblätter, hält mich sicher, hält mich fest. Ich spüre, wie die Realität langsam verschwimmt, bis nur noch dieser Kuss existiert.

Irgendwann trennen wir uns, atmen beide schwer, Stirn an Stirn, Lippen immer noch nah genug, dass sie sich fast berühren. Leo lächelt, kaum sichtbar, ein kleines, ehrliches Lächeln. „Bis Sonntag“, flüstert er, die Worte kaum mehr als ein Hauch auf meinen Lippen.

„Bis Sonntag“, erwidere ich leise, atemlos. Als ich nach draußen gehe, fühle ich mich, als würde ich schweben. Meine Beine sind weich, mein Herz leicht, die Welt irgendwie heller. Verträumt mache ich mich auf den Heimweg, während mein Kopf nur einen einzigen Gedanken kennt: Sonntag. Ich kann kaum warten.

Zuhause zwischen Glück und Erinnerung

Die Wohnung empfängt mich still und vertraut, mit einem Duft nach frischem Gemüse, Kräutern und irgendetwas Gebratenem. Sanfte Musik dringt leise aus der Küche und vermischt sich mit dem leichten Klirren von Geschirr. Ich lasse die Tasche achtlos neben der Garderobe fallen, ziehe meine Schuhe aus und atme tief durch. Mein ganzer Körper fühlt sich seltsam leicht an, fast als würde ich schweben, getragen von diesem unglaublichen Gefühl, das Leo in mir hinterlassen hat.

„Bobby?“, rufe ich, während ich zur Küche gehe. „Hier drüben“, kommt seine Stimme, locker und gut gelaunt. Er lehnt lässig am Küchentresen, schneidet gerade mit geübten Fingern eine letzte Karotte in dünne Scheiben und wirft sie schwungvoll in die große, bunte Salatschüssel. Als er aufsieht, stutzt er kurz und hebt langsam eine Augenbraue. Ein breites, wissendes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.

„Na? Du strahlst ja wie nach einem Lottogewinn“, meint er amüsiert und mustert mich eindringlich. „Was ist passiert?“

Ich fühle sofort, wie mir Hitze in die Wangen schießt. Schnell drehe ich mich weg, um eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank zu holen. „Gar nichts“, murmle ich halbherzig, aber mein verräterisches Grinsen spricht eindeutig dagegen.

Bobby lacht auf, laut und warm. „Ja klar, gar nichts. Komm schon, Justin. Dich kenne ich doch. Du siehst aus, als wärst du von einem Einhorn geküsst worden oder sowas.“

Ich verschlucke mich fast am Wasser, huste leicht und werfe ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du bist echt schlimm, weißt du das?“

„Weiß ich.“ Er schiebt mir einen Teller hin und zwinkert. „Jetzt erzähl schon. Wie war’s heute mit Leo?“

Ich setze mich langsam an den Tisch, spiele mit der Gabel herum und fühle, wie das Lächeln auf meinem Gesicht immer breiter wird, egal wie sehr ich versuche, es zurückzuhalten. Bobby setzt sich gegenüber, sieht mich geduldig, aber auch neugierig an. Seine Augen funkeln vor Erwartung.

„Es war… richtig gut“, gebe ich schließlich zu. Meine Stimme klingt weicher, verletzlicher als gewollt, und ich spüre das vertraute Kribbeln in meinem Magen, wenn ich nur an Leo denke. „Also, der ganze Tag halt. Training, Fotos… alles.“

„Und?“ Bobby lehnt sich vor, seine Stimme eine Mischung aus Spott und echter Freude. „Ist das alles? Oder verschweigst du mir was?“

Ich halte seinem Blick einen Moment stand, bevor ich grinsend den Kopf senke und leise sage: „Wir haben uns geküsst.“

Einen Moment lang herrscht Stille. Dann pfeift Bobby anerkennend durch die Zähne und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. „Na endlich! Wurde ja auch Zeit.“

Ich sehe ihn mit großen Augen an. „Du wusstest, dass das passieren würde?“

Er grinst zufrieden. „Na ja, man hätte blind sein müssen, um es nicht zu merken. So, jetzt erzähl, wie war's?“

Ich fahre mir nervös durch die Haare, suche nach den richtigen Worten. Das Gefühl ist noch so frisch, so nah, als wäre Leo immer noch bei mir. „Es war… unglaublich“, murmele ich schließlich. „Ganz anders als beim ersten Mal.“

„Moment!“ Bobby hebt die Hände, Augen weit aufgerissen. „Es gab schon ein erstes Mal und du hast mir nichts gesagt?“

„Das war nur so ganz kurz letzte Woche, fast zufällig, nur ein Hauch“, sage ich schnell, spüre, wie mir schon wieder Hitze ins Gesicht steigt. „Aber heute…, heute war’s irgendwie anders.“

„Anders wie?“ Er lehnt sich erwartungsvoll vor, das breite Grinsen unverändert in seinem Gesicht.

Ich atme tief durch, fühle, wie sich ein warmes Kribbeln in meiner Brust ausbreitet, während ich an den Moment zurückdenke. „Es war langsamer, intensiver. So richtig bewusst, weißt du? Wir standen da und… erst war da nur Nähe. Ich wollte unbedingt, aber ich hatte Angst, dass er zurückzieht. Aber er hat gewartet, und ich wusste, dass ich den Schritt machen muss. Und dann hab ich ihn einfach geküsst.“

Bobby lauscht aufmerksam, sein Ausdruck wird weicher, ernsthafter. „Und? Wie hat’s sich angefühlt?“

Ich schlucke, atme langsam aus, fühle das Herzklopfen wieder ganz deutlich. „Richtig. Perfekt irgendwie. Als hätte ich genau auf diesen Moment gewartet. Alles war plötzlich still. Nur wir zwei. Und ich… ich wollte, dass es nie mehr aufhört.“ Ich merke erst jetzt, wie sehr ich strahle, wie mein Gesicht regelrecht glüht bei den Worten.

Bobby mustert mich sanft, fast ein bisschen stolz, und schmunzelt dann leise. „Wow. Du bist echt verknallt.“

„Bin ich.“ Ich nicke langsam und fühle eine Welle aus Glück und Verlegenheit, die mich gleichzeitig überschwemmt. „Total.“

Bobby lehnt sich zurück, betrachtet mich einen Moment liebevoll und legt schließlich eine Hand auf meine Schulter. Der Griff ist warm, tröstend, voller Brüderlichkeit. „Weißt du was? Ich freu mich für dich, Justin. Wirklich. Du hast das verdient. Jeden Moment davon.“

Seine Worte treffen mich tief, ich fühle mich plötzlich ganz weich und verletzlich, aber auch unglaublich sicher. „Danke, Bobby. Ich weiß echt nicht, was ich ohne dich machen würde.“

„Na, wahrscheinlich würdest du Leo immer noch verschämt aus der Ferne anstarren und niemals was riskieren“, erwidert er augenzwinkernd, bevor er wieder ernster wird. „Ich bin stolz auf dich, Kleiner. Echt.“

Er lächelt, legt mir kurz eine Hand auf die Schulter, drückt sie fest, fast schon beschützend. Dann deutet er auf den Tisch. „Komm, iss weiter, wird sonst ganz kalt.“

Wir sitzen uns gegenüber, das Essen schmeckt gut, frisch und leicht – genau das, was Erik wahrscheinlich unter einer gesunden Ernährung versteht. Bobby erzählt mir von seinem Tag, ich erzähle ihm von meinem Arztbesuch, von meinem Training, von der Massage, von den Fotos. Alles außer der Einladung für Sonntag. Die behalte ich noch ein bisschen für mich.

Doch natürlich merkt er, dass ich etwas auslasse. Er kennt mich zu gut, um es nicht zu bemerken.

„Justin?“, sagt er irgendwann leise, während er sein Besteck zur Seite legt. „Ich weiß, morgen ist ein schwieriger Tag für uns Beide. Aber weißt du was? Ich glaube, Mama und Papa wären glücklich, wenn sie dich heute sehen könnten.“

Meine Kehle wird plötzlich eng, ich schlucke hart. Der morgige Tag wirft seinen Schatten voraus, aber Bobbys Worte wirken trotzdem warm und tröstlich. „Meinst du?“

Er nickt, sein Blick ruhig und liebevoll. „Ganz sicher sogar. Du machst das so gut. Du wächst über dich hinaus, und jetzt hast du sogar jemanden, der dich dabei begleitet.“

Ich lächle schwach, nicke langsam. „Leo ist… besonders.“

Bobby grinst schief. „Ich weiß. Sieht man dir kilometerweit an.“

Ich werfe ein Salatblatt in seine Richtung, aber er lacht nur, weicht geschickt aus und zeigt auf mich. „Aha! Ertappt! Total verliebt.“

„Hör auf!“ Ich lache jetzt auch, fühle mich leicht und glücklich, obwohl morgen schwer werden wird. Doch hier und jetzt, mit Bobby, ist die Welt irgendwie okay. „Ich geh ins Bett. Morgen wird lang.“

„Mach das“, sagt Bobby leise. „Gute Nacht, Justin.“

Später, in meinem Bett liegend, greife ich sofort nach meinem Handy. Mein Herz macht einen Satz, als ich sehe, dass Leo mir bereits geschrieben hat.

Leo: „Bin gerade zuhause angekommen. Kann nicht aufhören, an dich zu denken.“

Ich fühle, wie sich das Kribbeln wieder über meinen ganzen Körper ausbreitet, tippe lächelnd zurück.

Ich: „Geht mir genauso. Bobby hat mich übrigens gerade ausgequetscht. Jetzt weiß er, dass wir uns geküsst haben.“

Wieder erscheinen die drei Punkte sofort.

Leo: „Und, bist du jetzt offiziell durchschaut?“

Ich grinse breit.

Ich: „Total. Kann mein Grinsen kaum noch verstecken.“

Leo: „Gut. Ich auch nicht.“

Ein warmer Schauer läuft mir über den Rücken, mein Herz schlägt schneller.

Ich: „Ich kann Sonntag kaum erwarten.“

Leo: „Ich auch nicht. Schlaf gut, Justin. Träum was Schönes.“

Ich lege mein Handy beiseite und ziehe die Decke bis zum Kinn hoch. Mein ganzer Körper fühlt sich schwerelos an, eingehüllt in dieses wunderbare Gefühl, das Leo in mir auslöst. Seine Lippen auf meinen, seine Nähe, die Art, wie er mich angesehen hat, all das erfüllt mich mit einer nie gekannten Wärme.

Ich schließe die Augen und lasse mich treiben, hinein in einen Traum, in dem es nur uns beide gibt.

Heute ist alles gut. Morgen kann warten.

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