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Höhen und Herzen
Zwischen Kletterwand, Kamera und der Suche nach sich selbst
Teil 10 - Ein Tag voller Entscheidungen
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Informationen
- Story: Höhen und Herzen
- Autor: TrioXander
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Abenteuer, Diverses
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Zwischen Verantwortung und Gedanken an ihn
- Frühstück – Entscheidungen, die größer sind als ich
- Zwischen Rampenlicht und Realität
- Schule zwischen Aufmerksamkeit und Zahlenchaos
- Der Mathe-Test: Chaos, Konzentration und mein mentaler Anker
- Schule ist vorbei – Endlich raus
- Der Weg zu ihm – Busfahrt voller Gedanken
- Ein neuer Look, ein neuer Moment mit ihm
- Zum Styling – Mehr als nur Haare schneiden
- Neue Realität, neue Rollen
- Die Agenda – und die Realität, die mich einholt
- Leo, der unsichtbare Profi
- Profi sein bedeutet alles – und nichts
- Überforderung, Halt und Worte finden
- Der Pressetermin – Worte finden, wenn man keine hat
- Das erste Mal sprechen
- Fallen, Gefangen werden, und das Unausweichliche
- Brüder, Blicke und unausgesprochene Wahrheiten
Vorwort
Ein Blick, der zu viel verrät
Zwischen Verantwortung und Gedanken an ihn
Ein Geräusch reißt mich aus dem Schlaf. Nicht mein Wecker. Eine Stimme: „Justin, wach auf.“
Ich blinzele. Stimmengewirr aus der Straße unter meinem Fenster. Das entfernte Hupen eines Autos, das Scheppern einer Mülltonne. Dämmerlicht schiebt sich durch den Spalt meiner Gardine, legt einen blassen Schimmer auf mein Kissen. Mein Herz schlägt dumpf in meiner Brust, träge und schwer. Mein Kopf ist noch in der warmen Schwere des Schlafs gefangen, während mein Bewusstsein langsam durch den Nebel bricht.
Jemand rüttelt sanft an meiner Schulter. „Hey, komm schon, Kleiner. Ich muss mit dir reden.“ Bobby. Seine Stimme ist weich, aber ich spüre den Unterton darin. Nicht das übliche morgendliche Necken, kein „Steh endlich auf, du Faulpelz“. Etwas anderes. Etwas, das mir nicht gefällt.
Ich brauche einen Moment, bis sein Gesicht klarer wird, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnen. Er steht neben meinem Bett, die Hände in die Taschen seiner Hose geschoben, als hätte er sich gerade erst entschieden, mich zu wecken.
Mein Blick wandert zur Seite, zum Nachttisch. Mein Handy liegt dort, direkt neben meinem Kissen, halb unter der Decke verborgen. Ich nehme es, entsperre den Bildschirm - und da ist es noch. Leos letzte Nachricht. Mein Herz zieht sich zusammen, eine seltsame Mischung aus Freude und Nervosität. Ich hatte vergessen, es gestern wegzulegen, bin irgendwann einfach eingeschlafen. Jetzt ist der Chat noch geöffnet, seine Worte das Erste, was ich an diesem Morgen sehe. Ich drehe mich langsam auf den Rücken, mein Kopf fühlt sich schwer an, mein Körper warm unter der Decke. Bobby weckt mich normalerweise nicht. Ich stelle meinen Wecker. Ich weiß genau, wann ich aufstehen muss. Warum jetzt?
„Ist alles okay?“ Meine Stimme ist noch rau vom Schlaf, meine Lippen trocken. Bobby mustert mich kurz, dann zuckt er mit den Schultern. Doch ich kenne ihn zu gut. Diese Art von Schulterzucken bedeutet nicht „alles okay“. Er setzt sich auf die Bettkante. „Wir sehen uns in letzter Zeit kaum“, sagt er schließlich. Seine Stimme ist ruhig, aber fest. „Und heute ist wieder ein wichtiger Tag für dich. Deshalb wollte ich dich früh genug wecken, damit wir kurz reden können.“
Mein Gehirn ist noch zu langsam, um alle Informationen zu verarbeiten. Ein wichtiger Tag. Shooting. Schule. Mathe-Test. Mein Magen zieht sich zusammen. Verdammt. Ich hatte ihn gestern Abend komplett vergessen. Ich hätte lernen sollen, aber stattdessen... Leo.
Mein Kopf war woanders gewesen, gefangen in Gedanken an ihn. In Erinnerungen an unsere Gespräche, an die Art, wie er mich ansieht, wenn ich nicht damit rechne. Und jetzt sitze ich hier, halbwach, mit Bobby neben mir, der mir sagt, dass er mit mir reden muss. Meine Finger umklammern unbewusst mein Handy. „Ist irgendwas passiert?“ Ich versuche, meine Stimme ruhig zu halten, aber Bobby kennt mich.
Er runzelt die Stirn. „Nein, nichts Schlimmes.“ Er lehnt sich mit den Ellenbogen auf seine Knie. „Aber du solltest dich fertig machen. Ich erklär dir den Rest beim Frühstück.“
Ich nicke langsam. Aber während Bobby aus meinem Zimmer geht, bleibt ein Unbehagen zurück. Warum klingt das nach einem ernsten Gespräch? Ist er mit irgendwas nicht einverstanden? Hat er Zweifel? Ich schiebe die Decke zur Seite. Mein Körper fühlt sich schwer an, als hätte die Nacht nicht gereicht, um all die Erschöpfung aus meinen Muskeln zu ziehen. Vielleicht liegt es daran, dass mein Kopf noch halb bei gestern ist. Bei den Worten, die Leo mir geschickt hat: Schlaf gut, Justin. Und träum was Schönes.
Ich weiß nicht, warum genau, aber als ich das gestern gelesen habe, war da dieses seltsame Gefühl in meiner Brust. Warm. Unruhig. Ein bisschen zu viel für das, was es eigentlich sein sollte. Und jetzt? Jetzt fühlt es sich noch immer an, als würde etwas in mir vibrieren. Leo, irgendwo in seinem Zimmer, sein Handy in der Hand, sein Gesicht im Licht des Displays, während er mir schreibt. Ich schüttle den Gedanken ab. Mein Herz schlägt schneller. Ich zwinge mich aufzustehen.
Das Licht im Badezimmer ist zu grell, als ich es anschalte. Ich blinzele, versuche, meine Haare in den Griff zu bekommen, während das Wasser über meine Hände läuft. Bobby will reden. Ich sehe ihn vor mir, seine Stirn in Falten gelegt, diese Art von ernstem Blick, den er nur aufsetzt, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht. Dann ziehe ich mir das Shirt über den Kopf, trete unter die Dusche. Das Wasser ist zuerst kalt, dann angenehm warm. Ich lasse es über meine Schultern laufen, lehne meinen Kopf gegen die kühle Fliese.
Es fühlt sich an, als wäre mein Leben in den letzten Wochen ein endloses Auf und Ab. Das Shooting. Die Kampagne. Die Schule. Und Leo. Immer wieder Leo. Ich spüre die Wärme in meiner Brust, wenn ich an ihn denke. Und gleichzeitig diese Unruhe. Ich will ihn sehen. Aber ich weiß nicht, was dann passiert.
Was, wenn Bobby etwas gegen all das hat? Ich weiß, dass er mich unterstützt. Aber was, wenn er denkt, dass das zu viel für mich wird? Dass ich mich zu sehr ablenken lasse? Das Wasser prasselt auf meine Haut, und für einen Moment schließe ich die Augen. Ich weiß nicht, was Bobby sagen wird. Ich weiß nur, dass mein Herz schneller schlägt, wenn ich an Leo denke. Und dass ich das nicht einfach abstellen kann.
Frühstück – Entscheidungen, die größer sind als ich
Die Küche riecht nach frisch gebrühtem Kaffee. Und - Haferflocken? Ich bleibe kurz in der Tür stehen und runzle die Stirn. Der Tisch sieht wieder anders aus als sonst. Kein Toast mit Nutella, keine Schale mit Cornflakes. Stattdessen steht dort eine große Schüssel mit Haferflocken, garniert mit geschnittenen Bananen und Chiasamen. Daneben eine Karaffe mit Wasser, Zitronenscheiben schwimmen darin. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe zu Bobby. „Das ist... gesund.“
Er grinst. „Eriks Ernährungstipps. Wir setzen das jetzt konsequent um, hast du vergessen?“ Er nimmt einen Löffel und rührt in seiner Schüssel herum. „Du hast in letzter Zeit echt viel durchgemacht, das hilft dir.“
Ich setze mich und sehe ihn skeptisch an. Bobby und „gesundes Frühstück“? Das ist immer noch neu. Aber ich kann ihm nicht widersprechen. Ich nehme einen Bissen. Es ist... okay. Kein Nutella-Brot, aber essbar.
Bobby lehnt sich auf seinen Unterarmen nach vorne. Seine lockere Haltung trügt, seine Augen mustern mich mit dieser ruhigen Intensität, die er hat, wenn er ernsthaft etwas von mir wissen will.
„Also.“ Er schiebt seine Schüssel leicht zur Seite. „Ich hab heute Morgen einen Anruf von Thomas bekommen.“ Ich höre auf zu kauen. „Okay?“ „Es gibt eine größere Sitzung mit dem Management. Irgendwas Wichtiges.“ Ein Ziehen in meinem Magen. Vielleicht war es nicht die Haferflockenschüssel. „Und?“ Bobby atmet langsam aus, als würde er abwägen, wie er es formulieren soll. „Ich kann nicht dabei sein.“ Mein Magen zieht sich fester zusammen. „Was?“ „Ich kann heute nicht freinehmen. Und du gehst nach der Schule sowieso direkt zu VERTIX. Also musst du das übernehmen.“
Ich starre ihn an. „Was?! Bobby, ich bin sechzehn.“ Er zuckt mit den Schultern. „Und? Denkst du wirklich, dass du das nicht schaffst?“ Ich schiebe meine Schüssel weg. Plötzlich habe ich keinen Appetit mehr. „Ich weiß nicht mal, worum es geht!“ „Ich auch nicht.“ Bobby lehnt sich zurück und sieht mich an. „Deshalb sollst du ja genau zuhören.“ Ich will protestieren, aber in meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken bereits. Das Shooting. Das Management. Irgendetwas Großes, das Thomas besprechen will. Und ich soll alleine da sitzen und mich verhalten, als hätte ich eine Ahnung, was ich tue?
Mein Blick gleitet zu meinem Handy. Leo. Vielleicht ist er da. Vielleicht hilft er mir, gibt mir die Stärke, die ich brauche. Vielleicht sieht er mich an, mit diesem Blick, der mich durcheinanderbringt. Ich schlucke. „Okay“, sage ich dann. „Ich mach’s.“ Bobbys Gesicht entspannt sich etwas, aber seine Augen bleiben prüfend. „Gut.“ Er trinkt einen Schluck Kaffee und lehnt sich zurück. „Und wie geht’s dir?“ Die Frage trifft mich unerwartet. „Wie?“ „Justin.“ Sein Ton ist ruhig, aber bestimmt. „Ich meine, wie geht’s dir wirklich?“ Ich will automatisch mit einem „Gut“ antworten. Aber irgendetwas in seiner Stimme hält mich zurück. Ich atme langsam aus: „Ich weiß nicht.“ „Was genau?“ Ich reibe mir über die Stirn. „Alles fühlt sich... groß an. Manchmal zu groß.“
Bobby nickt, als hätte er das erwartet. „Und Leo?“ Mein Körper spannt sich automatisch an. „Was ist mit ihm?“ „Ich sehe doch, dass du ständig an ihn denkst.“ Ich öffne den Mund, um zu widersprechen, aber es wäre sinnlos. Ich starre auf die Tischplatte. „Ich... weiß nicht, was das ist.“ Bobby sieht mich einen Moment lang an, dann nickt er. „Das ist okay.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Aber weißt du, was nicht okay ist?“ Bobby lehnt sich wieder nach vorne. „Dass du mir gestern nicht gesagt hast, dass du heute einen Mathe-Test hast.“
Oh. Fuck. Mein Kopf rattert. Ich hatte es vergessen. Komplett. Ich wollte lernen, hatte sogar mein Buch aufgeschlagen - doch dann kam die Nachricht von Leo, und irgendwie... war alles andere in den Hintergrund gerückt. Bobby verdreht die Augen, als er meinen Gesichtsausdruck sieht. „Ernsthaft, Justin?“ „Ich hatte... viel im Kopf.“
„Ja. Das sehe ich.“ Er nimmt einen weiteren Löffel von seinem Haferbrei. „Schaffst du den Test trotzdem, oder soll ich dich schon mal in ein Zeugenschutzprogramm stecken?“
Ich seufze. „Ich werde durchkommen. Hoffe ich.“
Bobby grinst. „Das ist der Spirit.“ Dann, mit einem Seitenblick: „Und hast du morgen an die J2-Untersuchung gedacht?“
Mein Kopf ist ein einziger schwarzer Fleck. „Was?“
„Justin.“ Bobby sieht mich an, als hätte ich gerade gesagt, dass Wasser trocken ist. „Morgen. Kinder- und Jugendarzt. Komplett-Check. Erinnerst du dich?“
Ich massiere meine Schläfen. „Irgendwas klingelt. Aber nein, nicht wirklich.“
„Genau deswegen haben wir dieses Gespräch.“ Er sieht mich prüfend an. „Hast du in letzter Zeit öfter was vergessen?“
„Vielleicht.“ Ich zucke die Schultern.
„Oder hast du einfach zu viel um die Ohren?“
Ich starre in meine Schüssel. „Ich weiß nicht.“
Bobby schweigt einen Moment. Dann greift er nach seinem Handy. „Ich fahre dich heute zur Schule.“ Ich sehe ihn misstrauisch an. „Warum?“ „Damit du nicht kneifst.“
Ich lache leise. „Danke für dein Vertrauen.“
Er grinst. „Und weil ich einfach mal wieder mit dir reden wollte.“
Ich nehme einen letzten Bissen, dann schiebe ich meine Schüssel zur Seite. Ein Blick auf die Uhr. Noch genug Zeit. Aber mein Kopf ist schon woanders. Ich frage mich, was mich heute erwartet.
Ich frage mich, ob Leo da sein wird. Und ich frage mich, was passiert, wenn er mich wieder ansieht.
Zwischen Rampenlicht und Realität
Die Luft im Auto ist kühl, als ich mich anschnalle. Bobby dreht den Schlüssel, der Motor summt leise auf, und die vertrauten Geräusche der Stadt mischen sich mit dem regelmäßigen Blinken des Fahrtrichtungsanzeigers.
Ich starre aus dem Fenster. Die Welt draußen zieht an mir vorbei - Fußgänger, die sich in dicken Jacken gegen den Morgenwind stemmen, ein Lieferwagen, der an der Ampel hält, ein Fahrradfahrer, der sich durch den Verkehr schlängelt. Alles wirkt normal. Als wäre nichts passiert.
Aber in mir drin? Da ist es alles andere als normal. Ich drehe meinen Kopf zu Bobby, meine Finger spielen mit dem Stoff meiner Jacke. „Gestern… war irgendwie krass.“
Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. „Krass wie gut oder krass wie beschissen?“
„Beides.“ Ich atme tief durch: „Ich… ich war nicht vorbereitet darauf, was das alles mit mir macht.“
Bobby schaltet in den nächsten Gang, fährt um eine Ecke. „Was genau meinst du?“
Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. „Dass mich plötzlich jeder kennt. Dass ich überall zu sehen war. Dass ich in die Schule komme und… alle reden über mich. Mich anschauen. Mich auf Instagram markieren. Dass Lehrer so tun, als hätten sie mich noch nie wahrgenommen, und dann plötzlich extra freundlich sind.“ Ich lache kurz, aber es klingt nicht echt.
Bobby sagt nichts, aber ich spüre, dass er mich beobachtet.
„Es war einfach zu viel“, murmele ich. „Mein Kopf war den ganzen Tag laut. Ich hatte das Gefühl, ich stehe unter einem Scheinwerfer und kann nirgendwo hin.“
Er gibt ein nachdenkliches Geräusch von sich, seine Finger klopfen leicht gegen das Lenkrad. „Und wie hast du’s überlebt?“
Ich kichere: „Leo.“ Das Wort ist einfach rausgerutscht. Und als es einmal draußen ist, bleibt es im Auto hängen. Ich merke, wie Bobby grinst, auch wenn er seinen Blick auf die Straße gerichtet hält.
„Leo, hm?“ Seine Stimme hat diesen leichten, neckenden Unterton, den ich eigentlich erwartet habe.
Ich lehne den Kopf gegen die Fensterscheibe. „Er hat mir geschrieben, als es mir zu viel wurde. Er meinte, ich soll nicht vergessen, dass ich das verdient habe.“
Bobby nickt langsam. „Klingt, als hätte der Typ einen guten Einfluss auf dich.“ Mein Herz klopft schneller. Ich weiß nicht, ob Bobby das nur so sagt oder ob er es wirklich meint. Ich starre auf meine Hände. „Ich hab trotzdem Angst. Heute. Wieder. Es ist… nicht weniger geworden. Ich hab Schiss, dass ich in die Schule gehe und mich alle wieder so anschauen. Dass ich mich nicht mehr normal fühlen kann.“
Bobby seufzt. „Justin, hör zu.“ Ich drehe meinen Kopf zu ihm. Er hält am Zebrastreifen an, schaut mich kurz an. „Es wird vielleicht eine Weile dauern, bis sich das wieder normal anfühlt. Aber irgendwann wird es das.“ Ich schlucke. „Und bis dahin… nimm das als Beweis, dass du was richtig machst.“ Ich runzle die Stirn. „Wie meinst du das?“
Bobby gibt mir diesen Blick, den nur große Brüder draufhaben. „Du bist nicht in den Mittelpunkt gerückt, weil du irgendwas Dummes gemacht hast. Oder weil du dich verstellen musstest. Die Leute sehen dich, weil du verdammt gut bist in dem, was du tust. Weil du ehrlich bist. Weil du Du bist.“
Ich sage nichts. Ich weiß, dass Bobby das wirklich so meint. Und trotzdem fühlt es sich unwirklich an.
„Und was ist, wenn ich’s verkacke?“ flüstere ich.
Er schaltet den Blinker, biegt in die Straße zur Schule ein. „Dann stehst du auf und machst weiter. Ganz einfach.“
Ich ziehe die Schultern hoch. „Einfach ist das nicht.“
„Vielleicht nicht.“ Bobby grinst. „Aber du hast schon ganz andere Dinge geschafft.“
Ich atme langsam aus. Die Schule taucht vor uns auf. Mein Magen zieht sich zusammen. „Und Mathe?“ frage ich noch schnell.
Bobby hält vor dem Schultor, lässt den Motor laufen. „Hör zu. Rechne alles zweimal durch. Atme, bevor du den Stift aufs Papier setzt. Und wenn’s nicht reicht?“ Er zuckt die Schultern. „Dann hast du eben eine schlechte Note. Du wirst es überleben.“ Ich grinse schief.
Bobby sieht mich noch einmal an, dann hebt er die Hand und wuschelt mir durch die Haare.
„Du packst das, Kleiner.“
Ich nicke langsam. Dann öffne ich die Tür. Ein tiefer Atemzug. Die kalte Morgenluft schlägt mir entgegen. Okay.
Schule zwischen Aufmerksamkeit und Zahlenchaos
Die Schule ist immer noch anders. Nicht mehr so krass wie gestern. Kein überwältigendes Flüstern in jeder Ecke, keine komplett überraschenden Reaktionen. Aber trotzdem - ich spüre es. Die Blicke. Das Getuschel. Und dann gibt es da noch diese andere Art von Aufmerksamkeit. Ich merke es, sobald ich den Flur entlanggehe. Ein leises Kichern hier. Ein verstohlener Blick da. Ein Mädchen aus der Parallelklasse, die mir plötzlich viel zu auffällig zulächelt, als ich an ihr vorbeigehe. Es irritiert mich. Ich war immer eher der Typ, der einfach da war und. Ich hatte meinen Freundeskreis, meine Leute aus dem Kletterteam, meine festen Routinen. Aber nie - wirklich nie - haben mich Mädchen so angeschaut. So lange. Und so… interessiert.
Ich halte kurz vor meinem Klassenzimmer an, ziehe die Schultern hoch und atme durch. Sie wissen es nicht. Natürlich nicht. Ich habe mich nie vor allen geoutet. Nur vor Bobby, meinen engsten Freunden, dem Kletterteam. Also denken sie jetzt wahrscheinlich, ich wäre plötzlich „der interessante Typ aus der Kampagne“.
„Hey, Starboy!“ Ich verdrehe die Augen, noch bevor ich mich umdrehe. Johannes grinst mich an, lehnt locker gegen die Wand. Maik steht neben ihm, verschränkt die Arme und nickt mir zu. „Wie war’s gestern noch? Hast du’s überlebt?“ fragt Johannes und stößt mich freundschaftlich mit der Faust gegen die Schulter.
„Gerade so.“ Ich grummele leise. „Ihr hättet mir ja mal vorher sagen können, dass sich das anfühlt, als würde man in einen Scheinwerfer geworfen werden.“
Maik lacht. „Digga, wir wussten es doch selbst nicht! Aber du hast’s gut gemacht.“
„Wenn du mit gut gemacht meinst, dass ich panisch von hier geflohen bin, dann ja.“
Johannes grinst. „Aber hey, heute ist’s schon weniger heftig, oder?“
Ich zucke die Schultern. „Ja. Nur diese neue… Aufmerksamkeit von manchen Leuten ist seltsam.“ Ich werfe einen bedeutungsvollen Blick über die Schulter, wo wieder ein paar Mädchen aus der Parallelklasse stehen und tuscheln.
Maik folgt meinem Blick und grinst amüsiert. „Tja, was dachtest du? Dass die das ignorieren?“
Ich seufze. „Sie wissen ja nicht…“
„Dass du auf Leo stehst?“ Johannes hebt eine Augenbraue.
Mein Gesicht wird heiß.
„Pssst!“ Ich stoße ihn an, aber er lacht nur.
„Bro, chill. Ist doch egal.“
„Leichter gesagt als getan.“
Die Schulglocke rettet mich vor weiteren Kommentaren. Wir trotten ins Klassenzimmer, wo bereits ein paar andere Schüler über den bevorstehenden Mathe-Test stöhnen. Die große Pause ist ein einziges Mischmasch aus Fragen über die Kampagne und panischen Diskussionen über Mathe.
„Ey Justin, wie lange hast du für die Aufnahmen gebraucht?“ fragt Tom, während er sein Brötchen aus der Cafeteria aufreißt. „Einen Tag“, sage ich, während ich an meiner Wasserflasche nippe. „Alter, das sah aus, als wär’s Wochen harte Arbeit gewesen!“
„Fühlt sich auch so an.“
„Und… bist du jetzt Influencer?“
Ich verdrehe die Augen. „Nein.“
„Aber du bist doch jetzt offiziell Model, oder nicht?“
„Eher Athlet mit Kamera vor der Nase.“
Ein paar Jungs lachen, das Thema wechselt zu anderen Dingen - genau in dem Moment, als Lina und ein paar andere Mädchen zu uns rüberkommen. „Also Justin…“ Lina lehnt sich mit einem übertriebenen Lächeln an die Tischkante. „Morgen frei für einen Kaffee?“
Ich versuche, nicht zusammenzuzucken. „Äh…“ Maik unterdrückt ein Lachen, während Johannes demonstrativ wegschaut.
„Tut mir leid“, sage ich höflich, „ich hab morgen eine Untersuchung.“
Lina blinzelt. „Oh. Alles okay?“
„J2-Untersuchung, nichts Wildes.“
Sie nickt, scheint aber nicht ganz sicher zu sein, ob sie mir glauben soll. Dann grinst sie wieder. „Dann vielleicht ein andermal?“
Ich bringe nur ein gequältes Lächeln zustande, bevor die Pause zum Glück vorbei ist.
Der Mathe-Test: Chaos, Konzentration und mein mentaler Anker
Das Papier vor mir ist weiß. Zu weiß. Die schwarze Schrift der Aufgaben wirkt fast grell dagegen, gestochen scharf, als wäre sie darauf aus, mich zu blenden. Die fettgedruckten Zahlen und Formeln wirken fremd, obwohl ich sie eigentlich verstehen sollte. Ich sitze in der dritten Reihe, genau zwischen Maik und Johannes. Vor mir Lina, die mit gerunzelter Stirn auf ihr Blatt starrt, als würde sie hoffen, dass sich die Antwort von selbst darauf materialisiert. Links neben mir kritzelt jemand mit einem Kugelschreiber – zu schnell, zu hektisch. Es ist dieses leise Krrk-krrk, das sich über den ganzen Raum zieht. Der Klassenraum ist stickig. Ein leichter Geruch von Tinte und Papier mischt sich mit dem Rest von Linas viel zu süßem Parfüm. Draußen, durch die großen Fenster, fällt das Morgenlicht herein – es wirft lange Schatten auf die Wände, als würde es sich selbst unsicher sein, ob es rein darf.
Irgendwo draußen auf dem Schulhof ruft jemand. Ein kurzer, schriller Pfiff, dann ein Lachen. Der Sound von Normalität. Ich versuche, mich daran festzuhalten. Mathe. Logik. Strukturen. Klare Regeln. Eigentlich sollte das helfen. Nach dem Chaos der letzten 24 Stunden sollte es beruhigend sein, einfach nur mit Zahlen zu arbeiten, anstatt mit Blicken, Kommentaren, Reaktionen. Aber mein Kopf ist zu laut.
Ich lese die erste Aufgabe. Dreisatz. Einfach. Aber mein Gehirn weigert sich, sich darauf einzulassen. Die Buchstaben vor mir verschwimmen für einen Moment, als hätte ich zu lange ins Licht gestarrt. Mein Bleistift liegt in meiner Hand, aber ich drücke ihn nicht fest genug. Er rutscht zwischen meinen Fingern hin und her, als wäre selbst er sich unsicher, was er hier tun soll. Ich blinzele. Konzentriere mich auf das Geräusch der Uhr, die an der Wand tickt. Ein dumpfes, gleichmäßiges Tock. Tock. Tock. Okay. Atmen. „Denk in Schritten.“
Die Worte von Clara tauchen in meinem Kopf auf, klar und ruhig, als würde sie direkt neben mir stehen.
„Fang klein an. Mach dir das große Bild nicht zu früh auf.“
Ich atme tief durch, setze den Stift an. Okay. Schritt für Schritt. Ich beginne mit den einfachsten Rechnungen. Einsetzen. Umstellen. Multiplizieren. Meine Finger fühlen sich sicherer, als der Stift über das Papier fährt. Das Geräusch – das sanfte Kratzen der Mine auf der rauen Oberfläche – beruhigt mich mehr, als es sollte. Ich merke, wie ich mich langsam fange.
Doch dann. Ich verliere den Fokus. Es passiert in Sekundenbruchteilen. Ich höre ein leises Kichern von hinten. Ich meine zu hören, dass mein Name fällt in einem Nebensatz, gefolgt von gedämpftem Lachen. Und ich weiß nicht, ob es um mich geht. Vielleicht nur Einbildung. Vielleicht nicht. Aber mein Kopf setzt sofort Bilder zusammen. Ich sehe mich gestern. Wie ich die Schule betrete, wie die Blicke auf mir liegen. Wie ich auf den Bildschirm in der Firma starre und mich selbst sehe, riesengroß, perfekt ausgeleuchtet, als wäre ich jemand anderes. Ich schlucke.
Leo. Plötzlich ist er da. Nicht in echt, aber in meinem Kopf. Ich stelle mir vor, wie er dastehen würde, mit dieser typischen Lässigkeit, die er hat, wenn er sich auf etwas konzentriert. Die Art, wie er seine Handprothese mit den Fingern der anderen Hand überstreicht, wie er mich ansieht, während er eine Nachricht tippt: „Du kannst das, Justin. Kein Stress. Ist nur ein blöder Test.“
Ich spüre, wie sich meine Brust etwas entspannt. Ein kurzer Blick nach rechts. Johannes’ Gesicht ist halb hinter seinem Arm verborgen, als würde er versuchen, sich selbst vor dem Test zu verstecken. Maik tippt mit seinem Stift nachdenklich auf sein Kinn, seine Augenbrauen zu einem einzigen, frustrierten Strich verzogen. Okay. Ich rücke näher ans Blatt. Flächenberechnungen. Quadratwurzelberechnung. Ableitungen. Mein Stift kratzt über das Papier, und langsam setzt sich alles zusammen. Die Zahlen fügen sich. Meine Gedanken finden Struktur.
Ich höre, wie Clara in meinem Kopf weiterspricht: „Du kannst entscheiden, wohin du deinen Fokus lenkst.“
Ich atme ruhig aus. Und plötzlich läuft es. Ich bin nicht perfekt, aber ich bin da.
Dann, viel zu schnell, die Stimme der Lehrerin: „Noch fünf Minuten!“
Meine Brust verengt sich kurz. Wo ist die Zeit hin? Ich überprüfe hektisch meine letzten Aufgaben. Mein Puls geht schneller, aber nicht panisch. Eher… elektrisiert. Eine kleine Korrektur hier. Eine Rechnung überprüfen da. Okay. Okay. Mein Stift setzt das letzte Mal auf dem Papier auf.
Dann wird der Test eingesammelt. Ich lehne mich zurück. Meine Hände sind leicht feucht, aber mein Herz rast nicht mehr. Es war nicht perfekt. Aber es war auch nicht der totale Absturz. Ich atme tief durch, schließe für einen Moment die Augen. So, ich habe das überlebt. Und bald ist dieser Schultag vorbei.
Und dann…, dann kommt das, worauf mein Kopf sich schon seit dem Morgen freut: Leo.
Schule ist vorbei – Endlich raus
Die Glocke schrillt. Mein Körper entspannt sich sofort. Ich stopfe meine Sachen in den Rucksack, tausche ein paar Blicke mit meinen Freunden, die sich über ihre eigenen Mathe-Versuche lustig machen. „Ich hab locker ’ne Vier“, murmelt Maik. „Ich hab locker ’ne Fünf“, kontert Johannes. Und ich hab locker gar keine Ahnung.“ Damit lehne ich mich zurück. Die Luft in der Klasse fühlt sich plötzlich anders an – leichter, als wäre der unsichtbare Druck, der die ganze Zeit auf mir gelastet hat, endlich ein bisschen abgefallen. Meine Hände sind leicht feucht, aber mein Herz rast nicht mehr. Ich blinzele, schaue nach rechts. Johannes starrt an die Decke, als würde er eine höhere Macht um Gnade bitten. Maik reibt sich die Schläfen. „Das war brutal.“ Ich zucke die Schultern. „Hätte schlimmer sein können.“ Er schnaubt. „Nur für dich, Mathe-Ass.“ Ich grinse leicht, doch meine Gedanken sind schon woanders. Nun atme ich tief durch, schließe für einen Moment die Augen. Ich habe das überlebt. Und bald ist dieser Schultag vorbei. Dann…, dann kommt das, worauf mein Kopf sich schon seit dem Morgen freut. Leo.
Seine Stimme, seine Blicke, dieses lässige Grinsen, das mich immer wieder aus der Fassung bringt. Die Art, wie er mir ein Gefühl gibt, als wäre alles halb so schlimm. Als könnte ich durchatmen. Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt, als ich daran denke, dass ich ihn gleich sehen werde. Gleich.
Der Weg zu ihm – Busfahrt voller Gedanken
Die Sonne steht tief, als ich aus der Schule trete.
Ich spüre die kühle Frühsommerluft auf meiner Haut, den leichten Wind, der meine Haare zerzaust. Meine Schultern fühlen sich schwer an - nicht mehr wegen des Mathe-Tests, sondern wegen der letzten Stunden, der letzten Tage, der ganzen neuen Realität, in die ich gerade reingeworfen werde.
Aber da ist auch etwas anderes. Ein leichtes Kribbeln unter meiner Haut. Ich steige in den Bus, finde einen Platz am Fenster. Mein Rucksack rutscht von meiner Schulter, landet auf meinem Schoß. Die Stadt zieht draußen vorbei – bekannte Straßen, Läden, Menschen, die einfach ihren Alltag leben. So normal. So alltäglich.
Und ich? Mein Leben fühlt sich gerade an wie etwas, das nicht ganz zu mir gehört. Ich lasse meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe sinken, atme durch. Bald bin ich da. Ich merke, wie meine Finger sich um mein Handy schließen, fast automatisch. Ich will ihm schreiben. Will wissen, ob er schon da ist. Ob er an mich denkt? Aber ich lasse es. Er wird da sein! Leo ist immer da.
Mein Herz schlägt schneller. Ich stelle mir vor, wie er dort stehen wird. Wie er mich ansieht, mit diesem Blick, der mich immer mehr aus der Bahn wirft. Wird er mich genauso anschauen wie beim letzten Mal? Wird er mich necken? Oder… wird er mehr sagen?
Ich spüre, wie meine Finger unruhig über die Naht meiner Jeans streichen. Mein Kopf ist ein einziges Durcheinander aus Erwartungen, aus Hoffnungen, aus diesem dummen Schmetterlingsgefühl, das ich kaum unterdrücken kann. Ich seufze. Wie kann jemand so locker sein, während ich hier sitze und mich aufführe, als wäre das ein verdammtes Date? Der Bus bremst. Mein Herz setzt kurz aus. Fast da. Ich ziehe meinen Rucksack hoch, drücke mich aus dem Sitz, steige aus. Die Tür schließt hinter mir.
Ein paar Schritte. Meine Atmung geht schneller, mein Herz hämmert. Ich betrete das Gebäude. Und das erste, was ich sehe, als ich durch die gläserne Eingangstür trete, ist er. Leo. Er lehnt am Empfangstresen, sein Körper halb gegen das Holz gestützt, die Arme vor der Brust verschränkt, als hätte er alle Zeit der Welt. Seine wuscheligen braunen Haare fallen ihm leicht in die Stirn, einzelne Strähnen werfen kleine Schatten auf seine dunklen Augen, die mich bereits mustern. Ruhig. Gelassen. Als hätte er gewusst, dass ich genau in diesem Moment durch die Tür komme.
Hinter ihm summt der Bildschirm der Rezeption, wechselt zwischen verschiedenen Anzeigen der VERTIX-Kampagne. Mein Gesicht flackert kurz über die große LED-Wand in der Lobby, ein Moment in Bewegung, eingefroren in einem kraftvollen Sprung. Ich sehe mich selbst aus einer Perspektive, die sich immer noch surreal anfühlt – als wäre ich jemand, der größer ist als das, was ich in meinem Kopf über mich denke.
Doch dann gleiten meine Augen wieder zu Leo. Sein Mundwinkel hebt sich, ein leichtes, fast spielerisches Schmunzeln, das mir sofort die Luft aus den Lungen zieht. Mein Magen macht diesen dummen kleinen Sprung, den er in letzter Zeit viel zu oft macht. Die Lobby um mich herum verschwimmt ein bisschen – die Leute, die an den großen Fenstern vorbeigehen, das Geräusch eines Telefons hinter dem Tresen, das gedämpfte Klacken von Schritten auf dem Boden aus poliertem Stein. Alles existiert noch. Aber nur am Rand. Ich bleibe kurz stehen. Nicht, weil ich es will, sondern weil mein Körper es tut. Weil dieser Moment sich anfühlt, als hätte ich ihn vorher schon einmal durchgespielt, aber jetzt ist er echt.
Leo hebt eine Augenbraue, sein Grinsen wird ein kleines bisschen breiter, schief, leicht herausfordernd: „Justin.“
Mein Name aus seinem Mund fühlt sich an, als würde warmes Licht über meine Haut gleiten. Ein leises Kribbeln, von meinem Nacken bis in die Fingerspitzen. Ich schlucke. Meine Kehle ist trocken. So stehe ich nun da, unsicher, fast schüchtern. Was jetzt? Ein „Hey“? Ein lockerer Spruch?
Oder einfach nur – nichts? Ich will was sagen, aber Leo hat sich längst von dem Tresen abgestoßen.
Seine Bewegungen sind leicht, fast fließend, als hätte er kein einziges Stück Anspannung in sich. Ein kurzer Blick von ihm, nicht direkt auffordernd, aber auch nicht abwartend. Dann, ein einfaches, leises: „Komm her.“
Mein Körper reagiert, bevor mein Kopf es richtig registriert. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu. Dann noch einen. Und dann sind wir nah. Seine Arme schließen sich um mich. Die Welt wird leiser. Eine Umarmung. Nicht zu fest, nicht zu flüchtig. Genau richtig.
Ich spüre den Druck seiner Hände auf meinem Rücken, eine leichte, aber spürbare Wärme, die sich durch den Stoff meines Shirts zieht. Er hält mich sicher, als wäre es das Normalste der Welt, mich so festzuhalten. Sein Körper fühlt sich stark an, die Muskeln unter seinem Shirt spannen sich leicht, als er mich näher an sich zieht.
Ich atme ein. Sein Geruch - frisch, ein Hauch von Sportbekleidung, dieses leichte Aroma, das mir so vertraut ist. Und darunter etwas Holziges, warm, nach Abenteuer riechend, nach Sommerabenden draußen, nach jemandem, der immer ein bisschen nach Aufbruch riecht.
Mein Gesicht landet an seiner Schulter. Ich merke, dass mein Atem tiefer geht. Mein Herz schlägt langsamer. Ankommen - .Ich schließe die Augen, für einen Moment einfach nur in diesem Gefühl. Meine Finger greifen unbewusst in den Stoff seines Shirts, eine winzige Bewegung, die ich nicht bewusst steuere. Ich will ihn nicht festhalten, nicht wirklich, aber vielleicht will ein Teil von mir sicherstellen, dass das hier echt ist.
Leo hält mich noch einen Moment länger fest. Dann, leise, fast nur für mich hörbar: „War der Tag scheiße?“ Ich lache, aber es klingt mehr nach einem erleichterten Ausatmen. „Lange genug.“ Ich spüre, wie er leicht nickt, seine Hand einmal kurz gegen meinen Rücken drückt. „Jetzt nicht mehr.“ Ich blinzele gegen den Stoff seines Shirts. Mein Brustkorb fühlt sich leichter an. Er hat Recht. Jetzt nicht mehr. Die Geräusche um uns herum verblassen.
Irgendwo klingelt ein Telefon an der Rezeption. Ein paar Angestellte gehen an uns vorbei, ihre Schritte hallen leise über den polierten Boden. Durch die großen Fenster fällt gedämpftes Nachmittagslicht, das die Reflexionen der Bildschirme an den Wänden tanzen lässt. Mein Gesicht flackert dort erneut auf, in Bewegung, eingefroren in einem Moment der Kraft. Doch es fühlt sich unwirklich an.
Das Einzige, was sich echt anfühlt, ist er. Und er löst sich aus unserer Umarmung, aber nur so weit, dass er mich ansehen kann. Seine dunklen Augen mustern mich, wachsam, als würde er genau sehen, was in mir vorgeht.
„Komm“, sagt er leise, mit einem kurzen Nicken in Richtung der Sitzecke. „Unsere“ Sitzecke. Ich folge ihm, spüre noch immer die Wärme seiner Arme an meinem Rücken, als hätte sie sich in meine Haut eingebrannt. Mein Herz schlägt nicht mehr so wild, aber mein Körper ist aufgeladen - als würde die Luft zwischen uns noch voller Elektrizität hängen. Ich lasse mich in den Sessel fallen, lehne mich zurück und atme durch. Leo nimmt wie immer die Ecke der Sitzbank, eine Hand auf seiner Prothese ruhend, die andere locker auf der Armlehne. Er wirkt entspannt, aber ich weiß, dass er mich beobachtet. „Also“, beginnt er und hebt leicht die Augenbrauen, „wie war der große Star heute in der Schule?“
Ich atme laut aus. „Wenn du mich nochmal so nennst, hau ich ab.“ Sein Mundwinkel zuckt, ein Hauch von Amüsement in seinen Augen. „Glaub ich nicht.“ Er hat Recht. Ich rühre mich nicht.
Ich schiebe die Finger durch meine Haare und seufze. „Es war… anstrengend. Anders als gestern, aber trotzdem. Die Leute schauen mich immer noch komisch an. Manche, weil sie mich auf Instagram gesehen haben. Andere, weil sie jetzt denken, ich wäre plötzlich…, keine Ahnung. Irgendwer.“
Leo lehnt sich leicht vor. „Weil du Justin bist?“ Ich zucke die Schultern. „Weil ich auf einmal jemand bin, den sie nicht mehr so einordnen können.“ Er sagt nichts, aber sein Blick bleibt weich. Ich lache kurz, aber ohne echte Heiterkeit. „Und dann sind da noch diese Mädchen.“
Leo hebt interessiert die Augenbrauen. „Die jetzt plötzlich mit mir reden oder mich anlächeln, als… als wäre ich interessant.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre auf meine Knie. „Ich meine, ich weiß ja, dass sie nicht wissen, dass ich…, du weißt schon. Aber es fühlt sich irgendwie falsch an.“
Leo schnaubt. „Wieso falsch?“
Ich sehe ihn an. „Weil es nicht echt ist.“
Er mustert mich einen Moment, dann lehnt er sich zurück, seine Finger trommeln kurz gegen das Polster. „Mädchen finden Jungs mit Aufmerksamkeit halt spannend. Und du bist gerade Aufmerksamkeit pur.“
„Na, danke.“
„Keine Ursache.“ Sein Grinsen ist schief, herausfordernd.
Ich schüttele den Kopf und atme durch. „Und dann war da noch der Mathe-Test.“
Leo zieht eine Augenbraue hoch. „Mathe-Test?“
„Den ich gestern total vergessen habe, bis Bobby mich heute Morgen daran erinnert hat.“
„Klassiker.“
Ich nicke. „Aber es ging. Erst hatte ich das Gefühl, ich pack das nicht. Mein Kopf war so voll. Aber dann hab ich mich erinnert, was Clara gesagt hat. Kleine Schritte. Fokus.“
Leo neigt leicht den Kopf. „Hat funktioniert?“
Ich nicke langsam. „Ja.“
Er mustert mich einen Moment. „Bist du deswegen jetzt so froh, hier zu sein?“
Ich blicke ihm in die Augen. „Nicht deswegen.“ Ich spüre, wie es kurz zwischen uns hängt. Die Worte. Die Luft. Der Blick.
Dann schüttelt er schmunzelnd den Kopf. „Du bist manchmal echt süß, weißt du das?“
Ich will protestieren, aber mein Gesicht wird heiß, und er genießt das eindeutig zu sehr. Bevor ich irgendwas sagen kann, winkt er ab. „Aber egal, kommen wir zum Plan.“
Ich blinzele. „Plan?“ „Der Nachmittag. Der hat sich nämlich geändert.“
Ich rutsche etwas aufrechter. „Was meinst du?“
Leo seufzt und streckt sich kurz. „Die großen Chefs sind heute da. Sie wollen die Kampagne durchsprechen, und weil du ein riesiger Teil davon bist, bist du da gefragt.“
Mein Magen zieht sich zusammen. „Was heißt das genau?“
Leo zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Das wird wohl in der Besprechung gesagt.“
Ich schlucke. Besprechung. Management. Leute in Anzügen, die mich anschauen und über Dinge reden, die größer sind als ich. „Bobby meinte heute Morgen schon, dass es wichtig ist.“
Leo nickt. „Ist es auch.“
Ich nehme mir einen Moment. Dann frage ich leise: „Bist du dabei?“
Leo lehnt sich zurück, spielt mit einer losen Faser an seiner Prothese. „Willst du das denn?“
Ich sehe ihn an. „Ja.“
Sein Blick ruht auf mir. Dann grinst er, ein bisschen zu selbstsicher. „Zum Glück hat Thomas das auch so gesehen. Er hat mich reingeschmuggelt.“ Mein Brustkorb entspannt sich. „Er kennt dich anscheinend.“ „Scheint so.“
Mein Herzschlag ist ruhiger, aber ich spüre noch immer diese nervöse Energie in mir. Leo. Eigentlich will ich ihn küssen. Jetzt, hier, einfach weil es sich richtig anfühlt. Weil die Luft zwischen uns voller Spannung ist. Aber ich tue es nicht. Stattdessen atme ich durch, greife nach meiner Wasserflasche und trinke einen Schluck, um irgendwas zu tun.
Leo beobachtet mich, und ich weiß, dass er es merkt. Er sagt nichts dazu. Dann klatscht er leise mit den Händen auf seine Knie. „Okay, also. Keine Actionfotos heute, nur so formale Business-Sachen. Pressebilder mit dem Management.“
Ich ziehe eine Grimasse. „Klingt aufregend.“ „Mega.“ Sein trockener Ton bringt mich zum Schmunzeln. „Trotzdem: Duschen, umziehen, Styling.“ Ich seufze. „Natürlich.“ „Das hier ist schließlich High Class, mein Lieber.“ Ich rolle die Augen. „Du hast gut reden, du musst nur cool danebenstehen.“ Er zwinkert. „Ist halt mein Talent.“ Ich lache leise. Dann atme ich durch und richte mich auf. „Also los?“ Leo grinst. „Los.“ Mein Magen zieht sich kurz zusammen, aber diesmal nicht aus Angst. Sondern aus Vorfreude.
Ein neuer Look, ein neuer Moment mit ihm
Die Dusche ist mittlerweile Routine. Das Wasser rauscht über meine Haut, heiß genug, um die Anspannung aus meinen Muskeln zu lösen, aber nicht so heiß, dass es mich träge macht. Der Dampf füllt die Kabine, kriecht über das Glas, bis es sich in milchigen Schlieren auflöst. Ich stehe einfach da, spüre, wie meine Haut unter dem Wasser prickelt, wie mein Atem sich langsam an den feuchten Nebel anpasst. Mein Kopf fühlt sich schwer an von all den Gedanken, aber hier kann ich sie für einen Moment loslassen. Ich schließe die Augen. Leo.
Sein Blick, als ich in die Lobby kam. Das schiefe Lächeln. Seine Augen, die immer ein bisschen mehr zu sehen scheinen, als ich will. Ich frage mich, was für Klamotten Leo wohl für mich rausgesucht hat. Oder…, tut er das überhaupt?
Ich meine, er steht immer mit diesem zufriedenen Grinsen da, wenn ich die Outfits trage, die für mich bereitliegen. Aber ist er wirklich derjenige, der sie auswählt? Oder gibt es da eine Stylistin oder einen Designer, die mich eigentlich ausstatten, und Leo lässt mich nur in dem Glauben, dass er dabei die Finger im Spiel hat? Ich muss ihn das mal fragen. Oder ob das nur Zufall ist. Vielleicht spielt er mir auch nur was vor. Vielleicht genießt er es, mir zuzusehen, wenn ich mir über sowas den Kopf zerbreche, während er längst die Antwort kennt. Ich muss ihn das echt mal fragen. Aber nicht jetzt. Nun streiche ich mir das Wasser aus dem Gesicht, lasse es eine letzte Sekunde über meinen Nacken laufen, bevor ich den Duschhahn zudrehe.
Draußen erwartet mich ein frisches Set Klamotten, ordentlich auf einem Stuhl drapiert. Ich streiche mit den Fingerspitzen über den Stoff. Hochwertig. Leicht. Atmungsaktiv, aber trotzdem mit einer gewissen Struktur. Das schwarze Funktionsshirt liegt eng an, fühlt sich kühl auf meiner Haut an, während ich es überziehe. Die Prägung entlang der Seiten ist nur subtil, kaum sichtbar, aber gibt dem Ganzen das gewisse Extra. Es fühlt sich nicht nur an wie ein normales Trainingsshirt – mehr wie eine zweite Haut, gemacht für Bewegung, für Präsenz.
Ich greife zur Jacke. Dünn, anthrazitfarben, mit dezenten Reißverschlüssen und einem schmalen Kragen, der sich direkt an meinen Hals schmiegt. Der Stoff schimmert leicht im Licht, wirkt modern, aber nicht übertrieben. Die Hose ist ein Highlight für sich. Eine dunkle, schmal geschnittene Jogger-Pants aus leicht glänzendem Tech-Stoff. Sie fühlt sich weich an, trotzdem robust. Bequem, aber durch den klaren Schnitt fast wie eine moderne Anzughose. Der Bund sitzt tief genug, dass es entspannt wirkt, aber nicht schlampig. Der Stoff fällt schmal bis zu den Knöcheln, genau richtig für den Look. Und dann die Schuhe – schwarze, cleane Sneaker mit einer minimalistischen Silhouette. Kein auffälliges Logo, kein Schnickschnack. Einfach klar, schlicht, hochwertig. Ein Mix aus Dynamik und Eleganz. Sportlichkeit, aber mit einer gewissen Förmlichkeit, passend für ein Meeting. Ich trete einen Schritt zurück, sehe mich im Spiegel an. Die dunklen Farben betonen meine Konturen, lassen mich… erwachsener aussehen. Anders als in den normalen Klettersachen. Ich ziehe die Jacke glatt, drehe mich leicht zur Seite. Okay. Das sieht gut aus. Leo wird es lieben. Und genau das ist der Gedanke, der mich mehr trifft, als er sollte. Ich fahre mir durch die noch feuchten Haare, schüttle den Kopf. Jetzt nicht ablenken lassen. Tief atme ich durch und verlasse die Umkleide. Zeit für den letzten Schliff.
Zum Styling – Mehr als nur Haare schneiden
Ich betrete den Raum, in dem Mia, unsere Stylistin, bereits wartet. Ein großer Spiegel mit LED-Licht, ein fahrbarer Tisch mit unzähligen Produkten, Kämmen und Scheren. Es riecht nach Haarspray und diesem typischen Friseurduft, der immer in der Luft liegt.
Leo ist schon da. Lässig an die Wand gelehnt, die Hände locker in den Taschen seiner Hose, sein Blick gleitet über mich. Ich sehe, wie sein Mundwinkel zuckt. „Nicht schlecht“, murmelt er.
Ich will fragen, ob er wirklich meine Outfits auswählt, aber Mia kommt mir zuvor.
„Also, Justin… ich hab eine Frage.“
Ich setze mich in den Stuhl und hebe eine Augenbraue. „Okay?“
Sie stellt sich hinter mich, lässt ihre Finger durch meine noch feuchten Haare gleiten. Ihr Blick trifft mich durch den Spiegel.
„Darf ich ein bisschen schneiden?“
Ich runzle die Stirn. „Schneiden? Ich dachte, es geht nur ums Stylen?“
Mia grinst. „Nur ein bisschen. Kein radikales Umstyling. Einfach alles sauber, ordentlich, frisch. Und vielleicht ein kleines Upgrade.“
Ich zögere. Sehe mich selbst im Spiegel. Die schwarzen Haare, die langsam in meine Stirn fallen, der leicht wild gewordene Schnitt von den letzten Wochen. Ich drehe den Kopf leicht. „Was genau meinst du mit Upgrade?“
Mia legt eine Hand auf meine Schulter und hebt die Schere. „Vertrau mir.“
Ich starre noch einen Moment in den Spiegel, dann seufze ich. „Okay. Mach es.“
Leo macht ein leises, amüsiertes Geräusch im Hintergrund.
Ich schiele zu ihm. „Was?“
Er grinst. „Nichts. Ich mag es nur, wenn du dich auf sowas einlässt.“
Ich verdrehe die Augen. „Tu ich das denn so selten?“
„Definitiv.“
Mia lacht und beginnt zu schneiden. Die Schere gleitet durch mein Haar, kleine Strähnen fallen auf das schwarze Cape, das sie mir umgelegt hat. Mia arbeitet konzentriert, ihre Finger gleiten sicher durch meine Haare, während sie hier und da etwas kürzt, Konturen nachschärft.
Ich spüre, wie es sich verändert. Die Seiten werden etwas präziser geschnitten, nicht ganz kurz, aber sauberer. Oben bleibt es länger, die Textur bleibt erhalten, aber es fällt kontrollierter in meine Stirn. Ein wenig Struktur, ein bisschen mehr Definition.
„Fast fertig“, murmelt Mia, während sie mit den Fingern durch mein Haar fährt, um es zu überprüfen. „Das hier…, ja, das gefällt mir.“
Ich mustere mich im Spiegel. Das bin ich. Aber ein bisschen frischer, ein bisschen markanter. Jetzt neige ich den Kopf leicht, betrachte den neuen Fall meiner Haare. Es ist kein riesiger Unterschied. Aber genau das ist es, was es so perfekt macht. „Nicht schlecht“, sage ich leise.
Mia grinst zufrieden. „Sag ich doch.“
Ich drehe mich ein wenig zu Leo um, und merke, dass er mich die ganze Zeit beobachtet hat. Nicht einfach nur mit seinem normalen Blick. Sondern richtig. Seine dunklen Augen gleiten langsam über mein Gesicht, über die neuen Konturen, über die Art, wie meine Haare jetzt in meine Stirn fallen. Er lehnt sich an die Wand, verschränkt die Arme vor der Brust. „Sieht gut aus.“
Mein Brustkorb zieht sich leicht zusammen. Ich will etwas sagen, irgendwas Lockeres, um die Spannung aufzulösen. Aber meine Stimme bleibt stecken, als Leo plötzlich näher kommt, sich leicht über meine Schulter beugt und seine Finger durch meine Haare fährt. Seine Hand streift kurz meine Schläfe. Gänsehaut. Ein leises Kribbeln läuft mir den Nacken hinunter. Ich schlucke. „Weicher als es aussieht“, murmelt er. Ich weiß nicht, ob er es absichtlich gesagt hat. Ob er es geplant hat, mich so nah an der Grenze des Aushaltbaren zu halten. Ich weiß nur, dass ich für einen kurzen Moment einfach nicht mehr atme.
Mia tut so, als hätte sie nichts bemerkt. „Gut, ich bin fertig mit dir, Justin. Jetzt kann das Meeting kommen.“
Leo zieht sich zurück, gerade noch rechtzeitig, bevor mein Körper völlig durchdreht.
Ich stehe auf, spüre noch immer die Wärme seiner Hand in meinem Haar.
Dann folgen wir Mia hinaus auf den Flur.
Ich sehe Leo aus den Augenwinkeln an. Er schaut nach vorne, aber sein Grinsen ist da. Und er hat es genau gemerkt; er genießt es.
Dann stehen wir vor der großen Konferenzraum-Tür. Mein Herz schlägt ein bisschen schneller. Ich werfe Leo einen Blick zu. „Bereit?“ fragt er. Ich atme aus: „Bereit.“
Neue Realität, neue Rollen
Leo tippt irgendwas in sein Handy, sein Daumen gleitet mühelos über das Display, er hat noch eine letzte Nachricht zu erledigen, bevor es losgeht. Sein Gesicht bleibt ausdruckslos, aber ich kenne ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er jede kleine Regung von mir registriert. Mein Herz klopft schneller, obwohl ich versuche, ruhig zu bleiben.
Die Tür zum Konferenzraum ist groß. Dunkles Holz, ein matt glänzender Edelstahlgriff. Irgendwie wirkt sie massiver, bedeutungsvoller als sie eigentlich sein sollte. Vielleicht, weil ich weiß, dass dahinter Menschen sitzen, die mich erwarten. Menschen, die über meine Zukunft sprechen. Ich schlucke.
Leo steckt sein Handy weg, lehnt sich kurz zu mir rüber, seine Schulter streift meine. „Alles gut?“ Seine Stimme ist leise. Ruhig. Ich nicke. Ein bisschen zu schnell. Wir warten und dann, die Tür öffnet sich. Thomas.
Sein Blick fällt zuerst auf mich, dann auf Leo. Kurz mustert er mich, als würde er abschätzen, wie es mir gerade geht, dann nickt er zufrieden. „Gut, dass ihr da seid.“ Er legt eine Hand auf meine Schulter – nicht schwer, nicht fordernd, aber fest genug, um mich in Bewegung zu setzen. Ich folge ihm in den Raum. Der Besprechungsraum ist riesig.
Eine lange, dunkle Konferenztischplatte aus Glas erstreckt sich durch den Raum, umgeben von schwarzen Designerstühlen. Die Decke ist hoch, mit eingelassenen Spots, die das Licht weich und gleichmäßig verteilen. Eine Glaswand zur linken Seite gibt den Blick auf die Kletterhalle frei – riesige Wände, Routen in allen Schwierigkeitsgraden, Athleten, die sich konzentriert bewegen.
Die andere Seite des Raums ist eine Präsentationsfläche. Mehrere große Bildschirme zeigen verschiedene Standbilder aus der Kampagne, darunter, natürlich, mein Gesicht. Mein Körper in Bewegung, meine Hände an den Griffen, mein Ausdruck konzentriert, fokussiert.
Mein Magen zieht sich zusammen. Da sitze ich also. In einem Raum mit Menschen, die mich kennen, bevor ich überhaupt eine Chance hatte, sie kennenzulernen.
Thomas räuspert sich. „Lass mich dir die Anwesenden vorstellen.“
Er deutet auf die Person direkt neben ihm. Ein Mann in seinen Fünfzigern, graumeliertes Haar, ein scharf geschnittenes Gesicht, das trotz seines neutralen Ausdrucks eine gewisse Autorität ausstrahlt. Sein Anzug sitzt makellos, und als er mir die Hand reicht, ist sein Griff fest, aber nicht überheblich.
„Das ist Markus Lehmann, unser Chief Financial Officer. Er ist zuständig für die wirtschaftliche Planung, die Finanzen der Kampagne und die Struktur unseres Athletenprogramms.“ Markus nickt mir zu, seine dunklen Augen mustern mich mit einer Mischung aus Interesse und professioneller Distanz. „Freut mich, Justin. Wir haben schon viel von dir gehört.“
Ich spüre, wie meine Finger leicht schwitzen, aber ich drücke seine Hand trotzdem so sicher wie möglich. „Ähm… danke. Freut mich auch.“
Thomas fährt fort und deutet auf den Mann neben Markus, etwas jünger, Mitte vierzig, mit kantiger Brille und aufmerksamen, fast forschenden Augen. Sein Hemd ist zwar in einen Anzug gesteckt, aber er trägt keinen Schlips, was ihn weniger steif wirken lässt. „Und das hier ist Dr. Sven Köhler, unser Head of Research & Development. Er ist für unsere technische Innovation verantwortlich – darunter auch die Prothesenentwicklung und die neue Kletterausrüstung.“
Mein Blick zuckt unwillkürlich zu Leo. Prothesenentwicklung. Leos Gesicht bleibt neutral, aber ich weiß, dass das für ihn mehr bedeutet, als er gerade zeigt. Dr. Köhler mustert mich neugierig. „Justin, beeindruckende Arbeit bisher. Ich bin gespannt, was du noch alles erreichen wirst.“
Ich nicke, bringe ein kurzes Lächeln zustande.
„Und zu guter Letzt…“, Thomas lehnt sich leicht nach vorne. „Ich glaube, du hast nie ganz realisiert, wer ich eigentlich bin, oder?“ Ich runzle die Stirn. „Du bist… der Marketingchef?“ Thomas lacht leise, schüttelt den Kopf. „Ich bin einer der drei Geschäftsführer von VERTIX.“
Stille. Mein Kopf verarbeitet die Information in Zeitlupe. Einer der Geschäftsführer. Also nicht nur irgendein Entscheider. Sondern jemand, der diese Marke mit aufgebaut hat. Der mit über meine Rolle, über alles, was hier passiert, bestimmt. Ich weiß nicht, warum mich das so überrascht. Vielleicht, weil Thomas immer so bodenständig gewirkt hat. Locker, professionell, aber nie einschüchternd.
Er lächelt schief, als er meine Reaktion sieht. „Ja, ich dachte mir schon, dass du das nicht wusstest.“
Ich blinzele. „Doch, klar…, also…, nein, eigentlich nicht.“
Leises Lachen am Tisch. Ich merke, wie mein Gesicht warm wird.
„Alles gut“, sagt Thomas. „Du bist hier, weil wir an dich glauben. Und weil wir mit dir Großes vorhaben.“
Mein Brustkorb fühlt sich plötzlich zu eng an. Leo, der sich neben mich setzt, lehnt sich kurz zu mir rüber, flüstert: „Atmen nicht vergessen.“ Ich blinzele, atme tatsächlich erst jetzt wieder bewusst ein.
Markus Lehmann faltet die Hände vor sich. „Die heutige Besprechung hat einen Grund. Wie du sicher bemerkt hast, haben wir den Kampagnenstart vorgezogen.“
Ich nicke langsam. „Ja…, gestern, war… unerwartet.“
„Das können wir uns vorstellen.“ Lehmanns Mundwinkel zuckt kaum merklich. Dr. Köhler lehnt sich leicht nach vorne. „Mit diesem frühzeitigen Start kommen einige Konsequenzen auf uns zu. Das betrifft sowohl deine Präsenz in der Kampagne als auch deine sportliche Laufbahn.“
Ich blinzle. „Meine… was?“
Thomas übernimmt wieder. „Wir sprechen hier nicht nur über Werbebilder. Wir sprechen über deinen neuen Profi-Vertrag.“
Mein Atem setzt für einen Moment aus. Profi-Vertrag. Das Wort hallt in meinem Kopf nach, dreht sich, findet keinen richtigen Platz, weil es sich zu groß anfühlt, um wirklich mein Wort zu sein.
„Neben der Kampagne haben wir ja beschlossen, dass du in unser Athletenprogramm aufgenommen wirst. Das bedeutet eine eigene Crew, einen strukturierten Trainingsplan und eine langfristige Karriereplanung.“
Mein Herz schlägt so laut, dass ich mich frage, ob die anderen das hören können.
„Das wird heute detailliert besprochen“, fährt Thomas fort. „Dazu gehören auch mediale Termine. Unter anderem ein Pressetermin für dich.“
Ich atme aus. „Ein… Pressetermin?“
Lehmann nickt. „Das gehört dazu, wenn man in dieser Liga spielt.“
Ich spüre, wie meine Hände sich in den Stoff meiner Hose krallen. Das ist real. Das ist viel größer, als ich dachte. Und Bobby ist nicht hier. Ich hätte ihn gern hier. Er hätte Fragen gestellt, die ich gerade nicht stellen kann, weil mein Kopf noch damit beschäftigt ist, das alles zu sortieren. Aber dann, neben mir. Leo. Seine Präsenz ist wie ein Anker.
Thomas lehnt sich leicht zurück, mustert mich mit einem Ausdruck, den ich nicht ganz deuten kann. „Deswegen ist Leo hier“, sagt er schließlich.
Ich zucke leicht zusammen, schaue zwischen ihnen hin und her.
„Er ist nicht nur dabei, weil er dein Freund ist. Er wird dich unterstützen. Dir helfen, dich zu strukturieren, zu organisieren. Er wird dir den Druck nehmen, wenn es zu viel wird.“
Leo sagt nichts, aber seine Haltung verändert sich leicht.
„Er kennt dich. Er weiß, wie du funktionierst. Und genau deshalb passt er in diese Rolle.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dann werfe ich Leo einen Blick zu. Er sieht mich an. Lächelt leicht. Es ist nicht nur ein Job für ihn. Das hier ist mehr.
Mein Brustkorb zieht sich zusammen, aber diesmal auf eine andere Weise. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn gerade mehr küssen oder ihm danken will. Vielleicht beides. Aber stattdessen atme ich tief durch. Im Moment sitze ich in einem Raum voller Entscheidungsträger. Und meine Zukunft liegt auf dem Tisch. Mein Herzschlag hämmert gegen meine Rippen, während ich mich auf dem Stuhl zurechtsetze. Die Glasplatte des langen Konferenztisches spiegelt meine Hände, die ich unbewusst aneinander reibe, als müsste ich mich daran erinnern, dass ich hier bin. Dass das real ist. Ich zwinge mich, auf die Leute um mich herum zu achten. Sie alle sind wichtig. Sie alle haben Einfluss auf das, was jetzt passiert. Und doch – ich komme mir kleiner denn je vor. Neben mir sitzt Leo. Still. Aber er ist da. Ich spüre seine Nähe, das fast unmerkliche Anlehnen seiner Schulter gegen meine, als er sich bewegt. Er spricht nicht, aber das muss er auch nicht. Er gibt mir das Gefühl, dass ich nicht allein bin. Und das ist mehr, als ich sagen kann.
Neben Thomas, Markus Lehmann und Dr. Köhler gibt es noch weitere Personen im Raum. Einige kenne ich bereits, andere nur flüchtig.
Finn sitzt weiter hinten, lässig wie immer, aber diesmal mit einem Klemmbrett vor sich, als hätte er einen offiziellen Job. Er ist nicht nur der Fotograf, er ist auch an der kreativen Gestaltung der Kampagne beteiligt, an den Bildern, die sie von mir erschaffen. Bilder, die nicht nur mich zeigen, sondern eine Geschichte erzählen.
Kai, mein Klettertrainer, ist ebenfalls da. Sein Blick ist wachsam, scharf, wie immer, wenn es um Leistung geht. Er sitzt nicht wie die anderen in Anzügen oder Hemden, sondern in seinem typischen funktionalen Outfit. Sportliche Kleidung, bequeme Schuhe. Ein Kontrast zu all den anderen hier. Und doch ist er genauso wichtig.
Dann ist da Erik Wagner, der Sportmediziner, der mich nach dem letzten Shooting untersucht hat. Er sitzt weiter vorn, neben Dr. Köhler, und als sein Blick auf mich fällt, nickt er mir fast unmerklich zu.
„Justin, schön, dich wiederzusehen“, sagt er, seine Stimme ruhig, aber bestimmt. „Ich hoffe, du hast dich nach dem anstrengenden Wochenende erholt.“
Ich schlucke. Nach dem Wochenende. Nach dem Tag, an dem ich einfach einen Profi-Vertrag unterschrieben habe, ohne wirklich zu begreifen, was das bedeutet. Ich nicke, aber meine Finger umklammern noch fester meine Knie.
Erik mustert mich kurz, dann sagt er: „Wir werden auch darüber sprechen, was das für dich körperlich bedeutet. Ein Profi-Vertrag bringt Verpflichtungen mit sich. Und die gehen über das Klettern hinaus.“
Ich schaffe es nur, ein „Okay“ zu murmeln.
Die Agenda – und die Realität, die mich einholt
Thomas schlägt eine Mappe auf, die vor ihm liegt. Ich sehe, dass mein Name darauf steht. Groß. Offiziell.
Er räuspert sich. „Also, Justin. Ich will, dass du verstehst, warum wir dich heute hierher geholt haben. Es geht nicht nur um die Kampagne. Es geht um dich - als Athleten. Als Gesicht der neuen Marke. Und als Jemanden, den wir langfristig fördern wollen.“
Ich nicke langsam.
„Mit dem frühzeitigen Kampagnenstart haben wir beschlossen, deine Rolle noch größer zu machen. Nicht nur als Werbefigur, sondern als echte Identifikationsfigur für junge Athleten. Du bist nicht einfach nur ein Model für uns. Du bist der Kletterer, der diese Kampagne mit Leben füllt.“
Mein Herz schlägt schneller.
„Deshalb haben wir dich offiziell als Teil unseres Athletenprogramms aufgenommen“, fährt er fort. „Das bedeutet: regelmäßige Wettkämpfe, ein individuelles Trainingsteam, eine langfristige Perspektive. und natürlich einen darauf abgestimmten Karriereplan.“
Ich starre auf die Mappe. Mein Name. Mein Gesicht auf den Bildschirmen. Ich bin nicht nur ein Junge, der klettert. Ich bin ein Projekt. Ein Investment.
„Dein Profi-Vertrag bedeutet, dass du mit den besten Trainern und Betreuern arbeiten wirst. Kai wird weiterhin dein Haupttrainer bleiben, aber du bekommst zusätzlich ein erweitertes Team: Sportphysiotherapie, Mentalcoaching mit Clara, eine Ernährungsberatung von Erik, all das gehört jetzt zu deinem Alltag.“
Mein Kopf surrt. Ich versuche, es in einzelne Teile zu zerlegen, aber es fühlt sich an wie eine Lawine aus Verantwortung.
„Dazu kommen Sponsorenveranstaltungen, Presseauftritte und mediale Verpflichtungen. Wir müssen sicherstellen, dass du nicht nur sportlich, sondern auch in der Öffentlichkeit gut aufgestellt bist.“
Mein Brustkorb zieht sich zusammen. „Und genau deshalb ist Leo hier“, ergänzt Thomas. Ich sehe zu Leo. Er lehnt sich leicht nach vorne, seine Hände locker ineinander verschränkt. Sein Blick ruht auf mir – nicht fordernd, nicht drängend, sondern einfach nur da. „Leo wird dich begleiten“, sagt Thomas. „Er wird sicherstellen, dass du dich nicht überforderst. Er kennt dich. Er weiß, wann du dich zurückziehen musst, wann du Unterstützung brauchst. Und er ist jemand, dem du vertraust.“
Leo sagt immer noch nichts. Aber er sieht mich an. Und ich weiß, dass das hier nicht nur irgendeine Rolle für ihn ist. Er ist nicht nur eine Assistenzfigur. Er ist mein Gleichgewicht. Mein fester Griff, wenn ich das Gefühl habe, zu fallen.
Mein Blick wandert wieder zu Thomas.
„Was genau… heißt das für Leo?“, frage ich leise.
Thomas lächelt leicht. „Leo wird dein persönlicher Koordinator sein. Dein Kontakt zwischen dem Management und dir. Er wird dir helfen, Struktur in deine Termine zu bringen, aber auch sicherstellen, dass du nicht unter die Räder kommst.“ Leo lehnt sich zurück, sein Blick trifft kurz den von Thomas, bevor er wieder auf mich fällt. „Im Grunde genommen“, sagt er langsam, „bin ich da, um aufzupassen, dass du nicht komplett durchdrehst.“
Ein kleiner, trockener Lacher entfährt mir. „Zu spät.“ Leo grinst. „Dann mach ich eben Schadensbegrenzung.“ Die Anspannung in mir lockert sich für einen Moment. Aber nur kurz.
Dann fährt Thomas fort: „Damit kommen wir zu deiner heutigen ersten großen Herausforderung - der Presse.“
Ich blinzele.
„Du wirst heute offiziell als Athlet vorgestellt. Es gibt eine Pressemeldung, Interviews und einige offizielle Bilder, die wir aufnehmen werden. Es wird nicht lange dauern, aber du wirst vor Publikum sprechen müssen.“
Mein Herz setzt einen Schlag aus: „Ich…, sprechen?“
„Ja“, sagt Markus Lehmann, der Finanzchef, und lehnt sich entspannt zurück. „Aber keine Sorge. Du bekommst Unterstützung.“
„Leo?“, frage ich, bevor ich nachdenken kann. Thomas nickt. Erleichterung breitet sich in mir aus, auch wenn ich es nicht ganz zulassen will. Leo an meiner Seite. Das bedeutet, dass es nicht ganz so schlimm sein wird. Ich atme langsam aus. Mein Blick gleitet über den Tisch. Finn, Kai, Erik, Thomas, die Geschäftsführer, alle warten darauf, dass ich begreife, was das hier bedeutet. Ich bin jetzt offiziell Profi. Und meine Welt hat sich komplett verändert. Leo schiebt mir unauffällig ein Glas Wasser zu. Ich trinke einen Schluck, stelle es wieder ab. Sein Blick sagt mir alles, was ich wissen muss. Wir machen das zusammen. Und zum ersten Mal seit ich in diesem Raum bin, fühlt es sich an, als könnte ich das tatsächlich schaffen.
Ich sitze da, meinen Rücken gegen die Lehne gepresst, meine Hände auf meinen Oberschenkeln, während ich versuche, das hier alles zu verarbeiten. Dass ich Profi bin. Dass ich jetzt ein Gesicht einer Marke bin. Dass ich von nun an öffentlich existiere.
Und dann gibt es Leo. Der sich nicht nur ruhig neben mir hält, sondern sich tatsächlich einmischt. Ich wusste, dass er sich hier auskennt. Aber ich wusste nicht, wie sehr. Ich merke es, als Thomas beginnt, über die Kampagne zu sprechen.
Wie sie aufgebaut ist. Welche Strategie dahintersteckt. Wie mein Video, das große Auftaktvideo, nicht einfach nur ein Imageclip war. Sondern die erste Phase eines ausgeklügelten Konzepts.
„Der Launch war der erste große Schritt“, erklärt Thomas. „Es ging nicht nur darum, Aufmerksamkeit zu generieren, sondern auch eine neue Zielgruppe zu erreichen. Junge Athleten. Menschen, die sich bisher nicht mit professionellem Klettersport identifizieren konnten. Wir wollten zeigen, dass Leistung nicht immer von Anfang an perfekt sein muss. Sondern dass Wachstum und Entwicklung dazugehören.“
Ich nicke langsam. Das ergibt Sinn. Aber noch bevor ich irgendwas dazu sagen kann, ist es Leo, der sich in die Diskussion einbringt. „Deswegen habt ihr Justin in den Mittelpunkt gestellt.“ Sein Tonfall ist analytisch, fast beiläufig, aber als ich zu ihm hinübersehe, merke ich, dass er das genau durchschaut. „Nicht, weil er der beste Kletterer hier ist, sondern weil er das repräsentiert, was ihr zeigen wollt. Authentizität. Jemand, mit dem sich Leute identifizieren können.“
Thomas lächelt leicht. „Exakt.“
Ich blinzele. Leo sitzt da, vollkommen entspannt, als wäre es das Normalste der Welt, an diesem Tisch mitzureden. Als wäre er hier nicht nur ein Praktikant, sondern jemand, der diese Gespräche schon seit Jahren führt. Und vermutlich tut er das auch. Er kennt wirklich hier jeden. Das merke ich jetzt erst wirklich. Er ist mit dieser Welt aufgewachsen. Als kleiner Junge hat er schon in diesen Büros rumgesessen, als sein Onkel gearbeitet hat. Dann kam sein Unfall, seine Prothese, seine Rolle als Testperson. Und jetzt wohnt er hier. Ist ein Teil davon. Er versteht diese Welt. Er jetzt sitzt hier und nimmt ohne zu zögern meine Rolle ein. Ich staune immer mehr. Und gleichzeitig wächst dieses Vertrauen in mir. Ein Teil von mir denkt: Ich brauche Bobby gar nicht hier. Ich habe Leo.
„Also“, fährt Thomas fort, während er auf den Bildschirm zeigt: „Die Kampagne basiert auf mehreren Säulen.“ Auf den Monitoren erscheinen Bilder. Ich sehe mich selbst darauf, aber auch andere Athleten. Gesichter, die ich aus dem letzten Shooting kenne. Kletterer, aber auch Leute aus anderen Sportarten. „Die neue Kollektion ist ein essenzieller Bestandteil“, erklärt er. „Wir kombinieren Hochleistungssport mit Alltagstauglichkeit. Kleidung, die nicht nur auf der Wand funktioniert, sondern auch abseits davon.“
Ich nicke langsam. Das macht Sinn. Ich trage genau das gerade. Die sportliche Jacke, die fast wie ein Blazer wirkt. Die Jogger, die elegant genug sind, um bei einem Meeting getragen zu werden. Die Schuhe, schlicht und hochwertig.
Leo lehnt sich zu mir rüber und murmelt: „Deswegen siehst du so verdammt gut aus.“ Mein Herz stolpert kurz. Ich schaffe es gerade noch, ihn nicht anzusehen. Bleib fokussiert, Justin.
Thomas spricht weiter: „Neben der Kollektion haben wir auch einen Fokus auf technische Innovation gelegt. Neue Materialien, die sich besser an Bewegungen anpassen. Verbesserte Klettergurte. Und – durch unser Forschungsprojekt - auch optimierte Prothesen für den Outdoorsport.“
Mein Blick wandert wieder zu Leo. Er rührt sich nicht, aber ich spüre, dass das für ihn viel bedeutet.
„Dazu gehört auch das neue Branding“, fährt Dr. Köhler fort und wechselt die Folie auf dem Bildschirm. Das neue Logo erscheint. VERTIX. Ich starre es an. Die klare, kantige Schrift. Die stilisierte Bergsilhouette, die gleichzeitig wie ein Karabiner wirkt. „Der Name VERTIX stammt aus dem Lateinischen“, erklärt er. „Er leitet sich von vertex ab – was so viel bedeutet wie Gipfel, Spitze, Höhepunkt.“
Ich lasse das sacken. Gipfel. Höhepunkt. Mein Name steht da jetzt drunter. Ich bin Teil davon. Es fühlt sich surreal an.
Thomas schaltet weiter. Die Bilder wechseln zu den nächsten Schritten: „Als nächstes werden wir die Athleten offiziell vorstellen“, sagt er. „Das bedeutet nicht nur Pressebilder, sondern auch persönliche Profile. Wir werden euch nach und nach der Öffentlichkeit präsentieren.“
Ich blinzle: „Das heißt…?“
„Das heißt, dass du noch transparenter wirst“, erklärt Finn. „Deine Geschichte. Dein Training. Deine Herausforderungen. Es wird Interviews geben, Social-Media-Formate, Einblicke hinter die Kulissen.“
Mein Brustkorb zieht sich leicht zusammen. Noch mehr Öffentlichkeit. Noch mehr Augen auf mich. Leo scheint das zu bemerken, denn er lehnt sich zu mir und flüstert: „Es wird nicht so schlimm, wie du denkst.“ Ich drehe den Kopf minimal zu ihm. „Versprichst du das?“ Sein Blick bleibt auf mir haften. „Ich sorge dafür.“ Ich weiß nicht, warum, aber diese Worte beruhigen mich mehr als alles andere hier.
„Dann gibt es noch ein weiteres Highlight“, sagt Thomas und wechselt die Folie. Neue Bilder erscheinen. Berghänge. Felsen. Ein Blick auf die Dolomiten. Ich reiße die Augen auf. „Wir werden mit euch in die Berge gehen“, erklärt Dr. Köhler. „Es ist ein mehrtägiges Outdoor-Shooting. Nicht nur für die Kampagne, sondern auch für das technische Testen der neuen Ausrüstung.“
Ich brauche eine Sekunde, um das zu verarbeiten. Mehrtägig. In den Dolomiten. Ich werde mit einem Team von Profi-Athleten und Kameraleuten durch die Berge klettern. Mein Puls beschleunigt sich. Angst? Nein. Nervosität? Definitiv.
Dann eine völlig absurde Frage in meinem Kopf: Darf ich die Klamotten jetzt eigentlich wirklich behalten? Ich sehe an mir herunter. Die hochwertige Jacke. Die perfekt sitzende Jogger. Die Schuhe, die sich wie eine zweite Haut anfühlen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das alles nach den Shootings einfach einsammeln und zurückfordern. Aber bevor ich mich traue, die Frage laut auszusprechen, hebt Leo plötzlich eine Augenbraue, als hätte er meine Gedanken erraten. „Und Justin darf die Sachen behalten, oder?“ Ich verschlucke mich fast. Thomas lacht. „Ja. Offiziell ist er jetzt Markenbotschafter. Das heißt, er trägt VERTIX, wann immer er möchte.“
Leo sieht mich grinsend an. „Na, dann musst du ja jetzt nichts anderes mehr anziehen.“ Ich spüre, wie mein Gesicht warm wird. Nicht, weil es mir peinlich ist. Sondern weil er mich kennt. Er weiß genau, worüber ich gerade nachgedacht habe. Und ich weiß nicht, ob ich das mehr lieben oder hassen soll.
Leo, der unsichtbare Profi
Ich sitze immer noch da und versuche, meinen Kopf zu sortieren, als Leo sich plötzlich einmischt. Seine Stimme ist ruhig, aber bestimmt. „Bevor wir weitermachen, Robert ist ja heute nicht da.“ Ich blinzele und richte mich unwillkürlich ein Stück auf.
Thomas sieht ihn fragend an. „Ja?“
„Dann steht die Frage im Raum, wer Justins Bild- und Videofreigaben erteilt.“
Stille. Ein kurzes, fast unmerkliches Zögern im Raum. Dann dreht sich jeder langsam zu Leo.
Ich kann förmlich sehen, wie Markus Lehmann eine Augenbraue hebt. Finn lehnt sich interessiert zurück, während Dr. Köhler nachdenklich seinen Stift dreht.
Leo bleibt völlig entspannt. Als wäre das hier für ihn nichts Besonderes. Aber für mich? Für mich fühlt es sich an, als würde er sich gerade noch mehr in diese Rolle drängen, in meine Welt.
„Was genau meinst du?“, fragt Thomas schließlich.
Leo lehnt sich ein wenig nach vorne, verschränkt die Hände auf dem Tisch. „Das aufgezeichnete Material soll doch genutzt werden, oder? Die Clips und Bilder, die bereits in der Bearbeitung sind? Ihr wollt sie veröffentlichen.“
„Ja, natürlich.“
„Dann muss Justin sie freigeben. Normalerweise macht das sein Vormund, also sein Bruder Robert. Aber heute ist er nicht da. Heißt das, dass das Material trotzdem erst mal zurückgehalten wird?“
Ein weiteres kurzes Schweigen. Ich kann sehen, wie sich Thomas' Miene verändert. Ein Hauch von Überraschung mischt sich in seinen Ausdruck, dann leichtes, anerkennendes Nicken.
Finn lächelt leise. „Guter Punkt.“
Ich blinzele. Natürlich ist es ein guter Punkt. Aber warum ist mir das nicht eingefallen? Warum ist es Leo, der an sowas denkt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt?
„Das ist eine berechtigte Frage“, sagt Finn. „Wir haben das Bildmaterial ja alle in unserer Cloud. Aber der Freigabeprozess ist wichtig, damit wir sicherstellen, dass nichts rausgeht, ohne dass es abgesegnet wurde.“
Ich atme langsam aus. Ja, stimmt. Irgendwo in mir merke ich, dass mir dieser Gedanke Unbehagen bereitet. Dass so viele Menschen mein Gesicht, meine Bewegungen, meine Worte auf ihren Bildschirmen sehen, bevor ich überhaupt sagen kann: Ja, das ist okay für mich. Leo scheint das zu bemerken. Er lehnt sich zu mir, seine Stimme ist ein Hauch leiser, fast nur für mich. „Keine Sorge. Du behältst die Kontrolle.“
Ich schaue ihn an. Er sagt das so selbstverständlich, als hätte er das hier alles schon hundert Mal gemacht. Und vielleicht hat er das ja auch.
Finn erklärt weiter. „Wir haben für euch beide die Möglichkeit, einen Cloud-Zugang einzurichten, mit dem ihr die finalen Clips und Bilder markieren könnt. Justin gibt sein eigenes Material frei, und Robert bekommt einen zweiten Zugang, falls er eine zweite Meinung dazu hat.“
Ich nicke langsam. Das klingt… fair.
„Leo kann den Zugang für Robert einrichten“, ergänzt Finn. „Dann könnt ihr heute Abend gemeinsam die Clips durchsehen und die Freigaben erteilen.“
Ich spüre, wie alle Blicke auf mich fallen. Mein Kopf fühlt sich plötzlich schwer an. Heute Abend. Das heißt, ich muss mich wirklich mit diesem Material auseinandersetzen. Mit meinen Interviews. Mit den Yoga-Sequenzen. Mit jedem verdammten Blick, jeder Bewegung, jedem Moment, in dem ich vergesse, dass eine Kamera auf mich gerichtet war. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Und dann…?
Leo. Er sieht mich an, als würde er genau wissen, was in mir vorgeht. „Wir machen das zusammen“, sagt er ruhig. Und plötzlich fühlt es sich nicht mehr ganz so beängstigend an.
„Also gut“, sagt Finn und lehnt sich zurück. „Dann ist das geklärt. Justin, du und Robert macht das heute Abend, und Leo kümmert sich um den Zugang. Perfekt.“
Ich merke, wie sich meine Schultern entspannen. Aber nicht, weil es jetzt einfacher ist. Sondern weil Leo es einfacher macht. Ich hätte nicht mal gewusst, dass das ein Problem ist. Und doch ist er derjenige, der daran gedacht hat. Der meine Interessen schützt, ohne dass ich es überhaupt bemerke.
Und die anderen? Sie akzeptieren es einfach. Nicht mal eine Frage, ob Leo das darf. Ob er dazu berechtigt ist. Weil er hier jeden kennt. Weil er sich in diesen Meetings natürlich bewegt. Und weil er sich wie jemand benimmt, der dazugehört. Plötzlich verstehe ich es wirklich. Leo ist wirklich sehr viel mehr als nur ein Praktikant. Er ist ein Vermittler. Ein Mittler zwischen den Welten. Er versteht die Firma. Die Strukturen. Die Abläufe. Aber er versteht auch mich. Er weiß, wann ich überfordert bin, bevor ich es selbst merke. Auch weiß er, woran ich denke, bevor ich es laut aussprechen kann. Und er nutzt dieses Wissen, um mich zu unterstützen. Ich starre auf meine Hände, während die Gespräche weitergehen.
Und zum ersten Mal seit Beginn dieses Meetings bin ich mir sicher: Ich hätte das hier allein nicht geschafft. Leo ist nicht nur mein Anker. Er ist mein unverzichtbares Rettungsseil.
Profi sein bedeutet alles – und nichts
Thomas schlägt eine neue Seite in seiner Mappe auf. Mein Name prangt fettgedruckt auf dem Papier, darunter eine Reihe von Unterpunkten. Mein Profi-Vertrag. Mein Brustkorb zieht sich zusammen. Ich wusste, dass wir irgendwann darüber sprechen müssen. Dass es nicht einfach nur eine Unterschrift war, sondern eine Entscheidung, die mein ganzes Leben umkrempelt. Aber erst jetzt, hier, in diesem riesigen Raum, zwischen all diesen Menschen, die Pläne für mich schmieden, wird mir klar, was es wirklich bedeutet.
„Justin“, beginnt Thomas ruhig, „du hast bereits unterschrieben. Aber jetzt geht es darum, was genau das für dich bedeutet.“
Mein Magen verkrampft sich. Leo sitzt neben mir, entspannt wie immer, aber ich spüre seine Präsenz noch deutlicher als sonst. Ich atme durch. Konzentriere mich auf Thomas' Stimme.
„Dein Vertrag umfasst nicht nur deine Rolle in der Kampagne“, erklärt er. „Er beinhaltet deine sportliche Laufbahn, deine Trainingsstruktur und deine langfristige Entwicklung als Athlet.“
Ich nicke. Langsam.
„Du wirst ein festes Team bekommen. Ein strukturiertes Programm. Einen klaren Plan, der sicherstellt, dass du sowohl physisch als auch mental auf deinem höchsten Level bist.“
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Klingt groß. Vielleicht zu groß?
„Kai bleibt dein Headcoach“, sagt Thomas. „Er wird deine Trainingsstrategie festlegen. Dein Körper muss optimal auf die Wettkämpfe vorbereitet sein. Aber du wirst auch Spezialisten an deiner Seite haben.“
Kai lehnt sich leicht vor, seine Haltung ist wie immer konzentriert, analytisch. „Ich werde das Haupttraining übernehmen. Kraft, Technik, Ausdauer. Das wird meine Verantwortung sein. Aber du bekommst zusätzlich noch individuelle Betreuung.“
Mein Blick huscht über den Tisch.
„Dazu gehört Erik für die sportmedizinische Begleitung“, fährt Thomas fort. „Er wird sicherstellen, dass du dich nicht überlastest, dass dein Körper gesund bleibt und sich optimal regenerieren kann.“
Erik nickt mir zu. „Wir werden eng zusammenarbeiten. Dein Körper wird sich durch das neue Training verändern. Und wir müssen sicherstellen, dass das auf gesunde Weise passiert.“
Ich schlucke. Verändern? Es klingt plötzlich, als würde ich zu einer Maschine geformt werden. Ich will nicht nur ein Produkt sein.
„Aber“, sagt Leo plötzlich. Alle Blicke wandern zu ihm. Er lehnt sich locker in seinem Stuhl zurück, aber sein Blick ist scharf. „Justin ist sechzehn“, wiederholt er. „Und er ist nicht nur Athlet. Er hat Schule, Freunde, ein Leben außerhalb des Kletterns.“
Ich starre ihn an. Er sagt das so selbstverständlich. So klar.
Thomas hebt eine Augenbraue. „Das ist uns bewusst.“
„Dann muss ein Mittelweg gefunden werden“, sagt Leo und verschränkt die Arme. „Ihr könnt ihn nicht einfach in ein System pressen und erwarten, dass er es aushält. Er braucht Struktur, ja. Aber er braucht auch Luft zum Atmen.“
Mein Herz klopft lauter. Er sagt das für mich. Ich hätte mich nicht getraut. Hätte mich nicht mal getraut, es mir selbst einzugestehen. Aber Leo hat es erkannt. Und er spricht es aus.
Thomas nickt langsam. „Dann lasst uns den Plan anpassen.“
Er schlägt eine neue Seite auf, Finn wechselt die Folie auf dem Bildschirm.
„Wir haben bereits über eine tägliche Routine für dich nachgedacht und Leo hat genau danach die letzten Sessions hier schon mit dir danach gehandelt. Sie soll dir helfen, Struktur zu bekommen, ohne dass du das Gefühl hast, erdrückt zu werden.“
Ich richte mich unbewusst etwas auf, als die Übersicht erscheint:
1. Check-in mit Leo – Besprechung des Tagesprogramms, Termine, mentale Vorbereitung
2. Frisch machen – Duschen, sich sammeln, ankommen
3. Stylistin & Vorbereitung – Look für den Tag, Medienauftritte oder Shootings
4. Tagesprogramm – Training, Meetings, Werbeshootings, Medienarbeit
5. Wellness & Regeneration – Physio, Entspannung, mentale Betreuung
6. Ergebnisdurchsprache – Reflexion, Feedback, Planung für den nächsten Tag
Ich starre auf den Plan. Jeden einzelnen Tag.
Leo lehnt sich zu mir, seine Stimme ist leise. „Hört sich schlimmer an, als es ist.“ „Haben wir doch die letzten Male schon genau so gemacht“ ergänzt er noch. Ich murmle leise. „Wirklich?“ Sein Mundwinkel zuckt. „Du wirst dich dran gewöhnen.“ Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Versprechen oder eine Drohung ist. „Wir müssen sicherstellen, dass du mit der Schule klarkommst“, sagt Thomas. „Dafür bekommst du Unterstützung.“ Ich blinzle. „Unterstützung?“ „Einen strukturierten Lernplan“, erklärt Thomas. „Und einen professionellen Zeitplaner, der deine Aufgaben organisiert.“ Erik fügt hinzu: „Falls nötig, auch pädagogische Unterstützung. Nachhilfe, falls du durch deine Termine Unterricht verpasst. Sonderregelungen mit der Schule. Das übernehmen wir.“
Ich starre ihn an. Das übernehmen sie? Ich muss mich um nichts kümmern?
Leo grinst. „Also eine digitale Peitsche.“ „So kann man es auch nennen“, murmelt Finn.
Ich ziehe die Stirn kraus. Schule mit digitalem Drucksystem? Klingt… fragwürdig. „Aber was ist mit meinen Freunden?“, frage ich schließlich.
Kai lehnt sich vor. „Das ist genau der Punkt, den wir mit Leo besprochen haben. Wir wollen nicht, dass du komplett in dieser Welt verschwindest.“
Ich atme langsam aus. Also haben sie das wirklich bedacht. „Wir lassen dir Zeit für deinen Verein. Für deine besondere Jugendgruppe. Für Robert“, fügt Thomas hinzu. „Aber es wird Phasen geben, in denen du Prioritäten setzen musst.“
Ich merke, wie sie wissen, was ich brauche. Dass meine Jugendgruppe akzeptiert wird, überrascht mich. „Aber mein Kletterverein?“ was ist mit dem? Dafür bleibt wohl keine Zeit, denke ich traurig.
Ein Schweigen entsteht… Da hebt Leo plötzlich den Kopf. „Was, wenn Kai ab und zu Trainings in Justins Kletterverein gibt?“
Ich blinzle. Kai mustert Leo kurz. Dann nickt er langsam. „Das ist keine schlechte Idee.“
„Dann hat der Verein auch was davon“, ergänzt Leo. „Und Justin kann weiterhin ein Teil davon bleiben.“
Thomas überlegt. Dann nickt er. „Macht Sinn.“
Ich atme langsam aus. Das ist keine perfekte Lösung. Aber es ist ein verdammt guter Kompromiss.
„Ein weiterer Punkt ist deine mentale Betreuung“, sagt Erik. „Du wirst nicht nur physisch gefordert – sondern auch psychisch.“
Ich nicke langsam.
„Clara wird dir helfen, mit dem Druck umzugehen. Mit der Öffentlichkeit, mit den Erwartungen. Du wirst Techniken lernen, um dich nicht zu verlieren.“
Leo murmelt neben mir: „Das klingt sinnvoll.“
Ich atme tief durch. Vielleicht. Vielleicht wird es wirklich helfen.
Ich sehe mich um. Diese Menschen planen meine Zukunft. Aber sie sehen mich. Sie haben große Ziele für die Firma. Aber sie achten darauf, dass ich dabei nicht verloren gehe. Und Leo… Er hat dafür gesorgt, dass meine Stimme gehört wird. Er hat sich für mich eingesetzt. Und das gibt mir Hoffnung.
Thomas sieht mich an. „Justin, kannst du dir das so vorstellen?“
Ich zögere. Sehe zu Leo. Er lächelt leicht. Hebt eine Augenbraue. Ich atme tief durch. „Ja.“ Und zum ersten Mal glaube ich wirklich, dass ich das schaffen kann.
Überforderung, Halt und Worte finden
Mein Kopf rauscht. Irgendwo zwischen den Worten, den Diagrammen, den Plänen für meine Zukunft habe ich den Faden verloren. Oder vielleicht wurde er mir einfach aus der Hand gerissen, weil es zu viel ist. Zu groß. Zu schnell. Ich sitze da, höre zu - oder tue so, als würde ich zuhören - aber die Worte verschwimmen:
Medienstrategie. Branding. Trainingsphasen. Mentale Belastbarkeit.
Mein Blick bleibt an den großen Bildschirmen hängen. Mein Gesicht, eingefangen in Bewegung. Mein Körper, der an der Kletterwand hängt. Die neue Kollektion, mein Name, das Logo von VERTIX.
Es fühlt sich an, als würde mein eigenes Leben mir langsam durch die Finger rinnen. Ich versuche, mich zu konzentrieren, aber mein Brustkorb fühlt sich zu eng an. Plötzlich ein leiser Druck an meinem Knie. Ich zucke kaum merklich zusammen. Leo. Seine Hand, unter dem Tisch, berührt mein Knie nur leicht, kaum spürbar, aber genau genug, um mich in die Realität zurückzuholen. Er sieht mich nicht direkt an, aber seine Finger streichen ganz kurz über den Stoff meiner Hose, bevor er seine Hand wieder zurückzieht.
Ich bin hier! Das sagt diese Berührung. Mehr nicht. Aber genau das reicht. Ich atme tiefer ein. Versuche, meinen Kopf wieder zu sortieren. Ich weiß nicht, wie lange das Meeting noch geht. Es fühlt sich an wie Stunden, aber irgendwann bemerke ich, dass sich der Tonfall der Anwesenden verändert. Nicht mehr so streng, nicht mehr so konzentriert. Eine Art Erleichterung liegt in der Luft. Mein Blick schweift zu Thomas, der gerade seine Mappe zuklappt.
„Ich denke, das war fürs Erste genug Input“, sagt er. „Justin, wir wissen, dass das viel ist.“
Ich nicke. Weil das irgendwie erwartet wird. Weil ich nichts anderes sagen kann. Aber dann… Ich schaue auf meine Hände, die locker auf dem Tisch liegen. Der Raum ist ruhiger geworden, aber in mir tobt es noch. Ich muss das ja jetzt noch Bobby erklären. Alles! Die Verträge. Die Struktur. Den Trainingsplan. Die Verpflichtungen. Aber wie soll ich das in Worte fassen, wenn ich es selbst kaum greifen kann?
Mein Blick wandert zu Leo. Und plötzlich weiß ich, was ich sagen muss. „Ich…“ Meine Stimme klingt rau. Ich räuspere mich, versuche es nochmal. „Ich brauche Hilfe, das Bobby zu erklären.“
Thomas neigt den Kopf. „Was genau meinst du?“
Ich atme langsam aus. „Er war nicht hier. Und es ist so viel. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich will nicht, dass er sich übergangen fühlt. Aber ich kann das alles nicht einfach so… erzählen.“ Leo tippt mit den Fingern auf den Tisch. Sein Blick trifft meinen. „Dann machen wir es schriftlich.“ Er sagt das so, als wäre es das Einfachste der Welt. Ich starre ihn an. „Schriftlich?“ „Ja“, sagt er und lehnt sich zurück. „Wir fassen es zusammen. Alles, was heute besprochen wurde. Einfach. Verständlich. So, dass es dein Bruder es schnell überblicken kann.“
Ich merke, wie sich mein Brustkorb ganz leicht entspannt. Das klingt… machbar. „Und ich helfe dir dabei“, fügt Leo hinzu. Meine Finger krallen sich in den Stoff meiner Hose. Er weiß genau, was ich brauche, bevor ich es selbst weiß. Ich nicke langsam. „Okay.“
Thomas schmunzelt. „Klingt nach einem guten Plan.“
Ich spüre ein leises Zucken in meinem Bauch. Ein kleiner Funke von Kontrolle, die ich zurückgewonnen habe.
Und dann sagt Thomas die nächsten Worte:
„Gut. Dann machen wir weiter mit dem Pressetermin.“
Ich erstarrte. Oh. Scheiße!
Der Pressetermin – Worte finden, wenn man keine hat
Ich wusste, dass er kommt. Aber jetzt, wo es wirklich soweit ist, fühlt es sich an, als würde mir der Boden unter den Füßen wegrutschen. Leo scheint es zu merken. Er lehnt sich kurz zu mir, seine Stimme ist ruhig. „Keine Panik.“
Leicht gesagt. Ich stehe auf. Die Luft im Konferenzraum ist plötzlich stickig. Oder vielleicht bilde ich mir das nur ein.
Thomas gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Finn und ein paar andere aus dem Team stehen ebenfalls auf. Kai streckt sich kurz, als hätte ihn das Meeting müde gemacht.
„Also, keine große Sache“, sagt Thomas, während wir in Richtung eines anderen Raumes gehen. „Ein paar Fragen, ein paar Fotos. Es geht vor allem darum, dich als neues Gesicht zu präsentieren.“
Ich atme tief ein. Mein Herz schlägt schneller. Wir gehen durch einen langen Flur, das Licht hier ist etwas gedämpfter. Die Gespräche um mich herum verschwimmen, während ich versuche, meinen Kopf zu sortieren. Leo läuft neben mir. „Du musst nicht alles perfekt machen“, murmelt er. „Sag einfach, was du wirklich denkst.“
„Was, wenn ich nicht weiß, was ich denke?“
Er schmunzelt. „Dann improvisierst du.“
Leicht gesagt. Aber da ist dieses leichte, herausfordernde Funkeln in seinen Augen. Und ich weiß: Egal, was passiert, er wird da sein.
Die Tür öffnet sich. Und dann trifft es mich. Blitzlichter.
Klick, klick, klick - eine Welle aus Kamerageräuschen. Mikrofone, die auf Ständern befestigt sind, einige Mikros in den Händen von Journalisten, die sie erwartungsvoll nach vorne strecken. Stimmengewirr, leises Murmeln, die Energie eines Raumes, in dem etwas Bedeutendes passiert.
Mein Magen zieht sich zusammen. Ich bleibe für den Bruchteil einer Sekunde stehen. Nicht, weil ich will. Sondern weil mein Körper einfach nicht weitergeht. Leo ist neben mir. Ich spüre seine Präsenz, seinen Blick, auch wenn er mich nicht direkt ansieht. Dann dieser kurze Druck an meinem Handrücken. Eine Berührung, nicht länger als ein Wimpernschlag, aber genau genug, um mir das Gefühl zu geben, ich bin nicht allein. Ich atme aus. Gehe weiter.
Der Raum ist hell. Große Fenster lassen Tageslicht herein, aber zusätzlich sind überall Spotlights installiert, die uns frontal ausleuchten.
Vor mir ein langer Tisch mit mehreren Stühlen. Davor eine Tribüne mit Journalisten, Kamerateams, Notizblöcken.
Ich sehe Thomas. Er setzt sich an die Mitte des Tisches, sein Blick souverän, ruhig. Neben ihm Markus Lehmann, der Finanzchef, dann Dr. Köhler, der Forschungsleiter. Finn ist auch da, locker, mit einer Kamera über der Schulter, als würde er das alles nur aus der Distanz beobachten.
Und dann ich. Langsam setze ich mich. Mein Rücken fühlt sich ungewohnt gerade an. Leo nimmt links neben mir Platz. Ich merke, wie ich nach diesem kleinen Fixpunkt suche, wie mein Blick automatisch zu ihm wandert. Er lehnt sich zurück, die Arme locker auf der Stuhllehne, aber seine Augen sind aufmerksam. Bereit, einzugreifen, falls ich mich komplett in meiner eigenen Unsicherheit verliere. Okay. Das ist real.
Thomas tippt mit den Fingern auf das Mikrofon. Ein leises Knacken, dann seine Stimme, klar und ruhig.
„Willkommen. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mit uns über die neue Kampagne zu sprechen.“
Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Jetzt geht es los.
„Heute möchten wir Ihnen nicht nur unsere neue Kampagne vorstellen“, fährt Thomas fort. „Sondern auch einen ganz besonderen Athleten, der eine zentrale Rolle darin spielen wird.“
Ich höre das Wort. Besonders. Es klingt immer noch fremd, wenn es um mich geht. „Justin ist sechzehn Jahre alt. Ein außergewöhnliches Talent im Klettern. Aber er ist mehr als das. Er verkörpert genau das, was wir mit VERTIX zeigen wollen: Mut. Authentizität. Leidenschaft für den Sport.“
Mein Hals wird trocken. Ich weiß, dass das gut gemeint ist. Dass es sein Job ist, mich genau so darzustellen. Aber trotzdem, es ist seltsam, sich selbst durch die Worte eines anderen beschrieben zu hören.
Thomas spricht weiter, erzählt von der Kampagne, der neuen Kollektion, den innovativen Technologien, die in die Sportkleidung und Ausrüstung einfließen.
Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, aber mein Blick wandert zu den Journalisten.
Sie schreiben mit. Einige tippen auf Laptops. Andere haben ihre Kameras auf mich gerichtet.
Das hier ist kein kleines Interview für den Schulblog. Das hier ist öffentlich. Und dann passiert es.
Das erste Mal sprechen
Thomas beendet seine Einführung. Und dann drehen sich die Blicke zu mir. Ich höre das Klicken eines Mikrofons. Ein Journalist in der ersten Reihe hebt die Hand. Mein Magen macht einen nervösen Salto.
Thomas nickt ihm zu.
„Justin, wie fühlt es sich an, das Gesicht einer so großen Kampagne zu sein?“
Ich öffne den Mund. Und schließe ihn wieder. Verdammt. Ich räuspere mich. Setze neu an. „Ähm…“ Kurze Pause. Die Worte sind da, aber sie fühlen sich an wie Sand in meinem Kopf – nicht greifbar, nicht flüssig.
Mein Blick huscht zu Leo. Er hebt kaum merklich eine Augenbraue. Ein winziges Zucken im Mundwinkel, als wollte er mir sagen: Du weißt genau, was du sagen willst. Sag es einfach.
Ich atme tief durch. „Es ist… ziemlich überwältigend“, sage ich schließlich. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in so einer Position sein würde. Vor ein paar Wochen war ich noch ein normaler Kletterer. Jetzt sehe ich mein Gesicht auf riesigen Bildschirmen. Es fühlt sich surreal an.“
Ein paar der Journalisten nicken. Einige lächeln sogar leicht. Okay. Das war nicht komplett peinlich.
Die nächste Frage: „Was bedeutet VERTIX für dich? Warum hast du dich für diese Zusammenarbeit entschieden?“
Ich denke nach. Meine Finger krallen sich leicht in die Tischkante: „Weil es nicht nur um Klettern geht“, sage ich langsam. „Es geht darum, etwas Neues zu schaffen. Um einen Sport, der nicht immer im Rampenlicht steht. Und weil ich mich mit der Philosophie identifizieren kann.“ Leo lächelt leicht.
Nächste Frage: „Und dein Profi-Vertrag? Wie fühlt es sich an, jetzt nicht nur ein Model, sondern auch ein offizieller Athlet im Team zu sein?“
Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus. Ich wusste, dass das kommt. Ich hätte eine perfekte Antwort vorbereiten können. Aber stattdessen sage ich das Erste, was mir in den Sinn kommt. „Es macht mir ein bisschen Angst.“
Stille. Ein leises Raunen. Ich höre das Kratzen eines Stifts auf Papier. Aber ich zucke nicht zurück.
„Es ist viel Verantwortung“, fahre ich fort. „Ich bin sechzehn. Ich habe Schule. Mein normales Leben. Und gleichzeitig soll ich jetzt Profi sein, trainieren, Wettkämpfe bestreiten. Es ist ein großer Schritt.“
Ich halte kurz inne. Dann sehe ich Thomas an, dann Markus, dann Finn. Und schließlich Leo. „Aber ich bin nicht allein.“ Ich merke, wie sich mein Brustkorb entspannt, als ich das sage. Es ist nicht nur eine Antwort für die Presse. Es ist eine Antwort für mich selbst. Ich bin nicht allein.
Das Interview geht weiter. Ein paar lustige Fragen. Ein paar ernstere. Ich verspreche mich einmal und sorge damit für Gelächter. Die Atmosphäre wird lockerer. Und ich merke, wie ich mich verändere. Mit jeder Antwort werde ich sicherer. Mit jedem Satz gewöhne ich mich mehr daran, hier zu sein. Als das Interview schließlich endet und die Kameras ausgeschaltet werden, atme ich tief durch.
Ich schaue zu Thomas. Zu Finn. Zu Kai. Zu Leo. Und ich realisiere es. Ich bin nicht nur ein Kletterer, der zufällig in diese Kampagne gestolpert ist. Ich gehöre hierher. Ich bin Teil davon.
Fallen, Gefangen werden, und das Unausweichliche
Die Haustür fällt hinter uns ins Schloss. Ich bin noch immer in diesen Klamotten. Den modernen, sportlichen, aber irgendwie auch förmlichen Sachen, die mich heute durch den Nachmittag getragen haben. Oder vielleicht war es auch andersrum. Vielleicht habe ich mich an ihnen festgehalten, damit ich nicht den Boden unter den Füßen verliere.
Aber jetzt… jetzt bin ich zu Hause. Und alles fühlt sich plötzlich schwerer an. Nicht schlecht. Nur… real. Bobby steht in der Küche, als hätte er genau getimed, wann ich eintreffe. Er trägt noch sein Hemd von der Arbeit, die Ärmel locker hochgekrempelt, einen Ausdruck auf dem Gesicht, der irgendwo zwischen Neugier und Erleichterung liegt.
„Da bist du ja“, sagt er. Dann fällt sein Blick auf Leo, der hinter mir durch die Tür tritt. „Und du hast Verstärkung mitgebracht.“ Ich lache leise. „Ich dachte, du wolltest sowieso alles wissen.“
Bobby hebt eine Augenbraue. „Das will ich auch.“ Dann deutet er auf den Tisch. „Aber vorher essen? Ich hab nicht mal geschafft, mir was zu machen, und wenn ich dich so ansehe…“ Er mustert mich kurz. „Du hast bestimmt den ganzen Tag nichts Vernünftiges gegessen.“
Ich will protestieren. Aber mein Magen knurrt, bevor ich überhaupt den Mund öffnen kann. Leo lacht leise hinter mir. „Okay, das klang eindeutig.“ Bobby grinst. „Dachte ich mir.“
Ich zögere einen Moment. Ich weiß, dass Bobby unbedingt alles hören will, dass er neugierig ist, dass er seine typische Mischung aus „großer Bruder“ und „inoffizieller Manager“ ausleben wird.
Aber ich brauche einen Moment. Einen Moment nur für mich. Für Leo. „Ich… komm gleich, okay?“ Ich streiche mir über den Nacken, spüre, wie warm meine Haut ist. „Ich muss nur kurz … ankommen.“
Bobby mustert mich, dann nickt er. „Verstehe. Aber nicht zu lange, sonst esse ich alles auf.“
Ich rolle mit den Augen. „Als ob du das tun würdest.“
Er grinst. „Stimmt. Ich würde dir ein bisschen was übrig lassen.“
Leo schüttelt grinsend den Kopf. „Komm schon, Justin, bevor er es sich anders überlegt.“
Ich schiebe Bobby spielerisch zur Seite, bevor ich in mein Zimmer gehe. Ich spüre Leos Schritte hinter mir. Sein Atem geht ruhig, während meiner immer noch zu schnell ist.
Mein Zimmer fühlt sich plötzlich nach einem sicheren Hafen an. Die Tür ziehe ich hinter uns zu.
Ich atme ein. Langsam. Und dann lasse ich mich einfach fallen. Ich lande auf meinem Bett. Schließe die Augen. Ich höre, wie Leo sich bewegt, wie seine Schritte näherkommen. Dann spüre ich, wie die Matratze leicht nachgibt, als er sich setzt.
Dann seine Stimme. Tief, ruhig, nah. „Du hast heute echt abgeliefert.“ Ich lache leise. „War es das? Ein Abliefern?“ Leo schüttelt den Kopf. „Nein.“ Dann leiser, fast wie ein Geheimnis: „Es war mehr.“ Ich öffne die Augen. Er sitzt neben mir, dreht sich leicht zu mir, eine Hand auf die Decke gestützt. Sein Blick ruht auf mir, warm, aber durchdringend. Ich merke, wie mein Herz wieder schneller schlägt. „Du hast dich da vorne hingestellt und es durchgezogen“, sagt er. „Auch wenn du Schiss hattest.“ Ich schnaube. „Ich hatte nicht nur Schiss. Ich war kurz davor, einfach umzudrehen.“
„Aber du hast es nicht getan.“ Seine Stimme ist weich. Fast stolz.
Ich sehe ihn an. Seine dunklen Augen haben dieses Funkeln, dieses neugierige, lauernde, als würde er etwas erwarten. Als wüsste er, dass dieser Moment… mehr ist.
„Du hast mich gerettet“, murmle ich.
Leo grinst. „Ich hab dir nur die Tür gezeigt. Durchgegangen bist du selbst.“
Meine Finger krallen sich leicht in die Decke. Ich merke, wie mir die Worte fehlen. Wie sich in mir eine Spannung aufbaut, die nicht aus Nervosität besteht – sondern aus etwas Anderem.
Leo lehnt sich ein bisschen näher.
„Weißt du“, sagt er leise, „wenn du noch länger so schaust, dann könnte ich fast denken, du willst, dass ich …“
Sein Satz bleibt in der Luft hängen. Ich weiß, was er sagen wollte. Und ich weiß, dass er Recht hat. Ich will es. Aber ich traue mich nicht. Die Spannung zwischen uns ist fast greifbar. Ich spüre die Wärme seiner Haut, obwohl wir uns nicht berühren. Spüre, wie sein Atem meine Haut streift, wie meine Brust sich hebt und senkt, als würde mein Körper selbst nicht wissen, was er als nächstes tun soll.
Mein Blick fällt auf seine Lippen. Ein winziges, kaum merkliches Zucken seiner Mundwinkel. Er sieht es. Er weiß es. Ich glaube, er wartet. Und dann… dann passiert es!
Es ist kein dramatischer Moment. Kein großes Feuerwerk. Es ist ein leises, vorsichtiges Ineinander finden. Meine Lippen streifen seine. Ganz leicht. Fast nur eine Berührung. Ein Atemzug, nicht mehr. Aber mein ganzer Körper fühlt es. Dieses Kribbeln, das sich über meine Haut zieht, von meinen Fingerspitzen bis tief in meinen Magen. Leo hält still. Gibt mir die Kontrolle. Lässt mich entscheiden, ob ich mehr will. Ich glaube, ich will. Ich glaube…
„JUSTIN! ESSEN IST FERTIG!“ Bobbys Stimme hallt durch die Wohnung.
Ich reiße mich zurück. Meine Brust hebt und senkt sich zu schnell. Leo blinzelt. Dann - ein Grinsen. Ein richtiges Grinsen. „Timing ist echt deines Bruders Stärke, oder?“
Ich starre ihn an. Mein Herz rast. Meine Haut brennt. Dann lache ich. Ein leises, erschrockenes Lachen, das irgendwo zwischen Verlegenheit und Euphorie steckt.
Leo schüttelt schmunzelnd den Kopf. Er lehnt sich ein Stück zurück, aber sein Blick bleibt auf mir.
„Das war…“ Ich suche nach Worten. „Ja“, murmelt er. „War es.“
Mein Herz hämmert noch immer gegen meine Rippen, als ich mich aufrichte. Ich weiß nicht, was genau da gerade passiert ist. Aber ich weiß, dass es sich verdammt echt angefühlt hat. Und dass ich es wieder fühlen will.
„Komm“, sagt Leo und streicht mir locker mit den Fingern über den Handrücken. Ein sanftes, fast beiläufiges Streifen, das mich mehr elektrisiert, als es sollte. „Dein Bobby wartet.“
Ich atme aus. Nicke. Und dann gehen wir zu ihm. Aber mein Kopf… ist noch immer bei diesem Kuss.
Brüder, Blicke und unausgesprochene Wahrheiten
Die Wärme des Kusses hängt immer noch in meiner Haut, während wir durch den Flur gehen. Mein Herz schlägt zu schnell, meine Gedanken sind ein einziges Chaos, und ich weiß nicht, ob ich mich gerade unendlich lebendig oder einfach nur völlig überfordert fühle. Leo läuft neben mir. Ganz normal. Ganz ruhig. Als wäre nichts passiert. Oder vielleicht ist das genau der Punkt. Es ist etwas passiert. Aber er tut nicht so, als müsste das jetzt die Welt verändern. Ich, hingegen?
Ich kann Bobby gerade kaum in die Augen sehen.
Seine Stimme schallt aus der Küche: „Hoffentlich seid ihr jetzt nicht so spät gekommen, dass ich doch alles alleine essen musste!“
Ich lache gezwungen. „Ja, genau. Dein großes Opfer für die Menschheit.“
Bobby lehnt sich gegen den Küchentresen, die Arme locker verschränkt, während er uns mustert. Dann bleiben seine Augen für eine Sekunde zu lange auf mir hängen.
Ich blinzele. Scheiße. Ich bin mir nicht sicher, was genau er sieht, aber sein Gesichtsausdruck ändert sich nur ein bisschen. Ein kaum merkbares Heben der Augenbrauen. Ich reiße mich zusammen und tue so, als wäre nichts. Ich schnappe mir einen Teller, während Leo sich lässig auf einen Stuhl fallen lässt. Aber mein Körper ist immer noch aufgeladen, meine Haut kribbelt an Stellen, die sie nicht kribbeln sollte.
„Also?“ Bobby schnappt sich seine Gabel und stützt den Ellbogen auf den Tisch. „Erzählt mal. Wie war's?“
Ich schiebe mir eine Gabel Nudeln in den Mund, kauend um Zeit bemüht. „Er hat es gerockt“, sagt Leo und lehnt sich zurück. Ich schnaube. „War mehr überleben als rocken.“ Leo grinst. „Manchmal ist das dasselbe.“
Bobby hebt eine Augenbraue. „Also… Profivertrag, Presse, Kampagne, alles durch? Und? War es so schlimm, wie du dachtest?“
Ich schlucke. Spüre, wie sich in mir eine Antwort formt, die nicht nur aus Worten besteht, sondern aus all dem, was in meinem Kopf tobt. Ich atme aus. „Es war viel. Richtig viel. Aber…“ Ich sehe kurz zu Leo. Er erwidert meinen Blick, ruhig, fast auffordernd. „Aber ich glaube, ich kann das.“
Bobby legt seine Gabel ab und mustert mich. Dann nickt er langsam. „Gut.“
Ich runzle die Stirn. „Gut?“
„Ja, gut.“ Er lehnt sich auf seinen Stuhl zurück, kreist sein Wasserglas zwischen den Fingern. „Ich hab mir Sorgen gemacht, weißt du? Ob du da einfach reingeschoben wirst, ob du in diesem riesigen System untergehst. Aber wenn du mir jetzt sagst, dass du das packst…, dann glaub ich dir das.“ Seine Stimme ist ruhig. Aber da steckt etwas in seinem Blick, das mich durchbohrt.
Ich schlucke. Spüre, wie meine Finger sich um die Gabel krallen. „Bobby…“
„Und ich bin mir sicher, dass du deine eigenen Gedanken dazu hast“, fährt er fort. Seine Augen ruhen auf mir. „Dass du das nicht einfach nur sagst, um mich zu beruhigen.“
Ich nicke langsam.
Dann senkt er leicht die Stimme. „Und dass du mir vielleicht noch ein bisschen mehr erzählen willst.“
Mein Atem stockt. Ich sehe zu Leo. Er tut, als wäre er nicht Teil dieser Unterhaltung. Nur das Zucken an seinem Mundwinkel verrät, dass er genau weiß, was hier gerade passiert. Ich lege meine Gabel ab. Plötzlich schmeckt das Essen nach nichts.
Bobby stützt die Arme auf den Tisch. „Justin.“
Ich weiß, dass ich ihm nichts vormachen kann. Er sieht mir an, wenn ich überfordert bin. Er sieht mir an, wenn mein Kopf voller Gedanken ist. Und, verdammt, er sieht mir auch an, wenn da noch was anderes ist.
Ich will lügen. Einfach sagen: „Nein, nichts. Alles gut.“ Aber dann… dann sehe ich Leos Schatten auf dem Tisch, seinen Ellbogen lässig abgestützt, seine Finger, die in langsamen Kreisen über das Holz fahren. Ich schlucke.
Bobby folgt meinem Blick.
Scheiße.
Dann, ganz ruhig, sagt er: „Es ist Leo, oder?“
Mein Körper erstarrt.
Leo bleibt völlig still.
Aber ich spüre, wie seine Finger für einen kurzen Moment das Tischholz nicht mehr berühren.
Bobbys Stimme ist nicht vorwurfsvoll. Nicht mal neugierig im klassischen Sinne.
Eher… sanft.
Ich blicke auf meinen Teller. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Und dann…, nicke ich. Ganz leicht.
Bobby seufzt. Lächelt kurz, kaum sichtbar. Dann trinkt er einen Schluck Wasser. „Weißt du, das war jetzt echt keine Überraschung.“
Ich starre ihn an. „Was?!“
„Justin.“ Er schüttelt grinsend den Kopf. „Ich hab Augen im Kopf.“
Ich öffne den Mund, aber mir fällt nichts ein. Bobby lehnt sich zurück. „Du bist sechzehn. Verknallt sein ist erlaubt.“
Das Wort trifft mich mit voller Wucht. Verknallt? Ich? Aber dann…, dann merke ich, dass er recht hat. Dass ich aufhöre zu atmen, wenn Leo mich ansieht. Dass ich jedes einzelne Wort, das er sagt, in mir nachhallen lasse. Dass meine Haut brennt, wenn er mich berührt.
Bobby nimmt noch einen Schluck Wasser, dann deutet er mit der Gabel auf mich. „Aber tu mir einen Gefallen.“
Ich schlucke. „Was denn?“
„Tu nichts, was du nicht wirklich willst. Und nichts, wozu du nicht bereit bist.“
Mein Brustkorb verengt sich kurz.
Ich schiele zu Leo. Er beobachtet mich. Ruhig, abwartend. Dann dreht er sich leicht zu Bobby. „Glaub mir, ich setz ihn zu nichts unter Druck.“
Bobbys Augen blitzen. „Das hoffe ich doch.“
Leo grinst. „Ich bin ein Gentleman.“
Ich rolle die Augen. „Ihr seid so peinlich.“
Bobby lacht. Dann streckt er sich. „Alles klar. Genug Herzklopfen für heute.“
Ich atme langsam aus.
Mein Körper fühlt sich noch immer schwer an, als würde das Gewicht dieser Erkenntnis mich gerade erst richtig treffen.
Aber dann…, dann passiert etwas. Leo streckt seine Beine unter dem Tisch aus. Sein Fuß streift ganz kurz meinen. Mein Kopf dreht sich zu ihm. Er hebt nur leicht eine Augenbraue. Ein winziger Hauch eines Grinsens auf seinen Lippen. Und ich weiß, dass er mich verstanden hat.
Bobby hat es als Erster laut gesagt.
Aber Leo? Leo wusste es schon die ganze Zeit. Und ich glaube, ich wusste es auch. Ich sitze da, mein Herz hämmert noch immer in meiner Brust, aber mein Mund zuckt leicht nach oben. Verknallt! Ja. Vielleicht. Nein. Nicht vielleicht. Definitiv! Und zum ersten Mal fühlt es sich nicht mehr wie ein Geheimnis an.
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