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Höhen und Herzen

Zwischen Kletterwand, Kamera und der Suche nach sich selbst

Teil 9 - Ein Schritt ins Rampenlicht

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zwischen Herzklopfen, Entscheidungen und neuer Realität

Ein Morgen mit Veränderungen

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so wach war. So richtig wach. Nicht nur körperlich, sondern auch im Kopf. Als würde jede Zelle meines Körpers sich erinnern, dass gestern etwas passiert ist. Oder vielleicht doch, gestern Abend, als Leo mich ansah. Als seine Finger unter mein Shirt glitten, seine Berührung so leicht war, dass sie fast nur eine Erinnerung hätte sein können. Als wir einfach nur nebeneinandersaßen, ohne zu reden, weil Worte nicht nötig waren.

Aber jetzt ist es nicht Leo, der mich aufweckt. Es ist der Duft von frischem Kaffee – und etwas, das verdächtig nach Rührei riecht. Mein Körper fühlt sich … seltsam an. Nicht müde, aber auch nicht ganz fit. Meine Muskeln sind schwer, als hätten sie über Nacht vergessen, dass sie sich eigentlich regenerieren sollten. Aber gleichzeitig ist da dieses leise, vibrierende Kribbeln in mir, das nichts mit Erschöpfung zu tun hat. Es ist wie Adrenalin, nur sanfter. Als würde mein Körper sich erinnern, dass sich etwas verändert hat. Ich strecke mich langsam, spüre das leise Ziehen in meinen Schultern, das vertraute Knacken in meinem Nacken. Mein Blick fällt auf mein Handy, das halb unter meinem Kissen liegt.

08:48 Uhr.

Und eine Nachricht.

Leo: „Guten Morgen, Justin. Gut geschlafen?“

Mein Herz macht diesen kleinen, unkontrollierten Satz, den es immer macht, wenn sein Name auf meinem Display auftaucht. Ich grinse, beiße mir kurz auf die Lippe, bevor ich antworte.

Ich: „Morgen. Ja. Und du?“

Ein paar Sekunden vergehen. Dann vibriert mein Handy erneut.

Leo: „Ging so. Hab zu viel nachgedacht.“

Ich starre auf die Worte, spüre, wie sich mein Magen leicht zusammenzieht. Nicht unangenehm, eher … neugierig. Worüber hat er nachgedacht? Über gestern? Über mich? Ich will ihn fragen, aber dann mischt sich der Duft von frischem Brot in die Luft, und mein Magen gibt ein verräterisches Knurren von sich.

Ich: „Erzähl mir später davon. Frühstück ruft. ;)“

Seine Antwort kommt direkt. Leo: „Dann iss was Ordentliches. Kein Mist. :D“

Ich schüttele grinsend den Kopf, schiebe das Handy in meine Hosentasche und tappe barfuß Richtung Küche. Die Küche ist warm, hell. Das Licht fällt durch die großen Fenster auf den Tisch, auf dem sich ein Frühstück befindet, das absolut nicht nach uns aussieht. Rührei mit frischen Kräutern. Vollkornbrot. Avocado. Ein bunter Obstteller. Und … sind das Chiasamen? Ich bleibe in der Tür stehen und blinzele. „Äh… Bobby?“

Mein Bruder steht am Herd, eine Pfanne in der Hand, sein Haar ist noch völlig zerzaust. Er dreht sich mit einer hochgezogenen Augenbraue zu mir um. „Ja?“

Ich deute auf den Tisch. „Ist das hier …, ist das wirklich unser Frühstück? Oder bist du gestern Nacht aus Versehen in einen Ernährungsratgeber gefallen?“

Bobby schnaubt. „Sehr witzig.“ Er wendet das Rührei in der Pfanne, fügt dann trocken hinzu: „Nenn es einfach eine bewusste Entscheidung.“

Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen, betrachte die Avocado skeptisch. „Du weißt, dass du früher gesagt hast, das Zeug schmeckt wie grüne Wandfarbe, oder?“

„Tja, Menschen ändern sich.“

Er stellt die Pfanne auf den Tisch, schnappt sich einen Teller und setzt sich mir gegenüber. Ich beobachte ihn genau. Das ist nicht nur für mich. Ja, Erik hat mir gestern diese Ernährungstipps gegeben, ja, ich weiß, dass ich besser auf mich achten muss, und ja, Bobby ist immer der Erste, der aufpasst, dass ich nicht umfalle – aber das hier? Das ist auch für ihn.

Er nimmt sich eine Scheibe Brot, streicht Avocado darauf, streut ein paar Chiasamen drüber, als hätte er das schon immer so gemacht. Ich sage nichts, aber mein Brustkorb fühlt sich plötzlich wärmer an.

Ich piekse mit der Gabel in mein Rührei, koste einen Bissen - und es schmeckt tatsächlich gut.

„Also?“ fragt Bobby zwischen zwei Bissen.

Ich kaue, schlucke, sehe ihn fragend an. „Also was?“

Er lehnt sich zurück, verschränkt die Arme, sein Blick ist ruhig, aber direkt. „Leo.“

Natürlich.

Ich schiebe mein Essen auf dem Teller hin und her, bevor ich langsam grinse. „Was ist mit ihm?“

Bobby verzieht den Mund zu einem halben Schmunzeln. „Du gestern lange weg. Also…?“

Meine Ohren werden heiß. „Also…“ Ich suche nach Worten. „Er ist…“

Bobby hebt eine Augenbraue. Wartet.

Ich atme langsam aus. Gestern war es so klar. Seine Worte, seine Berührungen, die Art, wie er mich angesehen hat. Ich schiebe meinen Teller ein Stück zurück, verschränke die Hände. „Ich glaube … ich mag ihn noch mehr, als ich gedacht habe.“

Bobby legt den Kopf leicht schief. Sein Blick bleibt ruhig. „Hättet ihr das nicht schon vor Wochen klären können?“

Ich lache leise, schüttle den Kopf. „Doch. Aber ich glaube, gestern hat es sich … richtiger angefühlt. Ehrlicher.“

Mein Bruder nimmt einen Schluck Kaffee, betrachtet mich über den Rand seiner Tasse hinweg. „Und …, was denkt er?“

Ich zögere, beiße mir auf die Lippe. „Er hat gesagt, dass er es versuchen will.“

Bobby setzt seine Tasse langsam ab. „Versuchen?“

Ich nicke. „Er hat schlechte Erfahrungen gemacht. Jemand hat ihn mal richtig verletzt.“

Bobbys Gesicht wird für einen Moment ernst. Er nickt langsam. „Das erklärt Einiges.“

Ich spiele nervös mit meinen Fingern. „Ja. Aber …, ich glaube, es bedeutet ihm trotzdem was. Mir auch.“

Mein Bruder mustert mich eine Sekunde zu lang. Dann schmunzelt er. „Gott, du grinst ja schlimmer als ein verliebter Schuljunge.“

Ich brumme. „Das bin ich ja auch.“

Er lacht, schüttelt den Kopf. „Aber hey, solange du glücklich bist“. Er nimmt einen Bissen Brot, kaut nachdenklich. „Und Leo sich gut um dich kümmert…“

Ich grinse. „Tut er.“

„Dann finde ich das verdammt cool.“

Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber, vielleicht, habe ich genau das gebraucht.

Bobby hebt seine Tasse in meine Richtung. „Auf dein Schwärmen.“

Ich lache, stoße mit meinem Orangensaft an. Und irgendwo in mir fühlt sich alles ein bisschen richtiger an als noch vor ein paar Tagen.

Ein Morgen voller Chaos – und Leo kommt vorbei

Ich erwache aus meinen Gedanken und mein Herz rast, als würde es mir sagen, dass heute alles anders wird – oder vielleicht, dass etwas nicht stimmt. Ich sitze da, umgeben von einem Durcheinander, das mein Zimmer fast zum Schlachtfeld gemacht hat: Bücher, die kreuz und quer auf meinem Schreibtisch liegen, Klamotten, die achtlos über den Stuhl drapiert sind, und auf meinem Nachttisch steht noch die leere Flasche mit diesem ekligen Elektrolytgetränk von gestern. Mein Kopf fühlt sich noch benommen an, als hätte ich in einer Matratze aus Beton geschlafen, und die Erinnerung an gestern ist bruchstückhaft. Da war das Shooting, dann mein totaler Zusammenbruch, dann… nichts.

Plötzlich vibriert mein Handy. Ich starre darauf, meine Finger klammern sich fast unwillkürlich an das Gerät, während ich die Nachricht lese:

Leo: „Hey, ich komme nachher vorbei. Wir müssen reden.“

Für einen Moment steht mir die Welt still. Reden? Mein Magen verkrampft sich, als würde sich ein Knoten in mir bilden. Meine Gedanken rasen: Habe ich etwas falsch gemacht? War gestern zu viel? Habe ich ihn vielleicht überfordert? Oder - oh Gott - hat er seine Meinung geändert? Mein Brustkorb wird eng, mir wird heiß, und ich fühle mich plötzlich, als würde ich kurz davor stehen, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Hektisch tippe ich zurück: „Alles okay?“

Nach ein paar quälenden Sekunden vibriert das Handy erneut: Leo: „Ja. Keine Panik. Es ist nichts Schlimmes.“

Nichts Schlimmes, doch warum dann das Drängen auf ein Gespräch? Meine Nerven spielen verrückt. Ich springe auf, während mein Zimmer im Chaos versinkt. Ich schnappe mir wahllos ein paar Sachen und stopfe sie hastig in meinen Schrank, während ich die zerlumpte Decke glattziehe. Dann werfe ich einen Blick in den Spiegel: Meine Haare stehen in alle Richtungen ab, mein zerknittertes Shirt lässt mich aussehen, als hätte ich eine Nacht im Waschsalon verbracht.

Gerade in diesem Moment betritt Bobby mein Zimmer und bleibt in der Tür stehen. Sein Blick schweift über das Durcheinander, und er hebt eine Augenbraue.

„Räumst du gerade freiwillig auf? Und… du schwitzt. Was zur Hölle ist los?“, fragt er, mit dieser Mischung aus Besorgnis und spöttischem Humor, die ich so gut kenne.

Ich wirbele ihm entgegen, meine Stimme ein wenig aufgeregt: „Leo kommt vorbei.“

Stille. Dann zieht Bobby seinen Mund zu einem breiten, viel zu amüsierten Grinsen.

„Ohhh“, sagt er schließlich, und ich spüre, wie meine Unsicherheit ins Lächerliche gezogen wird.

„Sag kein Wort, Bobby“, erwidere ich, und sein Lachen fängt an, in meinem Kopf nachzuhallen. Ein vertrautes Geräusch, das mich einerseits beruhigt, andererseits an meine eigenen Schwächen erinnert. „Mein kleiner Bruder bekommt Besuch von seinem Schwarm…“, kichert Bobby, während er sich entspannt gegen den Türrahmen lehnt. Ich fühle, wie mein Gesicht rot wird, und innerlich will ich ihn anschreien: „Bobby!“ Doch er fährt fort, ohne mir Raum zu lassen: „Soll ich Kerzen anzünden? Romantische Musik auflegen?“ Ich schnaufe und schüttle den Kopf: „Ich hasse dich.“ Er lacht, verschränkt die Arme und erwidert: „Aber ehrlich, warum bist du so nervös? Es ist doch nur Leo.“

Ich lasse mich erschöpft auf mein Bett sinken, und die Worte hallen in meinem Kopf nach: „Es ist nur Leo…“. Dabei mischt sich der Gedanke an gestern, das vertraute, fast magische Gefühl, als Leo seine Finger unter mein Shirt gleiten ließ, als wir einfach nur da saßen, ohne etwas sagen zu müssen. Doch jetzt muss ich reden, muss mich präsentieren, obwohl mein Kopf noch von all den Fragen brummt.

Bobby, der immer genau weiß wann ich ausflippe, tippt mit dem Fuß gegen mein Bein. „Erstens: Hör auf zu hyperventilieren. Zweitens: Zieh dir was Ordentliches an, bevor du hier gleich ohnmächtig wirst. Und drittens…“, er lehnt sich vor und sein Blick wird gespielt ernst, „wenn Leo dich verlässt, weil du nicht aufgeräumt hast, dann hat er dich nie wirklich verdient.“

Ich schlage mein Kissen nach ihm, und obwohl ich innerlich koch vor Ärger, weiß ich, dass er es nur gut meint. „Zieh dich um, Justin. Dein Prinz kommt gleich“, sagt er.

Ich will ihn erwürgen, im Scherz, versteht sich. Aber gleichzeitig weiß ich, dass Bobby mir immer hilft, meine Gedanken zu sortieren, selbst wenn sie mich manchmal vollkommen überwältigen. Ich atme tief ein, wechsle mein Shirt ein paar Mal. Ganz ehrlich, ich probiere es fast aus purem Zwang, weil mir die Unordnung im Zimmer alles über den Kopf wächst. Und entscheide mich schließlich für meinen Lieblings-Hoodie. Mein Spiegelbild sieht immer noch chaotisch aus, aber zumindest bin ich nicht mehr halb eingeschlafen.

Dann klingelt es. Mein Herz macht einen Sprung, und ich renne fast aus meinem Zimmer – aber Bobby ist schneller. „Ich mach schon auf!“ ruft er grinsend, als er die Tür öffnet. Und da steht er. Leo. Er steht in der Tür, als hätte er gerade erst die Welt betreten, ohne sich viel Mühe zu geben: Eine schwarze Jogginghose, ein schlichtes, enganliegendes Shirt, und seine Haare. Sie wirken, als hätte er sie nur einmal schnell mit der Hand zerzaust, und trotzdem sehen sie perfekt aus. Sein leicht schiefes Lächeln, das ich so oft in meinen Träumen gesehen habe, trifft mich unvorbereitet. Mein Herz stolpert, meine Stimme kommt kaum über ein leises „Hey“ zustande.

Er zögert kurz, dann zieht er mich in eine Umarmung. So fest, dass ich für einen Augenblick vergesse, dass ich nervös war. Seine Arme um mich sind warm, echt. Ich spüre seinen Duft, frisch und leicht, als ob er den Wind eingefangen hätte, und in diesem Moment fühlt sich alles so richtig an.

„Also, Leo. Schön, dich mal in unserer Höhle willkommen zu heißen“, sagt Bobby und bricht die Stille mit einem spöttischen Ton, der mir ein Lächeln entlockt.

Leo lacht leise, kratzt sich am Hinterkopf. „Ja, danke. Ähm… ich hoffe, ich störe nicht.“

Bobby schüttelt den Kopf, lehnt sich entspannt gegen den Türrahmen. „Du bringst meinen Bruder zum Schwitzen, also alles gut.“

Ich trete ihm instinktiv gegen das Schienbein. Ein reflexartiger Versuch, mich zu verteidigen. Und er lacht lauter, hebt seine Hände und sagt: „Okay, okay, ich hör ja schon auf.“

Leo wird plötzlich ernster. „Eigentlich bin ich nicht nur zum Rumhängen hier…“

„Worum geht’s?“ frage ich, meine Stimme ein wenig unsicher, während ich versuche, nicht allzu sehr in meinen eigenen Gedanken zu versinken.

Leo seufzt, fährt sich durchs Haar, „Thomas hat mich geschickt. Ich soll mit euch über den Plan reden. Die nächsten Schritte, die Trainingszeiten, die Kooperation mit dem Verein…, alles.“

Bobby schaltet sich sofort in den großen Brudermodus, richtet sich auf und fragt scharf: „Also bist du jetzt unser offizieller Vermittler?“

Leo zuckt mit den Schultern. „So in etwa.“

„Aber bevor wir das klären…“, mischt sich Bobby ein, sein Blick wird schelmisch, „ich hab noch ein paar Fragen. Leo, sag mal. Was sind eigentlich deine Absichten mit meinem Bruder?“

Leo blickt zuerst überrascht, dann lacht er leise. „Wusste ich, dass das kommt.“ Er lehnt sich gegen die Wand, sein Blick wird direkt. „Meine Absichten? Na ja, ich will ehrlich sein. Ich will ihn unterstützen. Und,… ihn vielleicht ein bisschen öfter zum Lächeln bringen.“

Mein Herz macht einen Salto, und ich spüre, wie meine Welt sich in einem Moment schlagartig dreht. Bobby mustert Leo, nickt langsam und sagt: „Hm. Okay. Akzeptiert.“

„Danke für die Erlaubnis, großer Bruder“, zwinkert Leo, und ich fühle mich, als würde ich gleich vor Glück explodieren. Wenn auch unterdrückt, weil ich noch nicht weiß, was das alles bedeuten soll.

Ich atme tief durch, während Bobby und Leo ihre Scherze beenden und wir uns langsam in den Tag stürzen. Irgendetwas an diesem Morgen hat sich verändert. Vielleicht ist es die Klarheit, die ich nach dem langen, chaotischen Erwachen empfinde. Vielleicht ist es die Nähe zu Leo, die mich daran erinnert, dass es okay ist mehr zu fühlen, als ich je gedacht hätte.

Ich weiß jetzt: Es ist ein neuer Tag. Ein Tag, an dem ich vielleicht endlich den Mut finde, meine Gefühle zuzulassen, ohne mich dabei zu verstecken. Und während ich mich mit Leo auf den Weg in mein Zimmer mache, fühle ich, wie sich mein Herz allmählich beruhigt, und ich hoffe, dass dieser Tag, so chaotisch er begonnen hat, ein Versprechen für mehr ist. Mehr Nähe, mehr Klarheit und vielleicht, mehr von Leo.

Bobby ruft mir lachend hinterher: „Auf dein Schwärmen!“, und ich kann nicht anders, als ihm zustimmend zu nicken. Auch wenn ich innerlich noch immer mein ganzes Herz zusammenzuhalten versuche, damit es nicht wieder so laut schlägt. Ich weiß, dass ich heute alles geben muss. Egal, was kommt, ich werde diesen Tag nutzen, um zu lernen, zu fühlen und, vielleicht, um endlich zu wissen, was zwischen Leo und mir wirklich ist.

Die Tür zu meinem Zimmer fällt ins Schloss, und plötzlich sind wir allein. Nur Leo und ich. Mein Herz schlägt immer noch viel zu schnell, als hätte es noch nicht begriffen, dass die letzten Minuten vorbei sind. Bobby ist draußen, sein Humor hat sich verzogen, aber in der Luft schwingt noch sein schelmisches Grinsen mit. Doch das ist mir gerade egal. Ich blicke zu Leo, und das Gefühl, das mich durchströmt, ist so intensiv, dass es mich fast aushebelt.

Es ist seltsam. Wir haben uns gestern gesehen, waren uns so nah, aber trotzdem fühlt es sich an, als hätte ich ihn seit Wochen vermisst. Sein Blick fängt mich sofort ein, als hätte er mich die ganze Zeit beobachtet. Sein Leo-Grinsen sitzt, schief, lässig, viel zu charmant.

„Also, bevor Bobby dich weiter durchlöchert…“. Ich atme tief durch, versuche meine Gedanken zu sortieren, und mustere ihn: „Erzähl. Was ist seit gestern passiert?“

Leo lehnt sich locker gegen die Wand, verschränkt die Arme vor der Brust und zieht eine Augenbraue hoch. „Seit gestern? Hm. Ich habe geschlafen. Gefrühstückt. Und, oh, richtig. Ich wurde zum Boten für Thomas degradiert.“

Ich lache leise. „Harter Job?“

„Unerträglich.“ Er stößt sich von der Wand ab und kommt näher. So nah, dass ich fast seinen Atem spüren kann. Seine Finger streifen ganz leicht meine, als er leise hinzufügt: „Aber jetzt geht’s wieder.“

Mein Magen macht einen kleinen freien Fall. Mein ganzer Körper fühlt sich plötzlich zu bewusst an. Als hätte sich jede Zelle darauf geeinigt, Leo zu registrieren. Seine Wärme, seine Nähe, die Art, wie seine Stimme in mir nachklingt. Ich könnte mich in diesem Moment verlieren, mich einfach in ihn hineinfallen lassen, aber stattdessen zwinge ich mich, den Fokus zu behalten.

„Okay, also ehrlich, was gibt’s Neues?“

Leo lehnt sich gegen meinen Schreibtisch, betrachtet mich mit diesem durchdringenden Blick, den er immer hat, wenn er über etwas nachdenkt. Dann runzelt er leicht die Stirn.

„Eigentlich wollte ich mir mehr Zeit lassen, bevor wir über den Job reden. Aber… ich hab einen Auftrag.“

Mein Herz rutscht ein Stück tiefer. „Warum so eilig?“

Leo fährt sich durch die Haare, wirkt plötzlich angespannter. „Es gibt ein Problem. Oder eher, ein Risiko.“

Ich setze mich aufs Bett, meine Hände auf meinen Knien. „Leo, sag schon.“

Er sieht mich ernst an. „Ein Teil der Kampagne wurde geleakt.“

Mein Atem stockt. „Was?!“

„Irgendjemand hat auf den Server zugegriffen. Es sind noch keine Bilder oder Videos öffentlich, aber es gibt Hinweise, dass jemand versucht, an das Material zu kommen. Thomas hat beschlossen, dass wir die Flucht nach vorne antreten. Bedeutet: Wir veröffentlichen früher, bevor jemand anderes es tut.“

Ich brauche eine Sekunde, um das zu verarbeiten. Mein Magen zieht sich zusammen, mein Kopf versucht, das alles zu sortieren. Das Shooting, das Video, mein Gesicht, mein Körper, meine Bewegungen. Alles wird draußen sein.

„Du willst sagen…, dass das Video schon online gehen soll?“

„Ja.“ Leo nickt. „Aber dafür brauchen sie dein Okay. Und Bobby muss unterschreiben.“

Ich spüre, wie sich meine Finger in den Stoff meiner Hose krallen.

„Ich hatte noch gar keine Zeit, mir das fertige Video anzusehen.“

„Deswegen bin ich hier.“ Leo zieht sein Handy aus der Tasche. „Wir gehen es zusammen durch. Danach kannst du entscheiden.“

Ich atme tief durch. Es passiert. Gestern war das alles noch in weiter Ferne. Heute ist es Realität.

Das Video – und der Moment der Wahrheit

Wir sitzen nebeneinander auf meinem Bett, Leo lehnt sich leicht an das Kopfteil, unsere Schultern streifen sich, während wir auf den Bildschirm starren. Dann startet das Video. Die Musik setzt ein – ein tiefer, langsamer Beat, der in meiner Brust widerhallt. Ich sehe mich selbst, stärker als je zuvor. Mein Körper in Bewegung, meine Muskeln unter Spannung, meine Hände, meine Schritte. Ich bin nicht mehr nur ich. Sondern ich bin ein Bild. Eine Botschaft.

Leo sagt nichts. Ich auch nicht.

Wir sehen uns das Video an, ohne ein Wort zu verlieren. Wir sehen, wie ich kämpfe, wie ich mich in die Höhe ziehe, wie meine Finger sich in den Griffen festkrallen, wie mein Gesicht den Moment einfängt, in dem ich realisiere, dass ich es schaffe.

Dann - Schwarzbild. „PURE MOVEMENT. TRUE STRENGTH.“ Das Video stoppt. Stille.

Mein Herz hämmert. Das bin ich. Und doch fühlt es sich an, als würde ich jemand anderen sehen. Ich drehe mich langsam zu Leo um. Er beobachtet mich.

„Und?“ fragt er leise.

Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder. Worte fühlen sich nicht genug an.

Es ist nicht nur ein Video. Es ist ein Statement. Und es wird von tausenden Menschen gesehen werden.

Leo scheint meine Gedanken zu lesen. Er legt seine Hand auf meine. Sanft, beruhigend. „Du bist gut, Justin. Du bist bereit.“ Seine Worte treffen mich tief. Ich atme langsam aus. Dann nicke ich. „Okay.“

Leo mustert mich noch einen Moment. Dann grinst er. „Okay?“

„Ja.“ Ich grinse leicht zurück. „Wir machen das.“ Wir gehen ins Wohnzimmer, wo Bobby auf der Couch lümmelt. Als wir eintreten, hebt er eine Augenbraue. „Schon fertig mit dem Turteln?“ „Bobby…“ Ich seufze, aber Leo lacht nur. „Lass ihn in Ruhe“, sagt Leo trocken. „Wir müssen arbeiten.“ Bobby setzt sich auf. „Na dann. Worum geht’s?“

Wir erklären ihm die Situation. Den Leak. Die Entscheidung, das Video sofort online zu stellen. Und dass er unterschreiben muss. Bobby hört zu, sein Gesicht bleibt neutral. Dann atmet er langsam aus. „Also, wenn ich das richtig verstehe, wird mein kleiner Bruder jetzt ganz offiziell zum Social-Media-Phänomen?“

Ich zucke die Schultern. „Mehr oder weniger.“

„Mhm.“ Bobby reibt sich das Kinn. Dann sieht er mich ernst an. „Justin, ist das wirklich das, was du willst?“

Ich zögere keine Sekunde: „Ja.“

Mein Bruder mustert mich. Dann nickt er langsam. „Okay.“ Er lässt sich den Vertrag auf Leo’s Tablet zeigen, überfliegt ihn, dann greift er nach dem Stift und unterschreibt. Ich verstehe sowieso nicht richtig, was darauf steht, und vertraue einfach Bobby, also setze ich ebenfalls meine Unterschrift darunter. Damit ist es besiegelt. Ein kurzer Moment – und es ist offiziell.

Leo grinst. „Na dann…, willkommen in der großen Welt, Justin.“

Ich lache leise. Mein Herz schlägt wie verrückt. Es passiert wirklich.

Bobby lehnt sich zurück, mustert Leo dann mit einem schelmischen Blick.

„Also, Leo. Bevor ich dich endgültig gehen lasse, eine letzte Frage.“

Leo hebt eine Braue. „Oh. Noch eine Prüfung?“

Bobby nickt. „Wieso genau machst du das hier eigentlich? Nur für den Job?“

Leo zögert keine Sekunde. Sein Blick ist direkt auf mich gerichtet, warm, ehrlich: „Nein.“

Mein Herz setzt aus. „Ich mach’s für ihn.“

Bobby blinzelt. Dann grinst er. „Hm. Okay. Akzeptiert.“

Leo lacht, und ich spüre, wie mein Herz in meiner Brust tanzt. Der Morgen hat mich durchgerüttelt. Mir gezeigt, dass die Welt sich verändert. Aber Leo bleibt. Und das ist das Einzige, was zählt.

Frische Luft, bewegte Gedanken – und der nächste Schritt

Ich ziehe unsere Wohnungstüre zu, als Leo und ich nach draußen treten. Ein kühler Hauch weht mir entgegen, trägt den Rest der Nacht mit sich, während die Sonne über den Dächern steht und die Straßen in ein warmes, goldenes Licht taucht. Die Welt ist ruhig, noch. Die Stadt erwacht gerade erst so richtig, während mein Kopf längst auf Hochtouren läuft. Ich ziehe die Schultern hoch, drehe meinen Kopf zur Seite, bis mein Nacken leise erneut knackst. Mein Körper fühlt sich immer noch schwer an, als hätte er über Nacht vergessen, dass er sich eigentlich erholen sollte. Selbst nach diesem Frühstück spüre ich immer noch die Erschöpfung tief in meinen Muskeln, ein dumpfes Ziehen, das mich daran erinnert, dass ich mir in den letzten Tagen wenig Pausen gegönnt habe.

Leo geht neben mir her, Hände in den Taschen seiner Jeans, sein Blick locker auf die Straße gerichtet. „Alles okay?“ fragt er schließlich.

Ich nicke, aber ich weiß, dass er es mir nicht abkauft. „Ich brauch einfach ein bisschen Bewegung“, sage ich und strecke mich, bis sich mein Rücken durchdehnt. „Sitzen macht’s nicht besser.“

Leo schmunzelt. „Klingt vernünftig. Und ich nehme an, du willst auch deinen Kopf ein bisschen freikriegen?“

Ich werfe ihm einen Seitenblick. „Wieso, hab ich diesen Ich-denke-zu-viel-Blick?“

Er lacht leise. „Den hast du immer, wenn irgendwas Großes passiert.“

Ich atme tief, aber kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Er kennt mich einfach schon zu gut.

Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her. Meine Schritte sind bewusst locker, aber in meinem Kopf kreisen die Gedanken weiter. Alles fühlt sich surreal an. Als hätte sich in den letzten Stunden zu viel verändert, um es wirklich zu begreifen.

Und dann, natürlich, bringt Leo das Thema auf den Punkt. „Also…, weißt du eigentlich, was jetzt passiert?“

Ich hebe eine Augenbraue. „Ich nehme an, du wirst es mir gleich erklären.“

„Ganz genau.“ Er grinst, aber sein Ton wird schnell ernster. „Das Video ist jetzt der Startschuss für die gesamte Kampagne. Dazu gehört auch unser kompletter neuer Branding-Auftritt mit Namen, Logo und ganz neuem Erscheinungsbild der gesamten Firma. Mit der Veröffentlichung wird nicht nur dein Kletter-Clip online gehen, sondern auch die ersten offiziellen Bilder der neuen Kollektion: die Klamotten, die du getestet hast, die Ausrüstung, die sie entwickelt haben. Und weil der Leak die ganze Planung durcheinander gebracht hat, geht jetzt alles schneller als gedacht.“

Mein Puls beschleunigt sich. „Wie viel schneller?“

Leo zuckt mit den Schultern. „Sagen wir’s mal so: Eigentlich hätte das alles in den nächsten Wochen langsam ausgerollt werden sollen, jetzt passiert es in den nächsten Tagen.“

Wow! Ich versuche, mir das vorzustellen. Mein Gesicht. Mein Körper. Meine Bewegungen. Plötzlich überall. „Und deshalb müssen wir auch gleich zurück und die neue Vorgehensweise und Rahmenbedingungen mit Bobby durchsprechen.“

Ich seufze, lasse den Kopf kurz nach hinten fallen. „Ich hatte gehofft, wir könnten einfach noch ein bisschen entspannen, bevor der Wahnsinn losgeht.“

Leo schmunzelt. Aber bleibt stehen.

Als ich mich zu ihm umdrehe, mustert er mich mit diesem Blick, der immer ein bisschen nach Herausforderung aussieht. „Dann entspann dich jetzt.“

„Wie bitte?“ Ich lache, aber mein Herz schlägt plötzlich schneller.

Er tritt einen Schritt auf mich zu, so nah, dass ich automatisch einen halben Schritt zurückweiche. Aber da ist eine Mauer hinter mir, und ehe ich mich versehe, steht er direkt vor mir. Seine Hand landet locker neben meinem Kopf, stützt sich an der Wand ab.

Mein Herz stolpert. „Leo…“

Er grinst leicht, legt den Kopf schief. „Du hast keine zwei Minuten Zeit, um einfach mal nicht nachzudenken?“

Ich öffne den Mund, aber mir fällt nichts ein. Weil, verdammt, er hat recht. Also schließe ich kurz die Augen, atme tief ein. Spüre die Sonne auf meiner Haut. Seine Nähe. Seine Wärme. Entspann dich. Ich öffne die Augen wieder und sehe direkt in seine. Und für einen Moment ist alles ruhig. Kein Chaos, keine Pläne, keine Verträge. Nur er und ich. Dann, weil es sich richtig anfühlt, lasse ich mich nach vorne sinken, lege meine Stirn kurz gegen seine Schulter.

Leo lacht leise, hebt eine Hand und fährt mir durch die Haare. „Na also.“

Ich atme tief durch. „Okay. Zwei Minuten Entspannung. Und dann , zurück zum Ernst des Lebens.“

Er zieht sich ein Stück zurück, sieht mich an, mit diesem Grinsen, das mir unter die Haut geht. „Klingt nach einem Plan.“

Ein Schritt weiter – Zwischen Zweifel und Erwartung

Leo und ich schlendern noch eine Weile durch die Straßen. Der Himmel ist ein endloses Blau, und die Stadt fühlt sich für einen Moment fast unwirklich an. Wie eine Kulisse, durch die wir einfach nur treiben. Aber meine Gedanken lassen sich nicht so leicht abschütteln. Mein Körper ist noch immer erschöpft, das spüre ich mit jedem Schritt. Aber es ist nicht nur die körperliche Müdigkeit. Es ist auch die Tatsache, dass sich in den letzten Stunden alles überschlagen hat. Der Leak, die überstürzte Veröffentlichung, der plötzliche Rummel um das Video. Und jetzt? Jetzt laufen wir durch die Straßen, als wäre alles ganz normal. Dabei ist es das nicht. Ich sehe zu Leo hinüber. Er ist ruhig. Konzentriert. Seine Finger spielen beiläufig mit seinem Handy, aber sein Blick bleibt wachsam, als würde er auf etwas warten.

„Du wartest auf einen Anruf, oder?“ frage ich schließlich.

Er nickt, ohne den Blick zu heben. „Ja. Thomas organisiert gerade noch etwas. Ich muss nur das Go bekommen, bevor wir zurückgehen.“

Ich runzle die Stirn. „Und was genau organisiert er?“

Leo schmunzelt, aber er verrät nichts. „Du wirst es sehen.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Das ist jetzt nicht besonders beruhigend.“

„Dann musst du mir wohl einfach vertrauen.“

Ich blase betont Luft aus, aber ich kann mir das Lächeln nicht verkneifen. „Ich hoffe, das ist kein Trick, um mich in einen weiteren Überraschungs-Test zu locken.“

Leo lacht leise. „Nein, diesmal nicht.“ Dann vibriert sein Handy. Der Anruf! Leo nimmt ab, sagt nur ein knappes „Verstanden“ und legt dann wieder auf. „Okay“, sagt er, schiebt das Handy in die Tasche und dreht sich zu mir. „Wir müssen zurück.“

Ich spüre, wie mein Magen sich leicht zusammenzieht. Was hat Thomas diesmal geplant? Die Tür zur Wohnung steht einen Spalt offen. Das ist seltsam. Bobby lässt Türen normalerweise nie offen, außer, wenn er den Pizzalieferanten erwartet oder wenn ich ihn so sehr nerve, dass er einfach den Raum verlässt, um seine Ruhe zu haben. Aber als wir eintreten, wird schnell klar, dass das hier nichts mit Pizza zu tun hat.

Bobby sitzt am Esstisch, Arme verschränkt, Stirn leicht in Falten gelegt. Ihm gegenüber sitzt ein Mann in einem teuren, aber nicht protzigen Anzug, ordentlich geknöpft, mit einem Aktenkoffer neben sich. Er sieht aus wie jemand, der in der Lage wäre, Häuser mit einem einzigen Handschlag zu kaufen. Aber sein Blick ist nicht streng, eher aufmerksam, vielleicht sogar freundlich. Seine Hände ruhen locker auf dem Tisch, als hätte er alle Zeit der Welt. Ein Anwalt. Ich bleibe stehen. Leo neben mir auch. „Äh… was?“ ist das Erste, was mir einfällt.

Bobby hebt den Blick zu mir, dann zu Leo. „Da seid ihr ja endlich.“ Sein Tonfall ist betont gelassen, aber ich kenne ihn, er ist angespannt.

Leo wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. Sein Grinsen ist minimal, aber da. Ich kann fast hören, wie er denkt: Das wird interessant.

Der Mann steht auf, streckt mir die Hand entgegen. „Justin, richtig? Ich bin Matthias Weigert. Schön, dich kennenzulernen.“ Sein Händedruck ist fest, aber nicht übertrieben. Sein Blick bleibt auf mir ruhen. Sachlich, aber nicht unangenehm. Ich nehme seine Hand zögernd, nicke.

„Ähm…, ja. Und…, warum genau sind Sie hier?“

Herr Weigert setzt sich wieder, öffnet seinen Aktenkoffer mit einer ruhigen, fast mechanischen Bewegung. „Ich wurde von Thomas geschickt, um mit dir und deinem Bruder über den Profivertrag zu sprechen. Wir möchten sicherstellen, dass ihr alle Details versteht, bevor ihr eine Entscheidung trefft.“

Mein Magen macht eine plötzliche Achterbahnfahrt nach unten. Der Profivertrag. Ich wusste, dass es soweit kommen würde. Ich wusste, dass ich mich irgendwann entscheiden muss. Aber ich hatte mir eingebildet, dass ich noch mehr Zeit hätte. Jetzt liegt dieser Stapel Papiere vor mir, schwarz auf weiß, so echt, dass es wehtut. Ich schlucke, setze mich langsam auf einen der Stühle. Mein Blick bleibt auf den Dokumenten haften, als könnten sie gleich explodieren.

Bobby wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. Sein „großer-Bruder-Scan-Modus“ ist aktiviert. Wahrscheinlich versucht er einzuschätzen, ob ich gleich panisch werde. Er nimmt die erste Seite in die Hand, überfliegt sie mit zusammengezogenen Brauen. „Dann erklären Sie mal, Herr Weigert. Was genau bedeutet das für ihn?“

Der Anwalt nickt ruhig, verschränkt die Finger. Er hat diesen ruhigen Tonfall, den Leute haben, die schon mit tausend aufgeregten Kunden geredet haben. „Zunächst einmal würde Justin als offizieller Athlet der Marke unter Vertrag genommen. Das bedeutet eine feste Vergütung, geplante Shootings, Medienpräsenz und bestimmte Verpflichtungen, aber auch umfassende Unterstützung durch das Unternehmen.“

Leo lehnt sich gegen die Stuhllehne, verschränkt die Arme. Er beobachtet mich. Genau mich.

Ich räuspere mich, meine Stimme ist ein bisschen rauer als gewollt. „Und was ist mit der Schule?“

Herr Weigert nickt, als hätte er die Frage erwartet. „Das wurde explizit im Vertrag geregelt. Deine schulischen Verpflichtungen haben Vorrang, und alle Termine werden so geplant, dass dein Unterricht möglichst nicht beeinträchtigt wird. Zudem gibt es eine Klausel, die festlegt, dass du jederzeit deine Schullaufbahn beenden kannst, falls sich deine Prioritäten ändern.“

Bobby lehnt sich ein Stück zurück. Er wird entspannter, aber noch nicht überzeugt. „Und gesundheitlich? Das Klettern ist körperlich extrem belastend.“

„Ein wichtiger Punkt“, bestätigt Herr Weigert. „Deshalb gibt es eine feste Vereinbarung zu regelmäßigen sportmedizinischen Untersuchungen und individueller Betreuung. Die Firma übernimmt sämtliche Kosten für Physio, Trainingsberatung und Reha-Maßnahmen im Falle einer Verletzung.“

Ich blinzele. Das ist… viel mehr, als ich erwartet hatte. Eigentlich hatte ich gedacht, es geht um ein paar Shootings. Vielleicht ein bisschen Werbung. Aber das hier fühlt sich an wie eine echte Profikarriere. Sieht so meine Zukunft aus?

Leo lehnt sich etwas nach vorne. „Und was, wenn er sich dagegen entscheidet?“

Herr Weigert bleibt völlig ruhig. Er ist nicht hier, um Druck auszuüben. „Dann bleibt es bei den bisherigen Projekten. Die Kampagne wird trotzdem laufen, aber Justin wäre nicht langfristig gebunden.“

Ich nicke langsam. Es ist eine riesige Entscheidung. Einerseits: Sicherheit. Eine echte Karriere. Unabhängigkeit. Eine Chance, die ich vielleicht nie wieder bekomme. Mit meiner Leidenschaft in der Zukunft durchstarten, mich voll darauf konzentrieren können. Andererseits: Druck. Erwartungen. Weniger Freiheit. Mein Kopf beginnt, sich in diesen Gedanken zu verlieren. Und dann spüre ich es. Eine leichte Berührung an meinem Knie. Leo. Nicht offensichtlich. Nicht so, dass jemand anderes es sehen könnte. Nur seine Hand, kaum merklich gegen mein Bein gelehnt. Ich sehe ihn an.

Sein Blick ist ruhig. Sicher. Keine Unsicherheit, keine Angst. Nur diese unausgesprochene Botschaft: Ich bin da. Egal, was du entscheidest.

Ich atme langsam aus. Die Enge in meiner Brust wird ein bisschen leichter.

Bobby bricht das Schweigen. „Okay. Dann gehen wir das alles in Ruhe durch.“

Die Entscheidung – Ein Schritt in die Zukunft

Die Papiere liegen vor mir. Das hier ist nicht mehr nur ein Versuch. Kein "mal schauen, wie es sich anfühlt." Es ist jetzt. Es ist echt.

Bobby liest jede Seite durch. Er will sicherstellen, dass mich niemand über den Tisch zieht. Ich weiß, dass er nicht begeistert ist. Nicht, weil er mir den Erfolg nicht gönnt, sondern weil er weiß, dass Erfolg auch seinen Preis hat.

Leo bleibt neben mir. Sagt nichts. Aber er ist da.

Ich atme tief durch. „Also… das bedeutet, dass ich mich jetzt voll darauf einlasse. Kein Zurück mehr.“

Herr Weigert sieht mich an. Sein Blick ist ehrlich, fast respektvoll. „Ja. Aber es ist deine Entscheidung.“

Ich spüre, wie mein Herz rast. Meine Gedanken schreien sich gegenseitig an: Bist du sicher? Was, wenn du scheiterst? Was, wenn du nicht gut genug bist? Dann erinnere ich mich an das Video. An den Moment, als ich mich über die letzte Kante zog. Ich sah aus wie jemand, der es verdient, dort zu sein. Und Leo. Seine Stimme, als Bobby ihn gefragt hat, warum er das tut. „Ich mach’s für ihn.“ Mein Blick trifft seinen. Er glaubt an mich. Vielleicht sollte ich das auch tun.

Ich greife nach dem Stift. „Ja.“ Meine Stimme ist fester, als ich dachte. „Ich will das.“

Bobby mustert mich lange. Dann nickt er langsam. „Okay.“ Er unterschreibt zuerst. Dann reicht er mir den Stift. Ich atme noch einmal tief durch. Dann setze ich final meinen Namen unter das Dokument. Es ist offiziell. Einen Moment lang ist es still.

Dann spüre ich, wie eine riesige Last von mir fällt. Leo grinst. „Na dann…, willkommen in der großen Welt der Profisportler, Justin.“ Ich lache – erleichtert, aufgeregt, überwältigt.

Bobby seufzt, fährt sich durch die Haare. „Gott, das wird ein verdammt verrücktes Jahr.“

„Okay, ich schulde euch was“, sagt Leo, während er seine Hände in die Taschen seiner Jogginghose steckt und dabei ein Grinsen aufsetzt, das viel zu zufrieden wirkt.

Bobby, der sich mit verschränkten Armen gegen die Tür gelehnt hat, hebt nur eine Augenbraue. „Du lädst uns ein? Das kann ja heiter werden.“

„Vertrau mir, Robert. Ich habe was Gutes rausgesucht. Gesund, aber lecker.“

Ich mustere ihn skeptisch. „Du hast ein Restaurant gefunden, das zu dem neuen Ernährungsplan passt?“

„Natürlich“, sagt Leo, als wäre es die offensichtlichste Sache der Welt. „Ich bin ein Mann mit Prinzipien.“

Ich schiele zu Bobby rüber. „Hast du gehört? Prinzipien.“

Bobby schüttelt den Kopf, als hätte er plötzlich Kopfschmerzen. „Ich hoffe nur, dass diese Prinzipien nicht bedeuten, dass wir gleich Grünkohl-Smoothies trinken müssen.“

Leo winkt uns aus der Wohnung. „Wartet’s ab. Ich wette, ihr werdet es lieben.“

Ich bin mir da nicht so sicher.

Ein Restaurant, das anders ist

Das Restaurant liegt ein paar Straßen weiter, versteckt zwischen modernen Bürogebäuden und kleinen Cafés. Ich wäre vermutlich nie darauf aufmerksam geworden, wenn Leo uns nicht gezielt hierhergeführt hätte.

Als wir eintreten, umfängt uns sofort eine warme, angenehme Atmosphäre. Große Fenster lassen viel Licht hinein, die Einrichtung ist eine Mischung aus warmem Holz, Stahl und überall verstreuten Pflanzen, die dem Raum etwas Beruhigendes geben. An den Tischen sitzen Menschen in Sportklamotten, manche mit Laptops, andere mit riesigen Proteinshakes vor sich. Es riecht nach frischen Kräutern, gerösteten Kichererbsen und etwas, das vage an Curry erinnert. Kein Fastfood-Mief. Kein billiges Bratfett. Sondern echtes, gutes Essen.

Leo bleibt stehen und streckt die Arme aus, als würde er uns sein persönliches Königreich präsentieren. „Na? Sag ich doch - perfekt.“

Ich mustere ihn. „Okay, das gebe ich zu. Gute Wahl.“

Bobby hingegen zieht die Stirn kraus, während er die Karte auf dem Tisch durchblättert. „Was zum Teufel ist Jackfruit?“ murmelt er.

„Eine Fleischalternative“, erklärt Leo geduldig und zeigt auf ein Gericht. „Richtig zubereitet schmeckt’s fast wie Pulled Pork.“

Bobby sieht ihn an, als hätte er gerade behauptet, die Erde sei eine Scheibe. „Das ist eine dreiste Lüge.“

Leo zuckt die Schultern. „Gib ihm eine Chance. Oder nimm das Protein-Menü. Ist vegan, aber du wirst es überleben.“

Ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Bobby wirkt, als müsste er mit seinem Stolz ringen, bevor er schließlich ein zustimmendes Brummen von sich gibt und doch das vegane Menü bestellt.

Ich entscheide mich für eine Bowl mit Quinoa, gegrilltem Hähnchen und Avocado. Leo nimmt ein Süßkartoffel-Linsen-Curry, weil er behauptet, dass es gut für seine Energie sei.

Als das Essen kommt, merke ich erst, wie hungrig ich wirklich bin. Seit heute Morgen ist so viel passiert - der Anwalt, die Entscheidung, der Gedanke an die Zukunft. Ich hatte kaum realisiert, wie sehr mein Körper nach etwas Echtem verlangt. Ich nehme den ersten Bissen. Okay. Wow! Ich hatte erwartet, dass es einfach nur „gesund“ schmeckt – aber das hier? Die Avocado ist perfekt cremig, das Hähnchen genau richtig gewürzt, die Quinoa hat diesen angenehmen, leicht nussigen Geschmack. Ich lehne mich zurück und werfe Leo einen kurzen Blick zu. „Nicht schlecht“, gebe ich zu.

Leo legt eine Hand an sein Herz. „Nicht schlecht? Das hier ist ein kulinarisches Meisterwerk gesunder Ernährung.“

Bobby kaut immer noch mit skeptischer Miene an seinem veganen Menü, bevor er schließlich sagt: „Okay, Jackfruit schmeckt nicht nach Fleisch. Aber es ist essbar.“

Leo lacht. „Das ist das höchste Lob, das ich von dir erwarten kann, oder?“

Bobby zuckt mit den Schultern. „Möglicherweise.“

Ich schüttle den Kopf und löffle weiter meine Bowl.


Ich sitze noch immer an unserem Tisch im Restaurant, meine Bowl ist fast leer, aber mein Kopf? Der ist voller Gedanken, voller Gefühle, voller Adrenalin. Leo sitzt neben mir, Bobby gegenüber, sein Essen bereits aufgegessen - was mich immer noch überrascht, weil er mit diesem „veganes Zeug“-Gericht echt gehadert hat. Alles fühlt sich so neu an. Der Leak. Der Profivertrag. Das Video. Und dann ist da noch Leo, den ich gerade mehr ansehe, als ich eigentlich sollte.

Dann öffnet sich die Tür. Und diesmal ist es nicht irgendwer. Thomas. Er sieht aus, als hätte er die letzten Stunden damit verbracht, Feuer zu löschen. Seine Kleidung ist, wie immer, makellos – ein dunkelblauer Blazer, lockere, aber stilvolle Hose, ein leicht zerknittertes Hemd. Aber sein Gesicht? Es verrät, dass heute schon ein verdammt langer Tag für ihn war. „Da seid ihr ja.“ Er atmet tief durch, fährt sich durch die Haare, bevor er mit einem schiefen Lächeln an unseren Tisch tritt. „Sorry, dass ich heute Morgen nicht persönlich gekommen bin. Das hier war…, ein ziemlicher Überraschungsstart.“

Er sieht mich an, dann Leo, dann Bobby, bevor er sich zu mir runterbeugt und sich mit den Händen auf den Tisch stützt. Seine Augen funkeln, als würde er selbst kaum fassen, was passiert ist: „Die Kampagne startet heute Nacht.“

Mein Herz macht einen unkontrollierten Satz. Ich spüre, wie sich eine Gänsehaut über meine Arme zieht, obwohl es warm ist. Ich schlucke. Mein Kopf rast. „Heute noch?“ Ich höre mich selbst, aber meine Stimme klingt irgendwie dünn. „Ja, genau.“ Thomas lehnt sich zufrieden zurück.

„Das ist der erste große Clip, den wir ausrollen“, erklärt Thomas weiter, seine Stimme sanfter, als ich es gewohnt bin. „Wir mussten den Startschuss vorziehen, weil es ja einen Zwischenfall gab. Jemand hat versucht, an das Material zu kommen. Wir wissen noch nicht genau wie, aber wir wollten nicht das Risiko eingehen, dass unser Content vorher veröffentlicht wird. Als haben wir es selbst übernommen. Jetzt sind wir Diejenigen, die bestimmen, wie und wann die Kampagne startet.“

Thomas sieht mich an, als würde er genau verstehen, was in mir vorgeht. „Ich weiß, dass das viel ist. Aber das hier, das wird groß, Justin. Die Leute werden dich sehen. Nicht als irgendein Model, sondern als das Gesicht, das sie inspiriert. Dein Clip ist der Eyecatcher. Das Highlight, um die neue Zielgruppe anzusprechen. Dein Name, deine Geschichte, dein Sport. All das wird Teil von etwas, das größer ist als wir alle gerade begreifen.“

Mein Magen zieht sich zusammen. Das ist riesig. Viel größer, als ich gedacht hatte. Ich will etwas sagen, will irgendwas Kluges antworten, aber mein Kopf ist leer. Nur mein Herz schlägt, laut, so laut, dass es sich wie ein Trommeln in meinen Ohren anfühlt. Und dann… Dann dreht Thomas sich zu Leo. Sein Blick wird wärmer, fast amüsiert? Nein, nicht nur das. Es ist dieses wissende, verstehende Funkeln, das mich gleichzeitig nervös und irgendwie unfassbar glücklich macht.

„Und, bevor ich weitermache, Leo, danke.“ Thomas lehnt sich leicht zu ihm rüber, klopft ihm auf die Schulter. „Du hast das heute früh übernommen, als ich nicht konnte, und das hat den Tag gerettet. Aber…“, er schmunzelt, sein Blick wandert zwischen uns hin und her, „ich hab da so ein Gefühl, dass das für Justin sowieso der angenehmere, beruhigendere und, sagen wir mal, emotional schönere Weg war.“

Boom! Mein Kopf explodiert. Oder mein Herz. Ich weiß es nicht. Alles zieht sich zusammen, dann weitet es sich wieder aus, dann wieder zusammen. Mein Blick schießt zu Leo. Hat er das gerade wirklich gesagt?

Leo…, Leo hebt eine Augenbraue. Ein kleiner Zug in seinem Mundwinkel verrät, dass er mit sich ringt. Zwischen frechem Grinsen und ernstem Blick. Dann, verdammt, dann schüttelt er leicht den Kopf, aber sein Blick bleibt auf mir, intensiv und voller Bedeutung. Er sagt nichts. Aber er muss auch nichts sagen.

Meine Finger verkrampfen sich unbewusst auf meiner Hose. Mein Körper fühlt sich an, als würde er überhitzen, als müsste ich sofort aufspringen und irgendwas tun. Aber gleichzeitig kann ich mich nicht bewegen. Weil Thomas es bemerkt hat. Weil Thomas es gesagt hat. Weil Thomas gerade mitten in einem verdammten Restaurant für die ganze Welt hörbar angedeutet hat, dass da etwas zwischen Leo und mir ist.

Und noch schlimmer? Er hat Recht!

Meine Kehle ist trocken. Ich versuche, normal zu atmen. Klappt nicht. Ich kann nicht mal aufhören, Leo anzusehen, der mich jetzt einfach nur mustert. Mit diesem Blick, den ich nicht entschlüsseln kann, aber der mich völlig aus der Realität katapultiert.

Thomas lehnt sich wieder zurück, als hätte er gerade einen verdammt guten Job gemacht. Und vielleicht…, vielleicht hat er das sogar. Ich kann mich jedenfalls nicht mehr auf den Boden unter mir konzentrieren, weil ich irgendwo in diesem Strudel von Gefühlen schwebe.

„Aber hey“, fügt Thomas dann noch hinzu, und seine Stimme klingt wieder professionell, aber mit diesem leichten, freundlichen Ton, „die ganzen Details zum Profivertrag, was sich ändert, welche Schritte als Nächstes kommen, das sehen wir uns in Ruhe an. Eins nach dem anderen. Kein Stress. Ich weiß, das ist alles viel, aber… Justin, du hast hier eine riesige Chance. Und nicht nur wir als Marke freuen uns darüber, sondern das ganze Team. Wir stehen alle hinter dir.“

Ich nicke. Mehrmals. Vielleicht zu oft. Ich weiß nicht mal, ob meine Lippen Worte formen, weil mein Kopf immer noch in diesem „Thomas hat es gesagt“-Schockzustand ist.

Leo ist immer noch neben mir. Ich spüre seine Wärme. Ich höre meinen eigenen Atem. Ich spüre, wie mein Brustkorb sich hebt und senkt, schneller als sonst. Ich will irgendwas sagen. Irgendwas Schlaues. Oder wenigstens irgendwas Normales. Aber alles, was aus mir rauskommt, ist ein leises, atemloses: „Okay.“ Und dann? Dann sehe ich wieder zu Leo.

Er lächelt. Ganz leicht. Ganz vorsichtig. Aber verflixt, es ist dieses eine, kleine Lächeln, das meinen gesamten Brustkorb in ein riesiges, warmes Feuer verwandelt. Vielleicht hat Thomas ja wirklich Recht. Vielleicht haben sich hier gerade wirklich zwei gefunden.

Spaziergang im Park – Endlich nur wir zwei

Die Nachmittagssonne hängt tief über den Dächern der Stadt, färbt den Himmel in weiche Orangetöne, während wir den Bürgersteig entlanglaufen. Leo geht neben mir, locker wie immer, aber mit einem Funken von etwas in seinen Augen, das ich nicht ganz greifen kann.

„Okay, ich will dich noch ein bisschen für mich haben, bevor du komplett ausgebucht bist“, sagt er mit diesem Grinsen, das er immer aufsetzt, wenn er etwas durchsetzen will, ohne dass man es merkt.

Ich schniefe, aber innerlich fühlt sich sein Vorschlag verdammt gut an. Die letzten Stunden waren intensiv. Der Vertrag, das Gespräch mit Thomas, die Erkenntnis, dass mein Leben sich jetzt wirklich verändert. Da ist es fast ein Geschenk, einfach mit Leo durch den Park zu laufen, ohne Kameras, ohne Erwartungen, ohne irgendeinen Plan. Nur wir zwei. Wir biegen in eine kleine Seitenstraße, die in einen weitläufigen Park führt. Hier ist es ruhiger. Die Geräusche der Stadt verblassen hinter uns, werden gedämpft von den Bäumen, deren Blätter sich leise im Wind bewegen. Die Luft riecht nach frischem Gras und dem leicht süßlichen Duft der ersten Frühlingsblüten. Ich atme tief durch. Einfach sein. Einfach atmen. Einfach… wir. Leo schiebt die Hände in die Taschen, geht neben mir her, sein Blick folgt den Sonnenstrahlen, die durch die Äste fallen und goldene Muster auf den Boden zeichnen. Es ist dieser Moment, in dem wir beide nicht reden müssen. Manchmal reicht es einfach, nur zusammen zu sein.

Nach einer Weile, fast beiläufig, sagt er leise: „Hast du Angst?“ Seine Stimme ist ruhig, aber die Frage trifft mich tiefer, als ich erwartet habe. Ich blinzele, blicke auf den Kiesweg vor uns. Habe ich Angst? Ein bisschen. Vielleicht mehr als das. Ich gebe es nur ungern zu, aber alles in mir fühlt sich gerade wie eine Mischung aus Vorfreude und Panik an. „Ja“, sage ich schließlich. „Ein bisschen.“

Leo nickt langsam, als hätte er nichts anderes erwartet. „Das ist okay.“ Und dann, ohne mich anzusehen, nimmt er meine Hand. Nicht zögerlich, nicht fragend. Einfach so, als wäre es das Natürlichste der Welt. Mein Herz setzt kurz aus – aber diesmal nicht aus Angst. Diesmal, weil es sich richtig anfühlt. Ich spüre den Druck seiner Finger, warm und fest, als wollte er mir auf eine Art sagen: Ich bin da. Egal, was kommt. Und ich? Ich drücke seine Hand leicht. Nur einen Moment. Einfach, um es zu bestätigen. Um ihm zu zeigen, dass ich es auch will.

Wir laufen weiter, und meine Gedanken beruhigen sich langsam. Der Wind streicht sanft über meine Haut, der Himmel färbt sich immer dunkler, aber in mir wird es leichter. Dann fällt mir etwas auf. Seine linke Hand. Ich habe sie unzählige Male berührt, gehalten, gespürt – aber nie bewusst. Nie so, wie jetzt. Ich lasse meinen Daumen sacht über seine Haut gleiten. Oder das, was sich wie Haut anfühlt. Warm. Glatt. Leicht uneben, fast so, als wären es echte Hautstrukturen. Ich drücke sanft. Keine Kälte. Keine Härte. Keine dieser typischen künstlichen Oberflächen.

Mein Blick wandert zu ihm. „Leo…“ Er sieht mich an, ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen. „Was denn?“ Ich drehe seine Hand leicht, beobachte, wie sie sich bewegt. Wie sie reagiert. Fast zu perfekt. Mein Herz schlägt ein bisschen schneller. „Ist das…?“ Meine Stimme ist leiser, fast ehrfürchtig. „Ist das die neue?“ Leo sieht auf unsere Hände, dann zu mir. Sein Blick ist ruhig, sein Schmunzeln bleibt. Er nickt. Ich fahre vorsichtig mit den Fingern über seine Handfläche, spüre diese fast echte Textur. Wie sie leicht auf meine Berührung reagiert, ohne Verzögerung. „Es fühlt sich… echt an“, murmele ich. Leo hebt eine Braue. „Soll es ja auch.“ Ich schüttele leicht den Kopf. Es ist mehr als das. Ich habe schon einige Prothesen gesehen. Ich kenne den Unterschied zwischen hartem Kunststoff und den modernen Versionen, die sich ein bisschen mehr anfühlen wie echte Haut. Aber das hier? Das hier ist anders. Mein Daumen gleitet über seine Fingerkuppen. Kein Plastikgefühl. Keine Künstlichkeit. Ich blicke auf, mein Herz schlägt schneller. „Die KI steuert alles?“ frage ich leise. Leo nickt. „Ja. Sie erkennt Muskelimpulse, gleicht Bewegungen ab. Es ist… na ja, ein ziemlicher Sprung nach vorne.“ Ein Sprung nach vorne. Ein Meilenstein. Ich sehe ihn an. „Leo, das ist unglaublich.“ Er zuckt mit den Schultern, als wäre es nichts. Als wäre es nicht das Faszinierendste, was ich je gefühlt habe. „Tja. Fortschritt, ne?“ Ich merke es sofort. Er will nicht darüber reden. Nicht jetzt. Nicht mit mir. Vielleicht, weil er sich nicht wohlfühlt, wenn es um ihn geht. Vielleicht, weil er nicht will, dass ich ihn als etwas Besonderes sehe.

Aber das tue ich längst. Ich lasse seine Hand los, nur, um die rechte gleich darauf zu ergreifen. Diesmal nicht aus Neugier, nicht aus Staunen. Einfach, weil ich es will. Weil ich ihn will. Leo sieht mich an, sein Blick ruhig, warm. Dann grinst er. „Ich zeig’s dir irgendwann im Labor, okay? Aber jetzt…, jetzt genießen wir einfach den Moment.“ Ich nicke. Wir gehen weiter. Hand in Hand. Und in diesem Augenblick ist alles genau so, wie es sein soll.

Ein Tag, der alles verändert

Das Erste, was ich bewusst wahrnehme, ist das endlose Vibrieren meines Handys. Nicht einmal, nicht zweimal, es hört einfach nicht auf. Irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein taste ich nach meinem Handy, meine Finger stolpern über das kalte Display, bis ich es endlich in der Hand halte. Ein Blick aufs Display. Leo. Mein Herz macht diesen kleinen, unkontrollierten Satz, den es immer macht, wenn ich seinen Namen sehe. Ich blinzele gegen das Licht, wische mir mit der freien Hand über die Augen und entsperre mein Handy.

Leo: „Morgen, Justin. Bereit für einen turbulenten Tag? ;)“

Turbulent? Ich runzle die Stirn. Was meint er damit? Mein Gehirn arbeitet noch auf halber Kraft, aber irgendetwas an dieser Nachricht fühlt sich… anders an. Dann sehe ich die anderen Nachrichten.

Malik (aus dem Kletterteam): „Ey Digga, was zur Hölle?! DU?! 😳🔥 Wie krank ist das bitte?!“

Mira (ebenfalls aus dem Team): „DU STAR! Warum hast du nichts gesagt?! Ich sterbe, das Video ist so krass! 🫠“

Mein Herzschlag beschleunigt sich. Mein Magen zieht sich leicht zusammen, ein nervöses Kribbeln breitet sich in mir aus. Noch zwei Nachrichten von Leuten aus meiner Klasse.

Tom: „Broooo, ich bin grad auf Insta und wer seh ich da?! DU, ALTER!!“

Lina: „Wow, Justin… einfach wow. Ich wusste ja, dass du krass bist, aber DAS?!“

Mein Magen macht einen Salto. Ich sitze plötzlich aufrecht, die Decke rutscht von mir, während ich hektisch mein Handy durchscrolle. Was zum Teufel ist passiert?! Und dann. Dann begreife ich es. Der Kampagnenstart. Das Video ist online.

Ich halte für einen Moment den Atem an. Dann reiße ich die Bettdecke endgültig weg, schwinge meine Beine über die Bettkante und tippe mit zitternden Fingern zurück. Ich: „Was genau habt ihr gesehen?“ Die Antwort kommt fast sofort. Jonas: „Ey, tust du grad so, als wüsstest du es nicht?! 😭 Dein Clip ist überall! Insta, TikTok, sogar der Verein hat’s geteilt! Das sieht so fucking krass aus, ich bin so stolz auf dich!!“

Ich spüre, wie sich meine Finger um die Tischkante krallen. Mein Herz hämmert, während ich mich hektisch zu meinem Schreibtisch bewege. Mein Laptop steht offen. Ich klappe ihn hoch, meine Hände zittern, als ich Instagram öffne. Und dann sehe ich es. Mein Gesicht. Mein Name. Mein Körper in Bewegung. Mein Video. 💥 Pure Movement. True Strength. 💥

Mein Finger zögert, bevor er auf „Play“ drückt. Ich kenne das Video. Ich habe es mit Leo gesehen. Ich weiß, wie es aussieht. Aber jetzt? Jetzt ist es real. Es ist draußen. Jeder kann es sehen. Ich scrolle nach unten.

Likes. Kommentare. Teilungen. Tausende.

Alter, wie heftig ist das Video bitte??“

„Justin ist einfach insane an der Wand!! 😓

„Wie stark kann man sein, holy shit.“

„War ja klar, dass er irgendwann durchstartet. 😎“

„Kletter-Model? Bro ist einfach gemacht für den Sport.“

Mein Atem geht schneller. Es ist nicht nur mein Kletterteam. Nicht nur meine Freunde. Es sind Leute, die ich nicht einmal kenne. Mein Handy vibriert erneut.

Leo: „Du hast es gesehen, oder?“

Ich atme tief durch. Meine Finger tippen automatisch.

Ich: „Ja. Ich… holy shit, Leo.“

Leo: „Told you. ;) Alles okay?“

Ist alles okay? Ich weiß es nicht. Ich bin aufgeregt. Überfordert. Begeistert. Verwirrt. Es fühlt sich an, als hätte jemand einfach das Licht angeknipst, und plötzlich kann mich jeder sehen. Ich: „Ich glaube, ich sterbe gleich.“

Leo: „Nö, du überlebst das. Genieße es.“

Ich lasse mein Handy sinken. Genieße es? Das ist leichter gesagt als getan.

Im Schulgebäude – Augen überall

Der Moment, in dem ich das Schulgelände betrete, fühlt sich an, als hätte jemand einen riesigen, unsichtbaren Scheinwerfer auf mich gerichtet. Normalerweise bin ich einfach nur da. Aber heute? Heute bin ich der Typ aus dem Video. Leute drehen sich nach mir um, flüstern, tuscheln. Ein paar Mädchen aus der Parallelklasse mustern mich und kichern. Ich höre leise Schnipsel von Gesprächen. „Das ist doch der…“ „Krass, Alter…“ „Wie lange macht der das schon?“

Ich gehe weiter. Versuche, normal zu atmen. Normal zu sein. Dann BOOM - die ersten sprechen mich an. Tom: „Ey, Justin, Alter, ich wusste gar nicht, dass du so ‘n krasser Typ bist!“ Er klopft mir auf die Schulter. „Digga, dein Video – einfach next level!“ Ein anderer aus der Klasse: „Wie lange kannst du dich eigentlich an so ’nem Griff halten?!“ Ich will antworten, aber dann kommen die nächsten. Lina: „Duuuuhuuu bist also jetzt famous?“ Sie grinst.

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung? Vielleicht?“

Lina: „Ganz bestimmt!“ Sie hält ihr Handy hoch. Mein Video läuft darauf. „Mein kompletter Feed ist voll mit dir! Das ist doch crazy!“

Crazy trifft es verdammt gut. Dann eine Stimme von der Seite.

Ein Typ aus der Parallelklasse: „Bro, wirst du jetzt so ‘n Influencer oder bleibst du real?“

Gelächter. Ich weiß nicht, ob das ernst gemeint ist oder nur ein dummer Spruch. Mein Kopf dreht sich. Ich versuche, locker zu bleiben, aber es fühlt sich an, als hätte mich jemand mitten ins Rampenlicht geschoben, ohne dass ich vorbereitet war. Ich bin nicht vorbereitet. Aber dann. Dann vibriert mein Handy. Eine neue Nachricht.

Leo: „Vergiss nicht: Es hat einen Grund, warum sie dich feiern. Weil du’s verdient hast.“

Ich starre auf den Bildschirm. Etwas in mir entspannt sich ein kleines bisschen. Ich atme aus. Tief. Langsam. Ja, es ist viel. Aber vielleicht…, vielleicht ist es auch verdammt gut. Ich hebe den Kopf. Sehe in die Gesichter um mich herum. Und dann lächle ich. Okay. Let’s go.


Der Schultag ist… alles, außer normal. Jedes Mal, wenn ich über den Flur gehe, höre ich leises Getuschel. „Ey, das ist doch der aus dem Video!“ Zwei Jungs aus der Parallelklasse gehen an mir vorbei. Einer tippt seinem Kumpel auf die Schulter und grinst. „Wusstest du, dass wir jetzt ’nen Promi an der Schule haben?“ Ich tue so, als hätte ich es nicht gehört. Aber mein Körper ist auf Dauerspannung. Mein Herz schlägt schneller als es sollte. Meine Hände sind eiskalt, obwohl mir heiß ist. Ich kann nicht mehr warten, bis der Schultag vorbei ist. Ich nehme meine Tasche, tippe eine Nachricht an Bobby – „bin früher weg, alles okay“ – und dann verschwinde ich. Direkt zur Firma. Direkt zu Leo.

Die Kampagne verfolgt mich – überall

Die Fahrt dorthin ist ein einziger, verschwommener Gedankensturm. Ich starre aus dem Fenster des Busses, aber die vorbeiziehende Stadt verschwimmt zu einem farblosen Rauschen. Mein Herz schlägt zu schnell, meine Hände sind kalt, obwohl mir eigentlich warm ist. Ich versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Versuche, nicht an die hundert Blicke zu denken, die mich heute getroffen haben. Es fühlt sich an, als wäre ich aus meinem normalen Leben herausgerissen worden – und jemand hätte mich mitten auf eine riesige Bühne gestellt. Ich wusste, dass das Video veröffentlicht wird. Ich wusste, dass es Leute sehen werden. Aber ich hatte mir nie vorgestellt, wie es sich anfühlen würde, plötzlich im Zentrum von allem zu stehen.

Ich drehe das Handy in meiner Hand, mein Daumen gleitet über das Display. Eine Nachricht von Leo wartet noch darauf, beantwortet zu werden. Ich will ihm schreiben, will ihm sagen, dass mein Kopf zu laut ist, dass meine Brust sich anfühlt, als würde jemand von innen dagegen drücken. Aber stattdessen stecke ich das Handy in die Tasche. Es ist zu viel. Ich kann gerade nicht mehr denken. Als der Bus endlich hält, springe ich auf, laufe fast schon aus dem Fahrzeug. Die kühle Luft schlägt mir entgegen, doch sie kann nichts an der Enge in meinem Brustkorb ändern. Ich will nur rein in dieses Gebäude. Will irgendwohin, wo niemand mich anstarrt. Ich betrete die Lobby - und dann trifft es mich. BAM!! Direkt im Eingangsbereich. Die riesigen Monitore. Und darauf? ICH.

Mein Video läuft in Dauerschleife, mein eigenes Gesicht prangt überdimensional auf der Wand. Mein Körper in Bewegung. Mein Blick voller Fokus. Meine Hände, die sich in die Griffe krallen. Mein Sprung. Meine Landung. Der Moment, in dem ich mich umdrehe und lächle, als hätte ich die Welt erobert. Daneben prangt das neue Logo. Clean. Modern. Minimalistisch. Ein stilisierter Kletterkarabiner, der gleichzeitig eine Bergsilhouette andeutet. Die Linien sind scharf, aber nicht übertrieben. Es hat etwas Zeitloses, etwas Kraftvolles. Und darunter der neue Name des Labels:

VERTIX.

Mein Magen zieht sich zusammen. Ich wusste von dem Branding, aber es jetzt hier, riesengroß, lebendig, überall um mich herum zu sehen – das ist etwas anderes. Ich bin nicht nur ein Gesicht in einem Video. Ich bin diese Kampagne. Ich bin VERTIX.

„Oh, wow“, murmele ich, und mein eigener Atem geht mir verloren. Die Frau an der Rezeption hebt den Blick von ihrem Computer, mustert mich amüsiert. „Erfolgreicher Tag, hm?“ Mein Mund ist trocken. Ich bringe ein knappes, gequältes Lächeln zustande und nicke, bevor ich mich hastig umdrehe. Ich muss Leo finden. Jetzt sofort. Mein Puls rast. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er nicht mehr ganz mein eigener. Ich brauche etwas - jemanden - der mich festhält.

Und dann sehe ich ihn. Er lehnt an der Wand des Flurs, direkt vor dem Aufzug. Hände in den Taschen, Beine locker gekreuzt, die dunklen Haare ein bisschen zerzaust, als hätte er sich eben erst durchs Gesicht gestrichen. Er sieht völlig entspannt aus. Aber sein Blick ist auf mich gerichtet, sobald ich ihn entdecke.

Mein Herz stolpert. Er ist der einzige Mensch, auf den ich mich jetzt konzentrieren kann. Der Einzige, den ich sehen will. Meine Füße bewegen sich automatisch auf ihn zu, mein Körper immer noch voller Adrenalin, mein Kopf immer noch ein einziges Durcheinander.

„Hey“, sagt er leise. „Hey.“ Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. Für einen Moment stehen wir einfach nur da. Ich sehe das leichte Funkeln in seinen Augen, dieses Ich-habe-dir-gesagt,-dass-es-krass-wird-Grinsen. Aber gleichzeitig…, ist da auch etwas anderes. Verständnis. Er weiß, wie es sich anfühlt. „Rough day?“ fragt er. Ich atme aus. „Ich hab das Gefühl, jeder hat mich heute angestarrt.“ Er nickt, als hätte er genau das erwartet. „Willkommen im Rampenlicht, Justin.“ Ich lache kurz, aber es klingt müde. „Ich wollte nicht ins Rampenlicht.“ „Tja, Pech.“ Er grinst schief, aber dann wird sein Blick weicher. „Komm her.“ Ich zögere nicht. In der nächsten Sekunde schiebe ich mich in seine Arme, lege meinen Kopf an seine Schulter, lasse mich einfach in die Umarmung sinken. Und plötzlich… ist alles still. Seine Arme schließen sich um mich, fest, warm, sicher. Ich spüre seinen Atem an meinem Haar, seinen Herzschlag unter meiner Wange. Mein Körper, der sich den ganzen Tag über angespannt und unruhig angefühlt hat, beginnt sich zu entspannen. Mein Herz beruhigt sich. Meine Gedanken werden leiser. Ich schließe die Augen.

Für diesen einen Moment existieren keine Bildschirme, keine neugierigen Blicke, keine Nachrichten auf meinem Handy. Nur Leo. Seine Wärme. Sein Halt. Er sagt nichts. Und das ist genau das, was ich brauche. Ich tanke auf. Atme tief durch. Nach einer Weile murmelt er: „Besser?“ Ich nicke. Aber ich will noch nicht loslassen. Er lacht leise, seine Hand gleitet beruhigend über meinen Rücken. „Dann bleib einfach noch ein bisschen so. Ich hab Zeit.“ Und genau das tue ich. Ich bleibe. Bei ihm. Die Welt um uns könnte explodieren – und es wäre mir egal. Irgendwann dringt die Realität langsam zu mir zurück. Mir wird bewusst, dass wir mitten im Gang stehen. Dass da bestimmt schon ein halbes Dutzend Leute aus dem Aufzug gekommen und an uns vorbeigegangen sind. Dass mindestens genauso viele hinter den Glaswänden der Büros vorbeigelaufen sind und uns bemerkt haben. Vielleicht hat auch die Rezeptionistin einen Blick riskiert.

Mir. Egal. Ich wollte das. Ich brauchte das. Langsam löse ich mich aus der Umarmung, spüre noch für einen Moment den Nachhall seiner Wärme auf meiner Haut. Leo grinst mich schief an, als wüsste er genau, was mir gerade durch den Kopf geht. „Besser?“ fragt er nochmal. Ich nicke. Diesmal fester. „Ja.“ „Gut.“ Er nimmt meine Hand kurz in seine, drückt sie sanft. Dann deutet er mit einer Kopfbewegung auf eine ruhigere Ecke, ein Lounge-Bereich mit niedrigen Sesseln und einer riesigen Glasfront, die den Blick auf die Stadt freigibt. „Setz dich“, sagt er. Dann grinst er leicht. „Ich hab was zu erzählen.“

Der Manager, oder so.

Wir lassen uns in die tiefen Sessel der Lounge sinken, und ich spüre sofort, wie mein Körper nachgibt. Mein Rücken rutscht ein Stück tiefer in die Polster, mein Nacken streckt sich automatisch nach hinten, bis ich ein leises Knacken höre. Ich bin müde. Nicht nur körperlich, sondern auch in meinem Kopf, der sich anfühlt wie ein zu voll gepackter Rucksack, den ich nicht mehr absetzen kann. Aber Leo ist hier. Seine Nähe hält mich irgendwie in der Realität verankert. Wie ein Fixpunkt in diesem ganzen Chaos. Er sitzt mir gegenüber, lehnt sich locker zurück, verschränkt die Arme vor der Brust. Seine dunklen Augen mustern mich wachsam, als würde er darauf warten, dass ich ein Zeichen gebe, dass ich bereit bin, zuzuhören.

Dann spricht er. „Also…, ich hab mit Thomas geredet.“ Ich hebe leicht eine Braue. „Über uns?“ Leo schmunzelt. „Über dich.“ Ich schnaube leise. „War ja klar.“ „Ja.“ Er atmet tief durch. „Dadurch hat sich meine Aufgabe ein bisschen geändert.“ Meine Stirn zieht sich zusammen. Geändert? „Thomas will, dass ich dein Manager werde. Oder zumindest…, na ja, dein persönlicher Ansprechpartner.“ Ich blinzele. Mein… was? Leo lehnt sich vor, seine Ellbogen auf die Knie gestützt. „Ich bin jetzt offiziell dafür verantwortlich, dass du nicht durchdrehst. Dass du dich auf das konzentrieren kannst, was wirklich zählt. Dass dir der ganze Trubel nicht zu Kopf steigt.“

Ich starre ihn an. „Also… quasi nichts anderes als vorher?“ frage ich langsam. Leo lacht leise. „Eigentlich nicht. Aber jetzt gibt’s einen Titel dafür.“ Ich lasse die Worte sacken. Er war doch schon immer an meiner Seite. Seit wir uns kennen, fühlt es sich an, als wäre er derjenige, der mich auffängt, wenn ich nicht mehr kann. Derjenige, der mich runterholt, wenn mein Kopf zu viel arbeitet. Derjenige, der mich versteht, ohne dass ich groß erklären muss. Und jetzt? Jetzt hat das einen Namen. Eine Rolle. Eine offizielle Aufgabe. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder nervös sein soll. Also versuche ich es mit Humor. „Also bist du jetzt mein Babysitter?“ Leo schnaubt. „Eher dein Bodyguard.“ Ich lache, aber da ist etwas in seiner Stimme – etwas Ernstes. Sein Blick bleibt an mir hängen, direkt und ruhig. „Ich meine es wirklich so, Justin.“ Er spricht leise, aber jedes Wort trifft ins Schwarze. „Es wird jetzt alles noch größer. Noch schneller. Und ich will nicht, dass du dich in dem ganzen Trubel verlierst. Du sollst du bleiben.“ Ich schlucke. Meine Kehle zieht sich leicht zusammen. Ich soll ich bleiben.

Er weiß genau, wie leicht es ist, sich zu verlieren, wenn plötzlich alle eine Meinung über dich haben. Wenn du von allen beobachtet wirst. Wenn du nicht mehr nur „Justin“ bist, sondern „der Typ aus dem Video“. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich denke an heute Morgen, an die Schule, an all die Blicke, all das Flüstern. Ich denke an die riesigen Bildschirme in der Firma. Mein Gesicht, mein Körper, meine Bewegungen. Und ich denke an meine eigene Stimme in meinem Kopf, die immer wieder fragt: Bin ich bereit dafür?

Leo sieht mich an. Wartet auf meine Antwort. Ich atme langsam aus. Dann nicke ich. „Okay.“ Er mustert mich einen Moment, dann lehnt er sich wieder zurück, wirkt ein kleines bisschen entspannter. „Gut. Dann ist das geklärt.“ Er grinst schief. „Aber bevor du dich zu sehr an mich klammerst - ich hab noch eine Aufgabe für dich.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Oh nein.“ „Oh ja.“ Sein Grinsen wird breiter. „Du hast einen Termin beim Mental Coach.“

Ich starre ihn an, als hätte er mir gerade erzählt, dass ich für die nächsten drei Monate auf Zucker verzichten muss. „Was?“ Leo hebt abwehrend die Hände. „Hey, keine Panik. Es ist nichts Schlimmes. Clara kennst du doch schon, oder?“ Ich schüttele den Kopf. „Mental Coach? Ich dachte, das ist für Spitzensportler und Leute mit… na ja, ernsthaften Performance-Problemen?“ Leo zieht eine Braue hoch. „Aha. Und was, wenn ich dir sage, dass du jetzt ein Spitzensportler bist?“ Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder. Verdammt. Er hat Recht. Heute hat sich bereits angefühlt wie ein verdammter Marathon – und das war erst der erste Tag nach der Veröffentlichung des Videos. Wie soll das in den nächsten Wochen werden?

Ich lasse meinen Kopf gegen die Rückenlehne fallen und schließe kurz die Augen. „Also… was genau macht so ein Mental Coach mit mir?“ frage ich schließlich. Leo zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Dir helfen, mit dem ganzen Wahnsinn umzugehen? Dir Strategien zeigen, wie du dich auf das konzentrieren kannst, was wirklich zählt? Vielleicht herausfinden, warum du dich manchmal selbst blockierst?“ Ich runzle die Stirn. „Ich blockiere mich nicht.“ Leo zieht eine Augenbraue hoch. „Aha. Und das, was heute in der Schule passiert ist, war dann…?“ Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder. Mist. Ich habe mich verrückt gemacht. Habe mich fast schon panisch aus der Schule geflüchtet, weil ich mit dem plötzlichen Fokus auf mich nicht umgehen konnte. Langsam atme ich aus. „Okay. Ich geh hin“, murmle ich. Leo grinst. „Gut.“ Er lehnt sich wieder zurück, mustert mich kurz, dann schüttelt er schmunzelnd den Kopf. „Was?“ frage ich misstrauisch. „Nichts.“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich finde es nur irgendwie witzig, dass du jetzt Meetings mit Marketingleitern hast, einen persönlichen Manager - also mich - und einen Mental Coach. Und dabei bist du einfach nur ein 16-jähriger Kletterer, der eigentlich nur an die Wand will.“

Ich lache leise. „Sag’s nicht so laut, sonst merken die irgendwann, dass ich eigentlich gar nicht hier sein sollte.“ Leo grinst. Dann steht er auf und streckt die Hand nach mir aus. „Komm, Justin. Lass uns sehen, ob dein Kopf so stark ist wie deine Arme.“ Ich schnaube. Aber dann nehme ich seine Hand. Und irgendwie…, fühlt sich das gerade genau richtig an.

Sechzehn und plötzlich das öffentliches Gesicht

Als ich den Raum betrete, sehe ich sie sofort. Clara. Sie sitzt entspannt in einem der breiten Sessel, eine Tasse Tee in der Hand. Ihre blonden Locken sind locker zurückgebunden, ihr Blick ist ruhig, aber aufmerksam. „Na, Justin? Ich hätte mir ja fast gedacht, dass wir uns irgendwann wiedersehen.“

Ich lasse mich auf den Sessel gegenüber fallen. „Tja. Hier bin ich.“

Sie mustert mich kurz, dann stellt sie ihre Tasse ab.

„Und? Wie fühlt es sich an, plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen?“

Ich atme langsam aus.

„Seltsam. Überfordernd. Zu viel.“

Sie nickt verständnisvoll. „War das heute in der Schule so schlimm?“

Ich starre einen Moment auf meine Hände. „Ich dachte, es wäre okay. Ich meine, ich wusste ja, dass es kommt. Aber dann…, die ganzen Blicke. Jeder hatte eine Meinung. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Also bin ich abgehauen.“

Clara lehnt sich nach vorne. „Und jetzt? Bist du noch immer auf der Flucht?“

Ich lache kurz. „Leo meinte, ich soll mir das hier anhören.“

Clara schmunzelt. „Dann wird es höchste Zeit, dass du lernst, wie du damit umgehst, bevor es dich auffrisst.“

Ich lehne mich zurück. „Okay“, sage ich schließlich. „Ich hör zu.“

Clara lächelt. „Dann legen wir los.“ Sie lehnt sich etwas vor, ihre Hände locker ineinandergelegt, während sie mich aufmerksam mustert. Ihr Blick ist ruhig, geduldig, aber direkt. Als hätte sie schon unzählige Gespräche wie dieses geführt. Doch das hier ist nicht irgendjemand. Es bin ich. Und ich habe keine Ahnung, wie ich mit dem umgehen soll, was gerade passiert.

„Also, Justin“, beginnt sie sanft, „du sagst, es fühlt sich überwältigend an. Zu viel. Was genau ist das, was dich so aus der Bahn wirft? Sind es die Blicke? Die Kommentare? Die Erwartungen?“

Ich schlucke. Wo soll ich anfangen? Mein Blick gleitet über den Tisch, über das weiche Polster des Sessels, als könnte ich dort eine Antwort finden. Dann atme ich tief durch. „Es ist…, alles zusammen. Heute Morgen war noch alles normal. Und dann komme ich in die Schule, und plötzlich kennen mich Leute, die vorher nicht mal wussten, dass ich existiere. Sie reden über mich, starren mich an, sagen Dinge, die ich nicht beeinflussen kann. Ich wusste ja, dass das passiert, aber…, ich hab mich nicht darauf vorbereitet, wie es sich anfühlt.“

Clara nickt verständnisvoll. „Du hast also das Gefühl, dass dir die Kontrolle entgleitet?“

Ich sehe auf, treffe ihren Blick und nicke langsam. „Ja. Genau das.“

Sie lehnt sich zurück, nimmt sich einen Moment, als würde sie überlegen, wie sie ihre Worte wählt. Dann sagt sie ruhig: „Justin, das ist eine völlig natürliche Reaktion. Du bist von jetzt auf gleich in eine Situation geworfen worden, die für die meisten Menschen niemals Realität wird. Und dein Kopf versucht gerade, mit einer völlig neuen Art von Aufmerksamkeit klarzukommen.“

Ich zucke die Schultern. „Andere kommen damit doch auch klar. Ich meine, es gibt genug Leute, die es genießen, im Mittelpunkt zu stehen.“

Clara schüttelt sanft den Kopf. „Das heißt aber nicht, dass sie nie damit kämpfen. Und außerdem - du bist nicht ‚andere Leute‘. Du bist DU. Und du musst einen Weg finden, mit dieser Öffentlichkeit umzugehen, der sich für dich gut anfühlt.“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Und wie macht man das?“

Sie lächelt leicht. „Indem du dich daran erinnerst, dass du trotzdem noch derselbe Justin bist wie gestern. Du bist nicht plötzlich eine andere Person, nur weil die Welt dich jetzt sieht. Du bist immer noch du, mit deinen Stärken, deinen Zweifeln, deinen Leidenschaften. Und das wird sich nicht ändern, egal wie viele Menschen über dich reden.“

Ich lasse ihre Worte sacken. Irgendwie klingt es logisch. Aber gleichzeitig fühlt es sich eben doch anders an. „Aber was, wenn ich mich trotzdem komisch fühle? Wenn ich mich selbst nicht wiedererkenne?“

Clara nickt, als hätte sie genau diese Frage geahnt. „Dann brauchst du einen Anker. Etwas, das dich daran erinnert, wer du wirklich bist. Das können Menschen sein - wie Leo, Bobby oder dein Team. Oder es kann etwas sein, das du tust. Klettern zum Beispiel. Etwas, das dir das Gefühl gibt, ganz bei dir zu sein.“

Mein Magen zieht sich leicht zusammen. „Aber was, wenn ich mich irgendwann in all dem verliere? Wenn ich mich zu sehr daran gewöhne, dass die Leute mich ansehen und anfangen, Dinge von mir zu erwarten?“

Clara sieht mich ernst an. „Dann musst du dir selbst die Frage stellen: Für wen mache ich das hier eigentlich?“

Ich blicke sie überrascht an.

„Du hast dich für die Kampagne entschieden, weil du es wolltest, oder? Nicht, weil jemand es von dir verlangt hat.“

Ich nicke langsam. „Ja…“

„Dann darfst du nie vergessen, dass du immer noch die Wahl hast. Du bist nicht gefangen. Es gibt keinen Zwang. Wenn du irgendwann an einen Punkt kommst, an dem es sich nicht mehr richtig anfühlt, dann darfst du es ändern. Aber solange du es tust, weil du es willst, dann gehört die Bühne dir. Und du darfst entscheiden, wie du sie betrittst.“

Ich atme tief ein, dann aus. „Also sagst du, ich soll es annehmen, anstatt davor wegzulaufen?“

Sie lächelt leicht. „Genau. Die Aufmerksamkeit wird so oder so da sein. Die Frage ist, ob du dich davon erschlagen lässt. Oder ob du entscheidest, wie du sie nutzt. Es ist dein Leben, Justin. Und du hast mehr Kontrolle, als du gerade glaubst.“

Ich lasse mich in den Sessel zurückfallen, spüre, wie sich mein Brustkorb langsam entspannt. Irgendwo in mir ist immer noch dieses nervöse Kribbeln. Aber es ist nicht mehr so lähmend. Eher wie eine Welle, die ich vielleicht… surfen könnte. „Also gut“, sage ich schließlich. „Dann surfe ich die Welle.“

Clara grinst. „Genau. Und wenn sie dich mal überrollt, dann tauchst du durch, und tauchst wieder auf.“

Ich lache leise. „Klingt, als hättest du das schon öfter Leuten gesagt.“

Sie zwinkert. „Sagen wir so: Du bist nicht der Erste, der mit plötzlicher Aufmerksamkeit kämpft. Aber du wirst einer der wenigen sein, die lernen, sie auf ihre eigene Weise zu meistern.“

Ich atme tief durch. Dann nicke ich. Vielleicht hat sie Recht. Vielleicht kann ich das schaffen.

Der Anker – Mein Start bei VERTIX

Nach der Sitzung mit Clara fühle ich mich…, leichter. Nicht, weil der Druck plötzlich verschwunden wäre - das wäre zu einfach. Aber ich habe das Gefühl, als hätte ich zum ersten Mal eine Waffe in der Hand, mit der ich mich gegen diesen Sturm wehren kann. Nicht mehr nur stehenbleiben und hoffen, dass er mich nicht umreißt, sondern mich dagegen stemmen.

„Denk dran, Justin“, hatte Clara zum Abschied gesagt. „Du bist nicht das, was die Leute über dich sagen. Du bist das, was du über dich sagst.“

Ich lasse den Satz in meinem Kopf nachhallen, während ich durch die breiten Flure von VERTIX gehe. Der Boden aus poliertem Beton reflektiert das weiche Licht der Wandleuchten, Stimmen aus offenen Büros und Meetingräumen dringen an meine Ohren. Geschäftig, professionell – und irgendwo mittendrin bin ich. Der neue Junge. Der Kletterer. Das Gesicht der Kampagne. Und dann sehe ich wieder Leo. Wie immer wartet er irgendwo auf mich. Wie ein Fixpunkt. Er sitzt auf einem der hohen Barhocker in der Lobby, einen Coffee-to-go in der Hand, während er sich mit einem Mitarbeiter unterhält. Lässig. Selbstbewusst. Unübersehbar. Dann schweift sein Blick über den Raum, bleibt an mir hängen - und sein Mund verzieht sich sofort zu diesem typischen Leo-Grinsen.

Mein Herz stolpert einen halben Schlag. Fuck.

Leo schiebt sich von seinem Platz, streckt sich, als wäre er gerade erst richtig wach geworden. „Na, überlebt?“

Ich rolle mit den Augen. Typisch. „Gerade so.“

Bevor ich irgendwas anderes sagen kann, reicht er mir eine kalte Wasserflasche. Ich nehme sie automatisch, mustere ihn misstrauisch. „Hast du die etwa für mich geholt?“

„Möglich.“ Er zuckt die Schultern. „Vielleicht habe ich aber auch gehofft, dass du heute verdurstest.“

Ich schniefe und nehme einen tiefen Schluck. Das Wasser fühlt sich kühl in meiner Kehle an, und ein Teil von mir hasst es, dass er immer an solche Kleinigkeiten denkt, bevor ich es tue.

„Gut“, sagt Leo schließlich. „Dann zum Tagesplan.“

Ich seufze. Der Anker.

Leo hat mir vorhin erklärt, dass meine Tage bei VERTIX immer mit dem gleichen Ablauf starten. Damit ich mich nicht verloren fühle. Damit ich mich auf eine Routine verlassen kann, während um mich herum alles chaotisch wird.

1. Check-in mit Leo! Wir besprechen den Tag. Was ansteht, was wichtig ist, was ich wissen muss.

2. Frisch machen - Duschen, umziehen - in die Kleidung der Kampagne, damit ich immer bereit für Shootings oder spontane Meetings bin.

3. Stylistin. Haare, Hautpflege, das volle Programm. Nicht, weil ich es bräuchte, sondern weil VERTIX darauf achtet, dass das Branding durchgezogen wird.

4. Tagesprogramm. Training, Meetings, Content-Produktion, je nachdem, was ansteht. Eventuell mit Briefing vorweg, falls nötig.

5. Wellness. Das heißt wieder duschen und ab zur Massage, denn „wir wollen dich ja fit halten“ hat er gemeint.

6. Ergebnisse. Anschauen der ersten Entwürfe aus dem Kreativteam, damit wir wissen, ob wir nochmal etwas brauchen und ein direktes Feedback des Tages haben.

Ich nehme noch einen Schluck Wasser und lehne mich gegen die hohe Theke neben uns. „Und was steht heute an?“

Leo wirft einen kurzen Blick auf sein Handy, scrollt durch seine Notizen – dann zieht er eine Grimasse. „Du wirst es hassen.“

Ich blinzele. „Oh nein. Was?“

Er hebt den Kopf, sieht mir direkt in die Augen und grinst. „Yoga.“

Ich stöhne laut. „Ernsthaft?!“

„Ernsthaft!“ Er lehnt sich lässig gegen die Theke, als wäre er vollkommen unbeteiligt. „Dein Körper muss regenerieren. Und das hier ist ein Teil der Kampagne. Das neue Movement-Programm von VERTIX. Also krieg deinen Arsch auf die Matte.“

Ich werfe den Kopf in den Nacken und lasse ein gequältes Geräusch hören. „Ich bereue alles.“

Leo klopft mir mitleidlos auf die Schulter. Seine Hand bleibt vielleicht einen Hauch zu lange dort. „Dann bist du ja bestens vorbereitet.“

Und mit diesen Worten schiebt er mich grinsend Richtung Dusche und Umkleide.

Mein Körper, mein Spiegelbild, meine Gedanken

Das Wasser prasselt gleichmäßig auf die Fliesen. Ein monotoner Rhythmus, der alles andere für einen Moment ausblendet. Ich schließe die Augen, spüre, wie der warme Dampf langsam den Raum füllt, meine Haut erwärmt, meine Muskeln entspannt.

Heute hat Leo mir keinen Raum für Diskussionen gelassen.

Keine Möglichkeit, mich raus zureden. Keine Chance, mich hinter einer Ausrede zu verstecken. Er hat mich durch den Flur zur Umkleide geschickt, mir den Plan vorgelegt und mich dann hiergelassen. Es war gut so. Hätte er mir eine Wahl gelassen, hätte ich mich verzettelt. Hätte nachgedacht, zu viel, zu lange. Hätte mich gefragt, ob das alles wirklich sein muss, ob ich nicht doch lieber irgendwo in einer ruhigen Ecke verschwinden sollte, weit weg von all diesen Dingen, die mich sichtbar machen. Aber jetzt? Jetzt gibt es nur eins: Funktionieren.

Ich trete unter den warmen Wasserstrahl, lasse ihn über meinen Nacken, meine Schultern, meine Arme laufen. Das leichte Prickeln auf meiner Haut fühlt sich an, als würde es den Stress von heute Morgen wegwaschen. Vielleicht bilde ich mir das nur ein .Aber der Gedanke daran ist beruhigend. Mein Körper ist schwer, als würde die Hitze das letzte bisschen Anspannung aus mir ziehen. Und doch… bin ich wach. Ich atme tief durch, reibe mir mit den Händen über das Gesicht und schiebe dann das Wasser aus meinen Haaren. Neuer Tag, neuer Justin. Oder so. Ich trockne mich schnell ab, dann greife ich nach den Klamotten, die Leo schon für mich hingelegt hat. Ich stöhne innerlich, als ich die enganliegende Hose hochziehe. Das Material ist leicht, elastisch, es sitzt perfekt, fast zu perfekt. Ich bin es nicht gewohnt, meine Körperkonturen so betont zu sehen. Normalerweise trage ich eher lockere Sporthosen, Hoodies, Sachen, die mich nicht in Szene setzen. Das hier? Das setzt mich in Szene. Und manche Details für meinen Geschmack sogar ziemlich deutlich. Ich betrachte mich im Spiegel, und für einen Moment halte ich den Atem an, doch meine Gedanken lassen mich nicht los. Ich bin sichtbar. Noch nie in meinem Leben war ich so sichtbar. Und dann sehe ich es. Mich. Mein Spiegelbild – Wer bin ich jetzt? Ich starre auf mein eigenes Spiegelbild und… halte den Atem an.

Die Klamotten, die Leo für mich hingelegt hat, passen perfekt. Fast zu perfekt. Die Yogahose sitzt eng an meinen Beinen, schmeichelt meinen Muskeln, die ich sonst nie so bewusst betrachte. Ich drehe mich leicht zur Seite, betrachte die Konturen meiner Oberschenkel, die Definition meiner Waden. Meine Hüften, meine Taille – alles liegt plötzlich offen vor mir, als würde ich mich zum ersten Mal wirklich sehen. Ich fahre mir mit der Hand über den Bauch. Kein Sixpack, aber fest. Stark. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie mein Körper eigentlich aussieht. Er musste nur funktionieren. Aber jetzt? Jetzt stehe ich da, mustere mich – und zum ersten Mal frage ich mich, was andere sehen, wenn sie mich anschauen. Mein Oberkörper, schmal, definiert. Mein Gesicht, noch leicht gerötet vom warmen Wasser. Mein Haar feucht, einige Tropfen laufen meine Schläfen hinab. Und meine Augen. Ich sehe jünger aus, als ich mich fühle. Mein Blick ist wach, aber irgendwo darin liegt etwas… Unausgesprochenes. Ich kenne dieses Gesicht. Und doch fühlt es sich fremd an. Bin ich das noch? Der Junge, der in seiner eigenen Welt gelebt hat, für den es nur Griffe, Wände, Herausforderungen gab? Oder bin ich jetzt jemand anderes? Ein Name, ein Bild, ein Produkt? Ich schlucke hart. Mein Brustkorb fühlt sich eng an. Dann klopft es an der Tür.

„Justin?“

Leo.

Seine Stimme bringt mich zurück in die Realität. Ich atme tief durch, reiße den Blick los. „Ja?“ Die Tür geht auf, und er tritt ein. Ich sehe ihn im Spiegel, wie er mich mustert. Seine Augen wandern an mir entlang, und dann setzt er dieses typische Leo-Grinsen auf. „Nicht schlecht“, sagt er anerkennend. „Die Klamotten stehen dir. Vielleicht solltest du immer so rumlaufen.“ Ich verdrehe die Augen, spüre aber, wie meine Ohren heiß werden. „Sehr witzig.“ Er lehnt sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. „Ne, ernsthaft. Du siehst gut aus.“ Mein Magen macht einen unkontrollierten Satz. Ich versuche, es zu ignorieren. Versuche, den Blickkontakt zu vermeiden. Leo schüttelt leicht den Kopf, dann deutet er mit einer Kopfbewegung nach draußen. „Komm. Stylistin wartet. Und wenn wir zu spät kommen, fängt sie an, mich zu schminken.“ Ich lache leise. Es ist gut, dass er hier ist.


Der Raum riecht nach Haarspray, nach Pflegeprodukten, nach etwas Blumigem, das ich nicht ganz zuordnen kann.

Mia, die Stylistin, erwartet mich bereits. Sie kennt mich inzwischen. Sie weiß, dass ich keine Lust auf all das habe. Aber sie weiß auch, wie sie mich dazu bringt, stillzuhalten. „Setz dich“, sagt sie, und ich gehorche.

Leo lehnt sich locker gegen den Türrahmen, die Hände in den Taschen, beobachtet mich mit einem amüsierten Blick.

„War ein langer Morgen, hm?“ murmelt Mia, während sie mit einer Bürste durch mein Haar fährt.

Ich schließe kurz die Augen. Langer Morgen ist untertrieben. „Und das hier hat gerade erst angefangen.“

Sie lacht leise. „Tja, daran gewöhnst du dich besser.“

Dann tupft sie mit einem kleinen Schwämmchen über meine Haut. Nur minimaler Concealer, um Augenringe abzudecken. Ich zucke leicht zusammen, als das kühle Material meine Wangen berührt. Es ist seltsam, so eine kleine Veränderung, und doch fühlt es sich an, als würde sie mich neu definieren. Ich sehe es im Spiegel. Wie meine Augen plötzlich wacher wirken. Wie mein Gesicht klarer aussieht. Wie ich, ohne dass ich es geplant habe, ein kleines bisschen mehr wie eine Version von mir selbst aussehe, die für die Kamera gemacht ist. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Aber ich weiß, dass es dazugehört.

Mia tritt zurück, betrachtet ihr Werk, nickt zufrieden. „Perfekt.“

Leo kommt näher. Viel näher. Er lehnt sich über meine Schulter, seine Brust fast an meinem Rücken, sein Gesicht direkt neben meinem. Ich spüre seine Wärme. Ich sehe unser Spiegelbild. Er sieht mich an, nicht sein eigenes Spiegelbild. Mich. „Sieht aus, als hättest du nicht die Nacht durchgemacht und dich mental völlig selbst zerfleischt“, sagt er grinsend. Mein Herz schlägt schneller. Zu nah. Zu vertraut. Ich schnaube. „Sehr beruhigend.“ Er klopft mir leicht auf die Schulter, seine Hand bleibt nur einen Moment zu lange dort. „Bist du bereit?“ Ich atme tief durch. Bereit. Was auch immer das bedeutet. Was auch immer dieser Tag noch bringt. „Ja.“ Leo grinst. „Gut. Dann ab auf die Matte.“ Ich stöhne. „Ich hasse dich.“ Er lacht, zieht mich aus dem Stuhl hoch. „Nein, tust du nicht.“ Und während er mich nach draußen schiebt, während seine Hand noch ganz kurz meinen Rücken berührt, frage ich mich, ob er weiß was dies für mich bedeutet.

Die Botschaft hinter der Bewegung

Der Trainingsraum ist groß, offen, mit einer ruhigen, fast meditativen Atmosphäre. Warmes Licht fällt durch breite Fenster auf den Boden, und an den Wänden hängen Bilder von Athleten in Bewegung – nicht in klassischen Posen, sondern in Momenten der Schwerelosigkeit, des völligen Loslassens. Das ist also der nächste Schritt.

Bevor es losgeht, führt Leo mich noch zu Finn, der, wie immer, wirkt, als hätte er bereits den gesamten Tag in präzisen Abläufen geplant. Er steht vor einer riesigen Moodboard-Wand, an der unzählige Bilder befestigt sind: Kletterbewegungen in perfekter Harmonie, Naturaufnahmen von zerklüfteten Felswänden und die neue Kollektion von VERTIX – leichte Stoffe, gedeckte Farben, designed für absolute Bewegungsfreiheit.

Finns Blick ist ruhig, durchdringend. „Justin.“ Ich nicke ihm zu, unsicher, was mich erwartet. Er deutet auf die Bilder vor sich. „Heute wird es anders. Es geht nicht um rohe Kraft, nicht um Performance oder Technik. Heute geht es um Eleganz.“ Ich runzle die Stirn. „Eleganz?“

Leo grinst, aber Finn bleibt ernst. „Die Kampagne soll nicht nur Stärke zeigen, sondern Leichtigkeit. Bewegung, die mühelos wirkt. Die mit der Kleidung verschmilzt. Keine Kampfanspannung, kein harter Fokus – nur du und dein Körper, in völliger Harmonie mit dem Moment.“

Ich lasse die Worte sacken. Stärke? Klar. Technik? Auch okay. Aber Eleganz?

Finn tritt einen Schritt näher, seine Stimme wird ruhiger. „Vergiss die Kameras. Vergiss die Kampagne. Konzentrier dich nur auf deinen Körper. Spüre, wie die Kleidung sich mit dir bewegt. Du sollst nicht posieren – du sollst einfach sein.“ Irgendwas daran trifft mich. Nicht, weil ich mich plötzlich als grazilen Tänzer sehe, sondern weil ich nie wirklich darüber nachgedacht habe, wie ich mich bewege. Für mich war Bewegung immer funktional – ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen. Der nächste Griff, der nächste Zug, das nächste Problem lösen. Aber jetzt soll ich es anders sehen.

Leo tippt mir leicht gegen die Schulter. „Hör auf, so zu gucken, als hätte Finn dir gerade gesagt, du sollst Ballett tanzen.“ Ich grinse. „Na, so weit sind wir doch schon, oder?“ Finn schmunzelt nur und klopft mir auf die Schulter. „Lass es einfach auf dich zukommen.“ Ich atme tief durch. Okay.

Auf der Matte – Ein ganz neues Gefühl

Die Yogamatte ist weich unter meinen Füßen, der Boden warm, aber kühl genug, dass ich das Gefühl habe, wirklich geerdet zu sein. Die Trainerin, Maya, erwartet mich bereits. Sie ist vielleicht Mitte dreißig, mit einer ruhigen, aber bestimmten Ausstrahlung. Sie trägt einfache, schwarze Kleidung, ihre Füße sind nackt, und ihre Bewegungen sind so fließend, dass ich mich sofort frage, wie lange sie braucht, um morgens in Gang zu kommen. „Justin, richtig?“ fragt sie sanft.

Ich nicke. „Ich bin Maya. Ich leite die heutige Session. Keine Sorge – das hier ist kein klassisches Yoga. Ich werde dich nicht in unmögliche Positionen zwingen.“ Ich entspanne mich ein wenig. „Heute geht es darum, deinen Körper bewusst zu spüren, seine Grenzen zu erkennen – und seine Möglichkeiten.“

Leo steht neben mir, Arme verschränkt, mit diesem Schau-mal-was-du-jetzt-wieder-machen-musst-Blick. „Heißt das, er wird am Ende nicht jammernd auf der Matte liegen?“ Ich rolle mit den Augen. „Warts ab.“ Maya lacht leise und deutet auf die Matte. „Dann lass uns anfangen.“ Ich atme tief durch und trete auf die Oberfläche. Die Kleidung fühlt sich ungewohnt an - eng, aber nicht einengend. Fast so, als wäre sie eine zweite Haut. Ich vergesse sie mit jeder Bewegung mehr. „Stell dich hüftbreit hin“, beginnt Maya ruhig. „Heb die Arme über den Kopf und atme tief durch. “Ich folge ihrer Anweisung, hebe die Arme, spüre, wie sich mein Brustkorb weitet. „Und jetzt beug dich langsam nach vorne, als würdest du dich zusammenrollen. Lass den Kopf hängen, spüre, wie dein Rücken sich dehnt.“ Ich lasse mich nach vorne sinken – und dann spüre ich eine Berührung. Leos Hand. Ganz leicht an meinem unteren Rücken. Fast nur ein Hauch. „Atme“, murmelt er leise. Ich merke erst jetzt, dass ich den Atem angehalten habe. Ich lasse ihn langsam ausströmen, meine Muskeln entspannen sich.

Maya gibt mir Anweisungen, führt mich von einer Position in die nächste. Ich folge, ohne zu kämpfen. Es ist kein Kraftakt. Kein Versuch, den eigenen Körper zu besiegen. Es ist… fließen. Ich verliere mich in den Bewegungen. Die Welt um mich herum wird leiser. Die Stimmen verstummen. Und dann passiert es. Ich spüre es. Wie sich der Stoff meiner Kleidung perfekt mit mir bewegt. Kein Ziehen, kein Rutschen. Nur Leichtigkeit. Finn hatte Recht. Ich war schon immer elegant. Ich habe es nur nie bemerkt.

„Okay, Justin. Eine letzte Bewegung. “Ich bin leicht verschwitzt, aber nicht erschöpft. Es fühlt sich nicht nach einem Ende an – sondern nach einem Anfang. Maya führt mich in eine tiefe Rückbeuge. Meine Arme nach oben gestreckt, mein Brustkorb geöffnet. Ich schließe die Augen, lasse mich in die Bewegung sinken. Und dann höre ich es. Ein leises Lachen. Ich öffne die Augen. Leo. Er steht da, Arme verschränkt, grinst mich an. Aber nicht spöttisch, nicht überheblich. Er sieht mich an, als hätte er gerade etwas Neues an mir entdeckt. Als hätte er etwas gesehen, das ich selbst erst jetzt verstanden habe.

Ich bin nicht nur stark. Ich bin nicht nur ein Kletterer. Ich bin mehr. Und Leo…, er sieht das. Ich richte mich langsam auf. „Was?“ Er schüttelt den Kopf, sein Lächeln bleibt. „Nichts.“ Aber sein Blick bleibt hängen. Und für einen Moment ist da nur das. Nur dieser Moment, in dem es sich anfühlt, als wäre die Luft zwischen uns aufgeladen. Als wäre da etwas, das noch nicht ausgesprochen wurde. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Leo lehnt sich näher. „Noch nicht genug gesehen.“ Mein Brustkorb zieht sich zusammen, ein seltsames Prickeln breitet sich in mir aus. Dann dreht er sich mit einem Lächeln um. „Aber das war schon mal ein guter Anfang.“ Ich weiß nicht, warum – aber ich lache.

Maya nickt mir zu. „Gute Arbeit, Justin.“ Ich ziehe mir ein Handtuch über die Schultern, spüre, wie die Anspannung aus meinem Körper fällt. „Und jetzt?“ frage ich Leo. Er grinst. „Jetzt? Jetzt fängt der Tag erst richtig an.“ Ich atme langsam aus. Okay.


Der Tag war anstrengend - aber auf eine andere Art. Kein Klettern, kein Brennen in den Armen vom Halten winziger Griffe, keine Angst vor dem nächsten Zug. Heute ging es um etwas anderes. Sanfte Bewegungen. Kontrolle. Körperbewusstsein. Und doch… spüre ich es. Meine Muskeln fühlen sich immer noch müde an, als würde mein Körper sich neu sortieren müssen. Jeder Schritt ist nicht schwer, aber ungewohnt. Ich spüre das tiefe Ziehen in meinen Schultern, die leichte Erschöpfung, die sich in meine Knochen gesetzt hat, seit diesem Freitag – dem Tag, an dem alles begann. Vielleicht ist es nicht nur körperlich. Vielleicht ist es das ganze Chaos um mich herum, das langsam nachwirkt. Deshalb jetzt: Duschen. Abschalten.

Leo geht neben mir her, wie immer. Er muss gar nicht viel sagen. Allein seine Präsenz ist schon beruhigend – als hätte er sich unauffällig zu meiner persönlichen Konstante entwickelt.

Wir passieren Flure, Leute nicken mir zu, manche werfen mir diesen halb neugierigen, halb respektvollen Blick zu. Ich weiß, warum. Sie sehen mich nicht mehr als „Justin, der Typ, der gerne klettert“. Sie sehen mich als „Justin, das neue Gesicht von VERTIX“.

Es fühlt sich seltsam an. Aber nicht bei Leo. Er lehnt sich lässig gegen den Türrahmen, als wir vor der Tür zur Umkleide stehen bleiben. Sein Blick bleibt an mir hängen, wie immer leicht herausfordernd, aber entspannt. „Ich geh dann mal duschen“, sage ich beiläufig und versuche, meine Schuhe aufzuknoten – nur, um irgendwas zu tun. Leo grinst. „Gute Idee.“ Sein Ton klingt harmlos. Locker. Aber da ist etwas unter der Oberfläche, ein Hauch von etwas, das ich nicht greifen kann. Und dann passiert es. Bevor ich darüber nachdenken kann, bevor mein Gehirn sich einschalten kann, höre ich mich sagen: „Kommst du mit?“

Ein Moment voller Stille. Die Luft ändert sich. Ein kleines elektrisches Summen, kaum spürbar, aber sofort da. Leo blinzelt. Nicht überrascht, nicht erschrocken - eher… nachdenklich. Ich wage es nicht, ihn anzusehen, starre stattdessen weiter auf meine Schuhe, als könnte ich mich mit ihnen aus der Situation retten. Mein Herz schlägt schneller. War das ein Scherz? War das… mehr als ein Scherz? Ich weiß es nicht. Mein Körper weiß es vielleicht schon, aber mein Kopf ist viel zu langsam, um mitzuhalten. Ich will irgendwas sagen, irgendwas entschärfen, aber dann höre ich, wie Leo leise ausatmet.

„Justin…“ Seine Stimme ist ruhig. Ein bisschen zu ruhig. Ich hebe langsam den Kopf. Sein Blick… weich, aber wachsam. Nicht ablehnend, nicht amüsiert – sondern suchend. Als ob er in meinem Gesicht eine Antwort finden will, die ich selbst noch nicht kenne. Mein Brustkorb fühlt sich plötzlich eng an. Was will ich eigentlich? Mein Kopf schreit: Mach einen Witz draus. Lach darüber. Sag irgendwas. Aber mein Körper? Mein Körper ist sich zu bewusst, wie nah er mir ist. Wie seine Schultern im Licht schimmern, wie entspannt seine Hände in den Hosentaschen liegen – und doch angespannt genug, dass ich merke, dass er nachdenkt. Und dann - dieses Lächeln. Leicht schief, herausfordernd, aber ohne Druck. Ein Leo-Lächeln eben. „Ich glaub, du willst lieber, dass ich draußen warte.“ Seine Worte sind nicht spöttisch. Sie sind sanft, fast als würde er mir eine Entscheidung abnehmen, bevor ich mich in meinen eigenen Gedanken verliere.

Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht bin. Vielleicht beides. Ich lache leise, aber mein Herz schlägt immer noch zu schnell. Warum fühlt sich das so groß an? „Vielleicht“, murmele ich.

Leo hebt eine Braue, zwinkert – einfach so, als wäre nichts passiert. Als wäre die Spannung, die gerade zwischen uns hing, nur eine weitere seiner Spielereien. Oder vielleicht… auch nicht. „Dann beeil dich.“ Sein Tonfall ist wieder locker, aber ich spüre es trotzdem. Da war etwas. Etwas, das er genauso bemerkt hat wie ich. Ich drehe mich um, gehe in die Umkleide, aber mein Kopf… bleibt bei ihm.

Physiotherapie – Und ich will, dass er bleibt

Mein Körper ist warm vom Duschen, meine Muskeln fühlen sich weicher an, aber die Müdigkeit sitzt immer noch tief. Ich spüre es in meinen Schultern, in meinen Beinen – aber vor allem in meinem Kopf. Zu viele Eindrücke, zu viele Gedanken, zu viele Momente, die sich noch nicht richtig sortiert haben.

Als ich aus der Umkleide trete, wartet Leo schon draußen. Natürlich. Er lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Wand, das Licht aus den Deckenstrahlern lässt seine dunklen Haare ein wenig in seine Stirn fallen. Er trägt immer noch diesen mühelos coolen Look, als hätte er nicht eine Sekunde über sein Outfit nachgedacht – schlichte schwarze Jogginghose, ein enges Shirt, das zu perfekt sitzt, um zufällig zu sein. Sein Blick gleitet einmal über mich, schnell, aber ich spüre es trotzdem. „Fertig?“ fragt er, als wäre heute ein Tag wie jeder andere.

Ich nicke, ziehe meine Sporttasche über die Schulter. „Jetzt zur Physio.“ Er geht neben mir her, seine Schritte sind ruhig, gleichmäßig – der Inbegriff von Gelassenheit, während mein Kopf ein einziges Durcheinander ist. Ich wünschte, ich könnte das auch. Dieses Einfach-Sein, ohne dass mein Hirn jeden Moment zerdenken muss. Der Behandlungsraum ist bereits vorbereitet, als wir eintreten.

Sophie wartet schon. Sie trägt eine eng anliegende Sporthose und ein Top, ihre blonden Haare zu einem hohen Zopf gebunden. Ihre Energie ist anders als die von Maya vorhin – direkter, fester, professionell mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit. Als ihr Blick zu Leo wandert, hebt sie eine Augenbraue. „Bleibt er?“ Ich zögere. Ich weiß genau, was sie meint.

Letztes Mal, nach dem Shooting, war die Massage ein völliger Kontrollverlust. Nicht nur wegen der körperlichen Anspannung, sondern weil mein Körper anders reagiert hat, als ich erwartet hatte. Weil meine Gedanken mich verraten haben, weil ich mich plötzlich viel zu sehr gespürt habe - und weil Leo damals dabei war. Und jetzt? Mein Blick trifft den seinen. Er beobachtet mich, ruhig, wartend. Er könnte es mir abnehmen. Er könnte jetzt sagen, dass er draußen wartet, weil er spürt, wie mein Herzschlag sich beschleunigt hat, wie meine Lippen sich kurz aufeinanderpressen. Aber er tut es nicht. Er gibt mir die Entscheidung. Und ich? Ich will, dass er bleibt. Also sage ich es. „Ja. Ich will, dass er bleibt.“ Leo blinzelt kurz, sein Blick bleibt auf mir hängen. Dann, ganz langsam, hebt er eine Braue. „Bist du sicher?“ fragt er leise. Es ist keine Provokation. Kein Test. Es ist eine ernstgemeinte Frage. Eine Erinnerung daran, was letztes Mal passiert ist. Ich nicke. Fester, als ich mich eigentlich fühle. „Ja.“

Noch ein Moment Stille. Dann zuckt Leo mit den Schultern, lehnt sich entspannt an die Wand. „Okay“, sagt er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Aber sein Blick erzählt eine andere Geschichte. Ich ziehe mein Shirt aus, lege mich auf die Liege. Das Leder ist kühl gegen meine warme Haut, ein plötzlicher Kontrast, der mich schaudern lässt. Sophie beginnt langsam, ihre Hände gleiten über meinen Nacken, meine Schulterblätter, spüren die Spannung auf, die sich dort eingenistet hat. „Du bist immer noch total verspannt“, murmelt sie. Ich atme langsam aus. Ja, das Gefühl habe ich auch. Dann wird der Druck fester. Gezielter. Sie arbeitet sich mit gleichmäßigen Bewegungen vor, löst jeden Knoten, bringt mich genau an den Punkt zwischen Schmerz und Erleichterung. Meine Augen sind geschlossen, aber ich spüre ihn trotzdem. Nicht Sophie. Leo. Er steht nicht weit weg, aber sein Blick liegt auf mir. Ich weiß es einfach. Ich kann es fühlen. Mein ganzer Körper kann es fühlen. Mein Herz schlägt schneller. Warum fühlt sich das anders an als sonst? Warum ist es nicht nur eine Massage, sondern etwas… mehr?

Ich atme ein. Langsam. Konzentrier dich, Justin. Aber dann - Sophie setzt den Druck tiefer an, genau an der Stelle, wo meine unteren Rückenmuskeln sich festgesetzt haben. Ihre Daumen arbeiten mit fester Präzision, lösen etwas in mir aus - nicht nur körperlich. Ein Schauer zieht durch meinen Körper. Nicht nur Entspannung. Mehr als das. Ich spüre, wie mein Atem für eine Sekunde stockt. Wie Hitze in mir aufsteigt, sich in meinem Bauch sammelt, in meinen Händen, in meinem Nacken. Mein Gesicht wird warm, meine Haut prickelt.

Und Leo? Er sieht es. Ich kann ihn nicht sehen, aber ich weiß es einfach. Ich höre kein Lachen, keinen Spruch. Nur Stille. Aber es ist nicht irgendeine Stille. Es ist eine Stille, die vibriert. Als Sophie ihre Hände schließlich von mir nimmt, fühle ich mich, als wäre ich für einen Moment irgendwo anders gewesen. Mein Körper ist entspannt, mein Kopf nicht. Ich öffne langsam die Augen, setze mich auf.

Und da ist er. Leo. Noch immer an der Wand, noch immer in der gleichen entspannten Haltung - aber sein Blick ist intensiver als vorher. Er ruht auf mir. Lang, prüfend, ein Hauch von einem Lächeln auf seinen Lippen. Ich schlucke. Mein Herz rast. Dann folgt dieses typische Leo-Grinsen. „War’s gut?“ fragt er mit einem deutlichen Unterton. Ich verdrehe die Augen, aber meine Haut kribbelt noch immer. Er hat es bemerkt. Natürlich hat er das. Er hat mich bemerkt. Ich greife nach meinem Shirt, ziehe es mir schnell über den Kopf, als könnte es die Hitze unter meiner Haut ersticken. „Ja“, sage ich, meine Stimme eine Spur zu ruhig. „Sehr entspannend.“ Leo zieht eine Braue hoch. „Entspannend, ja?“ Mein Gesicht wird noch heißer. Ich will etwas sagen, einen Spruch, irgendwas, aber meine Gedanken sind ein Durcheinander. Ich schnappe mir meine Sachen, zwinge mich zu einem gespielt genervten Gesichtsausdruck. „Du bist echt unmöglich.“ Leo lehnt sich von der Wand ab, sein Lächeln nur ein wenig zu selbstsicher. „Ich weiß.“ Er zwinkert. Dann dreht er sich um, geht zur Tür. Ich brauche eine verdammte Sekunde, um meinen Herzschlag wieder in den Griff zu bekommen, bevor ich ihm folge.

Finns Studio – Ich sehe mich selbst

Der Raum ist gedämpft beleuchtet, das einzige Licht kommt von den großen Bildschirmen, vor denen Finn und sein Team sitzen. Die Atmosphäre ist ruhig, konzentriert, fast andächtig – als wäre dies hier keine gewöhnliche Präsentation, sondern etwas… Größeres. Leo und ich betreten den Raum, und mein Puls geht automatisch schneller. Ich weiß, was jetzt kommt. Ich werde mich selbst sehen.

„Ah, da seid ihr ja.“ Finn dreht sich mit einem breiten Grinsen um, seine Augen leuchten in diesem kreativen Feuer, das ihn immer begleitet, wenn er an etwas arbeitet, das ihm wirklich am Herzen liegt. „Ich hoffe, du bist bereit, Justin. Ich denke, das hier wird dir gefallen.“

Mein Magen zieht sich leicht zusammen. Ich weiß nie genau, wie ich mich dabei fühlen soll, mich selbst auf diesen großen Bildschirmen zu sehen. Es ist eine absurde Mischung aus Faszination, Stolz – und einer fast surrealen Fremdheit. Wie ein Spiegelbild, das plötzlich zum Leben erwacht, sich bewegt, atmet, existiert, ohne dass ich es beeinflussen kann.

Finn gibt ein Zeichen. Die ersten Bilder erscheinen auf dem Monitor. Und mein Atem stockt. Das bin ich. Nahaufnahme. Meine Haut glänzt leicht vom Licht, meine Muskeln zeichnen sich unter dem eng anliegenden Stoff meines Shirts ab. Es spannt sich genau an den richtigen Stellen, betont die Linien meiner Schultern, meiner Arme, meiner Brust.

Aber das bin wirklich ich? Ein Bildwechsel. Meine Hände. Detailaufnahme. Finger angespannt um einen Stab, die feinen Härchen auf meiner Haut. Die Sehnen sind sichtbar, jede Linie, jede Bewegung eingefangen, als wäre es ein Kunstwerk aus Kraft und Präzision. Ich schlucke. Das sieht aus wie ein verdammtes Hochglanz-Magazin-Cover. "Nicht schlecht", murmelt Leo neben mir. Seine Stimme ist tief, ruhig - aber ich höre das Lächeln darin. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Die nächsten Aufnahmen. Ich in Bewegung.

Mein Körper in fließenden Übergängen. Das Dehnen meiner Schultern, die Art, wie meine Muskeln sich mit jeder Streckung definieren, wie mein Atem mit den Bewegungen im Einklang ist. Es ist nicht inszeniert. Es ist nicht gestellt. Es ist… einfach ich. Und doch fühlt es sich neu an. Dann startet das Video. Die Musik setzt ein - ein langsamer, vibrierender Beat. Die Kamera folgt mir, elegant, fließend, nie zu aufdringlich. Sie fängt nicht nur die Bewegung ein, sondern das Gefühl dahinter. Ich sehe mich selbst, wie ich mich strecke, die Arme über den Kopf hebe, wie die Spannung sich in meiner Körpermitte sammelt, bevor sie sich in kontrollierter Eleganz auflöst.

Dann eine Slow-Motion-Sequenz. Ich kippe leicht nach vorne, meine Handflächen berühren den Boden – und die Kamera hält genau diesen Bruchteil einer Sekunde fest, in der mein Körper vollkommen unter Kontrolle ist. Ich sehe mich so, wie ich mich selten sehe. Stark. Fokussiert. Elegant. Ich spüre, wie sich meine Finger unbewusst in den Stoff meiner Hose krallen. Mein Brustkorb hebt und senkt sich langsamer. Dann kommen die letzten Sekunden. Ein Schwenk auf mein Gesicht. Meine Augen sind geschlossen, dann öffnen sie sich langsam - ein direkter Blick in die Kamera, ruhig, intensiv.

Dann: Schwarzbild. Nur noch das Logo. VERTIX. Minimalistisch. Der stilisierte Kletterkarabiner mit der Berg-Silhouette. Markant, aber dezent. Der Bildschirm wird dunkel. Stille.

Mein Herz schlägt schneller. Ich wusste, was kommt. Ich war ja live dabei. Und doch fühlt es sich jetzt… anders an. Real. Meine Kehle ist trocken. Ich merke, dass ich den Atem angehalten habe und atme langsam aus. Finn dreht sich zu mir. Sein Blick ist zufrieden, ein Funkeln in den Augen. „Na?“ fragt er, als hätte er nicht längst gesehen, wie es mich erwischt hat. Ich brauche eine Sekunde, um Worte zu finden. Mein Kopf ist voller Gedanken, voller Emotionen, die sich alle gleichzeitig überschlagen. „Das… war krass. „Meine Stimme ist leise, aber fest. "Ja", sagt Leo leise. "Das war es." Ich drehe mich zu ihm. Er sieht mich nicht einfach nur an. Er sieht mich wirklich. Nicht als „den Jungen aus der Kampagne“. Nicht als das neue Gesicht von VERTIX. Er sieht mich. Justin. Und ich weiß, dass er es verstanden hat. Dass ich es verstanden habe.

Finn lehnt sich zurück, nickt. „Genau so muss es sein. Die perfekte Mischung aus Stärke, Kontrolle und Ästhetik. Genau das, was VERTIX verkörpern soll.“ Ich lasse meine Schultern sinken, versuche, das alles zu verarbeiten. Mein Körper fühlt sich elektrisiert an, als hätte ich noch nie so intensiv gespürt, wer ich wirklich bin. Ich habe mich noch nie so gesehen. So… beeindruckend. Das hier war kein Zufall. Das hier war ich.

Leo lehnt sich ein Stück näher. Sein Atem streift fast meine Wange. Seine Stimme ist leise, aber dieses Grinsen ist da. „Jetzt verstehst du langsam, warum alle über dich reden, oder?“ Ich schnaube leise, schüttle leicht den Kopf – aber ja. Ja, ich verstehe es. Ich verstehe es wirklich.

Finn klatscht in die Hände. „Gut, Justin. Du hast geliefert. Und beim nächsten Mal…, setzen wir noch einen drauf.“ Mein Blick geht zu Leo. Sein Grinsen ist weicher jetzt. Echter. Er hebt eine Augenbraue. „Bereit?“, fragt er leise. Ich atme tief durch. Mein Brustkorb hebt und senkt sich, aber diesmal nicht aus Unsicherheit. Ich habe mich gesehen. Ich weiß, was ich kann. Und ich weiß, dass er es auch weiß. Dann nicke ich. „Ja.“

Ein Gespräch voller Spannung und Komplimente

Die Bildschirme sind längst dunkel, das Studio leer. Nur Leo und ich sind noch hier.

Ich weiß nicht genau, warum wir nicht einfach aufstehen und gehen. Vielleicht, weil die Luft sich noch zu geladen anfühlt. Vielleicht, weil dieser Moment sich zu gut anfühlt, um ihn so einfach loszulassen.

Leo lehnt sich zurück, eine Hand locker auf der Rückenlehne, während die andere entspannt auf seinem Knie ruht. Seine Haltung ist lässig, aber sein Blick? Sein Blick sagt etwas anderes.

Er sieht mich an. Nicht nur so nebenbei. Sondern wirklich. Ich spüre es in jeder Faser meines Körpers.

Er mustert mich, sein Blick wandert langsam über mein Gesicht, meine Schultern, meine Hände. Fast analytisch - aber da ist mehr. Mehr, als ich gewohnt bin. „Weißt du eigentlich, wie krass das gerade war?“ Seine Stimme ist ruhig, aber da schwingt etwas mit – etwas, das mich nervös macht. Ich lache unsicher und zucke mit den Schultern. „Ich mein… ja? Also, es war schon krass, aber… “. „Nein, nein.“ Er lehnt sich ein Stück vor, seine Knie fast an meinen. „Ich meine wirklich. Diese Aufnahmen, Justin.“ Seine Stimme ist fester jetzt. Ernster. Mein Herz schlägt schneller. Ich spiele nervös mit dem Stoff meiner Hose. „Anders, wie?“ Leo schmunzelt leicht, lehnt sich gegen die Rückenlehne, aber seine Augen sind immer noch auf mich gerichtet. „Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll.“ Er schweigt kurz, fährt sich dann durch die Haare - ein typischer Leo-Move, wenn er nach Worten sucht. Und genau das macht mich noch nervöser.

„Also, erstmal… diese Nahaufnahmen.“ Ich blinzele. „Welche?“ „Na, zum Beispiel die, wo du deine Arme nach oben gestreckt hast.“ Er schüttelt leicht den Kopf, als könnte er selbst nicht fassen, was er sagt. „Junge, deine Schultern sahen aus, als wärst du ein verdammtes Model für athletische Perfektion.“ Ich stöhne und lasse mich zurückfallen. „Leo…“

Er lacht leise. „Nein, wirklich! Die Linien, die Spannung in deinen Muskeln - es sah nicht übertrieben aus, sondern einfach… perfekt definiert. Als hätte jemand dich genau so designed.“ Meine Ohren werden heiß. Ich will etwas sagen, aber mein Kopf fühlt sich seltsam leer an. „Also, danke?“ murmle ich schließlich. „Ich glaub, das war das netteste Kompliment, welches jemand über meine Schultern gemacht hat.“ Leo grinst. „Hey, ich bin halt ein Kenner.“ Ich schnaube leise, versuche meine Fassung wiederzufinden. Aber dann kommt dieser Blick. Und sein Lächeln wird breiter. „Aber warte, es wird noch besser.“ Ich hebe eine Augenbraue. „Oh nein.“ „Oh ja.“ Er lehnt sich weiter vor, als wollte er mir ein Geheimnis zuflüstern. „Diese Detailaufnahme von deinen Händen…“ Er pfeift leise. „Ich hätte nicht gedacht, dass Hände so sexy sein können, aber damn, Justin.“

Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Luft. „Meine HÄNDE?!“ Leo zuckt mit den Schultern, als wäre es das Normalste der Welt. „Ja. Deine Finger, die feinen Härchen, die Adern, die sich abzeichnen, wenn du Druck aufbaust. Es sieht einfach krass aus. Eine Mischung aus Stärke und Eleganz.“

Ich starre ihn an. Ich starre ihn wirklich an. Er hat sich das Video doch nicht angesehen… Er hat mich angesehen. „Leo…“ Ich blinzele. „Hast du dir das Video überhaupt richtig angeschaut oder nur… mich?“ Sein Blick bleibt fest auf meinem. Dann grinst er leicht: „Beides.“

Mein Magen macht einen unkontrollierten Salto. Das hier…, ist das flirten? Leo lehnt sich zurück, sein Blick noch immer auf mir. Ich spüre eine Hitze in meinem Brustkorb, die sich langsam nach oben zieht, sich in meinem Hals festsetzt, mich daran erinnert, dass ich verdammt nochmal atmen sollte. Aber dann kommt es noch besser. „Und dann natürlich noch dein Gesicht.“

Ich verdrehe die Augen, aber mein Herz schlägt so laut, dass ich sicher bin, er kann es hören. „Oh Gott, was kommt jetzt?“ „Dieser letzte Blick in die Kamera, bevor das Video endet.“ Er schüttelt langsam den Kopf, als könnte er selbst nicht glauben, dass er das gerade sagt. „Justin, du hast keine Ahnung, wie du auf andere wirkst, oder?“

Ich versuche, mich aus der Schlinge zu winden. „Ich…, ich versuche halt, nicht dran zu denken.“

„Solltest du aber.“ Er hebt eine Braue. „Denn dieser Blick war… intensiv. Es war nicht nur so ein ‚Hey, ich bin da‘-Ding. Es war, als würdest du direkt mit dem Zuschauer sprechen. Als würdest du sagen: ‚Ich bin echt, und ich weiß, was ich kann.“

Mein Herz hämmert. Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. Und die Luft zwischen uns verändert sich. Sie wird schwerer. Dicker. Geladener. Leo grinst leicht. „Junge, wenn ich nicht wüsste, dass du in der Schule als der unscheinbare Typ durchgehst, würde ich denken, du bist der selbstbewussteste Typ der Welt.“ Ich lache kurz auf, aber meine Kehle ist trocken. „Ja, ne? Schade, dass mein Gehirn da nicht mitmacht.“

Er schüttelt den Kopf, grinst. „Zum Glück hab ich genug Selbstbewusstsein für uns beide.“ Ein Moment vergeht. Ein Moment, in dem alles möglich scheint. Dann seufzt Leo leise. „Schade, dass wir uns jetzt schon verabschieden müssen.“ Ich nicke langsam. „Ja.“ Es fühlt sich nicht gut an. Ich will nicht, dass dieser Moment endet. Leo sieht mich an, ein Funken Bedauern in seinen Augen. Dann - ein sanftes Lächeln. „Morgen wieder?“ Ich nicke. „Morgen wieder.“ Er zögert, hebt dann leicht die Hand, als wollte er mich berühren, aber hält inne. Ich entscheide für ihn. Ich rutsche ein Stück näher und lege meine Arme um ihn. Er ist warm. Sein Körper fest gegen meinen. Ich spüre, wie er ausatmet, wie seine Arme sich langsam um mich legen. Nur ein Moment. Ein Moment, in dem alles auf der Kippe steht. Dann lösen wir uns voneinander. Ich trete einen Schritt zurück, mein Körper immer noch voller Restwärme von seiner Nähe.

Leo sieht mich an. Sein Blick ist weich, aber intensiv. „Gute Nacht, Justin.“ Ich schlucke. „Gute Nacht, Leo.“ Und dann dreht er sich um, geht zur Tür - und ich spüre seine Abwesenheit sofort.

Aber ich weiß, dass ich ihn morgen wiedersehen werde. Und ich weiß, dass heute nicht das letzte Mal war, dass mein Herz so verdammt laut schlägt.

Später – Unser Chat

Mein Handy vibriert, als ich im Bett liege. Ich greife danach, sehe den Namen auf dem Display – Leo.

Leo: „Hey, bist du noch wach?“

Ich grinse.

Ich: „Klar. Noch halb im Adrenalin-Rausch vom Video.“

Leo: „Verständlich. Ich meine, hast du dich gesehen? ðŸ˜ðŸ”¥

Ich verdrehe die Augen, aber mein Herz flattert.

Ich: „Also wenn du dich noch mehr über mich lustig machst…“

Leo: „Ich mach mich nicht lustig, ich stelle nur fest: DU. SIEHST. KRASS. AUS.“

Ich: „Du übertreibst total.“

Leo: „Glaub mir, wenn ich sage: Ich übertreibe nicht. Du hast keine Ahnung, wie du auf andere wirkst.“

Mein Gesicht wird heiß.

Ich: „Leo, hör auf, sonst kann ich gar nicht mehr schlafen.“

Leo: „Dann reden wir halt weiter. 😌“

Ich muss lachen.

Ich: „Du willst also, dass ich müde in die Firma komme?“

Leo: „Ne, ich will, dass du mit einem dicken Grinsen einschläfst.“

Ich starre auf mein Display.

Mein Herz schlägt schneller.

Ich: „Hat geklappt.“

Leo: „Perfekt. Gute Nacht, Justin.“

Ich: „Gute Nacht, Leo.“

Ich lege das Handy weg. Mein Kopf ist ein einziges Chaos. Aber mein Herz? Mein Herz fühlt sich leicht an.

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