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Höhen und Herzen
Zwischen Kletterwand, Kamera und der Suche nach sich selbst
Teil 4 - Herzschlagmoment
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Informationen
- Story: Höhen und Herzen
- Autor: TrioXander
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Abenteuer, Diverses
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Freitag – Mein Kopf ist woanders
- Endlich Schulschluss – und ab zu… ihm?
- Mentaltraining – Den Kopf sortieren
- Keine Worte nötig – oder doch?
- Verkabelt – im doppelten Sinne
- Styling mit Mia – Schnell noch frisch gemacht
- In meiner Welt
- Grenzen erkennen – und lernen, sie zu respektieren
- Dusche – Hitze, Erschöpfung, Blicke
- Überraschung in Finns Studio
- Ein Bild, das mich verändert
- Neue Pläne, neue Herausforderungen
- Endlich Bilder – aber mit Regeln
- Leo’s Nachricht
- Heimfahrt – Gedankenchaos im Bus
- Und ein Bruder, der mehr versteht, als ich will
- Schlafzimmer – Und diese eine Nummer
- Einkaufen und Bruder-typisches Necken
- Nachrichtenchaos im Kopf und Haushaltskatastrophen
- Abends – Noch ein Chat, noch ein Highlight
Vorwort
Wenn die Wand nicht das Einzige ist, was man überwinden muss
Freitag – Mein Kopf ist woanders
Mein Wecker klingelt. 6:30 Uhr.
Normalerweise brauche ich eine Ewigkeit, um aus dem Bett zu kommen, aber heute bin ich sofort wach. Mein erster Gedanke? Freitag. Shooting-Tag. Leo.
Ich liege noch eine Weile da, starre an die Zimmerdecke, mein Herz klopft schneller als sonst. Heute ist der Tag, an dem ich ihn wiedersehe. Und obwohl ich mir einrede, dass es nur ums Shooting geht, weiß ich, dass das nicht stimmt. Es geht auch um ihn.
Ich atme tief durch, schiebe die Bettdecke weg und setze mich auf. Mein Körper fühlt sich warm an, voller Energie, aber gleichzeitig auch… nervös. Unruhig. Als hätte ich zu viel Adrenalin im Blut, ohne dass ich überhaupt aufgestanden bin. Warum bin ich so? Warum dreht sich mein Kopf so sehr um ihn?
Ich schüttle die Gedanken weg, stehe auf und gehe ins Bad. Der Spiegel zeigt mein müdes Gesicht, zerzauste Haare. Ich streiche mir über die Haut, betrachte mich. Sehe ich irgendwie anders aus als sonst? Fühlt sich so an. Ich dusche schneller als sonst, ziehe mich an, schnapp mir meinen Rucksack und bin zehn Minuten früher als sonst in der Küche.
Bobby ist überrascht, als er mich sieht. „Wow. Du bist ja wach.“
Ich werfe ihm nur einen müden Blick zu und nehme mir eine Schüssel Müsli. Ich kann nicht wirklich essen, mein Magen ist zu nervös.
„Heute Shooting, oder?“ fragt Bobby grinsend, während er sich einen Kaffee einschenkt.
Ich nicke. Nehme mir einen Löffel, spiele nur mit dem Müsli herum.
Bobby mustert mich kurz, dann schüttelt er amüsiert den Kopf. „Justin… du bist so durch.“
Ich seufze. „Halt die Klappe.“
Er lacht nur, nimmt einen Schluck Kaffee. „Wenn du in der Schule so verpeilt bist wie du jetzt aussiehst, dann gute Nacht.“
Ich hoffe, er hat Unrecht. Aber er hat leider verdammt Recht. Es fängt schon in der ersten Stunde an. Mathe. Ich starre auf die Zahlen vor mir, versuche, mich zu konzentrieren. Aber anstatt über Gleichungen nachzudenken, denke ich an Leo. Wie er mich begrüßen wird. Ob er sich freut, mich zu sehen. Ob er mich wieder so ansieht wie letztes Mal. Ob unsere Hände sich wieder zufällig berühren werden.
Ich kritzle irgendwas in mein Heft, ohne es zu merken. Die Lehrerin sagt meinen Namen, und ich brauche eine Sekunde zu lange, um zu kapieren, dass ich gemeint bin.
„Justin, hallo? Wo bist du gerade?“
Ich reiße mich zusammen. „Äh, hier.“
„Dann sag mir bitte, wie du die Gleichung löst.“
Ich starre auf das Whiteboard. Mein Kopf ist leer. Scheiße.
„Ähm… also…“. Ich höre, wie ein paar Leute leise lachen. Meine Wangen werden heiß. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.
Die Lehrerin seufzt. „Setz dich. Konzentrier dich, Justin.“
Ja. Schön wär’s. Aber es wird nicht besser. In Englisch passiert mir dasselbe – ich verpasse eine Frage, weil ich zu sehr mit meinem eigenen Kopf beschäftigt bin. Dann in Geschichte – ich kritzle meinen Namen auf den Rand des Heftes und merke erst später, dass ich stattdessen „Leo“ geschrieben habe.
Oh mein Gott. Ich reiße das Blatt raus, zerknülle es und stopfe es in meine Tasche, als wäre es ein Beweisstück für ein Verbrechen. Hoffentlich hat das niemand gesehen.
Mehrfach werde ich ermahnt. „Justin, bist du heute überhaupt bei der Sache?“
Nein. Bin ich nicht. Mein Kopf ist überall, aber nicht hier.
Endlich Schulschluss – und ab zu… ihm?
12:30 Uhr. Der Gong. Ich packe meine Sachen so schnell zusammen, dass mir fast mein Heft aus der Hand fällt. Ich schiebe es eilig in den Rucksack, werfe ihn mir über die Schultern und stürme aus dem Klassenraum.
Draußen ist es warm. Die Sonne scheint, aber ich nehme es kaum wahr. Ich bin nur auf dem Weg. Richtung Bushaltestelle, Richtung Shooting. Richtung Leo.
Meine Gedanken rasen. Ich versuche mir einzureden, dass ich mich einfach auf das Shooting freue. Auf die Kamera, auf die neuen Bilder, auf den Sport. Aber tief in mir weiß ich, dass das nicht stimmt.
Ich will ihn sehen. Mein Herz schlägt schneller, als ich die Bushaltestelle erreiche. Ich warte. Mein Blick wandert immer wieder zu meinem Handy, als könnte ich damit die Zeit schneller vergehen lassen.
Dann kommt der Bus. Die Türen öffnen sich. Ich steige ein. Setze mich ans Fenster. Die Stadt zieht an mir vorbei, aber ich sehe sie nicht. Mein Kopf ist woanders.
Bald bin ich da. Bald sehe ich ihn. Ich frage mich, ob er mich auch vermisst hat. Aber das ist eine Frage, die ich mir nicht zu stellen traue. Noch nicht.
Als ich aus dem Bus steige, schlägt mir sofort die kühle, saubere Luft der Stadt entgegen. Der riesige Gebäudekomplex des Ausrüsters glänzt in der Sonne, die Glasfronten spiegeln den Himmel. Ein Anblick, der mir beim letzten Mal noch das Gefühl gegeben hat, an etwas Großem teilzuhaben.
Heute fühlt es sich anders an. Mein Puls ist leicht erhöht, meine Schritte schneller, während ich auf die Eingangstüren zugehe. Mein Herz klopft gegen meine Rippen, aber es ist keine Nervosität wegen des Shootings. Es ist etwas anderes.
Wird er da sein? Wartet er auf mich, so wie letztes Mal?
Ich spüre, wie ein Kribbeln durch meinen Körper geht. Ich sehe es genau vor mir – Leo, wie er wieder lässig am Empfangstresen lehnt, dieses vertraute Grinsen auf den Lippen, die Arme verschränkt, als wäre er völlig entspannt, aber mit diesem kleinen Funkeln in den Augen, wenn er mich sieht. Ich stelle mir vor, wie er „Na, Justin?“ sagt, mit dieser leichten, selbstverständlichen Art, die es mir das letzte Mal so leicht gemacht hat.
Aber als ich durch die automatischen Türen trete, ist da… niemand.
Ich halte unbewusst den Atem an, lasse meinen Blick durch den Empfangsbereich wandern. Die Mitarbeiter gehen ihrer Arbeit nach, das leise Klackern von Tastaturen erfüllt den Raum, irgendwo summt ein Kaffeeautomat.
Doch Leo ist nicht da. Etwas in mir sackt zusammen. Ich weiß nicht, warum.
Ich meine, es ist doch logisch. Warum sollte er jedes Mal auf mich warten? Ich bin hier für das Shooting, nicht für ihn. Und trotzdem fühle ich mich plötzlich seltsam leer, als hätte mir jemand den Wind aus den Segeln genommen.
Langsam gehe ich zum Empfang. Die Dame hinter dem Tresen – die gleiche wie letztes Mal – lächelt mich freundlich an.
„Ah, Justin! Willkommen zurück. Du kannst dich kurz setzen, ich gebe Bescheid, dass du da bist.“
Ich will antworten, wirklich, aber mein Mund ist trocken. Warum bin ich plötzlich so nervös? Ich nicke nur stumm, räuspere mich, versuche, Worte zu finden.
„Ähm… ja. Danke.“
Meine eigene Stimme klingt fremd. Ich schiebe die Hände in die Taschen, stehe unsicher im Raum. Normalerweise hätte ich mich schon längst hingesetzt oder mein Handy gecheckt, aber jetzt kann ich nichts tun, außer mich zu fragen, warum mich Leos Abwesenheit so durcheinander bringt.
Dann höre ich Schritte hinter mir. „Justin! Schön, dass du da bist.“
Ich drehe mich um – und sehe Thomas auf mich zukommen. Der Marketingchef trägt, wie immer, einen perfekt sitzenden Blazer, wirkt souverän und professionell, aber auch offen. Er mustert mich kurz, seine Stirn legt sich leicht in Falten.
„Alles gut mit dir? Du siehst… anders aus.“
Ich spüre, wie ich mich automatisch ein bisschen straffer hinstelle.
„Ähm, ja. Alles gut.“ Ich versuche, mich zusammenzureißen, aber mein Blick wandert automatisch wieder zum Empfang, als würde Leo doch noch auftauchen.
Thomas bemerkt es. „Suchst du jemanden?“
Ich beiße mir auf die Lippe, zögere eine Sekunde. Dann sage ich es einfach.
„Wo ist Leo?“
Thomas zieht überrascht eine Augenbraue hoch. „Leo? Er ist noch beim Arzt. Etwas mit seiner Hand, aber er meinte, er kommt gleich.“
Ich nicke, spüre, wie mein Herz wieder ein wenig ruhiger schlägt. Also ist er nicht einfach nicht gekommen. Trotzdem…, warum hat sich das gerade so schwer angefühlt?
Thomas sieht mich nachdenklich an. Dann sagt er plötzlich: „Komm mit. Ich glaube, bevor du ins Shooting gehst, solltest du zu Clara.“
Ich runzele die Stirn. „Wer?“
„Unsere Mentaltrainerin. Ich glaube, ein paar Minuten mit ihr könnten dir gut tun.“
Mentaltraining? Ich will protestieren, aber Thomas hat diesen ruhigen, bestimmten Blick, der mir klarmacht, dass es keinen Sinn hat zu diskutieren.
„Nur ein paar Minuten. Vertrau mir.“
Mentaltraining – Den Kopf sortieren
Der Raum, in den mich Thomas bringt, ist völlig anders als der Rest des Gebäudes. Kein Glas, kein Hightech, keine Bildschirme mit athletischen Kletterern. Stattdessen ist es fast gemütlich. Eine kleine Couch, ein paar Pflanzen, warmes Licht. Und in der Mitte des Raumes sitzt Clara.
Sie ist vielleicht Ende dreißig, mit lockigem dunklen Haar und ruhiger Ausstrahlung. Ihre Augen mustern mich kurz, aber nicht wertend.
„Justin, oder?“, sagt sie mit sanfter Stimme.
Ich nicke.
„Setz dich doch.“
Ich lasse mich langsam auf die Couch sinken, spüre, wie meine Beine sich plötzlich irgendwie schwer anfühlen.
Clara lehnt sich entspannt zurück. „Thomas meinte, du solltest vor dem Shooting ein paar Minuten hier sein. Wie fühlst du dich?“
Wie ich mich fühle? Durcheinander. Unruhig. Ein bisschen wie ein Luftballon, der zu viel Spannung hat und gleich platzen könnte. Aber das sage ich nicht.
„Ich… weiß nicht.“
Sie nickt, als hätte sie genau diese Antwort erwartet. „Manchmal ist es schwer, das zu benennen, oder?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Lass mich raten“, fährt sie fort. „Eigentlich bist du aufgeregt, weil du heute wieder beim Shooting bist. Aber irgendetwas zieht dich runter, und du weißt nicht genau, warum?“
Ich blinzle. Treffer.
Sie lächelt leicht. „Das passiert oft, wenn unser Kopf zu voll ist. Zu viele Gedanken, zu viele Erwartungen, vielleicht sogar ein bisschen Druck.“
Ich senke den Blick. Ja. Druck. Druck, bei diesem Shooting wieder gut zu sein. Druck, dass Leo mich vielleicht nicht so sieht, wie ich ihn sehe. Druck, weil ich all das hier will, aber nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.
„Ich zeige dir etwas“, sagt Clara und setzt sich ein bisschen aufrechter hin. „Es gibt eine einfache Technik, um deinen Kopf zu sammeln. Hast du schon mal von autogenem Training gehört?“
Ich schüttele den Kopf.
„Es ist eine mentale Methode, die dir hilft, dich zu entspannen. Einfach gesagt: Du lenkst deine Gedanken bewusst in eine Richtung, damit dein Körper und dein Geist zur Ruhe kommen.“
Ich runzle die Stirn. „Und das funktioniert?“
Sie schmunzelt. „Lass es uns ausprobieren. Es dauert nur ein paar Minuten.“
Ich seufze leise. Was habe ich zu verlieren? Sie gibt mir ein paar einfache Anweisungen. Ich soll mich in eine bequeme Position bringen, die Augen schließen, tief ein- und ausatmen. Dann soll ich mir vorstellen, dass mein Körper schwer wird. Dass meine Arme und Beine sich entspannen.
Anfangs bin ich skeptisch, aber dann merke ich, wie mein Atem ruhiger wird. Mein Herz schlägt langsamer. Ihre Stimme führt mich durch die Übung, ruhig, gleichmäßig. Ich konzentriere mich auf meinen Körper, auf meine Muskeln, auf die Wärme, die sich langsam ausbreitet.
Und plötzlich fühlt sich mein Kopf… klarer an. Nicht komplett, aber besser. Als ich die Augen wieder öffne, sieht Clara mich an.
„Besser?“
Ich atme tief durch. „Ja. Irgendwie schon.“
Sie lächelt. „Du kannst das immer anwenden, wenn du dich überfordert fühlst. Es hilft, den Kopf zu ordnen.“
Ich nicke langsam. Vielleicht sollte ich das wirklich mal ausprobieren, wenn mein Kopf sich wieder wie ein Chaos anfühlt.
„Dann geh jetzt zu deinem Shooting“, sagt sie mit einem Augenzwinkern. „Ich glaube, jemand wartet auf dich.“
Ich verlasse Claras Raum, fühle mich leichter als vorher. Mein Kopf ist immer noch nicht ganz klar, aber ich bin nicht mehr so angespannt. Und dann sehe ich ihn.
Leo.
Er steht ein paar Meter entfernt, an eine Wand gelehnt, die Arme locker verschränkt. Seine braunen Haare sind noch leicht durcheinander, sein Blick ist auf mich gerichtet. Und er… lächelt.
Mein Herz macht einen Sprung. Er hat mich beobachtet. Und plötzlich fühlt sich alles nicht mehr so schwer an.
Keine Worte nötig – oder doch?
Ich hatte mir Worte zurechtgelegt. Sätze, die ich sagen wollte, Fragen, die in meinem Kopf herumgeschwirrt hatten, seitdem ich das Gebäude betreten hatte. Aber als ich jetzt vor Leo stehe, scheinen sie plötzlich nicht mehr wichtig zu sein.
Er lächelt – nicht einfach nur dieses typische „Hey, da bist du“-Lächeln, sondern eines, das irgendwie… weicher wirkt. Als ob er sich wirklich freut, mich zu sehen.
Und ich merke, dass ich mich automatisch entspanne.
„Hey“, sage ich.
„Hey“, erwidert er, als wäre alles wie immer.
Es ist keine große Begrüßung, keine Umarmung oder überschwängliche Gesten, aber trotzdem fühlt es sich selbstverständlich an, wie ein kleiner Moment, der genau richtig ist.
Für einen kurzen Moment stehen wir einfach nur da, sehen uns an – und ich frage mich, ob er es auch spürt. Dieses seltsame Gefühl von unausgesprochenem Verständnis, als bräuchten wir eigentlich gar nicht viele Worte. Aber dann holt mich meine eigene Neugier zurück.
„Du warst beim Arzt?“ frage ich leise.
Leo zuckt mit den Schultern, fährt sich kurz mit der Hand durch die Haare. „Ja, war nichts Wildes.“
Er sagt es locker, aber irgendwie klingt es… nicht ganz ehrlich? Nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Ich mustere ihn kurz, überlege, ob ich nachhaken soll, aber er wechselt das Thema, bevor ich etwas sagen kann.
„Wir müssen uns beeilen“, meint er und nickt Richtung Studio. „Finn wartet schon auf dich.“
Und damit ist das Thema erledigt. Für jetzt.
Ich folge ihm, während wir gemeinsam durch die Flure gehen. Das leichte Echo unserer Schritte auf dem Boden mischt sich mit den gedämpften Geräuschen aus den anderen Büros. Ich könnte ihn noch einmal fragen, ob alles wirklich okay ist. Ich könnte darauf bestehen, dass er mir sagt, was los war. Aber ein Teil von mir spürt, dass er es mir vielleicht später erzählt. Wenn er will. Und ich weiß nicht warum, aber dieser Gedanke beruhigt mich ein bisschen.
Als wir das Studio betreten, ist Finn schon da. Er steht mit seinem Tablet in der Hand neben einer Leinwand, auf der ein paar Bilder aus der letzten Session zu sehen sind. Ich erkenne mich sofort darauf. Und es fühlt sich noch immer ungewohnt an.
Ich sehe mich selbst – nicht als den Jungen, der in der Schule Fehler macht oder sich unter der Dusche fragt, warum sein Herz schneller schlägt, wenn er jemand bestimmten ansieht. Sondern als Athleten. Als jemand, der etwas ausstrahlt. Es ist seltsam. Aber auch irgendwie cool.
„Justin“, begrüßt Finn mich mit einem kurzen Nicken. „Gut, dass du da bist. Heute machen wir ein paar neue Sachen.“
Ich nehme mir einen Moment, um mich zu sammeln, bevor ich mich zu ihm stelle. Leo bleibt ein paar Schritte hinter mir, wie immer in der Nähe, aber nicht direkt im Mittelpunkt.
„Was genau ist heute geplant?“ frage ich.
Finn tippt auf sein Tablet und dreht es ein Stück, sodass ich es sehen kann.
„Heute geht es mehr um dich als Person. Wir haben dich jetzt schon in der Kampagne eingeführt, aber wir wollen den Leuten zeigen, wer du bist. Deshalb werden wir weniger klassische Sportaufnahmen machen und mehr auf Clips setzen.“
„Clips?“ wiederhole ich.
Finn nickt. „Ja. Kurze Videos, in denen du nicht nur zeigst, was du kannst, sondern auch ein bisschen redest. Das muss nicht viel sein, aber wir wollen deine Persönlichkeit einfangen. Deine Gedanken, deine Motivation. Vielleicht ein paar kleine Momente hinter den Kulissen – das macht die Kampagne authentischer.“
Ich spüre, wie sich etwas in mir zusammenzieht.
Fotos? Kein Problem.
Aber reden? Vor der Kamera?
Ich schlucke leicht. „Und… was genau soll ich sagen?“
Finn grinst. „Keine Sorge, wir führen dich da durch. Das wird kein Interview mit komplizierten Fragen. Mehr so was wie… deine Gedanken, wenn du dich auf eine Route vorbereitest. Was dir das Klettern bedeutet. Vielleicht auch einfach eine Szene, in der du Magnesia aufträgst, nachdenkst – so als würde die Kamera zufällig dabei sein.“
Ich nicke langsam. Ich kann mir das vorstellen. Aber trotzdem…
„Ich bin nicht so gut darin, vor Leuten zu reden“, gebe ich zu.
Finn zuckt nur mit den Schultern. „Das musst du auch nicht. Sei einfach du selbst. Das funktioniert besser als jedes auswendig gelernte Skript.“
Einfach ich selbst sein. Leichter gesagt als getan. Aber ich will es versuchen.
Finn legt sein Tablet weg und sieht zu Leo. „Bring ihn zum Styling. Danach fangen wir an.“
Leo salutiert grinsend. „Aye, aye, Chef.“
Ich verdrehe die Augen, kann mir aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. Während ich mit Leo aus dem Raum gehe, spüre ich ein merkwürdiges Kribbeln in meinem Bauch. Heute ist anders als letztes Mal. Heute geht es wirklich um mich.
Und ich frage mich, ob ich dazu bereit bin.
Verkabelt – im doppelten Sinne
Bevor es richtig losgeht, will ich mich noch kurz frisch machen. Ich gehe in die Umkleide, ziehe mein Shirt über den Kopf und spüre die leichte Anspannung in meinen Schultern. Es ist nicht dasselbe wie nach dem Klettertraining – es ist eine andere Art von Nervosität. Mehr dieses Gefühl, dass gleich etwas passiert, das ich nicht kontrollieren kann.
Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, atme tief durch und betrachte mich kurz im Spiegel. Meine dunklen Haare sind noch leicht zerzaust, meine Haut hat diesen leicht warmen Ton, der nach Aufregung aussieht. Mein Blick ist ein bisschen wacher als sonst – oder bilde ich mir das ein?
Als ich aus der Kabine komme, wartet Leo bereits mit einem Stapel Klamotten auf mich.
„Hier, das Set ist für dich, extra ausgesucht“, sagt er und hält mir ein schwarzes, eng anliegendes Funktionsshirt hin, das neonfarbene Linien als Akzente hat. Die passende Hose dazu ist ebenfalls aus flexiblem, aber festem Material – perfekt zum Bouldern.
Ich nehme die Sachen entgegen und betrachte sie kurz. „Nicht schlecht“, murmele ich.
Leo grinst. „Dachte ich mir. Und jetzt zieh dich um. Ich verspreche, dass ich weggucke.“
Er grinst nur noch breiter, als ich die Augen verdrehe. „Als ob du sonst einfach so guckst“, sage ich trocken.
Sein Blick zuckt ganz kurz zu mir, dann schüttelt er grinsend den Kopf. „Mach einfach hin.“
Ich ziehe mich schnell um. Die neue Kleidung sitzt perfekt – nicht zu eng, aber genau richtig, um mich zu bewegen, ohne dass irgendwas verrutscht. Ich drehe mich einmal im Spiegel, betrachte die Linien, die das Design über meinen Körper zieht. Es betont meine Schultern, meine Arme…
„Steht dir“, sagt Leo hinter mir.
Ich drehe mich zu ihm um. Er hält ein kleines Gerät in der Hand – das Funk-Mikrofon.
„Ich muss dich noch verkabeln“, sagt er mit einem leicht entschuldigenden Ton. „Aber keine Sorge, du wirst es kaum merken.“
Ich schlucke leicht. Verkabeln. Es ist albern, aber irgendwie… macht mich der Gedanke nervös. Leo tritt näher an mich heran, hebt das kleine, fast unsichtbare Mikrofon und befestigt es mit geübten Bewegungen am Kragen meines Shirts. Seine Finger streifen kurz meine Haut, während er das dünne Kabel über meine Schulter legt und es vorsichtig in den Stoff einarbeitet.
Ich spüre jeden seiner Berührungen. Nicht unangenehm. Im Gegenteil. Seine Finger streichen sanft über meinen Nacken, während er das Kabel weiterführt. Mein Herzschlag ist plötzlich etwas lauter, meine Atmung minimal tiefer.
„Alles gut?“ fragt er leise, ohne aufzuhören.
„Ja…“, sage ich und hoffe, dass meine Stimme normal klingt.
Aber als er dann die kleine Box des Mikrofons am Rücken meines Gürtels befestigt, ist sein Handrücken für einen Moment an meinem unteren Rücken. Eine ganz leichte Berührung, fast nicht der Rede wert. Aber mein ganzer Körper merkt sich diesen Moment.
„So“, sagt er schließlich, tritt einen Schritt zurück und mustert sein Werk. „Du bist bereit.“
Ich atme langsam aus. Okay. Er wirft mir ein kurzes, fast spielerisches Zwinkern zu. „Und falls du zwischendurch was Dummes sagst – du kannst mich später nicht dafür verantwortlich machen, dass es aufgenommen wurde.“
Ich schnaube. „Super. Genau, was ich hören wollte.“
Aber innerlich… ist es gar nicht so schlimm. Es ist Leo. Er macht die Sache leichter.
Styling mit Mia – Schnell noch frisch gemacht
Als wir zu Mia kommen, hebt sie kurz anerkennend die Augenbrauen. „Ah, da ist ja mein Lieblingsmodel wieder.“
„Lieblingsmodel?“ wiederhole ich skeptisch.
„Natürlich“, grinst sie, während sie mich auf den Stuhl setzt. „Du bist pflegeleicht und meckerst nicht.“
Ich werfe Leo einen Seitenblick. „Da hast du ihn noch nicht beim Essen erlebt.“
Leo lacht, aber Mia ist schon dabei, meine Haare mit ein paar schnellen Handgriffen zu richten. Es ist nichts Großes – nur ein bisschen Fixierung, damit sie nicht in alle Richtungen fliegen. Dann tupft sie leicht mit einem Puder über meine Stirn, damit ich unter den Studiolampen nicht glänze.
„Und? Aufgeregt?“ fragt sie, während sie arbeitet.
Ich überlege kurz. „Ja…, ein bisschen.“
Leo lehnt sich locker gegen den Tisch. „Keine Sorge, Finn weiß genau, wie er eine ganz natürliche Stimmung hinkriegt. Wird sich nicht wie ein typisches Shooting anfühlen.“
Ich schaue ihn an. „Und wie fühlt es sich dann an?“
„Wie… ein ganz normaler Tag“, sagt er, als wäre es die offensichtlichste Sache der Welt.
Ich will ihm glauben. Und irgendwie – allein weil er es sagt – tue ich es auch.
Nach dem Styling geht es direkt in den Boulderbereich.
Leo führt mich zu einem Mann, der bereits auf mich wartet. Er ist vielleicht Ende 30, muskulös, aber nicht übertrieben, mit einem entspannten Lächeln auf den Lippen. Seine Augen sind scharf – nicht unfreundlich, aber wachsam.
„Justin, das ist Kai“, stellt Leo vor.
„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagt Kai und reicht mir die Hand. Sein Griff ist fest, aber nicht drückend. „Ich bin heute dein persönlicher Foltermeister.“
Ich blinzele. „Äh…, was?“
Leo lacht. „Er meint Trainer.“
Kai grinst nur. „Nenn es, wie du willst. Aber heute geht es nicht um Kraft, sondern um Technik, Balance und Gefühl für den Körper.“
Ich nicke langsam. Das klingt spannend.
Kai deutet auf die Kletterwand. „Wir machen ein Spezialtraining. Das heißt, wir feilen an den kleinsten Details – Fußarbeit, Gewichtsverlagerung, Körperspannung. Und nebenbei unterhalten wir uns einfach ein bisschen.“
Ich nicke. „Und die Kameras?“, frage ich und schaue mich um. Ich sehe keine, aber ich weiß, dass sie da sind.
Kai zuckt mit den Schultern. „Vergiss sie. Die meisten sind eh in der Wand versteckt oder an Seilsystemen montiert. Du wirst sie in fünf Minuten sowieso nicht mehr bemerken.“
Ich hebe skeptisch eine Augenbraue. „Wirklich?“
Er lacht leise. „Ja. Denn ich werde für genug Ablenkung sorgen.“
Ich weiß nicht genau, was er damit meint, aber die Art, wie er es sagt, lässt mich grinsen.
„Okay“, sage ich. „Dann… bin ich bereit.“
Leo schmunzelt, lehnt sich an die Wand und verschränkt die Arme. „Dann mal los. Ich schau mir das Spektakel von hier an.“
Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu. Seine Augen sind hell, aufmerksam, irgendwie… anders als sonst? Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn Kai deutet auf die ersten Griffe der Route.
„Also, Justin“, sagt er. „Zeig mir, was du draufhast.“
Ich atme tief durch. Und greife nach dem ersten Griff. Kaum dass ich den ersten Griff berühre, hält mich Kai sofort zurück.
„Halt! Stopp!“ Seine Stimme ist ruhig, aber bestimmt. „Hast du das so gelernt?“
Ich blinzele. „Äh…, ja?“
Er schüttelt schmunzelnd den Kopf. „Keine Chance, Justin. Bevor du überhaupt einen Finger an die Wand legst, wärmen wir uns auf. Sonst brauchst du nach dem Shooting einen Termin beim Physiotherapeuten.“
Ich seufze leise. Aufwärmen. Nicht mein Lieblingsteil.
„Ich weiß, was du denkst“, sagt Kai, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Aber ich verspreche dir, wir machen das anders als deine Trainer im Verein. Keine endlosen Runden ums Gebäude oder langatmiges Dehnen. Kurz, präzise, effizient. Also los.“
Ich seufze nochmal – ein bisschen dramatischer diesmal – aber ich folge ihm auf die weiche Matte neben der Kletterwand. Leo lehnt noch immer an der Wand, die Arme verschränkt, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen.
„Find ich gut“, murmelt er. „Kann ja nicht sein, dass du direkt loslegst, als wärst du aus Gummi.“
Ich schneide ihm eine Grimasse. Er genießt das viel zu sehr.
Kai steht vor mir und beginnt mit einer simplen Schüttelbewegung der Arme. „Wir starten mit den Händen und Fingern. Die sind beim Klettern das Erste, was leidet – und meistens das Letzte, woran jemand denkt.“
Ich mache es ihm nach, lockere meine Finger, dann meine Handgelenke.
„Dreh die Handgelenke nicht nur aus dem Unterarm, sondern auch aus der Schulter heraus“, korrigiert er mich sanft. „Sonst bleibt die Bewegung zu starr.“
Ich befolge seinen Hinweis und spüre sofort den Unterschied. Meine Hände sind flexibler, die Gelenke fühlen sich… freier an.
„Gut“, lobt Kai. Dann nimmt er beide Arme hoch und lässt die Schultern kreisen. Ich folge. „Die Schultergelenke sind die Dreh- und Angelpunkte für jede Bewegung an der Wand. Wenn sie verspannt oder unbeweglich sind, verlierst du wertvolle Energie bei jedem Zug.“
Ich nicke, spüre, wie meine Muskeln sich langsam aufwärmen. Es fühlt sich tatsächlich besser an als das, was ich sonst mache. Dann wechseln wir zu den Beinen. Kai geht in eine tiefe Kniebeuge, wippt leicht, lässt die Sprunggelenke mitarbeiten. Ich mache es nach, aber… es fühlt sich irgendwie komisch an.
„Warte.“ Kai richtet sich auf und tritt näher an mich heran. „Deine Füße. Schau mal, du setzt dein Gewicht auf den äußeren Rand deiner Fußsohlen, das bringt dich aus der Balance. Versuch, dich in der Mitte zu stabilisieren.“
Er legt seine Hand leicht an mein Knie, justiert meine Haltung. Ich spüre, wie meine Muskeln anders reagieren, wie meine Sehnen sich plötzlich… richtig anfühlen.
„Besser?“ fragt er.
Ich nicke. „Viel.“
„Gut. Und jetzt bleib in dieser Position und erzähl mir, wie du eigentlich zum Klettern gekommen bist.“
Ich zucke leicht zusammen. Gespräch? Während der Übungen?
„Äh…“ Ich überlege kurz. Wie bin ich eigentlich zum Klettern gekommen?
„War es deine Idee oder hat dich jemand mitgeschleppt?“ fragt er weiter, während er sich wieder selbst in die Kniebeuge begibt.
„Beides irgendwie“, sage ich langsam. „Mein Bruder Bobby hat mich damals mitgenommen, als ich 8 war. Eigentlich, damit ich irgendwas finde, das mich ablenkt. Aber dann hab ich’s einfach nicht mehr gelassen.“
Kai nickt. „Also war’s Liebe auf den ersten Griff?“
Ich lache leise. „So ungefähr. Beim ersten Mal hatte ich mehr Angst als alles andere. Ich hab mich an den Griffen festgeklammert wie ein Ertrinkender.“
Kai grinst. „Und jetzt bist du hier, bei einem professionellen Shooting.“
Ich hebe leicht die Schultern. „Schon krass, oder?“
„Auf jeden Fall.“ Er richtet sich wieder auf und wir wechseln zum nächsten Teil des Aufwärmens. Beinmuskulatur dehnen. Er setzt einen Fuß auf die Matte, lehnt sich kontrolliert nach vorne, um die Wadenmuskulatur zu dehnen. Ich mache es nach, spüre sofort das Ziehen.
„Und was hat dich damals am Klettern so fasziniert?“ fragt er weiter.
Ich denke kurz nach. „Die Freiheit, glaube ich. Keine festen Bahnen wie bei anderen Sportarten. Du musst immer selbst entscheiden, wie du hochkommst.“
Kai nickt anerkennend. „Guter Punkt. Das ist es auch, was viele Profi-Kletterer antreibt. Dieses Gefühl, dass du selbst bestimmen kannst, wie du deine Route gehst.“
Ich merke, dass ich langsam gar nicht mehr ans Aufwärmen denke, sondern einfach rede, während mein Körper ganz von selbst den Anweisungen folgt.
„Und was war deine schwierigste Route bisher?“ fragt Kai.
Ich überlege. „Wettkampf oder draußen?“
„Beides.“
Ich grinse leicht. „Beim Wettkampf war’s eine technische Route mit wahnsinnig kleinen Tritten. Ich musste wirklich jede Bewegung vorausplanen, sonst hätte ich keine Chance gehabt.“
Kai nickt. „Klingt nach einem perfekten Test für Kontrolle und Körperspannung.“
„Bereit für ein bisschen Boulder-Magie?“
Ich atme tief durch und spüre, wie meine Schultern sich lockern.
„Ja. Jetzt schon.“
Ich hätte nicht gedacht, dass ein einfaches Gespräch mich so ablenkt. Ich hab nicht mal gemerkt, dass wir mit dem Aufwärmen längst durch sind.
Kai grinst zufrieden. „Na also. So muss das sein.“
Aber noch bevor ich zum ersten Griff greifen kann, lehnt er sich leicht vor. „Eine Sache noch – du hast mir erzählt, dass du beim Wettkampf diese Route mit den winzigen Tritten hattest… aber du hast noch nicht von deiner schwersten Outdoor-Route erzählt.“
Ich blinzle kurz. Stimmt.
„Ja, die in der Schweiz!“ Ich lehne mich locker gegen die Wand und lasse meine Gedanken zu diesem einen Tag zurückkehren.
Kai nickt interessiert. „Mehrseillängen, oder?“
Ich kann nicht anders, als leicht zu lächeln. „Ja. Mit meinem Bruder Bobby. Wir haben eine Route gemacht, die mich so viel gelehrt hat, dass ich sie nie vergessen werde.“
„Erzähl“, fordert er mich auf.
Ich schließe kurz die Augen. Es war früh am Morgen, die Sonne stand noch tief, und der Fels war von der Nacht noch kühl. Ich erinnere mich an das Klicken der Karabiner, an das Gewicht des Seils auf meiner Schulter, an den weiten Blick nach oben – eine fast endlose Wand, die wir als Team erklimmen wollten.
„Es war nicht nur eine Route“, beginne ich langsam, „es war ein ganzer Tag in der Wand. Eine Mehrseillängen-Route, knapp 300 Meter, mit Abschnitten, die mir heute noch Gänsehaut machen. Aber das Krasseste war nicht nur die Höhe oder die Schwierigkeit… sondern das Vertrauen.“
Kai hebt interessiert eine Augenbraue. „Vertrauen?“
Ich nicke. „Ich klettere, seit ich acht bin. Und das meiste hab ich von Bobby gelernt. Aber an diesem Tag hab ich wirklich verstanden, was es heißt, jemandem dein Leben anzuvertrauen.“
Meine Finger gleiten unbewusst über die Wand vor mir, als würde ich sie noch einmal spüren wollen.
„Wenn du da oben hängst, über 100 Meter über dem Boden, mit nichts als deinem Seil und deinem Kletterpartner… dann gibt es keinen Platz für Zweifel. Du musst vertrauen. Dir selbst. Deiner Technik. Deinem Partner. Und wenn du das schaffst…“
Ich atme tief durch, lasse den Moment in mir nachklingen.
„Dann ist es Freiheit.“
Kai nickt langsam. „Das ist es. Das ist der Punkt. Darum geht’s beim Klettern.“
Ich sehe ihn an und erkenne, dass er es wirklich versteht. Vielleicht, weil er diesen Moment selbst schon erlebt hat.
„Ich liebe das Klettern nicht nur wegen der Bewegung“, sage ich schließlich. „Sondern weil es mir zeigt, dass ich neue Wege gehen kann. Dass ich eine Route finde, wo andere vielleicht nur eine Wand sehen. Dass ich mich fallen lassen könnte…, und trotzdem sicher bin.“
Kai legt leicht den Kopf schief, betrachtet mich einen Moment. Dann grinst er plötzlich. „Okay, jetzt hast du mich neugierig gemacht. Wie hat sich das angefühlt, als ihr ganz oben wart?“
Ich schließe wieder kurz die Augen. Der Moment, als Bobby und ich die letzte Seillänge geklettert waren…
Der Wind, der uns um die Ohren wehte. Der Blick nach unten, wo alles so klein aussah, fast unwirklich. Der Moment, in dem Bobby mich einfach in den Arm nahm und lachte, weil wir es geschafft hatten. Ich öffne die Augen und sehe Kai an. „Wie der beste Atemzug meines Lebens.“
Er lächelt leicht. „Dann hast du’s verstanden.“
Ich nicke langsam. „Und genau das suche ich immer wieder.“
„Dann suchen wir das heute auch.“ Kai tritt zurück und deutet mit dem Kopf auf die Wand. „Aber erst an der Boulderwand – bevor wir dich irgendwo 300 Meter in die Luft hängen.“
Ich lache leise, spüre das vertraute Kribbeln in den Fingern. Der erste Griff. Der erste Zug. Der erste Schritt in die Höhe. Das hier… ist meine Welt.
In meiner Welt
„Okay, Justin“, sagt Kai, während er sich neben mich an die Boulderwand lehnt. „Ich will erstmal sehen, wie du das angehst. Such dir eine Route aus – nichts Verrücktes, aber auch nicht langweilig. Klettere sie einmal hoch, und dann sag mir, was du dabei gespürt hast.“
Ich nicke, atme tief durch und trete an die Wand. Mein Blick wandert über die Griffe. Ich lasse meine Finger kurz über einen der kleineren Tritte streifen, spüre die feine Struktur des Kunstfelsens unter meiner Haut. Meine Muskeln sind bereit, mein Kopf konzentriert.
Erster Griff. Meine rechte Hand umfasst einen ergonomisch geformten Henkelgriff, während meine Füße sich instinktiv auf die besten Tritte setzen.
Zweiter Zug. Mein Körper schwingt leicht mit, als ich das Gewicht von links nach rechts verlagere. Ich merke sofort, dass die Route eher technisch als kraftbetont ist – perfekte Balance gefragt.
Ich atme aus, greife weiter. Das Gefühl, wie meine Finger sich um die Struktur schmiegen, wie mein Körper die Bewegungen fast automatisch steuert – das ist es, was ich liebe. Mit ruhigen, gleichmäßigen Zügen arbeite ich mich nach oben, achte darauf, meine Beine mit einzusetzen, mich nicht nur an den Armen hochzuziehen, sondern wirklich zu klettern.
Ein leichter Mantle-Zug zum Abschluss – meine Hand drückt den letzten Griff nach unten, ich ziehe das Bein nach und komme sicher oben an. Ich halte kurz inne, blicke nach unten, spüre den festen Stand auf der letzten Kante.
Sauber. Fließend. Effizient. Ich lasse mich mit einem lockeren Sprung auf die Matte fallen.
Kai grinst. „Nicht schlecht. Jetzt erzähl.“
Ich lehne mich an die Wand, atme langsam aus. „Es war eine schöne Route. Technisch, aber nicht zu schwer. Ich habe versucht, meine Bewegungen so flüssig wie möglich zu halten, meine Hüfte nah an der Wand zu lassen und die Beine stärker zu nutzen, um die Arme zu entlasten.“
Kai hebt eine Augenbraue. „Und was war der schwerste Punkt?“
Ich überlege kurz. „Der weite Zug bei der dritten Bewegung. Der linke Fuß hatte nicht genug Halt, also musste ich aus der Spannung heraus ziehen. Ich habe versucht, die Hüfte nach innen zu kippen, aber das hat mich kurz aus dem Gleichgewicht gebracht.“
Für eine Sekunde schaut Kai mich an, als hätte ich gerade etwas Unerwartetes gesagt. Dann lacht er leise.
„Du analysierst verdammt gut“, sagt er anerkennend. „Die meisten Leute sagen einfach: ‘Der Zug war schwer’. Aber du erklärst mir genau, was dein Körper gemacht hat. Das zeigt, dass du dich selbst richtig spürst.“
Ich spüre, wie ich leicht grinse. Es ist ein gutes Gefühl, wenn jemand versteht, wie sehr ich das Klettern wirklich lebe.
„Jetzt versuch’s nochmal – aber mit einem kleinen Trick.“
Kai geht zur Wand, deutet auf den dritten Griff. „Hier, an der Stelle, wo du aus der Spannung ziehen musstest – statt den Zug direkt zu machen, schiebe deine Hüfte einen Moment länger nach rechts, bevor du die Bewegung machst. Dein Schwerpunkt bleibt tiefer, und du sparst Kraft.“
Ich nicke, verarbeite die Info, gehe erneut an die Wand. Dieses Mal denke ich an seinen Tipp. Ich greife, verlagere, spüre, wie mein Körper auf die neue Bewegung reagiert. Und tatsächlich – der weite Zug fühlt sich stabiler an, ich muss weniger aus den Armen ziehen, spare Energie.
Ich grinse leicht. „Wow. Das macht echt einen Unterschied.“
Kai lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Wand. „Das ist Technik, mein Freund. Die Kraft, die du sparst, kannst du in schwierigeren Zügen nutzen.“
Ich nicke langsam. Ich liebe es, wenn Kleinigkeiten so viel verändern. Es ist, als würde ich mich selbst auf einer tieferen Ebene kennenlernen.
„Jetzt gehen wir eine Stufe weiter“, sagt Kai und zeigt auf eine anspruchsvollere Route mit kleinen Leisten und dynamischen Zügen.
Ich atme tief durch. Ich bin bereit. Ich beginne erneut, diesmal mit höherer Schwierigkeit. Sofort spüre ich den Unterschied – die Griffe sind kleiner, meine Finger müssen sich enger an den Fels schmiegen, meine Füße suchen Halt auf schmalen Kanten.
„Denk an deine Hüfte“, ruft Kai.
Ich kippe sie näher zur Wand. Mein Körpergewicht ist perfekt ausbalanciert. Ich halte den Rhythmus, spüre die Spannung in meinen Unterarmen, die Dehnung in meiner Schulter. Hier zählt jedes Detail. Ich merke, wie meine Körperhaltung den Unterschied macht – wenn ich zu weit von der Wand wegkomme, verliere ich Stabilität. Wenn ich zu sehr aus den Armen ziehe, verbrenne ich Kraft.
Kai gibt mir immer wieder kleine Korrekturen: „Dein rechter Fuß! Setz ihn noch exakter!“
Ich verlagere das Gewicht. Sofort fühlt sich die Bewegung leichter an. Es ist, als würde mein Körper lernen, die Energie nicht zu verschwenden, sondern zu nutzen. Mein Atem ist ruhig. Mein Körper und mein Geist sind vollkommen eins. Es ist nur ich und die Wand.
Ich greife, ziehe, schiebe mein Bein nach oben, spüre, wie meine Muskeln arbeiten. Jeder Zug ist präzise, kontrolliert, nicht hastig. Mein Herz schlägt schneller – aber nicht vor Anstrengung. Es ist dieses Hochgefühl, wenn ich spüre, dass ich wachse. Ich setze zur letzten Bewegung an, muss mich voll strecken. Mein Körper spannt sich, mein Herzschlag pocht in meinen Fingerspitzen…
Dann greife ich zu. Meine Finger schließen sich um den letzten Griff. Und in diesem Moment fühle ich mich lebendig.
Ich springe mit einem lockeren Absprung zurück auf die Matte, mein Atem ist ruhig, aber mein Kopf arbeitet noch. Ich lasse die letzten Bewegungen durch meinen Körper nachhallen, spüre, wie meine Muskeln noch die Spannung halten, wie meine Finger noch leicht zittern von der letzten Belastung.
Kai tritt näher, seine Arme locker verschränkt. Sein Blick ist prüfend, aber nicht wertend – eher neugierig.
„Okay, Justin“, sagt er langsam. „Jetzt sag mir nicht, wie die Route war, sondern wie du dich dabei gefühlt hast.“
Ich runzle leicht die Stirn. „Was meinst du?“
„Ich meine nicht, ob sie schwer oder leicht war, sondern… was in dir passiert ist. Dein Körper, dein Kopf – wie hat es sich angefühlt?“
Ich überlege. Wie fühlt sich das eigentlich an? „Es ist… als ob ich mich selbst finde“, sage ich schließlich. „Als ob ich in dem Moment, in dem ich klettere, nichts anderes sein muss als genau das. Einfach nur ich.“
Kai nickt langsam, wartet, dass ich weiterspreche.
Ich atme tief durch. „Ich mag das Gefühl von Kontrolle. Dass jede Bewegung zählt, dass ich es beeinflussen kann, wie ich eine Route bewältige. Aber gleichzeitig ist da auch dieses… Vertrauen. In mich selbst. In meine Kraft, in meine Technik, in das, was ich gelernt habe.“
Ich blicke an die Wand, dann zurück zu ihm. „Wenn ich draußen klettere, ist das noch krasser. Da ist es nicht nur eine Wand, die extra für mich gebaut wurde. Da ist die Natur. Der Fels. Der Wind. Die Weite. Da ist dieses Gefühl, dass ich Teil von etwas Größerem bin.“
Kai mustert mich interessiert. „Du warst also schon oft draußen unterwegs?“
Ich nicke. „Ja. Seit ich acht bin, klettere ich. Mein Bruder und ich haben letztes Jahr ja diese Schweizer Route gemacht – diese eine Mehrseillängen-Route. Das war…“ Ich überlege kurz. „Es war das erste Mal, dass ich richtig gespürt habe, was es heißt, zu vertrauen. Nicht nur in die eigene Fähigkeit, sondern in den Partner.“
„Ja… Bobby hat mich gesichert. Ich wusste, dass er mich hält. Trotzdem war es… anders. Höhenmeter über Höhenmeter nur der Fels unter mir. Keine Halle, keine Matten, keine Sicherungsseile, die man jederzeit loslassen kann. Nur wir. Der Himmel über uns. Der Wind, der durch die Felsen fegt. Es war… Freiheit.“
Kai nickt langsam, als könnte er genau nachempfinden, was ich meine. „Das klingt ziemlich intensiv.“
Ich grinse leicht. „War es auch.“
„Und was ist es, das dich immer wieder an die Wand zieht?“ fragt er nachdenklich.
Ich überlege kurz, aber die Antwort ist sofort da. „Es ist die Herausforderung. Das Unbekannte. Neue Wege zu finden. Und das Gefühl, dass es immer weitergeht. Man kann immer besser werden, immer etwas Neues lernen.“
Kai lehnt sich leicht gegen die Wand, sein Blick ist nun noch fokussierter.
„Weißt du, Justin… Ich glaube, du bist jemand, der sich extrem gut selbst spürt. Du denkst nicht nur in Muskelkraft, sondern in Bewegungen, in Energieflüssen. Viele Kletterer sehen nur die Wand – du siehst den Weg.“
Ich lasse seine Worte einen Moment auf mich wirken.
Er fährt fort. „Und das merkt man. Du setzt alles, was ich dir sage, sofort um. Du merkst dir Kleinigkeiten, Feinheiten – und du kannst sie direkt in eine Bewegung übersetzen. Das ist nicht selbstverständlich.“
Ich schmunzle leicht. „Ich mag es halt, wenn Dinge effizienter funktionieren.“
Kai lacht leise. „Ja, das merkt man. Aber sag mal – hast du auch mal Momente, in denen du unsicher bist?“
Ich zucke leicht zusammen. Erwischt. Mein Blick wandert kurz zu Boden, dann wieder zu ihm. „Ja… klar.“
Kai hebt leicht den Kopf. „Wann?“
Ich überlege nicht lange. „Wenn ich mich beobachtet fühle.“
Er wartet, dass ich weiterspreche.
Ich atme tief durch. „Draußen, an der Wand, da ist es egal. Da bin nur ich. Aber hier… Hier gibt es Blicke. Erwartungen. Ich weiß, dass ich gut bin, aber manchmal frage ich mich, ob ich wirklich so gut bin, wie ich sein will.“
Kai nickt langsam. „Und das setzt dich unter Druck?“
Ich zögere. „Ja. Manchmal. Ich will immer weiterkommen. Immer besser werden. Und wenn ich dann das Gefühl habe, dass ich das nicht schaffe, dann…“
Ich breche ab.
Kai sieht mich an, dann sagt er ruhig: „Das ist der Punkt, an dem Kopftraining genauso wichtig ist wie Techniktraining.“
Ich blicke ihn fragend an.
„Du kannst die beste Technik haben, die stärkste Muskulatur – aber wenn dein Kopf dir sagt, dass du nicht gut genug bist, dann kletterst du schlechter. Dein Körper folgt deinem Geist. Wenn du zweifelst, spannen sich deine Muskeln unnötig an. Du verkrampfst, und das kostet dich Energie. Aber wenn du loslässt – wenn du einfach nur im Moment bist – dann läuft es.“
Ich denke über seine Worte nach. Hat er Recht? Ist das der Grund, warum ich manchmal strauchle?
Kai merkt, dass ich überlege, und grinst. „Lass mich dir was zeigen.“ Er geht zur Wand, deutet auf eine kleine Route mit dynamischen Bewegungen.
„Klettere das mal hoch. Aber dieses Mal, denk nicht über die Technik nach. Mach einfach. Spür die Wand, aber analysiere nicht. Vertrau darauf, dass dein Körper weiß, was er tun muss.“
Ich schlucke. „Also einfach nur… klettern?“
Kai nickt. „Genau.“
Ich stehe einen Moment lang da, blicke auf die Wand. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Mein Kopf ist immer involviert, immer auf Technik, auf Effizienz bedacht. Aber jetzt soll ich einfach… nur machen?
Ich atme tief durch. Dann greife ich den ersten Griff – und lasse los. Nicht die Wand, nicht meine Finger. Sondern meine Gedanken. Ich spüre die Oberfläche, spüre, wie meine Hände wissen, wohin sie müssen. Wie meine Hüfte sich instinktiv bewegt, wie meine Füße ohne mein bewusstes Zutun die besten Punkte finden.
Ich bin nur hier. Nur in diesem Moment. Der Griff. Der nächste. Das Ziehen der Muskeln, das Schwingen meines Körpers, das perfekte Zusammenspiel aus Balance, Kraft und Leichtigkeit.
Ich bin ganz bei mir. Ich bin frei. Dann bin ich oben. Ich halte mich einen Moment an der letzten Kante fest, blicke nach unten. Kai sieht zu mir hoch, sein Gesicht ausdruckslos – bis er langsam grinst.
„Na? Gemerkt?“
Ich spüre mein Herz noch pochen. Ja. Ich habe es gemerkt.
Grenzen erkennen – und lernen, sie zu respektieren
Ich weiß nicht, wie lange ich noch geklettert bin. Alles verschwimmt. Mein Körper hat nur noch funktioniert, jeder Griff, jeder Zug war da, ohne dass ich groß nachdenken musste. Ich war irgendwo zwischen Konzentration und völliger Loslösung – ein Zustand, in dem nur noch der Moment zählt.
Doch plötzlich stoppt Kai mich mit einem kurzen, aber bestimmten Ruf: „Justin. Stopp.“
Meine Finger umklammern gerade den nächsten Griff, mein Fuß sucht automatisch nach einer neuen Position – doch seine Stimme zieht mich zurück. Ich blinzele, blicke nach unten. Er steht da, die Arme verschränkt, sein Blick scharf, aber nicht streng.
„Lass los und spring ab.“
Ich spüre meine Finger zittern. Mein Unterarm brennt. Mein Atem ist schnell. Ich habe gar nicht bemerkt, wie sehr meine Kraft nachlässt. Ich nicke leicht, löse mich vorsichtig und lande federnd auf der weichen Matte. Ein leichtes Zittern läuft durch meine Beine. Ich bleibe kurz in der Hocke, atme tief durch. Mein Kopf fühlt sich… leer an.
Kai kommt näher und reicht mir die Hand. Ich nehme sie, lasse mich hochziehen. „Du bist weit gegangen“, sagt er.
Ich schlucke. „Hab gar nicht gemerkt, dass…“
„Dass du an der Grenze warst?“ Er grinst leicht. „Ja. Genau deswegen brechen wir jetzt ab. Klettern bedeutet nicht nur, Kraft zu haben, sondern auch zu wissen, wann genug ist.“
Ich nicke, spüre die Erschöpfung in meinen Muskeln. Er hat Recht. Ich hätte noch weitergemacht, hätte nicht gemerkt, wann es zu viel wird.
„Gute Kletterer wissen, wann sie loslassen müssen“, sagt Kai ruhig.
Ich lasse seine Worte in mir nachhallen, während er mich zu den Matten führt. „Bevor du jetzt einfach umfällst, noch ein paar Dehnübungen.“
Ich seufze leise, aber ich weiß, dass er wiederum Recht hat. Langsam leite ich mit ihm die abschließenden Dehnungen ein. Sanfte Bewegungen, tiefe Atmung. Ich spüre, wie meine Muskeln sich erst noch sträuben, dann nachgeben. Ich konzentriere mich darauf, meine Atmung zu beruhigen, meine Körperhaltung zu spüren.
Nach einer Weile realisiere ich erst wieder, wo ich überhaupt bin. Das war nicht einfach nur ein Training. Das war ein Shooting. Ich war so in meinem Körper, so in der Bewegung, dass ich es komplett vergessen habe. Die Kameras. Die Leute. Alles.
Und dann…
Leo ist wieder da. Eigentlich war er immer da, aber jetzt spüre ich wieder bewusst seine Anwesenheit. Ich spüre seinen Blick auf mir, bevor ich ihn sehe. Ich drehe den Kopf – und da steht er, lässig an eine Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen.
„War das jetzt Training oder eine spirituelle Reise?“ fragt er grinsend.
Ich lache erschöpft. „Beides, glaube ich.“
Kai tritt zu uns, klopft mir auf die Schulter. „Guter Job. Du hast extrem viel gelernt heute. Aber…“, er wendet sich an Leo, sein Blick ist ernst. „Justin geht jetzt unter die Dusche, und dann bringst du ihn zur Massage.“
Ich runzle die Stirn. „Massage?“
Kai nickt bestimmt. „Du hast hart gearbeitet. Deine Muskeln sind total durch. Vertrau mir, du willst morgen noch aus dem Bett kommen, oder?“
Leo schnaubt grinsend: „Glaub mir, wenn Kai so was sagt, dann besser nicht diskutieren.“
Ich blicke von einem zum anderen. Kai sieht mich ernst an. Leo grinst leicht.
Dann zucke ich mit den Schultern. „Okay. Massage, … klingt nicht schlecht.“
Kai nickt zufrieden. „Gut. Also geh duschen. Danach Leo hinterher, der bringt dich zu den Physios.“
Leo macht eine lockere Bewegung Richtung Umkleide. „Komm, Champion. Bevor du hier noch zusammenklappst.“
Dusche – Hitze, Erschöpfung, Blicke
Ich spüre jeden Schritt. Meine Beine sind schwer, meine Arme fühlen sich müde an. Aber es ist dieses angenehme Brennen, das man nach einem harten Training hat.
Die Umkleide ist nicht ganz leer. Ein paar andere Sportler sind da, aber ich bin zu erschöpft, um groß darauf zu achten. Ich ziehe meine Sachen aus, spüre, wie mein Shirt an meiner Haut klebt.
Dann betrete ich die Dusche. Das warme Wasser trifft mich wie eine Welle. Es prasselt auf meine Schultern, rinnt über meine Arme, über meine Brust. Ich lehne mich gegen die kühlen Fliesen, schließe kurz die Augen.
Mein Kopf ist immer noch halb im Training, halb im Gedankenstrudel. Ich spüre das Wasser an mir herunterlaufen, spüre, wie mein Körper langsam wieder meiner wird. Neben mir höre ich das Wasser einer anderen Dusche rauschen. Stimmen, Lachen. Die anderen Jungs, naja eher Männer.
Ich öffne langsam die Augen, wische mir das Wasser aus dem Gesicht. Blicke. Nicht auffällig. Aber doch da. Ich weiß nicht, ob es Einbildung ist, aber ich spüre, dass ich beobachtet werde. Und dass ich selbst beobachte.
Die Art, wie das Wasser über die Haut der anderen läuft. Wie sich Muskeln unter Tropfen abzeichnen. Wie Haare nass an der Stirn kleben. Ich versuche, mich nicht zu lange auf einen Punkt zu konzentrieren. Hoffentlich merkt das keiner. Mein Herz klopft ein kleines bisschen schneller. Nicht, weil ich nervös bin, sondern weil da… Gedanken sind. Gefühle. Ich atme tief durch, drehe das Wasser etwas kälter. Es hilft, ein wenig.
Ein paar Minuten später bin ich wieder draußen. Ich trockne mich ab, ziehe mir frische Klamotten an.
Leo wartet schon.
„Fertig?“ fragt er grinsend.
Ich nicke. „Fertig.“
Er klopft mir auf die Schulter. „Dann auf zur Massage. Du wirst mich morgen verfluchen, aber glaub mir, besser jetzt als später.“
Die Physio-Räume sind hell, aber gemütlich. Keine sterile Arztpraxis-Atmosphäre, sondern warme Farben, weiche Liegen.
„Wer übernimmt?“ fragt Leo in den Raum.
Eine Frau Mitte 30 kommt aus einem Nebenraum. „Ich. Ah, du bist Justin?“
Ich nicke.
„Okay, leg dich auf die Liege, Bauch nach unten.“
Ich ziehe mein Shirt aus, lege mich vorsichtig hin. Die Unterlage ist angenehm warm.
Leo lehnt sich gegen den Türrahmen, beobachtet, wie sie eine Flasche mit Öl aufmacht.
„Bleibst du da stehen?“ frage ich skeptisch.
Er grinst. „Klar, ich will sehen, wie du leidest.“
Ich schnaube, aber dann setzt die erste Berührung ein. Und mein Atem stockt. Die Hände der Physio sind fest, aber nicht grob. Sie fährt langsam über meinen Rücken und Arme, übt leichten Druck aus.
„Oh wow, da sind einige Verspannungen“, murmelt sie.
Ja. Kein Wunder. Dann beginnt sie richtig. Langsame, feste Bewegungen. Ihre Finger arbeiten sich entlang meiner Schultern, meinem Nacken, weiter nach unten. Sie findet sofort die Stellen, die sich durch das Klettern verhärtet haben. Ich stöhne leise auf, als sie eine besonders verspannte Stelle trifft.
Leo lacht. „Oh, das war ein schöner Schmerz, oder?“
Ich rolle mit den Augen. „Halt die Klappe.“
Aber ich kann nicht leugnen – es ist intensiv. Ein Ziehen, ein Lösen, ein Druck, der erst schmerzt, dann nachgibt. Meine Muskeln beginnen, sich zu entspannen. Mein Körper wird schwerer. Mein Kopf… leichter. Das ist gut. Das ist sehr gut. Ich spüre die Wärme in mir ausbreiten.
Und dann, in einem dieser halb-dösenden Momente, öffne ich kurz die Augen – und sehe, dass Leo mich ansieht. Nicht einfach nur so. Sondern… richtig.
Ich weiß nicht, was ich darin lesen kann. Aber mein Herz schlägt einen Tick schneller.
Überraschung in Finns Studio
Nach der Massage fühle ich mich… anders. Lockerer. Freier. Als hätte jemand all die Verspannungen aus meinem Körper genommen – nicht nur die körperlichen, sondern auch die in meinem Kopf.
Leo geht neben mir her, während wir zurück durch die Flure des Gebäudes gehen. Sein Blick ist noch immer auf mich gerichtet, prüfend, ein bisschen amüsiert.
„Na, wieder unter den Lebenden?“ fragt er grinsend.
Ich strecke meine Arme aus, rotiere die Schultern. „Ich hätte nie gedacht, dass so etwas so krass hilft. Ich fühle mich, als hätte ich zwei neue Schultern bekommen.“
Leo lacht. „Ja, Kai kennt keine halben Sachen. Und die Physios hier auch nicht.“ Dann stupst er mich leicht an der Seite an. „Komm, Finn wartet schon. Er hat ein paar fertige Sachen für uns.“
Mein Herz macht einen kleinen Satz. Die ersten Ergebnisse? Schon? Wir gehen durch die Gänge, vorbei an anderen Mitarbeitern, Athleten und Technikern, bis wir schließlich vor der großen Studiotür stehen. Leo öffnet sie und tritt als Erster ein. Ich folge ihm.
Kaum betreten wir den Raum, verstummen die Gespräche. Ich spüre sofort, dass etwas anders ist. Alle Augen richten sich auf mich. Nicht auf Leo. Nicht auf Finn. Auf mich. Es ist kein unangenehmes Starren, kein seltsames Schweigen, es ist mehr eine Art Staunen.
Mein Puls beschleunigt sich leicht. Ich bleibe an der Tür stehen und sehe mich um. Finn lehnt mit verschränkten Armen an einem Tisch, ein Lächeln auf den Lippen, das verrät, dass er genau wusste, dass dieser Moment kommt.
Am großen Bildschirm an der Wand steht Thomas, der Marketingchef, mit einem Becher Kaffee in der Hand, aber er hat das Trinken längst vergessen. Seine Augen sind auf den Monitor gerichtet, sein Ausdruck eine Mischung aus Überraschung und… Begeisterung?
Ich runzle die Stirn. „Ähm, … was ist los?“
Leo sieht von mir zum Bildschirm und dann wieder zurück. Sein Grinsen wird breiter. Er weiß schon, was kommt.
Finn löst sich vom Tisch, geht ein paar Schritte auf mich zu und deutet mit einer Handbewegung auf den großen Bildschirm. „Schau’s dir selbst an.“
Ich schlucke. Mein Blick wandert zum Monitor, auf dem ein Standbild zu sehen ist. Und dann sehe ich… mich.
Ein Bild, das mich verändert
Ich hänge in der Boulderwand, eine Hand fest um einen Griff geschlossen, die andere ausgestreckt. Mein Körper ist angespannt, aber nicht steif, sondern voller Bewegung, voller Energie. Die Muskeln meiner Arme sind definiert, nicht übertrieben, sondern genauso, wie sie in diesem Moment waren. Mein Blick ist fokussiert, leicht nach oben gerichtet, als würde ich gerade meinen nächsten Zug planen.
Aber was mich am meisten trifft, ist nicht meine Haltung. Es ist mein Ausdruck. Ich sehe stark aus. Selbstbewusst. Ich erkenne mich selbst. Und doch bin ich es auf eine Weise, die ich so noch nie wahrgenommen habe. Ich spüre, wie mir die Luft für eine Sekunde wegbleibt.
Leo tritt neben mich, verschränkt die Arme und betrachtet das Bild mit einem anerkennenden Nicken. „Krass, oder?“
Ich kann nur langsam nicken. Krass trifft es ziemlich genau.
Thomas räuspert sich und kommt einen Schritt näher. „Ich hab ja erwartet, dass du gut bist, aber das hier…“. Er schüttelt den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er sieht.
Ich will etwas sagen, aber Finn hebt eine Hand. „Warte. Das war nur ein Standbild. Jetzt kommt das eigentliche Highlight.“
Ich schlucke erneut. Mein Magen zieht sich leicht zusammen. Dochr diesmal nicht vor Angst, sondern vor Aufregung.
Finn tippt auf ein Tablet, und dann läuft das Video an. Ich sehe mich in Bewegung, und erkenne mich wieder. Der Clip beginnt mit einer Nahaufnahme. Meine Finger greifen nach einem Griff, das Magnesia haftet noch leicht an der Haut. Ich ziehe mich langsam hoch, mein Blick wandert zur nächsten Bewegung, meine Atmung ist ruhig, kontrolliert. Dann wechselt die Perspektive. Die Kamera schwenkt leicht, fängt mich aus einem neuen Winkel ein. Und plötzlich sehe ich nicht mehr einfach nur mich selbst. Ich sehe eine Geschichte. Mein Körper bewegt sich wie selbstverständlich durch die Route. Die kleinen Muskelzuckungen, die Anpassungen in meiner Haltung, alles ist da. Echt.
Und dann kommt meine Stimme. Ich höre mich selbst sagen:
"Klettern ist für mich Freiheit. Ein Griff nach dem anderen, ein Ziel, das du selbst setzt. Manchmal scheitert man. Aber das gehört dazu. Es geht nicht darum, sofort alles perfekt zu können. Es geht darum, sich selbst zu vertrauen, und immer wieder den nächsten Schritt zu wagen."
Meine Stimme klingt ruhig. Selbstsicher. Ich habe das gesagt. Ich erinnere mich an das Gespräch mit Kai, an das Training, daran, dass ich all das erzählt habe, während ich mich auf die Bewegungen konzentrierte. Finn hat es so zusammengeschnitten, dass meine Worte genau das Gefühl verstärken, das die Bilder vermitteln.
Ein Schnitt. Die Kamera zoomt auf mein Gesicht. Ein Moment der Stille. Mein Blick ist intensiv, fast nachdenklich. Dann wechselt die Perspektive zurück auf meine Bewegungen, der Clip endet mit einer letzten Einstellung meiner Hand, die den finalen Griff berührt.
Stille im Raum. Ich kann nicht atmen. Ich habe keine Worte. Meine Gedanken rasen, aber gleichzeitig spüre ich eine Ruhe in mir, die ich nicht erwartet habe.
Dann höre ich Thomas tief durchatmen: „Justin…“. Er schüttelt leicht den Kopf, als suche er nach den richtigen Worten. Dann sieht er mich direkt an. „Das hier…, ist verdammt besonders.“
Mein Herz schlägt schneller. Ich schlucke erneut. Leo sagt nichts. Aber ich spüre, dass er mich ansieht. Sein Blick brennt fast auf meiner Haut. Ich sehe langsam zu ihm rüber. Und dann passiert es. Er lächelt. Nicht sein übliches, lockeres Grinsen. Sondern echt. Und zum ersten Mal seit Langem weiß ich nicht mehr, ob es das Klettern ist, das mir gerade den Atem raubt, …oder Er.
Neue Pläne, neue Herausforderungen
Ein Moment lang bleibt es still. Dann bricht plötzlich Applaus aus. Die Crew klatscht, einige nicken mir anerkennend zu, andere tauschen kurze Blicke aus. Fast so, als hätten sie schon geahnt, dass es gut werden würde, aber jetzt trotzdem überrascht sind.
Mein Herz hämmert. Ich bin nicht sicher, was ich fühlen soll. Stolz? Aufregung? Vielleicht beides.
Finn bleibt kurz stehen, nickt mir zu. Dann dreht er sich um und geht direkt wieder an seine Arbeit. Er tippt auf sein Tablet, spricht mit einem der Kameraleute und ist schon wieder mitten im nächsten Abschnitt.
Ich merke, dass mir plötzlich warm ist. Mein Kopf ist noch dabei, all das zu verarbeiten, aber bevor ich dazu komme, etwas zu sagen, tritt Thomas neben mich. Er legt mir eine Hand auf die Schulter, sanft, aber bestimmt.
„Justin, komm mit. Wir müssen reden.“ Seine Stimme klingt ruhig, aber ich höre die Bedeutung dahinter. Es geht um mehr als nur ein einfaches Lob.
Mein Blick wandert instinktiv zu Leo. Ich will wissen, ob er mitkommt. Brauche ihn in diesem Moment.
Thomas folgt meinem Blick und lächelt leicht. „Leo, du kommst auch mit. Ich glaube, Justin will nicht allein gehen.“
Leo hebt überrascht eine Augenbraue, dann grinst er und zuckt mit den Schultern. „Na klar. Was wäre er ohne seinen persönlichen Assistenten?“
Ich verdrehe die Augen. „Jetzt übertreib nicht.“ Leo lacht leise. Doch ich spüre die Erleichterung in mir, dass er dabei ist.
Zusammen folgen wir Thomas aus dem Studio hinaus und gehen durch die hellen Gänge, bis wir vor einer breiten Holztür stehen. Thomas öffnet sie und deutet auf die Sitzecke in seinem Büro.
„Setzt euch.“
Der Raum ist modern, aber gemütlich. Große Fenster lassen viel Licht herein, auf einem niedrigen Tisch stehen eine Kaffeekanne und zwei Gläser Wasser. An den Wänden hängen Bilder früherer Kampagnen – Athleten in Bewegung, in ihrer Kraft, in ihrer Leidenschaft.
Ich lasse mich in einen der weichen Sessel sinken, mein Körper ist noch entspannt von der Massage, aber mein Kopf ist voll. Zu viel auf einmal. Thomas setzt sich gegenüber, Leo neben mich.
Er lehnt sich zurück, wirft mir einen Seitenblick zu. „Na, nervös?“
Ich schnaube. „Sollte ich das sein?“
Leo zuckt mit den Schultern. „Kommt drauf an.“
Ich verziehe das Gesicht. Danke für nichts, Leo. Thomas räuspert sich leicht und lehnt sich vor. Seine Hände liegen locker ineinander gefaltet, aber seine Augen sind ernst.
„Justin, ich will mit dir über die nächsten Schritte sprechen. Wir müssen unsere Pläne für die Kampagne überdenken.“
Ich starre ihn an. „Was… heißt das genau?“
Er tippt mit einem Finger auf den Tisch. „Dein Shooting heute war anders als das, was wir erwartet haben. Es war besser. Viel besser.“
Ich merke, wie mein Herz einen schnellen Satz macht.
„Wir hatten ursprünglich vor, dich nur für ein paar Sequenzen in die Kampagne zu integrieren – ein Gesicht unter mehreren, ein talentierter Kletterer, der die Kollektion präsentiert. Aber nach dem, was ich heute gesehen habe…“
Er lehnt sich zurück und sieht mich direkt an. „Wir wollen dich noch stärker einbinden.“
Mein Mund wird trocken. Ich spüre, wie sich etwas in mir anspannt. „Heißt das… mehr Shootings?“
„Mehr Shootings. Mehr Clips. Mehr Fokus auf dich als Person.“
Ich schlucke. Das ist viel. Sehr viel.
„Und mehr Verantwortung“, fügt Thomas hinzu. „Mehr von deiner Geschichte. Mehr Einblicke in dich als Athleten, aber auch als Mensch.“
Ich öffne den Mund, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Leo lehnt sich vor, sein Ellenbogen auf seinem Knie, als wäre er genauso überrascht wie ich. „Das ist krass“, sagt er langsam. „Heißt das, Justin wird so was wie das Aushängeschild der Kampagne?“
Thomas nickt leicht. „In gewisser Weise ja. Er bringt etwas mit, das wir so nicht vorhergesehen haben. Es ist nicht nur sein Klettern – es ist seine Art, wie er sich bewegt, wie er spricht, was er ausstrahlt.“
Ich starre ihn an. Was ich ausstrahle? Ich bin ein sechzehnjähriger Junge, der noch nie vor einer Kamera stand, der sich beim Duschen mit anderen Jungs ständig fragt, ob er zu lange hinschaut, der in der Schule zu abgelenkt ist, weil er an ein Shooting denkt – und jetzt sitze ich hier und werde als Gesicht einer Kampagne betrachtet? Das fühlt sich an wie ein Paralleluniversum.
Ich atme tief durch. „Und was genau soll ich jetzt tun?“
Thomas nickt, als hätte er mit dieser Frage gerechnet. „Fürs Erste? Dich darauf vorbereiten. Wir werden in den nächsten Wochen intensiver mit dir arbeiten. Finn wird noch mehr Clips drehen, wir werden mehr Trainingsaufnahmen einbauen, vielleicht sogar kleine Interviews. Und Kai hat mir nach dem heutigen Training ein ausführliches Feedback gegeben.“
Ich blinzle. „Kai? Was hat er gesagt?“
Thomas hebt eine Augenbraue. „Dass du einer der talentiertesten jungen Kletterer bist, die er je trainiert hat. Dass du nicht nur Technik hast, sondern ein unglaubliches Körpergefühl. Und vor allem, dass du lernst wie kaum jemand sonst.“
Leo pfeift leise. „Nicht schlecht, Justin.“
Ich schüttele langsam den Kopf. Das ist zu viel. Zu viel Lob, zu viel auf einmal. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Thomas sieht, dass mich das überfordert. Er lächelt leicht. „Wir setzen dich nicht unter Druck. Du sollst Spaß daran haben. Das ist das Wichtigste.“
Spaß. Ja, klar. Ich merke, wie ich automatisch zu Leo schaue. Er sieht mich an, sein Blick ruhiger als sonst, nicht so überheblich oder scherzhaft wie sonst. Mehr… unterstützend.
Er nickt mir kaum merklich zu. Und irgendwie hilft das. Ich atme tief durch. Dann sehe ich Thomas wieder an.
„Also… das wird viel Arbeit, oder?“
Thomas lacht leise. „Ja. Aber ich habe das Gefühl, du wirst das gut machen.“
Ich lasse die Worte auf mich wirken. Mehr Arbeit. Mehr Verantwortung. Aber auch mehr Möglichkeiten. Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Aber eins weiß ich sicher: Ich will es versuchen.
Und das Kribbeln in meinem Bauch sagt mir, dass ich mich darauf freue.
Endlich Bilder – aber mit Regeln
Gerade als Thomas das Gespräch weiterführen will, fällt es mir plötzlich wieder ein. Mein Magen zieht sich leicht zusammen. Wie konnte ich das nur vergessen?
Ich sehe Thomas direkt an. „Ähm…, ich hab noch eine Frage.“
Er hebt eine Augenbraue, als hätte er genau damit gerechnet. „Lass mich raten: Du willst die Bilder sehen?“
Ich nicke sofort. „Ja! Beim letzten Mal hab ich es total verpeilt zu fragen. Alle wollten was sehen. Bobby, meine Freunde, aber ich hatte nichts. Keine einzige Aufnahme.“
Thomas lehnt sich mit einem wissenden Lächeln zurück. „Hab ich mir gedacht.“
Leo lacht leise neben mir. „Oh, willst du jetzt etwa angeben, Justin? Brauchst du Beweise für dein neues Model-Leben?“
Ich werfe ihm einen schrägen Blick zu. „Nein, du Vogel. Ich will einfach nur was zeigen können. Mein Bruder interessiert sich wirklich dafür.“
Leo grinst und hebt die Hände. „Jaja, schon klar. Aber gib’s zu. Du freust dich doch auch drauf, dich selbst in Hochglanz zu sehen.“
Ich will gerade protestieren, aber dann merke ich, irgendwie hat er Recht. Mein Kopf ist voller Bilder von heute. Ich habe gesehen, wie Finn und die Crew auf die ersten Ergebnisse reagiert haben, wie Thomas mich eben in diesem Gespräch als das potenzielle Gesicht der Kampagne bezeichnet hat.
Und ja…, ich will es sehen. Ich will wissen, wie ich wirke. Will verstehen, warum alle so überrascht waren. Also sage ich nichts, zucke nur mit den Schultern, woraufhin Leo grinst. Als hätte er genau die Bestätigung bekommen, die er wollte.
Aber bevor das Gespräch weiter in eine Frotzelei zwischen uns ausarten kann, wird Thomas wieder ernst. „Hört mal, Jungs.“ Er lehnt sich vor, seine Stimme fest. „Ich kann dir Zugang zu den Bildern geben, Justin. Aber es gibt Regeln.“
Ich blinzele. „Regeln?“
Er nickt. „Keins dieser Bilder darf vor dem Kampagnenstart in den Umlauf kommen. Keine Screenshots, kein Teilen, kein Posten auf Social Media – nicht mal an deine engsten Freunde oder Familie.“
Ich runzele leicht die Stirn. „Nicht mal Bobby?“
Thomas atmet tief durch. „Ich verstehe, dass du ihm gerne etwas zeigen würdest. Aber du musst mir vertrauen. Es geht nicht nur um dich. Diese Kampagne ist riesig. Wenn die Bilder vorzeitig öffentlich werden, kann das den ganzen Marketingplan durcheinanderbringen. Und du willst doch nicht, dass dein erster großer Job direkt mit so einem Fehler beginnt, oder?“
Ich schlucke. „Nein…, natürlich nicht.“
Leo tippt mir mit einem Finger gegen den Oberarm: „Da hast du’s. Du bist jetzt ein Geheimprojekt.“
Ich schnaube leise: „Super.“
Thomas ignoriert unser Geplänkel und sieht Leo an. „Richte ihm einen Cloud-Zugang ein, mit Leseberechtigung. Er kann die Bilder dort ansehen, aber nicht herunterladen oder weiterverarbeiten.“
Leo nickt und zieht sein Handy aus der Tasche. „Klar, mach ich sofort.“
Ich lehne mich ein wenig zurück und lasse die Worte auf mich wirken. Es fühlt sich seltsam an. Einerseits bin ich total gespannt, endlich die Bilder zu sehen. Aber andererseits…, diese ganze Geheimhaltung? Diese Verantwortung? Das ist neu für mich.
Leo tippt schnell auf seinem Handy herum, dann grinst er mich an. „So, hab dich in die interne Cloud eingetragen. Du bekommst gleich eine Mail mit dem Login.“
Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche. Ich ziehe es raus, und da ist sie. Zugang zur Cloud. Mein Herz schlägt schneller. Ich kann es kaum erwarten. Aber noch mehr als die Bilder selbst, frage ich mich insgeheim, wie Leo sie wohl findet. Denn auch wenn er es nicht offen sagt. Ich habe das Gefühl, dass er mehr darüber denkt, als er zugibt. Und allein dieser Gedanke macht das Ganze noch spannender.
Leo’s Nachricht
Mein Daumen schwebt über dem Bildschirm, als ich die Mail in meiner Inbox öffne. Erst überfliege ich die offiziellen Zeilen – Zugangsdaten, Hinweise zur Nutzung der Cloud, all das, was ich erwartet habe. Doch dann…
Am Ende der Mail. Ein Smiley. Und eine Nummer. Leos Nummer. Mein Herz setzt für einen Moment aus. Mein Blick bleibt an den simplen Zahlen hängen, als könnte ich damit irgendwas entschlüsseln, was nicht in Worten geschrieben wurde. Hat er sie mir nur gegeben, weil er weiß, dass ich ihn für irgendwelche technischen Fragen brauchen könnte? Oder… steckt da mehr dahinter?
Das Smiley dahinter macht mich noch unsicherer. Freundlich? Neckisch? Bedeutet es überhaupt was? Ich schiele verstohlen zu ihm rüber. Er tut so, als wäre nichts. Noch immer mit dem Handy in der Hand, als würde er nur auf eine Antwort von Finn warten oder sonst irgendeine alltägliche Nachricht checken. Aber warum habe ich dann das Gefühl, dass er genau weiß, dass ich es gerade sehe?
Ich will was sagen. Irgendwas. Aber mein Hals ist auf einmal trocken.
Da hebt Thomas sich von seinem Stuhl, streckt sich leicht und gibt uns damit das unmissverständliche Zeichen, dass das Gespräch vorbei ist. „Okay, Jungs. Dann habt ihr für heute Feierabend.“
Leo klatscht mit den Händen auf seine Oberschenkel und steht auf. „War ’ne starke Session.“
Ich schaffe es irgendwie, mich auch in Bewegung zu setzen, aber mein Kopf ist immer noch woanders. Ich stecke mein Handy schnell ein – bevor ich noch anfange, über die Nummer nachzudenken. Oder schlimmer: Ihn zu fragen.
Zusammen gehen wir aus Thomas‘ Büro, seine Stimme verhallt hinter uns, während er sich schon dem nächsten Anruf widmet. Finn ist irgendwo in einer anderen Ecke des Studios beschäftigt, die Crew zerstreut sich, und plötzlich sind es nur noch Leo und ich, die langsam den Gang Richtung Ausgang nehmen.
Mein Brustkorb fühlt sich eng an. Es ist dieser Moment. Dieses unausgesprochene Gefühl, wenn man weiß, dass etwas zu Ende geht – aber man will nicht, dass es das tut.
Leo geht locker neben mir, Hände in den Taschen, sein Gang so entspannt wie immer. Aber als wir vor der Tür stehen bleiben, bleibt er auch stehen. Nicht einfach gehen.
Ich nehme mir einen Moment, um ihn anzusehen. Er sieht müde aus, aber zufrieden. Ein bisschen Magnesia hängt noch an seinen Fingern. Sein Shirt ist leicht zerknittert. Und in seinem Blick liegt… irgendwas.
Ich will was sagen. Irgendwas über heute, über das Shooting, über die Bilder, über… die Nummer. Aber ich bringe kein Wort heraus.
„Also…“ Leo schmunzelt und sieht mich an. „War doch ganz geil heute, oder?“
Ich nicke langsam. „Ja.“
Kurze Pause. Zu kurz, um den Moment zu retten. Zu lang, um nicht seltsam zu wirken. Er tritt einen kleinen Schritt zurück, als würde er mir die Entscheidung lassen, ob ich noch was sage.
Ich tue es nicht. Ich bin ein verdammter Idiot.
„Dann bis bald“, sagt er schließlich, und bevor ich noch nachdenken kann, hebt er die Hand – und klopft mir kurz, fast schon sanft, auf die Schulter.
Nur eine Berührung. Kaum zu spüren. Aber in mir löst es ein Chaos aus. Dann dreht er sich um und geht. Ich bleibe stehen. Starre ihm hinterher. Warum fühlt sich das so unvollständig an? Warum habe ich nicht mehr gesagt? Erst als er hinter der nächsten Ecke verschwunden ist, atme ich aus.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Die Nummer ist noch immer da. Wartet. Wie eine unausgesprochene Möglichkeit. Ich könnte ihm schreiben.
Ich könnte. Aber ich weiß nicht, was. Stattdessen stecke ich das Handy wieder ein und mache mich auf den Weg nach Hause.
Heimfahrt – Gedankenchaos im Bus
Der Bus ist halbleer. Ich setze mich ans Fenster und lasse meinen Kopf gegen das Glas sinken. Draußen rauschen die Lichter der Stadt vorbei, das Leben geht weiter, als wäre nichts passiert.
Aber, in mir…, fühlt sich alles verändert an. Mein Daumen fährt unbewusst über den Bildschirm meines Handys. Soll ich?
Ein einfaches „Danke für die Nummer“? Oder was Lockeres, wie: „Oh, also doch nicht nur für den technischen Support?“ Oder… gar nichts?
Mein Herz klopft so laut, dass ich es bis in den Hals spüre. Ich starre auf die verdammte Nummer, während mein Kopf sich in tausend Fragen verliert. Dann drücke ich das Display aus. Nicht jetzt.
Ich brauche erstmal Bobby. Als ich die Tür aufschließe, höre ich es sofort. Das leise Klirren von Tellern. Der Geruch von warmem Essen hängt in der Luft.
Mist. Ich bin zu spät. Ich trete in den Flur, ziehe meine Schuhe aus – und dann steht er auch schon in der Tür zur Küche. Arme verschränkt.
„Na, Superstar? Hat man dich jetzt offiziell für die Titelseite engagiert oder warum kommst du so spät?“
Ich schnaube leise. „Sorry…, hat sich alles gezogen.“
Bobby hebt eine Braue. „Mhm.“ Dann deutet er mit dem Kopf zur Küche. „Setz dich. Du musst was essen.“
Ich seufze leise, folge ihm aber. In der Mitte des Tisches steht noch eine Portion Pasta, extra warm gehalten. Ich schlucke. Er hat auf mich gewartet.
Bobby setzt sich mir gegenüber, mustert mich kurz und lehnt sich dann zurück. „Also? Willst du’s mir erzählen, oder soll ich raten?“
Ich hebe eine Augenbraue. „Raten?“
Er grinst. „Ich hatte heute einen Anruf von Thomas.“
Mein Magen zieht sich zusammen. „Was?!“
„Mhm.“ Er schnappt sich eine Gabel von meinem Teller und stiehlt mir einen Bissen. „Er wollte mir erzählen, was für ein Naturtalent mein kleiner Bruder ist und dass sie dich noch mehr in die Kampagne einbinden wollen.“
Ich weiß nicht, was mich mehr schockt – dass Thomas Bobby angerufen hat oder dass Bobby schon wieder alles zu wissen scheint.
„Und?“, fragt er dann. „Wie fühlst du dich damit?“
Ich stoße einen Atemzug aus, schiebe mein Essen mit der Gabel herum. „Ich weiß nicht. Es ist viel. Echt viel.“
„Aber du freust dich.“
Es ist keine Frage. Ich nicke langsam. „Ja.“
Bobby mustert mich. Zu genau. Dann lehnt er sich wieder nach vorne, legt die Arme auf den Tisch. „Aber da ist noch was. Stimmt’s?“
Ich zucke leicht zusammen. „Was meinst du?“
„Justin.“ Seine Stimme ist sanft. Nicht bohrend, aber direkt. „Ich kenn dich. Und du hast diesen Gesichtsausdruck, den du immer hast, wenn du zu viel denkst und nicht weißt, wie du’s sagen sollst.“
Ich schiebe die Gabel beiseite. Schaue kurz auf meine Hände. Dann… „Ich weiß nicht, was ich will, Bobby.“
Er schweigt. Lässt mich.
Ich atme tief durch. „Ich meine…, das Klettern, das Shooting, all das… Es ist geil. Wirklich. Aber dann gibt’s noch…“ Ich halte kurz inne. „Leo.“
Seine Augenbrauen zucken kaum merklich. Er wusste es.
Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare. „Ich hab keine Ahnung, was das ist. Er ist… cool. Ich fühl mich wohl mit ihm. Aber dann ist er wieder so…, ich weiß nicht. Locker. Zu locker. Und ich bin dann einfach…“. Ich presse die Lippen zusammen. „Ein verdammter Idiot, der nichts sagt.“
Bobby sieht mich lange an. Dann lehnt er sich vor. „Hast du seine Nummer?“
Ich blinzele. „Was?“
Er schmunzelt. „Hast du seine Nummer?“
Ich senke den Blick. Nicke.
Bobby lehnt sich grinsend zurück. „Dann weißt du ja, was du tun musst.“
Ich starre ihn an. „Bobby…“.
Er hebt die Hände. „Hey. Ich sag ja nur.“
Aber verdammt. Er hat Recht.
Und ein Bruder, der mehr versteht, als ich will
Ich schiebe meinen leeren Teller ein Stück zur Seite, lehne mich zurück und atme tief durch. Das Essen hat gutgetan. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig ich war.
Aber Bobby ist noch nicht fertig mit mir: „So“, sagt er und lehnt sich mit den Armen auf den Tisch. „Jetzt will ich aber was sehen.“
Ich werfe ihm einen skeptischen Blick zu. „Was sehen?“
„Na, deine Bilder. Clips. Irgendwas. Ich mein, du hast mich letztes Mal nach dem ersten Shooting komplett hängen lassen. Ich dachte schon, das war alles Fake und ihr habt einfach nur Karten gespielt oder so.“
Ich grinse schief. „Wir spielen keine Karten. Aber ich durfte halt nix mitnehmen.“
„Und diesmal?“
Ich zögere kurz. Dann ziehe ich mein Handy aus der Tasche. „Diesmal hab ich Zugriff auf die Cloud.“
Bobby hebt eine Augenbraue. „Jetzt wirst du offiziell wichtig.“
Ich ignoriere die Bemerkung und logge mich in die Plattform ein. Mein Herz klopft ein bisschen schneller, als ich die Bilder öffne. Es fühlt sich seltsam an, das jetzt jemand anderem zu zeigen. Ich scrolle durch die ersten Standbilder, wähle ein paar aus und drehe dann das Handy zu Bobby.
Seine Augenbrauen wandern nach oben, und er nimmt das Handy aus meiner Hand, um genauer hinzusehen.
Lange Stille.
„Wow.“
Ich schiebe mich ein Stück näher, als könnte ich in seinem Gesicht lesen, was er denkt. Er wischt langsam durch die Bilder. Bleibt bei einem stehen, auf dem ich in der Boulderwand hänge – ein Moment, eingefroren zwischen Bewegung und Spannung, meine Hände von Magnesia überzogen, mein Körper angespannt, bereit für den nächsten Griff.
„Das bist du?“ fragt er leise.
Ich schlucke. Ich weiß nicht, was ich antworten soll.
„Ich meine…, klar, das bist du“, murmelt er weiter. „Aber das ist auch jemand anderes. Du siehst so…“. Er sucht nach Worten.
Ich sehe selbst auf das Bild. Ich sehe mich. Aber ich sehe mich auch anders. Stärker. Selbstbewusster. Fast so, als würde ich wirklich dazugehören.
„Krass“, sagt Bobby schließlich. „Jetzt verstehe ich, warum Thomas mehr will.“
Ich zucke mit den Schultern. „Es sind nur Bilder.“
Er lacht leise. „Ja. Klar. ‘Nur Bilder‘’. Und ich bin ‘nur‘ dein großer Bruder.“
Ich verziehe das Gesicht. „Das ergibt keinen Sinn.“
„Genau.“ Er schüttelt den Kopf, immer noch leicht fassungslos. „Das ist nicht nur ein Shooting, Justin. Das bist du. Und das ist größer, als du glaubst.“
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Stattdessen öffne ich den ersten Clip. Ich tippe auf den Play-Button, und das Video startet.
Es ist kein klassischer Werbeclip. Keine Musik, kein künstliches Setting. Nur ich. In Bewegung. In der Wand. Die Kamera fängt Details ein. Meine Hände, wie sie nach dem nächsten Griff suchen, meine Augen, die sich kurz konzentrieren, meine Atmung.
Und dann meine Stimme, fast beiläufig. „Ich klettere, seit ich acht bin. Das war immer mein Ding. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem ich nicht irgendwo hoch wollte.“
Das Bild wechselt, zeigt mich von unten, wie ich mich in einer dynamischen Bewegung nach oben ziehe. „Draußen zu klettern, das ist noch mal was anderes. Da ist kein Seil, das perfekt gespannt ist. Keine Halle mit perfekt platzierten Griffen. Da bist nur du, dein Körper – und dein Kopf. Das ist das Geile daran.“
Die Kamera zoomt auf meine Hände, wie ich die Boulderwand abtaste, nach dem perfekten Halt suche. „Es geht nicht nur um Kraft. Es geht um Vertrauen. In dich selbst, in deinen Partner. Du musst loslassen können, musst Neues ausprobieren. Und wenn du fällst…, dann fällst du. Aber du stehst wieder auf.“
Das Video endet mit einem Standbild – mein Gesicht, leicht verschwitzt, konzentriert, aber entspannt.
Stille.
Ich drehe mich zu Bobby. Sein Blick ist auf das Handy geheftet, als würde er es immer noch verarbeiten.
Dann dreht er sich langsam zu mir. Und dann, ohne Vorwarnung zieht er mich einfach in eine Umarmung.
„Bobby, was …?“
„Halt’s Maul“, murmelt er gegen meine Schulter. „Lass mich kurz.“
Ich blinzele überrascht, lasse es aber zu. Seine Arme sind fest, warm. So, wie sie immer waren, wenn er mich früher vor irgendwas schützen wollte.
Dann löst er sich wieder, klopft mir kurz auf den Rücken und setzt sich zurück. „Mann, Justin. Das ist krass. Ich meine, ich wusste ja, dass du gut bist, aber das hier? Das ist mehr als gut.“
Ich spüre, wie mir die Ohren heiß werden. „Ja, schon okay.“
Er grinst. „Nein. Nicht nur okay. Das ist verdammt beeindruckend. Ich bin stolz auf dich.“
Ich sehe weg. „Du bist echt kitschig.“
„Vielleicht.“ Er lehnt sich wieder zurück. „Aber das ändert nichts dran.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es fühlt sich gut an, das zu hören.
Schlafzimmer – Und diese eine Nummer
Ich liege im Bett. Es ist dunkel. Nur das Licht meines Handys leuchtet das Zimmer aus. Mein Daumen fährt über die Kontakte. Ich habe sie längst gespeichert.
Leo.
Ich starre auf den Namen. Mein Finger zuckt leicht, als könnte ich einfach… tippen. Schreiben.
„Hey, danke für die Nummer.“ Nein. Zu langweilig.
„Jetzt bist du also offiziell mein technischer Support?“ Vielleicht zu albern.
„Ich hab die Bilder Bobby gezeigt. Krass, oder?“ Zu direkt.
Ich seufze und lasse das Handy auf meine Brust sinken. Mein Herz klopft unangenehm schnell. Es ist nur eine Nachricht. Aber warum fühlt es sich an wie ein verdammter Seilakt ohne Sicherung?
Mein Kopf sagt mir, dass es nichts bedeutet. Dass Leo wahrscheinlich nicht mal eine Sekunde über diese Nummer nachgedacht hat. Dass ich einfach schreiben kann, ohne mir den Kopf zu zerbrechen.
Aber mein Bauch – oder mein Herz – macht nicht mit. Ich drehe mich auf die Seite. Das Handy liegt neben mir.
Morgen.
Vielleicht schreibe ich ihm morgen.
Vielleicht.
Ich wache auf und das Erste, was ich sehe, ist mein Handy. Es liegt direkt neben mir auf der Matratze, genau dort, wo ich es gestern Abend hingelegt habe. Unberührt. Unverändert. Ich starre auf den dunklen Bildschirm. Mein Daumen bewegt sich von selbst und tippt die Seitentaste an. Das Display leuchtet auf, blendet mich für einen Moment. Oben rechts das kleine Symbol für keinen neuen Nachrichteneingang.
Mein Herz macht einen winzigen, enttäuschten Satz. Keine Nachricht. Natürlich nicht. Wie auch? Leo hat meine Nummer ja gar nicht.
Ich beiße mir auf die Lippe. Soll ich ihm schreiben?
Ein einfaches „Guten Morgen“? Oder lieber etwas mit Bezug auf gestern? Oder wäre das zu offensichtlich? Mein Kopf dreht sich, während ich weiter auf das leuchtende Display starre. Mein Finger schwebt über dem Chat, aber ich tippe nichts ein.
Worauf warte ich eigentlich? Ich seufze, lasse das Handy wieder sinken und drehe mich auf den Rücken. Mein Mut ist einfach nicht da. Ich schließe die Augen. Vielleicht ist es besser so. Vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken. Vielleicht wäre es einfach nur… unangenehm.
Vielleicht war das mit der Nummer gar nicht so gemeint, wie ich es mir einrede. Nach ein paar Minuten des sinnlosen Grübelns zwinge ich mich, aus dem Bett zu steigen. Und direkt merke ich meine Muskeln.
Autsch. Mein Körper fühlt sich schwer an, fast als hätte ich gestern einen Marathon gelaufen, nicht nur ein Training und ein Shooting gehabt. Meine Schultern sind verspannt, meine Beine fühlen sich an, als wären sie aus Stein.
Danke, Kai.
Ich strecke mich langsam, knete mit den Fingern über meine Unterarme und Oberschenkel. Jede Bewegung erinnert mich an gestern. Aber irgendwie ist das ein gutes Gefühl. Ein Beweis, dass ich wirklich was gemacht habe. Dass ich gewachsen bin – körperlich, vielleicht sogar mental. Aber jetzt ist Samstag. Und das bedeutet: Haushaltstag.
Bobby und ich haben uns schon vor langer Zeit darauf geeinigt, dass wir uns alles teilen. Den Haushalt, das Einkaufen, das Kochen. Ich weiß, dass viele Jungs in meinem Alter sich davor drücken, aber für uns ist es normal. Unsere Eltern sind nicht mehr da – wir müssen das gemeinsam regeln.
Also hilft kein Jammern. Ich schleppe mich ins Bad, dusche kurz, ziehe mir eine bequeme Jogginghose und ein altes Shirt über. Draußen höre ich Bobby schon in der Küche rumklappern. Er ist eindeutig fitter als ich.
„Na, Prinzessin, endlich wach?“ ruft er grinsend, als ich in die Küche schlurfe.
Ich verdrehe die Augen. „Halt die Klappe.“
Er lacht nur, während er eine Kaffeetasse vor sich abstellt. „Und? Was steht heute an? Ich hoffe, du bist bereit, das Badezimmer zu schrubben.“
Ich seufze dramatisch. „Kann ich nicht einfach weiter in meinem Muskelkater sterben?“
„Nope.“ Bobby lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Theke und mustert mich. „Du siehst aus, als wärst du von einem LKW überfahren worden.“
„Fühlt sich auch so an.“ Ich öffne den Kühlschrank, hole mir eine Wasserflasche raus und trinke einen großen Schluck.
„Tja, das ist das Leben eines zukünftigen Sportmodels.“
Ich schnaube. „Ich bin kein Model.“
„Noch nicht.“
Ich ignoriere ihn und setze mich an den Tisch.
Einkaufen und Bruder-typisches Necken
Nach dem Frühstück – das ich halb in mich reinzwinge, weil mein Appetit noch nicht ganz da ist – machen wir uns fertig für den Wocheneinkauf.
Ich hasse Einkaufen. Nicht, weil ich etwas gegen Supermärkte habe, sondern weil Bobby und ich dabei immer in Diskussionen verfallen. Wir haben eine Einkaufsliste, aber am Ende landen immer Dinge im Wagen, die da nicht draufstehen. Und meistens ist es Bobby, der heimlich extra Snacks reinschmuggelt.
Heute ist keine Ausnahme. Ich drehe mich für eine Sekunde um, um nach Gemüse zu schauen – als ich zurückkomme, liegt eine riesige Tüte Chips im Einkaufswagen.
„Bobby…“
„Was?“ Er grinst unschuldig.
„Das stand nicht auf der Liste.“
„Ach komm schon, es ist Wochenende. Gönn dir mal was.“
Ich schnaube, aber lasse es drin. Es bringt eh nichts, sich mit ihm anzulegen. Während wir weiter durch die Gänge schlendern, merke ich, wie Bobby mich immer wieder von der Seite mustert. Erst sage ich nichts, aber irgendwann seufze ich genervt.
„Was?“
„Hast du’s schon getan?“ fragt er und hebt dabei eine Augenbraue.
Ich brauche eine Sekunde, um zu verstehen, was er meint. Dann wird mir heiß. „Bobby…“
„Was?“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich frag ja nur.“
Ich konzentriere mich übertrieben auf die Milchpackungen vor mir. „Nein, hab ich nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil…“ Ich suche nach einer Ausrede. Nach einer Erklärung, die nicht komplett idiotisch klingt. „…weil ich nicht weiß, was ich schreiben soll.“
Bobby seufzt gespielt dramatisch. „Mein kleiner Bruder. So tough an der Kletterwand, aber bei einer simplen Nachricht wird er zum kompletten Angsthasen.“
„Ich bin kein Angsthase.“
„Doch, bist du.“
Ich verdrehe die Augen. „Halt die Klappe.“
Bobby grinst. „Hast du wenigstens den Kontakt gespeichert?“
Ich bleibe kurz still.
Er hebt triumphierend die Augenbrauen. „Also ja.“
„Vielleicht.“
Er lacht laut. „Ich wusste es!“
Ich schiebe den Einkaufswagen weiter, ignoriere ihn einfach. Mein Gesicht fühlt sich warm an. Warum muss mein großer Bruder immer alles durchschauen?
„Weißt du was, Justin?“ sagt er, während er sich neben mich stellt. „Du kannst ewig überlegen, was du schreiben sollst. Oder du schreibst einfach irgendwas und hörst auf, so viel nachzudenken.“
Ich schnaube. „Leicht gesagt.“
„Ja, weil es leicht ist.“
Er patscht mir auf die Schulter. „Komm schon, so wie du von Leo redest, glaube ich nicht, dass er sich über eine Nachricht von dir beschweren würde.“
Mein Herz macht einen kleinen Sprung bei den Worten. Aber ich sage nichts. Ich schiebe den Einkaufswagen weiter, tue so, als wäre mir das Gespräch egal.
Aber tief in mir weiß ich: Ich werde Leo schreiben. Nur nicht jetzt. Vielleicht später.
Nachrichtenchaos im Kopf und Haushaltskatastrophen
Ich starre auf mein Handy. Schon wieder. Mein Daumen schwebt über der Tastatur, aber ich tippe nichts ein.
„Hey Leo, wie geht’s?“ Immer noch zu langweilig.
„War echt cool gestern, danke fürs Helfen!“ Klingt wie eine Pflichtnachricht.
„Hast du gut geschlafen?“ Oh Gott… nein, zu persönlich.
Ich seufze und drücke das Display genervt aus. Warum ist das so schwer? Es ist nur eine verdammte Nachricht. Ein paar Worte. Aber mein Kopf macht daraus eine Wissenschaft. Ich stehe auf, schiebe mein Handy beiseite und konzentriere mich auf den Haushalt. Oder versuche es zumindest.
Bobby und ich haben die Aufgaben aufgeteilt – ich bin heute für die Küche und das Bad zuständig, während er sich um Wäsche und das Wohnzimmer kümmert. Normalerweise läuft das easy ab.
Aber heute? Heute bin ich so mit meinem Kopf woanders, dass ich ein absolutes Chaos anrichte. Zuerst lasse ich ein Glas aus der Hand gleiten, das mit einem lauten Klirr auf den Boden knallt. Ich fluche, während Bobby im Nebenraum laut ruft: „Alles gut da drin?“
„Ja, ja!“, murmele ich, während ich die Scherben einsammle. Dann vergesse ich, den Wasserhahn beim Putzen zuzudrehen – und als ich mich umdrehe, schießt mir das Wasser bis an den Ärmel. „Verdammt!“ Ich drehe hektisch ab, aber meine Socken sind patschnass.
Bobby taucht in der Tür auf, lehnt sich mit verschränkten Armen gegen den Rahmen und mustert mich. Sein Blick spricht Bände.
„Justin.“
Ich räume schnell weiter, als hätte ich nichts gehört. „Was?“
„Okay. Stopp.“
„Ich hab keine Zeit für Stopp.“
„Doch, hast du.“
Er tritt ins Zimmer, schnappt sich einen Stuhl und setzt sich drauf. „Jetzt erzähl mal. Was ist los?“
Ich verdrehe die Augen. „Nichts.“
„Ach komm, du hast gerade in zehn Minuten mehr Chaos angerichtet als in den letzten sechs Monaten.“ Er hebt eine Augenbraue. „Lass mich raten… du denkst immer noch über Leo nach?“
Ich werde rot. Mist.
Bobby grinst triumphierend. „Dachte ich mir.“
Ich seufze. „Es ist einfach…“ Ich lasse den Lappen in die Spüle plumpsen und drehe mich zu ihm. „Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Egal, was ich mir überlege, es klingt alles dämlich.“
Er lehnt sich zurück, betrachtet mich mit diesem typischen großer-Bruder-Weiß-alles-Blick.
„Lass mich raten. Du hast ungefähr zwanzig Nachrichten im Kopf, aber keine einzige abgeschickt?“
Ich verziehe das Gesicht. „…möglich.“
Bobby lacht. „Mann, Justin. Du machst es dir echt schwer.“
Ich zucke mit den Schultern. „Es ist halt… wichtig. Und ich will nichts Falsches schreiben.“
„Was soll denn falsch sein? Denkst du, er blockiert dich, wenn du ‘Hey’ schreibst?“
Ich verdrehe die Augen. „Natürlich nicht.“
„Dann schreib ihm einfach.“
„Aber…“
„Kein Aber.“ Bobby lehnt sich nach vorne. „Ich weiß, was du tust. Du wartest auf den perfekten Moment. Die perfekten Worte. Den perfekten Einstieg.“
Ich schaue weg. Er hat Recht.
„Newsflash, Kleiner: Den gibt’s nicht.“
Ich atme tief ein. „Aber… was, wenn er sich denkt, dass ich komisch bin? Oder nervig? Oder…?“
„Justin.“ Bobby unterbricht mich ruhig. „Glaubst du wirklich, dass Leo dir einfach so seine Nummer gegeben hätte, wenn er keinen Bock auf dich hätte?“
Ich schlucke. Er hat schon wieder Recht.
Bobby grinst. „Also. Jetzt. Sofort. Greif dein Handy und schreib ihm was. Sonst tust du’s nie.“
Ich bleibe stehen. Die Luft fühlt sich plötzlich schwer an. „Jetzt?“
„Ja. Jetzt.“
Ich schüttle den Kopf. „Ich… kann nicht.“
„Justin.“ Bobby sieht mich ernst an. „Hör zu. Ich weiß, dass das neu für dich ist. Dass du Angst hast, was passiert. Aber manchmal muss man springen, bevor man weiß, wo man landet.“
Ich blicke auf den Boden. Meine Hände sind feucht.
Bobby steht auf, geht zur Spüle, zieht mir das Geschirrtuch aus der Hand und legt es weg. „Mach’s einfach. Schreib ihm. Jetzt.“
Ich hole mein Handy aus der Hosentasche. Mein Herz hämmert. Mein Puls rast.
Bobby grinst. „Ich guck auch nicht hin.“
Ich drehe mich von ihm weg. Mein Daumen zittert leicht, als ich Leos Namen öffne. Mein Kopf schreit, dass ich’s nicht tun soll. Aber Bobby, es stimmt. Ich nehme einen tiefen Atemzug.
Und dann tippe ich: „Hey Leo :)“
Einfach. Ohne großes Drumherum. Ich starre auf den Bildschirm.
„Abschicken.“ Bobby lehnt sich über meine Schulter.
„Geh weg!“ Ich lache nervös und stoße ihn weg.
„Drück. Jetzt.“
Ich presse die Lippen zusammen. Und dann tue ich es.
Nachricht gesendet. Ich starre darauf, als könnte mein Blick das Handy in Flammen setzen.
Es ist raus.
Mein Herz rast. Ich schwanke zwischen Erleichterung, Panik und völligem Wahnsinn.
Bobby klopft mir grinsend auf die Schulter. „Na also. War doch gar nicht so schlimm, oder?“
Ich atme aus. „Ich hasse dich.“
Er lacht. „Bitte. Ich hab dich gerade zu einer verdammt großen Heldentat motiviert.“
Ich schüttle den Kopf, grinse trotzdem. Und jetzt?
Jetzt bleibt nur eins: Warten. Warten. Und Warten. Und noch mehr Warten.
Mein Handy liegt direkt neben mir auf der Arbeitsplatte in der Küche. Das Display ist schwarz. Keine Nachricht. Keine blauen Haken. Nichts. Ich versuche, mich auf die Hausarbeit zu konzentrieren, aber es ist völlig sinnlos. Mein Kopf ist ein einziges Chaos aus Was-wenns und Warum-antwortet-er-nichts?
Zuerst denke ich: Okay, Justin. Ganz ruhig. Der Typ hat auch ein Leben. Vielleicht ist er beschäftigt. Vielleicht hat er das Handy gerade nicht in der Hand. Aber dann fängt mein Hirn an, sich in die absolute Katastrophe hineinzusteigern.
Vielleicht hat er meine Nachricht gelesen und weiß nicht, was er sagen soll? Vielleicht findet er es total seltsam, dass ich ihm geschrieben habe? Vielleicht denkt er, ich bin ein kleiner nervöser Kletter-Junge, der ihn anhimmelt?
Ich schüttle den Kopf, versuche mich auf den Abwasch zu konzentrieren. Funktioniert nicht. Meine Augen huschen immer wieder zum Handy. Ich bin kurz davor, die verdammte Nachricht zu löschen und so zu tun, als hätte ich sie nie abgeschickt.
Aber bevor ich es tun kann, kommt Bobby um die Ecke. Er sieht mich. Sieht mein versteinertes Gesicht.
Und dann grinst er. „Und? Schon geheiratet?“
Ich blinzele. „Was?“
Er nickt Richtung meines Handys. „Na, so wie du darauf starrst, dachte ich, du wartest auf den Antrag.“
„Bobby…“ Ich seufze und werfe ihm einen tödlichen Blick zu.
Er lacht, stellt sich neben mich, sieht demonstrativ auf das reglose Handy und schüttelt dann den Kopf. „Ernsthaft, Justin. Er wird schon antworten. Entspann dich mal.“
„Ich BIN entspannt.“
„Klar. Deswegen bist du seit zehn Minuten nicht in der Lage, ein verdammtes Glas richtig abzuspülen.“
Ich sehe nach unten. Okay. Das Glas in meiner Hand ist mit Seife überzogen und ich stehe immer noch da, als wäre ich in Trance.
Ich knalle es auf die Spüle. „Verdammt.“
Bobby klopft mir grinsend auf den Rücken. „Ich liebe es, wenn du so leidest.“
Ich schiebe ihn weg. „Geh mir nicht auf die Nerven.“
„Schwer. Dein Nervenzusammenbruch ist einfach zu unterhaltsam.“
Ich verdrehe die Augen, ignoriere ihn und drehe mich wieder zum Waschbecken. Konzentriere mich. Versuche, mich irgendwie abzulenken. Aber innerlich bin ich eine tickende Bombe. Was, wenn er einfach nicht antwortet?
Würde ich mich dann noch mal trauen, ihm zu schreiben? Oder wäre dies ein einmaliger Versuch gewesen, der kläglich gescheitert ist?
Gerade als ich endgültig aufgeben will, vibriert mein Handy.
Ich friere ein. Mein Herz setzt aus. Dann schnappe ich mir das Handy so schnell, dass es mir fast aus der Hand rutscht.
Leo.
Ich beiße mir auf die Lippe, starre auf den Bildschirm. Mein Puls rast. Dann lese ich.
Leo: Hey Justin! :) Sorry, war grad unterwegs. Alles klar bei dir?
Ich lasse die Luft aus meinen Lungen entweichen. Er hat geantwortet. Er hat nicht nur geantwortet, sondern mit einem verdammten Smiley!
„Er hat geschrieben“, murmele ich leise.
Bobby klatscht theatralisch in die Hände. „Halleluja! Die Götter haben dich erhört!“
Ich ignoriere ihn, spüre, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitet.
Und dann tippe ich zurück.
Ich: Hey! Kein Stress. Ich hoffe, du hast was Cooles gemacht?
Leo: War nur beim Einkaufen. Nichts Spannendes :D Und du?
Ich weiß nicht, warum mein Herz plötzlich so leicht ist. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lächeln.
Ich: Naja… Haushalt. Aber eher mit vielen Katastrophen als mit Erfolg xD
Leo: Klassiker. Lass mich raten: Sachen runtergefallen, was vergessen, Bruder genervt?
Ich lache laut. Trifft alles zu.
Ich: Du kennst mich jetzt schon zu gut. Bobby hat mich mindestens 5-mal aufgezogen.
Leo: Er macht’s richtig :P
Ich schüttele grinsend den Kopf. Das hier fühlt sich so leicht an. So normal. Kein Druck. Keine Unsicherheit. Kein Kopfzerbrechen darüber, was ich schreiben soll. Einfach reden.
Bobby lehnt sich über meine Schulter, will lesen. Ich halte das Handy weg. „Geht dich nichts an.“
„Pff. Als ob ich nicht schon alles weiß.“
Ich schüttele den Kopf, rolle mich aufs Sofa und schreibe einfach weiter.
Ich: Wie war dein Morgen?
Leo: Ganz okay. Ich hab mich ehrlich gesagt ziemlich kaputt gefühlt nach gestern. Kai hat dich ja ganz schön gefordert, oder?
Er hat an gestern gedacht. Ich beiße mir auf die Lippe.
Ich: Oh ja. Ich merke meine Muskeln immer noch. Ich glaube, ich bin heute 20 Jahre älter als sonst.
Leo: Haha, das Bild muss ich sehen. Rentner-Justin.
Ich: Sehr witzig. Ich erwarte mehr Respekt nach all der harten Arbeit :P
Leo: Okay, okay. Ich verneige mich vor deiner Stärke.
Ich kichere leise. Mein Handy bleibt keine fünf Sekunden ruhig, bevor es wieder vibriert. Ich merke gar nicht, wie die Zeit vergeht. Das Mittagessen? Vergessen. Haushalt? Total egal.
Mein Bruder? Ich höre ihn irgendwann lachen und irgendwas von „verloren in der Leo-Welt“ murmeln, aber ich ignoriere ihn. Ich bin einfach… glücklich.
Leo: Was machst du heute noch?
Ich zögere kurz. Ich könnte jetzt fragen, ob er Zeit hat. Aber das wäre zu viel. Noch nicht.
Ich: Nicht viel. Vielleicht ein bisschen chillen, bisschen ausruhen. Und du?
Leo: Gleicher Plan. Aber wenn du dich langweilst, schreib einfach. Ich bin eh am Handy :)
Ich: Deal.
Ich starre auf den Bildschirm. Mein Herz pocht leicht. Mein Gesicht glüht. Ich vergrabe mich in ein Kissen, starre an die Decke. Er hat gesagt, ich kann ihm schreiben. Egal wann. Ich drehe mein Handy in der Hand. Lächele.
Und denke nur: Vielleicht ist das hier gerade der beste Tag überhaupt. Ich kann nicht anders und ich strahle wie ein verdammter Weihnachtsbaum.
Ich springe vom Sofa auf, mein Handy fest in der Hand, und bevor Bobby überhaupt reagieren kann, werfe ich mich auf ihn und umarme ihn so fest, dass er kurz prustet.
„Okaaay…, was geht jetzt ab?“ fragt er, lacht aber, während er mich mit einem Arm halbherzig zurückdrückt.
Ich kichere, drücke mein Gesicht gegen seine Schulter. „Bobby, ich bin SO glücklich. Ich könnte explodieren.“
„Bitte nicht in meinem Wohnzimmer.“
Ich lache nur, lasse ihn endlich los, hüpfe auf und ab wie ein hyperaktives Kind.
„Justin, Alter… was ist los mit dir? Hast du eine Überdosis Zucker erwischt oder was?“
Ich grinse nur. „LEO HAT MIR GESCHRIEBEN! Den ganzen Nachmittag! Wir haben einfach geredet, ganz locker, ganz easy, als würden wir das schon immer machen! Und…“
Ich drehe mich einmal um mich selbst, lasse mich dann auf das Sofa fallen und seufze dramatisch. „Bobby… ich glaub, ich schwebe.“
Bobby schüttelt amüsiert den Kopf. „Oh Gott. Mein kleiner Bruder ist verliebt.“
Ich schnappe nach Luft. „Das hab ich NIE gesagt!“
„Muss ich auch nicht hören, man sieht’s.“
Ich werfe ihm ein Kissen an den Kopf, aber das macht alles nur noch schlimmer, weil er jetzt nur noch mehr lacht.
Er lehnt sich zurück, grinst mich an. „Okay, dann erzähl mal, wie schlimm ist es?“
Ich werfe meinen Kopf gegen die Sofalehne und starre verträumt an die Decke. „Ich weiß nicht…, es ist einfach so leicht mit ihm. Als ob wir uns schon ewig kennen. Und er ist witzig. Und nett. Und er nimmt mich nicht auf den Arm, sondern einfach so, wie ich bin.“
Bobby nickt langsam. „Und das fühlt sich gut an, hm?“
Ich drehe den Kopf zu ihm und nicke mit einem kleinen Lächeln. „Ja. Es fühlt sich verdammt gut an.“
„Ich bin echt happy für dich, Kleiner.“
Ich schmunzle, dann fällt mein Blick auf den Küchentisch.
Ähm.
Plötzlich realisiere ich, dass Bobby den ganzen Haushalt allein gemacht hat.
„Oh… äh… du hast… alles gemacht?“ frage ich langsam.
Bobby verschränkt die Arme und hebt eine Augenbraue. „Oh, ERST JETZT merkst du das?“
Ich ziehe eine Grimasse. „Ups?“
Er schnaubt. „Du warst so in deiner kleinen Leo-Welt gefangen, dass ich keine andere Wahl hatte.“
Ich lache peinlich berührt. „Ich… äh… danke?“
„Vergiss es.“ Er zwinkert mir zu. „War’s wert, dich so glücklich zu sehen.“
Mein Lächeln wird noch ein bisschen breiter.
Abends – Noch ein Chat, noch ein Highlight
Später am Abend liege ich auf meinem Bett, starre an die Decke, mein Handy in der Hand. Ich überlege, ob ich ihm noch mal schreiben soll. Aber bevor ich meinen Gedanken zu Ende denken kann, vibriert mein Handy.
Leo.
Ich grinse.
Leo: Hey, bevor ich’s vergesse – hast du morgen was vor?
Ich sitze aufrecht. Morgen?
Ich tippe schnell zurück.
Ich: Nicht wirklich. Warum?
Leo: Bock, bisschen skaten zu gehen? Ich dachte, wir könnten uns im Park treffen.
Mein Herz macht einen verdammten Salto. Er will sich mit mir treffen?! Ich will aufspringen und durchs Zimmer tanzen, aber stattdessen tippe ich wie ein Idiot nur ein viel zu kurzes:
Ich: Klar, klingt mega!
Leo: Nice! Sagen wir 14 Uhr? Ich bringe mein Board mit.
Ich: Perfekt, ich freu mich!
Er schickt noch einen Smiley und dann verstummt der Chat. Ich werfe mein Handy neben mich und starre die Decke an. Ich treffe mich mit Leo. Morgen. Einfach so. Ich grinse. Drehe mich auf die Seite. Starre auf mein Handy.
Und dann fällt mir auf: Ich habe Bobby nicht gefragt, ob wir irgendwas vorhaben. Ich setze mich auf. Shit.
Ich stehe auf, gehe zu seinem Zimmer und lehne mich in den Türrahmen. „Bobby?“
Er sieht von seinem Buch auf: „Mhm?“
Ich kratze mich am Nacken. „Sag mal… haben wir morgen eigentlich irgendwas vor?“
Er mustert mich, kneift die Augen leicht zusammen, und dann grinst er. „Oh nein. Ich rieche es.“
Ich blinzele. „Was?“
„Du willst mit Leo abhängen, stimmt’s?“
Ich presse die Lippen zusammen. „Ähm…, vielleicht?“
Er lacht leise. „Mann, Justin, du bist so durchschaubar.“
Ich stöhne genervt. „Also ja oder nein?“
Er hebt die Hände. „Chill. Wir haben nichts Großes vor. Wir wollten nur laufen gehen, aber das kann ich auch allein machen.“
Ich atme erleichtert aus. „Echt jetzt? Bist du sicher?“
„Ja, ja, geh und hab Spaß mit deinem Boyfriend.“
„BOBBY!“ Ich werfe mich theatralisch gegen den Türrahmen. „Hör auf, das zu sagen!“
Er lacht nur. „Okay, okay. Aber mal ehrlich. Das ist großartig, Justin. Ich bin echt happy für dich.“
Ich werde ruhiger, schaue ihn einen Moment lang an. Und dann schlüpfe ich in sein Zimmer und umarme ihn nochmal. Einfach, weil ich gerade nicht anders kann.
„Danke, Bobby“, murmele ich.
„Schon gut, Kleiner.“
Ich löse mich von ihm, gehe zurück in mein Zimmer und falle ins Bett. Ich starre auf mein Handy. Ich habe ein Date.
Oder… ist das ein Date? Ich weiß es nicht. Aber das ist auch egal. Ich grinse. Drehe mich auf die Seite. Ziehe die Decke über mich.
„Gute Nacht, Bobby!“ rufe ich noch.
„Gute Nacht, kleiner Romeo!“
Ich schnaube, lache leise und schließe die Augen. Morgen wird ein verdammt cooler Tag.
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