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Höhen und Herzen

Zwischen Kletterwand, Kamera und der Suche nach sich selbst

Teil 3 - Schritte ins Ungewisse

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ein Gefühl, das nicht mehr zu ignorieren ist

Gedanken im Rhythmus

Ich liebe Sonntage. Nicht, weil ich dann nichts tun muss – im Gegenteil. Sonntags gehe ich joggen. Ausschlafen, kurz frühstücken, meine Laufschuhe schnüren und dann raus. Kopf aus, Beine an. Meistens kommt Bobby mit, aber heute nicht. Heute will ich allein sein.

Zu viele Gedanken. Zu viele Eindrücke. Zu viel… alles.

Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss, und sofort umfängt mich die kühle Morgenluft. Es riecht nach feuchtem Gras, nach Erde, nach diesem ganz bestimmten Frühlingsduft, der sich langsam durch die Straßen zieht. Ich ziehe meine Jacke enger um mich, atme tief ein und dehne mich kurz. Meine Beine fühlen sich gut an. Bereit.

Dann setze ich mich in Bewegung.

Erst langsam. Mein Atem passt sich an, meine Schritte finden einen Rhythmus. Die Stadt schläft noch halb – nur ein paar Leute sind unterwegs, ein Mann mit Hund, eine ältere Frau mit Stock, zwei Jogger auf der anderen Straßenseite. Ich nicke ihnen kurz zu, dann richte ich meinen Blick nach vorne. Die Gedanken lassen sich nicht abschütteln.

Das Shooting.

Ich sehe die Bilder vor mir. Sehe mich selbst auf dem Bildschirm, sehe mein eigenes Gesicht, meine Haltung, meine Augen, die mir selbst so fremd vorkamen. Es war nicht dieser zufällige Spiegelblick morgens im Badezimmer, nicht das flüchtige Selfie, das man macht und dann direkt wieder löscht. Nein. Das war etwas anderes. Das war ich. So, wie andere mich sehen.

Meine Schritte werden schneller, die vertrauten Straßen ziehen an mir vorbei, während ich mich tiefer in meine Gedanken fallen lasse.

Das Gefühl, dort zu stehen, vor der Kamera, war erst ungewohnt, fast unangenehm. Aber irgendwann… irgendwann war es nicht mehr komisch. Es fühlte sich natürlich an. Nicht gestellt. Nicht falsch. Einfach… ich.

Mein Atem geht gleichmäßig, meine Arme schwingen locker mit, während ich die ersten Kilometer hinter mich bringe. Die Stadt weicht langsam dem Park, den ich immer durchquere, wenn ich meine Runde laufe. Hier ist es ruhiger, fast nur Natur um mich herum. Vögel zwitschern irgendwo im Geäst, das Geräusch meiner Schritte mischt sich mit dem leichten Rauschen des Windes. Ich lasse meinen Kopf sinken und atme tief aus.

Leo.

Warum bleibt er mir so im Kopf hängen? Ich versuche, es logisch zu betrachten. Er war nett zu mir. Hat mich durch den Tag begleitet, mir die Umkleide gezeigt, war locker drauf. Er ist mit jedem so, denke ich. Das ist einfach seine Art. Er kennt dort alle, er hilft, er gehört einfach dazu.

Aber dann erinnere ich mich an die kleinen Momente. Sein Blick, als wir zusammen die Bilder angeschaut haben. Dieses kurze, fast nachdenkliche Murmeln über meinen Ausdruck. Die Art, wie er mir immer wieder unauffällig geholfen hat – mir Magnesia gegeben, mir einen Wasserbecher rübergereicht, mir mit einer beiläufigen Berührung den Weg gezeigt. Zufall?

Vielleicht.

Meine Füße schlagen gleichmäßig auf den Boden, meine Muskeln fühlen sich warm an, fließend, als würden sie sich mit jedem Schritt mehr lösen. Ich liebe dieses Gefühl. Das Gefühl, dass mein Körper einfach macht, dass er funktioniert, dass ich ihn nicht kontrollieren muss.

Ich denke wieder an den Abschied nach dem Shooting. Das Zögern. Die Pause zwischen den Worten. Die Art, wie er für diesen kurzen Moment da stand, als würde er überlegen, ob er noch etwas sagen soll. Ich schüttle leicht den Kopf, merke, wie meine Finger sich zu Fäusten ballen, dann wieder öffnen. Warum denke ich da überhaupt so viel drüber nach? Ich meine, es ist nicht so, als hätte er…

Oder doch?

Meine Schritte verlangsamen sich leicht, mein Atem geht tiefer, während ich einen kleinen Hügel hinauflaufe. Ich spüre die Anstrengung, aber ich genieße sie. Der Druck in den Waden, das Ziehen in den Oberschenkeln. Ich liebe es, wenn ich meinen Körper so spüren kann. Wenn ich mich daran erinnere, dass ich stark bin, dass ich ausdauernd bin, dass ich mehr kann, als ich manchmal selbst glaube.

So wie beim Shooting. So wie vor der Kamera.

Ich weiß nicht, was das für eine Rolle in meinem Leben spielen wird, aber ich weiß eins: Ich will es nochmal machen. Ich will weitermachen. Ich will mich weiter so sehen – auf Bildern, in Bewegung, mit diesem Ausdruck, den Finn beschrieben hat.

Ich erreiche den höchsten Punkt des Hügels und halte kurz inne. Der Wind fährt mir durch die Haare, mein Puls hämmert angenehm in meiner Brust. Ich lasse meinen Blick über die Stadt schweifen, die sich vor mir ausbreitet. Die Sonne ist inzwischen höher gestiegen, taucht alles in warmes Licht.

Mein Leben verändert sich gerade. Langsam, aber spürbar. Ich atme tief ein, schließe kurz die Augen. Dann setze ich meinen Lauf fort.

Körper & Kopf – gefangen und frei

Ich laufe weiter. Schritt für Schritt. Atme tief, versuche, meinen Rhythmus zu finden. Normalerweise funktioniert das. Normalerweise reicht es, mich zu bewegen, um meinen Kopf leer zu bekommen. Aber heute?

Heute klappt es nicht.

Jedes Mal, wenn ich denke, dass ich endlich abschalte, dass mein Kopf sich von all dem löst, taucht wieder ein Bild auf. Leo, wie er mich ansieht. Leo, wie er mit einem kleinen Lächeln meine Haltung auf dem Foto kommentiert. Leo, der neben mir steht, dicht genug, dass ich seine Wärme spüren konnte. Und dann meine eigenen Bilder.

Ich sehe mich auf dem Bildschirm, sehe mich so, wie ich mich noch nie zuvor gesehen habe. Mein Körper, mein Gesicht, mein Blick. Ich habe mich nie wirklich als besonders wahrgenommen – klar, ich bin sportlich, ich trainiere viel, aber ich habe mich nie als jemanden betrachtet, der auffällt. Aber auf diesen Bildern…

Da war etwas anderes.

Ich sah stark aus. Definiert. Nicht muskulös auf diese übertriebene Weise, sondern athletisch. Kletterer-Körper. Drahtig, beweglich, voller Spannung. Mein Gesicht – mein Blick – es war nicht der, den ich jeden Tag im Spiegel sehe. Es war tiefer. Ausdrucksstärker.

Finn hat es gesagt.

Leo hat es gesagt.

Und jetzt kann ich es nicht mehr ignorieren. Ich ärgere mich. Ich will das alles einfach ablaufen, einfach in Bewegung bleiben, einfach meinen Kopf befreien. Doch es geht nicht. Die Gedanken kommen immer wieder, schleichen sich ein, setzen sich fest. Und gleichzeitig… Es sind keine schlechten Gedanken.

Ich laufe weiter. Die Anspannung in meinem Brustkorb wird weniger. Meine Beine arbeiten automatisch, meine Lunge füllt sich mit frischer Luft. Ich laufe so lange, bis mein Körper müde wird, bis die Muskeln schwerer werden, bis mein Atem tiefer geht. Und irgendwann…

Irgendwann merke ich, dass ich doch loslassen konnte. Nicht ganz, nicht vollständig, aber genug, um zu fühlen, dass ich mich befreit habe.

Als ich nach Hause komme, tropft mir der Schweiß von der Stirn. Mein Shirt klebt an meinem Rücken, meine Waden brennen leicht. Ich ziehe die Schuhe aus, stelle sie achtlos in die Ecke und laufe direkt ins Badezimmer. Duschen. Wasser. Das brauche ich jetzt.

Ich ziehe mein Shirt aus und lasse es achtlos auf den Boden fallen. Die Spiegelwand über dem Waschbecken fängt mein Spiegelbild ein, und ich bleibe kurz stehen, mustere mich, ohne es bewusst zu wollen. Ich sehe mich anders.

Vielleicht liegt es an den Bildern. Vielleicht daran, dass ich mich selbst nie wirklich so betrachtet habe. Mein Blick wandert über meinen Körper, über meine definierten Schultern, die schmal, aber stark wirken. Meine Arme, die durch das Klettern geformt wurden – nicht massig, aber mit sichtbaren Konturen, mit feinen Linien, die sich unter der Haut abzeichnen.

Meine Brust hebt und senkt sich langsam, gleichmäßig vom Laufen. Mein Bauch ist flach, mein unteres Schlüsselbein leicht sichtbar. Keine Bodybuilder-Muskeln, sondern reine Funktion. Kraft, die ich mir über Jahre aufgebaut habe. Mein Blick wandert tiefer, über meine Hüften, meine Bauchmuskeln, die im richtigen Licht gerade so angedeutet sind, ohne aufgesetzt zu wirken.

Mein Körper fühlt sich… schön an. Nicht perfekt. Nicht wie ein Model. Aber echt. Stark.

Ich hatte mich nie bewusst als attraktiv gesehen. Aber jetzt, in diesem Moment, in diesem Licht, nach diesem Tag, nach all den Gedanken… ich sehe mich selbst anders.

Mein Atem geht tiefer. Ich schüttle leicht den Kopf, zwinge mich, den Blick abzuwenden, drehe mich zur Dusche und lasse das Wasser laufen. Dampf steigt auf, der Raum füllt sich langsam mit Wärme. Ich ziehe den Rest meiner Klamotten aus, steige unter den Strahl. Das erste Gefühl, als das heiße Wasser meine Haut trifft, ist befreiend.

Ich lehne mich gegen die kalten Fliesen, spüre den Kontrast zwischen der Hitze des Wassers und der Kühle unter meinen Fingern. Es kribbelt über meine Schultern, läuft über meinen Rücken, tropft von meinem Kinn.

Meine Muskeln entspannen sich langsam. Meine Hände fahren über meine Arme, über meine Brust, mein Bauch, während das Wasser über mich strömt. Mein Körper fühlt sich… intensiver an. Als würde ich ihn zum ersten Mal wirklich spüren. Und wieder schleicht sich ein Gedanke ein.

Leo.

Ich schließe kurz die Augen, spüre, wie mein Herz ein wenig schneller schlägt. Die Art, wie er mich beobachtet hat. Dieses kurze, kaum merkliche Lächeln. Die kleinen Berührungen. Ich weiß nicht, was es bedeutet.

Vielleicht gar nichts. Aber vielleicht auch doch.

Ich atme tief aus, lasse das Wasser weiter über mich laufen. Mein Kopf ist immer noch ein Chaos aus Eindrücken, aus Fragen, aus Gefühlen, die ich nicht ganz greifen kann. Aber eines weiß ich sicher: Ich kann mich nicht mehr davor verstecken.

Mehr als nur ein Bruder

Die Sonne steht hoch am Himmel, wärmt die Straßen mit einem sanften Frühlingslicht. Es ist einer dieser perfekten Sonntage, an denen man einfach draußen sein muss. Nach dem Laufen habe ich geduscht, mich ein bisschen ausgeruht, und jetzt sitzen Bobby und ich gemeinsam am Esstisch. Unser traditionelles Sonntagsessen. Kein Fast Food, kein hektisches Gekoche – einfach wir zwei, ein ordentliches Essen und die Gewissheit, dass der Tag noch vor uns liegt.

Bobby hat gekocht, wie so oft. Heute gibt es sein legendäres Ofengemüse mit Hähnchen – knusprig, würzig, einfach perfekt. Ich kaue langsam, genieße jeden Bissen und merke, wie mein Körper sich nach dem Sport regeneriert.

„Also, Kleiner“, sagt Bobby grinsend und schnappt sich ein weiteres Stück Süßkartoffel. „Was machen wir heute? Lust auf einen kleinen Ausflug?“

Ich nicke sofort. „Klar. Wohin?“

Er zuckt die Schultern. „Dachte an den See. Ein bisschen raus aus der Stadt, frische Luft, vielleicht ins Wasser, wenn es nicht zu kalt ist.“

Das klingt perfekt. Die Vorstellung, einfach in der Natur zu sein, keine Ablenkungen, kein Handy – nur wir beide – fühlt sich genau richtig an.

Nach dem Essen packen wir schnell unsere Sachen zusammen. Ein paar Snacks, Wasser, ein Handtuch für den Fall, dass wir wirklich ins Wasser springen. Dann steigen wir ins Auto und fahren los. Die Straße zieht sich durch hügelige Landschaften, vorbei an weiten Feldern und kleinen Dörfern. Ich lehne meinen Kopf gegen das Fenster, beobachte, wie die Welt draußen vorbeizieht.

„Also“, sagt Bobby nach einer Weile, seine Stimme locker, aber mit einem leichten Unterton von Interesse. „Wie läuft’s mit dem Shooting-Kram?“

Ich zögere kurz, überlege, wie ich es beschreiben soll. Dann atme ich tief durch. „Es ist… krass. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so gefällt.“

Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. „Hab ich mir gedacht. Man sieht’s dir an.“

„Echt?“

„Ja. Du hast diese Energie, wenn du darüber redest. Und du hast nach dem letzten Mal kaum eine Pause gemacht, darüber nachzudenken.“ Er schmunzelt. „Also, ich schätze mal, du bist ziemlich drin.“

Ich kann nicht anders, als zu grinsen. „Ja… vielleicht.“

Dann schweigt er kurz, bevor er in einem ruhigeren Ton sagt: „Ich bin echt stolz auf dich, Justin.“

Seine Worte treffen mich unerwartet. Ich schlucke, drehe den Kopf leicht zu ihm, sehe ihn an.

„Warum? Ich hab doch noch gar nichts Großes erreicht.“

Er schüttelt den Kopf. „Es geht nicht darum, ob du schon Erfolge hast oder nicht. Es geht darum, dass du dich traust. Dass du dich darauf einlässt. Dass du dich selbst so siehst, wie du wirklich bist.“

Ich blicke wieder aus dem Fenster. Diese Worte sind schwer. Auf eine gute Art. Sie legen sich warm auf meine Brust, bleiben hängen. Bobby hat mich immer unterstützt. Immer. Und trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dass ich mich nie wirklich genug bei ihm bedankt habe. Ich atme tief durch.

„Hey, Bobby?“

„Hm?“

„Ich wollte dir mal was sagen.“ Ich drehe mich zu ihm. „Danke. Einfach… danke für alles.“

Er hebt kurz die Augenbrauen, als wäre er überrascht, dann lacht er leise. „Wofür genau?“

Ich überlege, wie ich es in Worte fassen soll. „Dafür, dass du immer für mich da bist. Dass du mich nicht nur großziehst oder irgendwie durchs Leben schiebst, sondern dass du mir zuhörst. Dass du mich verstehst. Dass du mir immer das Gefühl gibst, dass ich so sein kann, wie ich bin.“

Ein Moment Stille.

Ich sehe, wie er schluckt. Wie sich seine Finger fester um das Lenkrad schließen. Dann räuspert er sich. „Justin… das ist keine Pflicht oder so. Du bist mein Bruder. Mein kleiner Bruder. Es gibt nichts auf der Welt, das mir wichtiger ist als du.“

Ich spüre, wie meine Kehle sich leicht zuschnürt.

„Ich wüsste echt nicht, was ich ohne dich machen würde“, sage ich leise.

Er schaut mich wieder kurz an, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. „Das musst du auch nicht. Denn du wirst es nie ohne mich machen müssen.“

Als wir ankommen, ist das Wasser ruhig, spiegelglatt. Kaum ein Mensch ist hier, nur ein paar Spaziergänger in der Ferne, ein paar Vögel, die über den Himmel ziehen.

Wir setzen uns ans Ufer, die Sonne wärmt unsere Haut, eine leichte Brise zieht über das Wasser. Es ist einer dieser perfekten Momente, in denen nichts gesagt werden muss, weil einfach alles stimmt.

Ich schmeiße ein paar Steine ins Wasser, beobachte, wie sie kleine Kreise ziehen. Bobby lehnt sich auf seine Arme zurück, schaut einfach nur in die Ferne.

„Weißt du“, sagt er nach einer Weile, „du wirst deinen eigenen Weg gehen, Justin. Und ich will, dass du weißt, dass du nie Angst davor haben musst.“

Ich drehe den Kopf zu ihm. „Wie meinst du das?“

„Ich meine… du bist jemand, der viel nachdenkt. Jemand, der tief fühlt. Und das ist gut. Aber vergiss nie, dass du nicht alles allein tragen musst.“

Ich beiße mir kurz auf die Lippe. „Du auch nicht, weißt du?“

Er schaut mich an, sein Lächeln wird ein wenig weicher. „Ich weiß. Aber es fühlt sich trotzdem gut an, es von dir zu hören.“

Abends – Müdigkeit & Frieden

Als wir nach Hause kommen, bin ich müde. Aber nicht nur körperlich. Es ist diese angenehme Erschöpfung, die man nach einem Tag voller Gespräche, frischer Luft und ehrlichen Momenten spürt. Ich gehe ins Bad, wasche mir das Gesicht, schlüpfe in ein bequemes Shirt und eine bequeme Hose.

Dann klopft es an meiner Tür.

„Alles klar bei dir?“ fragt Bobby leise.

Ich nicke. „Ja. War ein guter Tag.“

Er lehnt sich an den Türrahmen, verschränkt die Arme. „Weißt du, wenn du irgendwann mal was auf dem Herzen hast – egal was – du kannst immer zu mir kommen.“

Ich grinse müde. „Weiß ich.“

„Gut.“ Er zwinkert. „Dann schlaf gut, Kleiner.“

„Du auch, Bobby.“

Er zwinkert mir zu und sagt mit einem Augenzwinkern: „Gute Nacht, übertreib's aber nicht zu sehr!“ „Was du jetzt wieder denkst?“ antworte ich ihm noch schnell und drücke ihn nur kurz an mich.

Ich muss unwillkürlich schmunzeln. Schon seit dem einen Mal, als er mich erwischt hat, wie ich mir heimlich Lust verschaffte, kommen diese kleinen Sticheleien immer wieder. Er weiß genau, was er damit bezweckt, und ich gebe zu, oft lache ich innerlich darüber. Es ist irgendwie schön, dass wir so offen miteinander umgehen können – egal, wie peinlich manche Dinge vielleicht auch sind – bei ihm nicht!

Mit diesem warmen Gefühl der Vertrautheit und den leisen, neckischen Worten meines Bruders fühle ich mich bereit, den Abend zu beenden. Ich mache mich bettfertig und lasse dabei den Tag noch einmal Revue passieren.

Als ich dann ins Bett sinke, bleibt mir das Zwinkern von Bobby im Gedächtnis. Und ich weiß, dass ich morgen wieder mit frischer Energie und dem vertrauten Gefühl der Geborgenheit aufwachen werde. „Gute Nacht, Bobby, … und danke, dass du immer für mich da bist“ flüstere ich vor mich hin.

Meine Gedanken sind aber schon wieder bei Leo… Komisch, denn jetzt wird mir richtig bewusst, wie oft ich an ihn denke. Ich streichle mir dabei langsam über den Bauch und wandere mit meiner eigenen Hand tiefer. Meine Finger wandern weiter, und ich spüre diese Mischung aus Unsicherheit und Neugier. Da ist dieser Busch an Haaren, der mich irgendwie stört. Ich sehe die Bilder von Jungs im Internet, glatt und ohne Haare, und ich frage mich, ob das auch für mich der richtige Weg wäre. Es ist nicht nur das Aussehen – es ist das Gefühl, das damit einhergeht, die Freiheit, die ich mir einbilde.

Ich fasse den Beschluss, das auch mal zu probieren, aber jetzt spüre ich die Haare noch zwischen meinen Fingern und ich streichle mich tiefer über meinen Hodensack. Dabei merke ich, dass mein Penis immer steifer wird….

Ich ziehe meine Hose selbst runter und in diesem Moment fühle ich mich so unbeschwert und frei. Es ist, als ob ich nicht nur physisch, sondern auch emotional etwas abwerfe. Die Last des Alltags, die Erwartungen, die auf mir lasten, all das schwindet für einen Augenblick. Es ist ein kleines, aber bedeutendes Gefühl der Kontrolle über meinen eigenen Raum und meinen Körper.

Ich weiß, dass mein Bruder niemals ohne Vorwarnung ins Zimmer platzen würde. Diese Gewissheit gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, das ich in diesem Alter so dringend brauche. Ich kann einfach sein, ohne mich zu verstecken oder zu schämen. Es ist dieser Moment der Intimität mit mir selbst, in dem ich meine Gedanken schweifen lasse und nach dem Sinn suche, nach dem, was mich wirklich ausmacht.

Während ich mich weiter streichle, erscheinen Bilder von Leo und wie er lächelt. Meine Hand funktioniert ganz automatisch, aber meine Gedanken sind ganz weit weg.

Ich schließe die Augen und lasse mich treiben. In diesem Moment ist da nur er. Sein Grinsen, dieses lässige, fast schelmische Lächeln, das immer auf seinen Lippen tanzt, wenn er mich neckt. Es ist, als wüsste er mehr, als er zeigt. Ein Geheimnis, das er mit mir teilt, obwohl wir nie darüber reden. Ich sehe seine warmen Augen vor mir, die mich auf eine Weise ansehen, die mich verunsichert, aber gleichzeitig anzieht. Es ist ein Blick, der mir das Gefühl gibt, dass ich etwas ganz Besonderes bin.

Sein Gesicht erscheint so klar vor mir, als stünde er direkt neben mir. Ich kann alles erkennen: Den leichten Schatten seiner Wimpern, den geschwungenen Bogen seiner Lippen, und ich erinnere mich an die Momente, in denen sein Mundwinkel zuckt, kurz bevor er einen seiner typischen Sprüche loslässt. Es ist, als würde er mich mit jedem Blick und jedem Satz tiefer in seine Welt ziehen.

Und dann, …seine Hand. Ich spüre sie fast wieder. Wie sie mir das Magnesia gereicht hat, und wie unsere Finger sich berührt haben. Nur für einen kurzen Moment, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Diese flüchtige Berührung, die sich wie ein Feuerwerk in meinem Bauch anfühlte. Seine Hand, die mir gelegentlich auf den Rücken gefallen ist, so beiläufig, als wäre es das Normalste der Welt. Aber mein Körper, er erinnert sich daran: Jede Berührung ist ein kleines verborgenes Versprechen.

Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn er mich absichtlich berühren würde. Wenn seine Finger langsam über meinen Unterarm streichen würden, wenn er mich dabei anblicken würde, und in diesem Moment wären wir allein auf der Welt. Mein Atem geht tiefer, und mein Herzschlag wird schneller, als ich mir ausmale, wie Leo sich näher lehnt, wie sein Körper sich geschmeidig neben mir bewegt. Ich kann die Leichtigkeit seiner Bewegungen fast spüren, als wäre alles um uns herum bedeutungslos.

Sein schlanker, aber muskulöser Körper – nicht übertrieben, sondern perfekt. Ich kann mir seine Arme vorstellen, die stark sind, und seine Schultern, die aus seinem Rumpf hervortreten. Ich sehe seine Schlüsselbeine, die leicht hervortreten, wenn er sich bewegt, und ich frage mich, wie sich seine Haut anfühlen würde – warm und vielleicht ein wenig rau von all den Abenteuern, die er erlebt hat.

Und dann…, seine Lippen. Mein Bauch zieht sich zusammen, als ich darüber nachdenke, wie es wäre, ihm noch näher zu sein. Wie es wäre, wenn ich den Abstand zwischen uns einfach ignorieren würde. Wenn ich nicht nur schauen, sondern auch fühlen könnte. Wie es wäre, ihn zu küssen.

Ich atme tief ein und öffne die Augen einen Spalt, starre an die Decke, und mein Herz schlägt wild in meiner Brust. Es fühlt sich an, als wäre ich aus einem Traum gerissen worden, und doch, in meinem Kopf, male ich weiter. Diese Gedanken sind ein unendliches Spiel, das mich in eine Welt entführt, in der alles möglich ist – in der ich mit Leo sein kann, ohne Angst, ohne Zweifel.

Und dann fällt mir auf, dass mein Bauch ganz feucht ist…, es war so schön. Das erste Mal, dass ich mir nicht nur mechanisch einen heruntergeholt habe, sondern viel mehr in Gedanken ganz wo anders war. Waren es nur die Gedanken, die mich zum Höhepunkt gebracht haben oder war es meine Hand…, ich weiß es nicht sicher.

Schön war es. Noch schnell beseitige ich die Spuren und lege mich wieder verträumt zurück. Ich drehe mich auf die Seite, ziehe die Decke ein Stück höher, spüre die Wärme, die nicht nur von ihr kommt.

Leo.

Ich weiß nicht, was ich für ihn empfinde. Ich weiß nur, dass ich ihn nicht aus meinem Kopf bekomme. Und dass es mir gefällt.

Montagabend im Jugendtreff

Montage sind anstrengend. Erst Schule, dann Hausaufgaben – und jetzt sitze ich in der Bahn, auf dem Weg zum Jugendtreff. Ich bin müde, aber gleichzeitig freue ich mich darauf. Es ist eine Weile her, dass ich es geschafft habe, hinzugehen. Die letzten Wochen waren vollgepackt mit Klassenarbeiten, Kletterevents und jetzt auch noch dem ganzen Shooting-Kram. Ich habe mich irgendwie zwischen allem zerrissen gefühlt, als müsste ich ständig zwischen den verschiedenen Teilen meines Lebens hin- und herspringen.

Aber heute will ich da sein. Will die Leute wiedersehen. Meine Freunde.

Es ist nicht so, dass ich jemanden bestimmten vermisse – nicht im Sinne von großer Liebe oder so. Aber über die letzten zwei Jahre sind hier enge Freundschaften entstanden. Wir teilen viele Interessen, aber auch Sorgen und Probleme. Wir lachen zusammen, reden über alles Mögliche, unterstützen uns. Und manchmal… naja, manchmal brauche ich einfach diesen Ort. Einen Ort, an dem ich mich nicht erklären muss. An dem ich einfach sein kann.

Die Bahn hält, ich steige aus und laufe die letzten paar Minuten zum Café, in dem unser Treff stattfindet. Die Luft ist kühl, aber nicht unangenehm. Ich ziehe die Schultern etwas hoch, stopfe die Hände in meine Jackentasche und sehe schon von weitem das vertraute Schild über dem Eingang.

Als ich die Tür öffne, schlägt mir sofort diese vertraute Atmosphäre entgegen – der warme Duft von Kaffee und Zimt, das gedämpfte Stimmengewirr, das leise Klirren von Tassen. Das Café ist noch für normale Gäste offen, aber hinten, wo unser Treff stattfindet, ist es abgetrennt. Ich sehe bekannte Gesichter, einige sitzen an den Tischen, andere an der Theke, und als mich ein paar Leute entdecken, hellen sich ihre Gesichter auf.

„Ey, Justin! Lange nicht gesehen!“ Sebbi steht als Erster auf und kommt direkt auf mich zu, grinst breit und klatscht mir auf die Schulter. „Dachte schon, du bist verschollen.“ Ich grinse zurück. „Naja, fast. Schule, Training, viel zu tun.“

„Ja, ja, unser Superstar mit seinem Shooting-Kram.“ Er zwinkert mir zu. „Und, bist du schon auf Plakaten zu sehen?“ „Noch nicht, aber wenn, dann häng ich eins für dich hier auf.“

Sebbi lacht, und währenddessen kommen ein paar andere dazu. Luis, der ihn wie immer nicht lange allein lassen kann. Romeo, der gefühlt immer irgendwo auftaucht. Und Anna, die mich mit einer kurzen Umarmung begrüßt. „Schön, dass du wieder mal da bist“, sagt sie. „Wir haben dich hier vermisst.“

Ich spüre eine Wärme in meiner Brust. Das ist es, was ich hier so mag – dieses Willkommen-Sein. Niemand fragt, warum ich nicht da war oder ob ich es nicht wichtiger finde, hier zu sein. Es gibt keinen Druck, keine Vorwürfe – nur ehrliche Freude, dass ich da bin.

Wir quatschen kurz über die letzten Wochen – Schule, Klausuren Stress, was sonst so passiert ist. Romeo erzählt von seinem neuen Lieblingsspiel, Sebbi beschwert sich über seinen Mathelehrer, und Luis hat irgendeinen neuen Anime für sich entdeckt, den er uns allen empfiehlt. Es ist leicht, entspannt, fast wie früher in der Schule, wenn man in der Pause zusammensitzt und einfach über Gott und die Welt redet.

Dann klatscht Chris, einer der Leiter, in die Hände. „So, Leute! Ich hoffe, ihr habt euch alle wiedergefunden, aber jetzt wird’s Zeit für unser heutiges Thema. Kommt alle mal rüber in die Sitzecke.“

Ich bin gespannt. Die Themenabende hier sind immer gut gemacht – nicht steif oder belehrend, sondern auf eine Art, die uns wirklich mitnimmt. Manchmal werden ernste Sachen besprochen, manchmal ist es einfach nur locker, aber es geht immer um Dinge, die uns betreffen.

Wir setzen uns in den großen Kreis auf die Sofas, einige auf Kissen auf dem Boden. Chris steht vorn, lehnt sich lässig an einen Tisch und sieht uns abwartend an.

„Heute geht’s um Respekt. Um Toleranz. Und um Grenzen.“

Ein leises Murmeln geht durch die Gruppe. Ich spüre, wie einige sich aufrechter hinsetzen, neugierig, andere etwas ernster werden. Das ist kein leichtes Thema. Aber ein wichtiges.

Chris schaut in die Runde. „Wir reden oft über Akzeptanz. Darüber, dass jeder so sein darf, wie er ist. Heute wollen wir aber über eine andere Perspektive sprechen: Die Grenzen des Anderen. Wir alle haben unterschiedliche Vorstellungen von Nähe, von Intimität, von Beziehungen. Und oft ist es so, dass man sich unter Druck gesetzt fühlt. Sei es von der Gesellschaft, von Freunden oder von sich selbst. Liebe, Sex, Beziehungen, all das sollte freiwillig und ohne Druck passieren. Aber tun sie das auch immer?“

Es wird stiller. Ich sehe, wie einige nachdenken, andere den Blick senken.

Sebbi meldet sich als Erster zu Wort. „Also, … ich hab schon oft erlebt, dass Typen sofort mehr erwarten, nur weil man sich gut versteht. Gerade in der Szene. Manchmal denke ich, die Leute checken gar nicht mehr, dass man einfach nur befreundet sein kann, ohne dass da gleich was läuft.“

Luis nickt zustimmend. „Ja, oder wenn du auf Dates bist und irgendwie sofort das Gefühl hast, dass du liefern musst. Dass du dich rechtfertigen musst, wenn du nicht sofort Körperkontakt willst. Ich hasse das.“

Ich schlucke. Das ist etwas, worüber ich auch schon oft nachgedacht habe. Dieses Gefühl, dass manche Dinge schneller passieren sollen, als man selbst eigentlich bereit ist. Dass man sich fragt, ob es okay ist, sich mehr Zeit zu lassen.

Anna hebt eine Hand. „Ich glaub, das geht nicht nur Jungs so. Mir hat mal jemand gesagt, ich sei ja süß, aber wenn ich nicht bald mit jemandem schlafe, würde ich ja irgendwas verpassen. Was ist das bitte für eine Haltung?“ Einige nicken, murmeln zustimmend.

Chris nickt. „Das ist der entscheidende Aspekt. Es gibt einen krassen Druck, der oft unterschwellig da ist. Dabei ist es völlig normal, eigene Grenzen zu haben. Und das Wichtigste ist: Niemand sollte das für dich entscheiden – und niemand sollte dich dafür schräg anschauen, wenn du eine Grenze setzt.“

Ich überlege kurz, dann sage ich leise: „Ich glaube, manchmal setzt man sich auch selbst unter Druck. Nicht nur, weil andere was erwarten, sondern weil man denkt, man müsste irgendwas beweisen. Als würde man nicht dazugehören, wenn man nicht mitzieht.“

Chris sieht mich an. „Das ist ein guter Punkt. Kannst du das genauer erklären?“

Ich atme tief durch. „Ich meine…, ich hab Freunde, die hatten schon Beziehungen. die wissen genau, was sie wollen. Und manchmal frage ich mich, ob mit mir was nicht stimmt, weil ich mir mehr Zeit lasse. Weil ich noch nicht weiß, wann oder mit wem oder wie überhaupt. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich der Einzige, der noch nicht alles gecheckt hat.“ Ein paar Köpfe nicken. Romeo meldet sich und sagt mit einem Grinsen: „Also ich hab auch nichts gecheckt. Aber ich glaub, das macht nichts.“

Gelächter geht durch den Raum. Die Stimmung wird etwas lockerer.

Chris lächelt. „Genau das trifft den Kern. Jeder hat sein eigenes Tempo. Und es gibt keine Checkliste, die man abarbeiten muss. Was zählt, ist, dass du dich mit deinen Entscheidungen wohlfühlst. Dass du weißt, dass du Nein sagen kannst – und dass Nein immer Nein heißt. Ohne Diskussion.“

Die Unterhaltung geht noch eine Weile weiter. Wir reden über Erfahrungen, über Situationen, in denen wir uns unwohl gefühlt haben. Über den Mut, Grenzen zu setzen, und über den Respekt, die Grenzen anderer zu akzeptieren.

Sebbi runzelt die Stirn. „Aber mal ehrlich, wie soll man überhaupt wissen, wo die eigenen oder die Grenzen des anderen sind, wenn man nie was ausprobiert? Ich meine…, klar, Respekt ist wichtig, aber wenn man immer nur vorsichtig ist, dann verpasst man doch auch was, oder?“

Anna lehnt sich vor, verschränkt die Arme. „Ja, aber genau da liegt doch das Problem. Wo ist die Grenze zwischen ‘Ich probiere etwas aus’ und ‘Ich drücke den anderen in eine Richtung, die ihm nicht gut tut’? Ich finde, man kann nur wachsen, wenn man sich dabei noch wohlfühlt.“

„Aber was ist, wenn man erst hinterher merkt, dass es sich doch nicht richtig angefühlt hat?“ wirft Luis ein. „Manche Sachen weiß man doch erst, wenn man sie ausprobiert hat.“ „Genau!“ Sebbi nickt heftig. „Wenn du immer nur auf Sicherheit gehst, dann entwickelst du dich doch nicht weiter. Manchmal muss man sich doch ein bisschen aus seiner Komfortzone trauen.“

Ich denke einen Moment nach. Dann sage ich langsam: „Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen ‘sich aus der Komfortzone trauen’ und ‘sich zu etwas überreden lassen’. Klar, wenn ich nie was Neues wage, werde ich immer nur da bleiben, wo ich bin. Aber wenn ich mich zu sehr pushe, könnte ich Dinge tun, für die ich eigentlich noch nicht bereit bin. Und dann fühlt es sich vielleicht nicht wie ein Schritt nach vorne an, sondern einfach… falsch.“

Chris nickt zustimmend. „Das ist ein extrem wichtiger Punkt, Justin. Es gibt kein Wachstum durch Zwang. Wachstum passiert, wenn man sich sicher genug fühlt, einen Schritt weiterzugehen. Nicht, wenn man sich dazu gedrängt fühlt – von anderen oder von sich selbst.

Luis runzelt die Stirn. „Aber wie bekommt man dann raus, was für den anderen okay ist? Ich meine, keiner sagt ja direkt: ‘Stopp, hier ist meine Grenze’. Und man kann ja auch nicht alles vorher klären, oder?“

„Gute Frage“, sagt Chris und lehnt sich nachdenklich zurück. „Was denkt ihr?“

Es entsteht eine kurze Stille. Dann meldet sich Anna wieder: „Ich glaub, es kommt auf die Signale an. Also, wenn ich merke, dass jemand sich verkrampft oder unsicher ist, dann würde ich sofort einen Schritt zurückgehen. Aber manchmal ist man selbst so im Moment, dass man das vielleicht gar nicht checkt…“

Ich überlege kurz. Dann sage ich: „Vielleicht ist die Frage nicht nur ‘Wie merke ich, wo die Grenzen des anderen sind?’, sondern auch ‘Wie sorge ich dafür, dass der andere sich traut, sie mir zu zeigen?’ Ich meine, wenn du jemandem das Gefühl gibst, dass er nein sagen darf, ohne dass es komisch wird, dann wird er es auch eher tun. Dann gibt’s weniger dieses unangenehme Schweigen oder das Gefühl, dass man irgendwie was falsch macht.“

Chris nickt langsam. „Genau das trifft den Kern. Es geht nicht nur darum, Grenzen zu akzeptieren, sondern auch darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie klar gemacht werden können – ohne Angst, ohne Scham. Kommunikation ist der Schlüssel.“

Sebbi zuckt mit den Schultern. „Aber manchmal killt zu viel Reden doch auch die Stimmung. Ich meine, man will doch nicht jedes Mal eine Debatte führen, bevor man sich näherkommt.“

„Muss man auch nicht“, sagt Chris. „Aber ein einfaches ‘Ist das okay für dich?’ oder ein ‘Wie fühlst du dich dabei?’ kann Wunder wirken. Und wenn du den anderen kennst und achtsam bist, merkst du oft auch an der Körpersprache, ob sich jemand wohlfühlt oder nicht.“

Romeo, der die ganze Zeit still zugehört hat, sagt plötzlich: „Ich finde, das klingt alles logisch, aber wenn man in einer Situation ist, ist das doch voll schwierig. Man ist aufgeregt, hat Schmetterlinge im Bauch, alles geht irgendwie schnell… Wie schafft man es dann, trotzdem bewusst zu bleiben?“ Ich nicke zustimmend. Genau das ist ja das Problem. Man kann sich vorher tausend Gedanken machen, aber wenn der Moment dann da ist, fühlt sich alles anders an.

Chris überlegt kurz. „Das ist Übungssache. Kein Mensch ist perfekt. Man wird immer mal Situationen haben, in denen man hinterher denkt ‘Hm, das hätte ich anders machen sollen’. Aber solange man offen bleibt, aus Erfahrungen lernt und darauf achtet, dass sich niemand schlecht dabei fühlt, ist man auf einem guten Weg.“

Die Diskussion geht noch eine Weile weiter. Wir reden über Erfahrungen, über Unsicherheiten, über den Wunsch, mehr herauszufinden, ohne sich selbst oder jemand anderen zu überfordern. Ich merke, dass das Thema jeden hier betrifft. Dass wir alle irgendwo zwischen Neugier und Angst, zwischen Wagnis und Sicherheit stecken. Und ich merke, wie gut es tut, das alles auszusprechen. Zu hören, dass andere ähnliche Gedanken haben. Dass es okay ist, sich nicht stressen zu lassen.

Als wir uns am Ende verabschieden, fühle ich mich… leichter. Nicht, weil ich jetzt alle Antworten habe. Aber weil ich weiß, dass ich nicht alleine bin. Und das ist manchmal alles, was man braucht.

Stille

Als ich nach Hause komme, umfängt mich sofort die Stille.

Kein Licht brennt im Flur, keine Musik aus Bobbys Zimmer, kein leises Klappern aus der Küche. Nur das sanfte Summen des Kühlschranks. Ich ziehe meine Jacke aus, hänge sie über einen Stuhl und sehe dann den Zettel auf dem Küchentisch. Bobbys Handschrift ist leicht schief, so wie immer, wenn er es eilig hatte.

Bin noch unterwegs. Warte nicht auf mich. Bis morgen, Kleiner.“

Ich runzle die Stirn und fahre mit den Fingern über das Papier. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Bobby abends unterwegs ist, sei es wegen der Arbeit oder weil er sich mit Freunden trifft. Aber irgendwie fühlt sich das Haus heute noch leerer an als sonst. Vielleicht, weil ich nach dem Jugendtreff mit so vielen Gedanken nach Hause komme. Vielleicht, weil ich noch nicht bereit bin, mit diesem Tag abzuschließen.

Ich seufze, zerknülle den Zettel nicht, sondern lege ihn ordentlich zurück. Dann lasse ich mich auf das Sofa sinken und greife nach der Fernbedienung. Ich brauche Geräusche. Etwas, das meinen Kopf ablenkt, ihn beschäftigt hält, damit die Gedanken nicht unkontrolliert kreisen. Ich schalte den Fernseher ein, zappe durch die Sender. Ein Actionfilm. Eine Gameshow. Nachrichten. Irgendeine Serie. Ich bleibe irgendwo hängen, aber meine Augen folgen dem Bild nicht wirklich. Die Stimmen und Geräusche prallen an mir ab, als würde ich durch eine Fensterscheibe auf die Welt blicken. Mein Kopf ist immer noch ganz woanders.

Respekt. Grenzen. Nähe. Wachsen. Sich selbst trauen.

Diese Worte hallen noch in mir nach.

Ich denke an die Gespräche von heute Abend, an Sebbis Worte darüber, dass man sich auch mal etwas trauen muss, um sich weiterzuentwickeln. Daran, wie Anna gesagt hat, dass manche Grenzen nicht zum Überschreiten da sind. Daran, wie Luis von diesem Druck auf Dates gesprochen hat. Diesem unterschwellige Gefühl, dass man „liefern“ muss, obwohl man vielleicht gar nicht will.

Und dann denke ich an meine eigene Unsicherheit. Wie weit will ich gehen? Ich weiß es nicht.

Ich will Erfahrungen sammeln, ja. Ich will wissen, wie es ist, jemandem wirklich nah zu sein, sich in einem Moment zu verlieren, ohne nachzudenken. Ich will dieses Gefühl, von dem alle reden – Schmetterlinge im Bauch, das Kribbeln auf der Haut, dieses Verlangen, das angeblich so selbstverständlich sein soll. Aber ich will mich nicht verlieren. Ich will nicht einfach nur tun, was andere tun, weil es „normal“ ist. Ich will nicht irgendwann zurückblicken und mich fragen, ob ich Dinge getan habe, die ich eigentlich gar nicht wollte.

Aber wie soll ich wissen, was ich will, wenn ich es nie ausprobiere? Mein Blick bleibt an einem zufälligen Punkt an der Wand hängen, meine Gedanken verschwimmen. Es gibt keine einfache Antwort. Ich wünschte, es gäbe eine.

Wenn ich klettere, weiß ich sofort, ob ein Griff sicher ist oder nicht. Ich kann ihn fühlen. Kann einschätzen, ob ich mein Gewicht darauf verlagern kann oder ob ich lieber nach einem besseren Halt suche.

Aber mit Menschen? Mit Gefühlen? Es gibt keine Markierung, die mir sagt: Hier ist es sicher, hier kannst du dich fallen lassen. Ich denke an Sebbi und Luis. An den Moment, als Luis sich einfach so auf Sebbis Schoß gesetzt hat, ihn geküsst hat, ohne nachzudenken, ohne sich umzusehen. So selbstverständlich. So frei.

Ich frage mich, ob ich das auch mal fühlen werde. Diese Sicherheit. Dieses Vertrauen in den Moment. Ob es irgendwann jemanden gibt, mit dem ich mir einfach sicher bin. Bei dem ich nicht analysiere, nicht zweifle, nicht überlege, ob es okay ist oder nicht. Aber was, wenn nicht? Was, wenn ich nie diesen Punkt erreiche?

Die Serie im Hintergrund plätschert weiter, aber ich habe keine Ahnung, worum es geht. Ich reibe mir müde die Augen und schalte den Fernseher aus. Die Stille kehrt zurück, aber jetzt fühlt sie sich anders an.

Ich stehe auf, strecke mich kurz und gehe ins Badezimmer. Während ich mir die Zähne putze, betrachte ich mich im Spiegel. Meine Haare sind zerzaust, meine Augen sehen müde aus. Aber nicht nur wegen des langen Tages. Es ist diese Art von Müdigkeit, die nicht nur körperlich ist. Es ist das Gefühl, zu viel gedacht zu haben. Zu viele Fragen, zu wenig Antworten.

Zurück in meinem Zimmer lasse ich mich aufs Bett fallen. Die Matratze fühlt sich weich an, aber meine Gedanken sind noch immer rastlos. Ich denke zurück an die Diskussion über Grenzen. An die Frage, wann man seine eigenen überschreiten sollte, um zu wachsen.

Vielleicht ist das genau mein Problem. Vielleicht habe ich Angst, den nächsten Schritt zu machen. Vielleicht stehe ich auf einer Plattform, bereit für den nächsten Griff, aber ich greife nicht zu, weil ich nicht weiß, ob er mich hält.

Ich drehe mich auf die Seite, starre an die Decke. Ich wünschte, ich wüsste mehr. Ich wünschte, ich könnte in die Zukunft schauen und wissen, dass alles gut wird. Dass ich irgendwann nicht mehr so viel nachdenken muss. Dass es sich irgendwann einfach richtig anfühlt. Aber vielleicht muss ich nicht alles jetzt wissen. Vielleicht ist es okay, nicht alle Antworten zu haben. Vielleicht ist es genug, dass ich heute mehr über mich nachdenke als gestern.

Ich atme tief durch, schließe die Augen. Und während meine Gedanken langsamer werden, während die Müdigkeit sich durch meinen Körper ausbreitet, bleibt ein Gefühl zurück. Ein Gefühl von Hoffnung.

Zurück im Klettertraining

Ich ziehe die Tür zur Kletterhalle auf und sofort schlägt mir dieser vertraute Geruch entgegen – eine Mischung aus Magnesia, Gummi von den Sohlen der Kletterschuhe und ein Hauch von Schweiß, den man einfach nicht rauskriegt, egal, wie oft die Halle durchgelüftet wird. Ich liebe diesen Geruch. Er bedeutet Routine, bedeutet, dass ich hierher gehöre.

Und trotzdem fühlt sich heute irgendetwas anders an.

Vielleicht liegt es daran, dass ich die letzten Tage über kaum an etwas anderes denken konnte als an das Shooting letzten Freitag. Oder daran, dass ich jetzt ganz anders gesehen werde. Ich bin nicht mehr nur Justin, der einfach trainiert – ich bin jetzt Justin, der Typ aus der Kampagne.

Mein Herz klopft ein bisschen schneller, als ich meine Sporttasche über die Schulter ziehe und die Halle betrete. Kaum habe ich einen Fuß über die Türschwelle gesetzt, sehe ich schon Malik, der mit Jonas an der Boulderwand lehnt. Und natürlich dauert es keine zwei Sekunden, bis er mich entdeckt. „Da ist unser Star!“ ruft er grinsend durch die Halle, und ich spüre, wie mir direkt die Wärme ins Gesicht steigt. Jonas dreht sich sofort zu mir um, hebt eine Augenbraue und verschränkt die Arme. „Na, Model? Wo sind die Hochglanzfotos?“

Ich lache unsicher, lasse meine Tasche auf den Boden plumpsen und schüttle den Kopf. „Ihr seid unmöglich.“

„Nee, aber ehrlich jetzt,“ setzt Malik nach, während er zu mir rüberkommt und mich auf die Schulter schlägt. „Wie war’s? Ich meine, wie ist das so, wenn alle Augen auf Einen gerichtet sind?“

Jonas nickt zustimmend. „Und hast du wenigstens ein paar von den krassen Sportklamotten abgestaubt?“

Ich atme tief durch. Ich wusste, dass die Fragen kommen würden, aber jetzt, wo sie tatsächlich auf mich einprasseln, weiß ich nicht genau, wo ich anfangen soll.

„Es war…“ Ich halte kurz inne, lasse den letzten Freitag noch mal in meinem Kopf abspielen. Leo. Die Kamera. Das Kribbeln in meinen Fingern. Der Moment, in dem ich mich auf dem Bildschirm selbst gesehen habe und dachte: Ja. Das bin ich. „Es war krass“, sage ich schließlich und spüre, wie ein ehrliches Lächeln über mein Gesicht huscht. „Anders, als ich gedacht habe. Ich dachte, es wäre unangenehm, so im Mittelpunkt zu stehen. Aber irgendwie… war’s das gar nicht. Nach einer Weile war es einfach normal.“

Malik pfeift anerkennend. „Oha. Klingt, als hättest du dich voll reingegroovt.“ Jonas grinst. „Und? Gab’s peinliche Momente? Oder bist du etwa die perfekte Mischung aus Sportlichkeit und Coolness?“

Ich ziehe eine Grimasse. „Ganz ehrlich? Die ersten zehn Minuten habe ich mich gefühlt wie ein Vollidiot. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen, und dann kam Leo an und meinte, ich soll einfach normal bleiben.“

Das hätte ich nicht sagen sollen.

Denn in dem Moment springt Maliks Grinsen noch eine Stufe höher. „Ohhh, Leo, ja? Der Typ, den du letzte Woche schon ungefähr fünfmal erwähnt hast?“

Mein Magen macht einen kleinen Hüpfer, aber ich zwinge mich, nicht zu reagieren. „Er arbeitet da halt“, sage ich betont gleichgültig.

Jonas und Malik tauschen einen Blick. „Klar, klar. Er arbeitet da halt.“

Ich verdrehe die Augen. „Ihr seid echt die Schlimmsten.“ Aber insgeheim weiß ich, dass sie mich durchschaut haben. Bevor sie aber weiter bohren können, ertönt eine laute Stimme durch die Halle.

„Okay, Leute! Aufwärmen!“

Das Aufwärmen – Mein persönlicher Endgegner

Ich beiße mir auf die Lippe, während ich langsam zur Matte trotte. Aufwärmen ist einfach nicht mein Ding. Also ja, ich weiß, dass es wichtig ist. Aber in meinem Kopf fühlt es sich immer an wie eine unnötige Pflicht, die ich überstehen muss, bevor es richtig losgeht.

Die ersten Minuten gehen ja noch. Lockeres Einlaufen, ein paar Sprünge, ein bisschen Armkreisen. Aber dann kommt das Dehnen. Ich hasse Dehnübungen.

Nicht, weil ich unsportlich bin. Ich klettere schließlich. Mein Körper ist es gewohnt, sich in alle möglichen absurden Richtungen zu verbiegen. Aber dieses kontrollierte, statische Dehnen, wo man minutenlang in irgendeiner Position verharren muss und der Trainer dir sagt: „Spür die Spannung! Geh noch ein bisschen tiefer!“. Einfach nicht mein Ding. Ich setze mich auf die Matte, breite die Beine aus und beuge mich nach vorne. Ich komme weit runter, das weiß ich, aber trotzdem spüre ich das Ziehen in meinen hinteren Oberschenkeln. Und ich weiß genau, dass Stefan, unser Trainer, mich gleich korrigieren wird.

„Justin, Brust weiter raus! Rücken gerade!“

Ich seufze und tue, was er sagt. Während ich mich dehne, wandert mein Blick durch die Halle. Die anderen Jungs machen ihre Übungen. Manche konzentriert, andere mit diesem genervten Ausdruck im Gesicht, den ich nur zu gut kenne.

Jonas dehnt sich neben mir, seine Hände an seinen Fußspitzen, während er laut stöhnt. „Alter. Ich schwöre, meine Beine reißen gleich durch.“ Ich grinse. „Dann haben wir wenigstens einen Grund, das Aufwärmen zu beenden.“ Hinter mir streckt sich Malik in den herabschauenden Hund und lacht. „Und dann? Dann machen wir stattdessen ’ne Yogastunde mit dir als Model?“ Ich werfe ihm einen genervten Blick zu. „Halt die Klappe.“

Aber während ich das sage, denke ich wieder an letzten Freitag. An das Studio. An die Kamera. An Leo. Und plötzlich frage ich mich, wie es wäre, ihn hier zu sehen. In meinem Umfeld. Würde er sich hier genauso selbstbewusst bewegen, wie er es im Studio tut? Würde er klettern? Ich kann ihn mir nicht so richtig an einer Wand vorstellen, aber gleichzeitig..., vielleicht würde er mich überraschen.

Mein Blick schweift wieder zu den anderen. Ich beobachte, wie sie sich bewegen. Wie ihre Muskeln sich unter der Anspannung leicht abzeichnen, wie konzentriert sie in ihren Übungen sind. Malik ist sportlich, sein Körper definiert, aber nicht zu massig. Jonas hat dieses schmale, drahtige Kletterer-Profil. Und dann gibt es noch ein paar Jüngere, die noch nicht ganz aus ihrer jugendlichen Schmächtigkeit raus sind, aber sich entwickeln.

Es ist seltsam, wie ich das auf einmal wahrnehme. Ich weiß, dass andere Jungs das nicht so beobachten. Sie dehnen sich, trainieren, witzeln herum. Und ich? Mein Blick bleibt plötzlich an den kleinen Details hängen. Die Art, wie sich Sehnen unter der Haut abzeichnen. Wie jemand kurz mit der Zunge über die Lippen fährt, wenn er sich konzentriert. Wie ein Schweißtropfen langsam über einen Hals läuft, während sich jemand zurücklehnt. Es ist nicht einmal bewusst. Es passiert einfach. Ich atme tief durch und reiße mich aus meinen Gedanken.

„Okay, Leute, eine Runde Liegestütze und dann geht’s an die Wand!“ ruft Stefan.

Ich nicke. Zeit, den Kopf wieder frei zu bekommen. Aber in mir brodelt es weiter. Nicht nur die Erinnerungen an das Shooting. Nicht nur die Gedanken an Leo. Sondern auch das Gefühl, dass ich irgendwie zwischen zwei Welten hänge. Und ich frage mich: Wann genau wird mir klar werden, wo ich wirklich hingehöre?

Bouldertraining – Beweglichkeit ist alles

Nach dem Aufwärmen wechseln wir rüber in den Boulderbereich. Hier geht es weniger um Höhe, mehr um Technik. Und das ist heute auch unser Hauptfokus. Beweglichkeit, Präzision, Körpergefühl.

Ich mag Bouldern. Nicht, weil es leichter ist als Seilklettern, das ist es nämlich nicht, sondern weil man hier ständig an seine Grenzen geht. Es gibt keine Sicherung, kein Seil, das dich auffängt. Wenn du abrutschst, fällst du auf die Matten. Und manchmal ist genau das nötig, um herauszufinden, was du besser machen kannst.

Ich stehe vor der ersten Route, die ich heute probieren will. Sie ist nicht extrem schwer, aber auch kein Kinderspiel. Die bunten Griffe schlängeln sich in einer geschwungenen Linie nach oben, manche groß und einfach zu greifen, andere so klein, dass ich nur mit den Fingerspitzen daran hängen kann.

„Okay, Leute“, ruft Stefan, unser Trainer, und klatscht in die Hände. „Heute feilen wir an eurer Beweglichkeit. Wir wollen sehen, wie weit ihr eure Körper drehen könnt, wie ihr eure Hüfte einsetzt, wie ihr eure Füße kreativ nutzt. Kein stumpfes Hochziehen, sondern saubere Technik.“

Ich nicke. Ich weiß genau, was er meint. Beweglichkeit beim Bouldern ist alles. Ein starrer Kletterer verbraucht viel mehr Kraft, weil er seinen Körper nicht optimal einsetzt. Wer flexibel ist, kann Bewegungen mit weniger Aufwand ausführen.

Malik steht neben mir und betrachtet die Route. „Sieht machbar aus.“ Jonas schüttelt den Kopf. „Red nicht. Probier’s.“ „Mach ich doch!“ Malik springt auf die Matte, klopft sich die Hände an seiner Hose ab und setzt sich an den Startgriff.

Ich beobachte genau, wie er sich bewegt. Er zieht sich hoch, findet sofort eine gute Position mit den Füßen, setzt sich eng an die Wand. Dann kommt die erste schwierige Stelle – ein weiter Zug nach rechts, wo er seinen Fuß auf einem kleinen Tritt drehen muss, um die Spannung zu halten. Für einen Moment zögert er. Dann schiebt er seine Hüfte nach innen, dreht seinen Körper leicht – und erreicht den Griff. Er bleibt für eine Sekunde hängen, grinst dann und springt ab. „Nicht schlecht, oder?“

Ich nicke. „War sauber. Aber du hast kurz gezögert.“ „Weil mein Fuß fast abgerutscht ist! Die Tritte sind winzig!“ Jonas lacht. „Dann probier ich’s mal.“

Während ich den anderen zuschaue, wie sie sich an der Route versuchen, geht mein Blick immer wieder zu den Bewegungen. Ich beobachte, wie sie ihre Körper einsetzen, wie sie ihre Hüften drehen, wie ihre Muskeln arbeiten, um sich an der Wand zu halten.

Dann bin ich dran. Ich setze meine Hände an den Startgriff, suche mit den Füßen eine gute Position. Dann atme ich tief durch und starte. Der erste Teil ist leicht – ein Zug nach oben, Füße versetzen, Gewicht verlagern. Dann kommt die Stelle, an der Malik gezögert hat. Ich erinnere mich an seine Bewegung, daran, wie er sich gedreht hat. Und ich versuche, es noch geschmeidiger zu machen. Ich presse meine Hüfte nah an die Wand, setze meinen Fuß präzise auf den kleinen Tritt, spüre das Ziehen in meinem Bein, während ich mein Gewicht verlagere – und dann kommt der Moment der Entscheidung. Ich muss loslassen. Mich der Bewegung anvertrauen. Also tu ich es. Ich drehe meinen Körper mit einem fließenden Zug nach rechts, greife den Griff – und schaffe es. Mein Puls steigt leicht. Der Moment zwischen Fallen und Halten ist immer der aufregendste.

„Yes!“ höre ich Jonas rufen. „Das sah gut aus!“

Ich grinse leicht, sichere meine Position für einen Moment, bevor ich abspringe und weich auf den Matten lande.

„Saubere Hüftbewegung“, lobt Stefan. „Genau das wollen wir sehen.“

Ich wische mir über die Stirn. Ich spüre das Adrenalin, aber auch die Zufriedenheit. Es fühlt sich gut an, wenn eine Technik funktioniert. Natürlich bleibt es nicht bei einer Route. Wir steigern uns.

Die nächste Route ist eine Herausforderung. Sie besteht fast nur aus kleinen Griffen, die Kraft und Präzision erfordern. Außerdem ist sie überhängend. Das bedeutet, dass meine Füße weniger Entlastung bieten. Ich versuche es. Die ersten Züge gehen gut. Aber dann kommt der Teil, bei dem ich mich mit einer Hand hochziehen muss, während meine Füße nur minimalen Halt haben. Ich spüre, wie meine Arme brennen, wie meine Finger sich in den Griff krallen, und dann rutsche ich ab. Ich falle, lande auf den Matten. Mein Herz pocht schneller. „Mist.“ Ich komme wieder hoch. Schüttle meine Hände aus. „Noch mal.“

Beim zweiten Versuch komme ich ein Stück weiter. Ich fokussiere mich auf meine Körpermitte, halte die Spannung, drehe mein Knie leicht nach außen, um mehr Halt zu bekommen. Aber kurz bevor ich den nächsten Griff erreiche, verliere ich wieder die Kontrolle. Absturz. Mein Atem geht schneller, ich spüre die Enttäuschung in mir aufsteigen. Aber das ist Bouldern. Es geht darum, zu versuchen, zu scheitern, zu lernen.

„Du musst den Schwung aus der Drehung mitnehmen“, sagt Stefan, als er sich neben mich hockt. „Du ziehst dich zu sehr mit den Armen hoch, statt die Hüfte mitzunehmen. Probier’s noch mal.“

Ich nicke. Und dann versuche ich es wieder. Dieses Mal bin ich noch fokussierter. Ich atme tief durch, setze meine Hände an den Griff und starte. Erster Zug. Zweiter Zug. Ich drehe meine Hüfte etwas stärker, versetze meinen Fuß millimeterweise. Der Griff kommt näher. Ich lasse mich von der Bewegung tragen. Und dieses Mal – hält meine Hand.

Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht, während ich mich sicher an der Wand halte. Mein ganzer Körper ist angespannt, mein Atem flach. Aber ich habe es geschafft. Ich halte den Griff für einen Moment, dann springe ich nach unten und lasse mich auf die Matte fallen.

Jonas und Malik kommen sofort auf mich zu. „Digger, das war stark!“ ruft Malik und schlägt mir auf den Rücken. Jonas nickt anerkennend. „Das sah echt gut aus. Ich wette, nächstes Mal knackst du die nächste Schwierigkeit.“

Ich atme tief durch, spüre die Wärme in meinen Muskeln. Ja. Das war gut. Ich setze mich kurz auf die Matte, streiche mit den Fingern durch meine Haare und blicke nach oben zur Wand. Und in meinem Kopf denke ich plötzlich an etwas anderes. An Freitag. An das Shooting.

An Leo. Ich weiß nicht, warum er mir ausgerechnet jetzt in den Sinn kommt. Vielleicht, weil ich heute wieder gemerkt habe, wie es sich anfühlt, etwas so lange zu versuchen, bis es klappt. Ich frage mich, ob es mit ihm genauso wäre. Ob ich mich irgendwann traue, den nächsten Schritt zu machen. Ich weiß es nicht. Aber während ich wieder aufstehe und meine Hände an meiner Hose abklopfe, weiß ich eins: Ich werde es herausfinden.

Mehr als nur Klettern – Mein Blick auf mich selbst

Während die anderen noch an den Routen hängen, bleibe ich einen Moment auf der Matte sitzen und lasse meinen Blick durch die Halle schweifen. Ich spüre meinen Körper intensiver als sonst – nicht nur die brennenden Muskeln oder die leichte Erschöpfung, sondern auch jede kleine Bewegung, jede Spannung, jede Veränderung.

Seit dem Shooting nehme ich vieles bewusster wahr. Meine Haltung, die Art, wie meine Arme sich bewegen, wie meine Schultern sich ausrichten, wie meine Hüften arbeiten, um mich an der Wand zu halten. Es ist, als hätte ich ein neues Auge für Details bekommen – nicht nur bei mir, sondern auch bei den anderen.

Mein Blick bleibt an Jonas hängen, der sich gerade an einer überhängenden Route versucht. Sein Körper ist schlank, aber jeder Muskel in seinen Armen arbeitet sichtbar, während er nach dem nächsten Griff greift. Er dreht sich leicht zur Seite, setzt seinen Fuß genau dort, wo er ihn braucht, und ich erkenne, dass er sich nicht nur mit Kraft hält, sondern mit Präzision.

Dann ist da Malik, der sich mit einer lockeren, fast verspielten Art über die Wand bewegt. Ich sehe, wie er seine Hüften ausbalanciert, wie sein Rücken sich biegt, wie seine Hände sich sicher um die Griffe legen. Er macht es fast mühelos aussehend – fast. Ich erkenne die Anspannung in seinen Waden, das kurze Zucken in seinen Fingern, wenn er nach mehr Halt sucht.

Und dann…, beobachte ich mich selbst. Ich sehe meine Unterarme, die von Magnesia überzogen sind, die Sehnen, die sich bei jeder Bewegung leicht abzeichnen. Meine Beine, die meine gesamte Körperspannung tragen, der feste Stand meiner Füße. Meine Finger, die sich kraftvoll um die Griffe schließen. Ich bin nicht besonders groß, nicht besonders breit, aber mein Körper ist gemacht für diesen Sport, sehnig, drahtig, beweglich.

Das Shooting hat mir gezeigt, wie ich aussehe, wenn ich mich bewege. Ich bin mir dessen jetzt bewusster. Ich frage mich, ob Leo das auch bemerkt hat. Ob er mich genauso beobachtet hat, wie ich ihn manchmal heimlich anschaue. Ich schüttle den Gedanken ab. Konzentriere mich wieder auf die Halle. Die Stimmen der anderen klingen durch die Luft, das dumpfe Geräusch, wenn jemand auf die Matte fällt, das leise Quietschen der Kletterschuhe auf den Tritten. Ich atme tief durch und spüre, dass meine Kraft langsam nachlässt.

Wenn der Kopf nicht mehr mitmacht

Ich gehe zur nächsten Route, versuche mich an einer neuen Herausforderung. Doch ich merke schnell: Mein Körper kann noch, aber mein Kopf ist nicht mehr richtig dabei. Ich setze den Fuß auf einen kleinen Tritt – rutsche leicht ab. Ich greife nach dem nächsten Griff – aber nicht fest genug. Ich verliere den Halt und lande unsanft auf der Matte. „Verdammt…“ Ich beiße mir auf die Lippe. Dann atme ich tief durch, klopfe mir die Hände an der Hose ab und versuche es noch einmal. Doch dieses Mal komme ich nicht mal so weit wie vorher. Meine Finger fühlen sich langsamer an, mein Fokus ist verschwommen, meine Bewegungen nicht mehr so präzise.

Jonas merkt es. „Alter, du wirst müde.“ Ich zucke mit den Schultern. „Geht noch“. Er schüttelt den Kopf. „Digger, du hast schon alles gegeben. Gönn dir eine Pause.“ Ich will widersprechen, aber als ich mich kurz ausstrecke, merke ich, wie schwer meine Arme sich anfühlen. Wie mein Körper mir eigentlich längst sagt: Es reicht für heute. Also nicke ich langsam. „Ja, okay.“

Ich setze mich auf die Matte, sehe zu, wie die anderen noch weiterklettern, aber mein Kopf driftet ab. Ich spüre meine Erschöpfung, die Wärme in meinen Muskeln, das leichte Pochen in meinen Unterarmen. Es ist dieses angenehme Gefühl nach einem langen Training. Aber da ist noch etwas anderes.

Dieses Kribbeln in mir, wenn ich an letzten Freitag denke. An Leo. An die Momente, in denen er mir geholfen hat, in denen unsere Blicke sich getroffen haben. Warum beschäftigt mich das so sehr? Warum fühlt es sich an, als würde ich auf etwas warten, das ich selbst noch nicht genau greifen kann? Ich atme tief durch und lasse den Gedanken für den Moment ziehen.

„Okay, Leute, Schlussrunde!“ ruft Stefan.

Alle lassen ihre letzten Versuche bleiben und kommen zur Matte zurück. Wir setzen uns im Kreis, strecken die Beine aus, beginnen mit den Dehnübungen. Ich spüre die Dehnung in meinen Beinen, im Rücken, in meinen Armen. Jeder Muskel, der heute gearbeitet hat, wird jetzt langgezogen, damit er sich erholen kann. Das Dehnen nach dem Training ist mir eigentlich immer zu lang. Ich bin eher der Typ, der sich nach der Anstrengung einfach fallen lässt, statt noch mal konzentriert an seiner Flexibilität zu arbeiten. Aber ich weiß, dass es sein muss. Ich sehe zu, wie die anderen sich strecken, wie ihre Körper sich bewegen. Jonas mit seinem breiten Grinsen. Malik, der ein bisschen flucht, weil seine Beine noch steif sind.

Dann bin da ich. Ich dehne mich weiter, lasse meine Gedanken abschweifen. Und plötzlich denke ich wieder an ihn. Ich weiß nicht, warum. Aber ich tue es. Ob er wohl auch Sport macht? Ob er sich auch manchmal nach einem langen Tag so fühlt wie ich gerade? Ich schüttle den Gedanken ab. Konzentrier dich, Justin.

Nach einer Weile stehen wir auf, klatschen uns locker ab. Stefan kommt noch mal zu uns, geht mit jedem kurz das Training durch. Als er bei mir ist, nickt er mir anerkennend zu. „Gutes Training heute. Deine Beweglichkeit hat sich verbessert, und die Technik war stark. Am Ende hat dir ein bisschen die Konzentration gefehlt, aber das ist normal.“

Ich nicke. „Ja, ich hab’s gemerkt.“

„Denk dran: Dein Kopf ist genauso wichtig wie dein Körper. Wenn du merkst, dass du unkonzentriert wirst, hör auf. Lieber ein gutes Training abschließen, als sich mit halber Kraft schlechte Bewegungen anzugewöhnen.“

Ich grinse leicht. „Verstanden.“

Stefan klopft mir auf die Schulter. „Gut. Dann bis nächstes Mal.“

Ich nicke, greife nach meiner Wasserflasche und nehme einen tiefen Schluck. Mein Körper fühlt sich müde an, aber gut.

Duschen nach dem Training – Ein Moment für sich selbst, aber nicht nur

Nachdem ich den letzten großen Schluck aus meiner Wasserflasche genommen habe, spüre ich, wie mein Körper langsam herunterfährt. Die Erschöpfung breitet sich wohltuend aus, meine Muskeln fühlen sich warm und angenehm schwer an. Ich weiß, dass ich gleich unter die Dusche muss – und ich weiß auch, dass das der Moment ist, in dem mein Kopf wieder viel zu viel denkt.

Wir bewegen uns alle langsam Richtung Umkleiden, ziehen Schuhe und Shirts aus, lachen noch über ein paar verpatzte Züge und die eine fast epische Bruchlandung von Malik auf der Matte. Die Stimmung ist locker, aber trotzdem liegt eine gewisse Spannung in der Luft.

Das Duschen nach dem Training hat immer so eine eigene Dynamik. Einerseits ist es Routine – schnell den Schweiß abwaschen, entspannen, runterkommen. Andererseits sind wir Jungs, alle mitten in der Pubertät, mit einem Haufen Hormone im Blut, und auch wenn niemand es direkt sagt, weiß jeder, dass hier ein unausgesprochenes Spiel von Blicken und Grenzen stattfindet. Ich versuche immer, so normal wie möglich zu bleiben. Nicht zu hastig, aber auch nicht zu langsam. Nicht zu versteckt, aber auch nicht zu offen. Gerade genug, um nicht aufzufallen.

Als ich unter die warme Dusche trete, spüre ich sofort, wie sich mein Körper entspannt. Der Wasserstrahl rinnt über meine Schultern, meine Brust, läuft in kleinen Strömen über meine Arme. Ich schließe kurz die Augen und lasse die Anspannung des Trainings von mir abfallen. Doch ich bin mir gleichzeitig bewusst, dass ich nicht alleine bin. Links von mir steht Jonas, seift sich die Arme ein, sein Rücken ist leicht gebeugt, während das Wasser an ihm herabläuft. Er hat eine definierte, aber nicht übertrieben muskulöse Statur. Sein Körper ist der eines Kletterers – schlank, drahtig, jeder Muskel hat seinen Zweck.

Neben ihm Malik, dessen Haut im Licht der Umkleide feucht glänzt. Er grinst über irgendeinen Spruch, den Jonas gemacht hat, streicht sich durch seine nassen Haare und dreht sich leicht zur Seite. Sein Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig, und ich merke, dass ich kurz zu lange hingesehen habe. Sofort schaue ich weg, konzentriere mich darauf, mein Duschgel auf der Haut zu verteilen. Nicht auffallen. Bloß nicht auffallen. Ich frage mich, ob es den anderen genauso geht. Ob sie auch manchmal unbewusst schauen. Oder ob es nur an mir liegt.

Ich wage einen kurzen Blick nach rechts, wo Jonas jetzt seinen Nacken massiert, während Malik sich das Duschgel über die Brust streicht. Alles an ihrer Haltung wirkt beiläufig, entspannt – so, als wäre das hier nichts weiter als Routine. Und doch fühle ich mich gerade alles andere als routiniert.

Das Wasser rauscht weiter, das Lachen der anderen mischt sich mit dem Echo in den Fliesen. Ich versuche, meinen Blick bei mir zu halten, konzentriere mich auf meine eigene Haut, auf das Gefühl des warmen Wassers, das über meinen Körper läuft. Aber es ist schwer, nicht hinzusehen, nicht wahrzunehmen, nicht zu vergleichen. Nicht zu fühlen. Ich frage mich, ob jemand bemerkt, dass ich stiller bin als sonst.

Malik seift sich seinen unteren Rücken ein, Jonas fährt mit den Händen durch seine triefenden Haare, und für einen Moment fühlt es sich an, als wäre ich in einer Blase, in der alles intensiver ist: Das Wasser, die Wärme, die Geräusche, das Gefühl der Nähe. Ich muss raus hier.

Anziehen – Zurück in die Normalität

Mit einem tiefen Atemzug drehe ich das Wasser ab, streiche mir mit beiden Händen das nasse Haar aus der Stirn und trete aus der Dusche. Mein Herz schlägt etwas zu schnell, aber ich sage mir, dass das nur von der Wärme kommt. Mit dem Handtuch rubbele ich meine Haut trocken, versuche, so gelassen wie möglich zu wirken, während die anderen noch weiterplaudern und sich abtrocknen. Ich stehe vor meinem Spind, ziehe meine Boxershorts an, dann die Jeans, das Shirt. Mit jedem Kleidungsstück, das meine Haut bedeckt, kehrt langsam wieder dieses Gefühl der Normalität zurück.

Ich wünschte, es wäre mir egal. Ich wünschte, ich könnte einfach so tun, als wäre das Duschen nach dem Training nichts Besonderes. Aber seit ich mir selbst eingestanden habe, dass ich Jungs mehr anschaue als nur aus Neugier, ist es schwer, solche Momente nicht zu überdenken. Ich binde meine Schuhe zu, werfe meinen Rucksack über die Schulter, und als ich mich umschaue, sehe ich, dass Malik und Jonas auch langsam fertig sind.

„Alter, ich bin sowas von tot“, stöhnt Jonas, während er sich das Shirt über den Kopf zieht. „Morgen habe ich Muskelkater an Stellen, die ich nicht mal benennen kann“. „Digger, sag mir Bescheid, wenn du eine neue Schmerzskala entwickelst“, grinst Malik und klatscht ihm locker auf die Schulter. Ich lache kurz mit, aber meine Gedanken sind noch woanders. „Bis zum nächsten Mal, Justin“, sagt Malik, als er seine Tasche schnappt. „Lass dich nicht von der Schule killen“. „Ich versuch’s“, erwidere ich, und hebe die Hand zum Abschied.

Die anderen verschwinden nacheinander aus der Umkleide, und schließlich bin ich alleine. Ich atme tief durch. Mein Herz hat sich beruhigt, aber dieses Kribbeln in meinem Bauch ist noch da. Und ich weiß, dass es nicht nur vom Klettern kommt. Die kühle Abendluft schlägt mir entgegen, mischt sich mit dem leichten Schweiß, der noch auf meiner Haut liegt. Ich laufe langsam los. Und meine Gedanken? Die sind wieder beim nächsten Freitag.

Bei Leo.

Bei dem Gefühl, dass da noch etwas auf mich wartet. Etwas, das ich noch nicht ganz verstehe – aber unbedingt herausfinden will.

Zuhause – Bobby wartet auf mich

Als ich die Wohnungstür aufschließe, schlägt mir der vertraute Geruch von warmem Essen entgegen. Ich höre sofort das leise Klappern von Geschirr aus der Küche, und bevor ich überhaupt meine Schuhe ausziehen kann, ertönt Bobbys Stimme. „Ey, Justin, ernsthaft? Wie spät ist es?“! Mist. Ich checke mein Handy. 20:37 Uhr. Ich hatte versprochen, spätestens um acht zuhause zu sein – aber irgendwie hatte ich in der Umkleide getrödelt, zu lange nachgedacht, war dann langsam gelaufen…, und jetzt? Jetzt ist Bobby genervt, weil er offensichtlich mit dem Essen gewartet hat.

Ich werfe meine Tasche in die Ecke, streife mir durch meine immer noch leicht feuchten Haare und schlurfe in die Küche. Bobby steht am Tisch, die Arme verschränkt, sein Blick leicht tadelnd, aber nicht wirklich sauer. Er ist zehn Jahre älter als ich, aber manchmal fühlt es sich an, als hätte er zwei Rollen gleichzeitig – Bruder und eine Art Elternteil in einem. Seit unsere Eltern nicht mehr da sind, hat er so viel übernommen. Zu viel manchmal. Auf dem Tisch stehen zwei Teller mit Pasta, Dampfschwaden steigen noch leicht auf. Bobby hat gekocht, wie so oft. Ich werfe ihm einen schiefen Blick zu. „Sorry…, hab die Zeit vergessen“. Er seufzt, setzt sich an den Tisch und schüttelt den Kopf: „Bruderherz, ich hatte Hunger. Ich hätte längst anfangen können.“ Ich setze mich ihm gegenüber und senke kurz den Blick. „Hättest du ja auch…“.

Bobby nimmt sich eine Gabel voll Pasta, kaut einmal, und dann mustert er mich genauer. Ich merke, wie sein Blick sich verändert – weniger genervt, mehr… aufmerksam. „Okay“, sagt er schließlich, während er die Gabel ablegt. „Irgendwas ist los mit dir. Und es ist nicht nur das Training.“

Ich starre auf meine Nudeln. Habe irgendwie keinen Hunger mehr. Bobby kennt mich zu gut. Ich spiele mit der Gabel in der Soße, rühre sie herum, anstatt zu essen. Mein Kopf ist voller Gedanken, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

Bobby lehnt sich vor, stützt die Ellenbogen auf den Tisch. „Komm schon, Justin. Was geht dir durch den Kopf? Schule? Stress? Oder… was anderes“? Er betont das letzte Wort ein wenig, und es trifft mich irgendwie direkt. Was anderes. Ja! So vieles anderes! Ich schlucke. Der Kloß in meinem Hals fühlt sich riesig an. „Ich…“.

Ich atme tief durch, merke, dass meine Finger leicht zittern. Warum ist es so schwer, das auszusprechen? Es ist doch Bobby. Mein Bruder. Der Typ, der immer da war. Ich schaue auf, treffe seinen Blick. Seine dunklen Augen sind ruhig, warm, geduldig. Er wartet. Drängt mich nicht. Also sage ich es. „Es geht um mich. Und… um Jungs.“ Bobby blinzelt nicht mal. „Okay…“

Ich schließe kurz die Augen, reiße mich dann aber zusammen. Ich will nicht mehr nur schweigen. Ich will, dass er es versteht. Dass ich es verstehe. „Ich meine…, ich hab noch nie mit jemandem…, du weißt schon…, war noch nie mit einem Jungen zusammen. Nie geküsst. Nie…, keine Ahnung. Aber…, ich wünsche es mir so sehr.“ Mein Brustkorb fühlt sich eng an. Ich schlucke schwer. Spreche weiter. „Ich sehne mich nach jemandem. Nach einem, der mich will. Der mich sieht. Aber es ist so… schwer. Ich hab keine Ahnung, wie ich das anfangen soll. Keine Ahnung, ob das überhaupt für mich möglich ist.“

Bobby legt die Gabel leise auf den Teller. Seine Gesichtszüge sind ruhig, aber ich sehe, wie sehr er mir zuhört.

Ich merke, dass ich jetzt sowieso nicht mehr aufhören kann. „Ich beobachte… andere Jungs. In der Schule. Beim Klettern. Unter der Dusche. Und ich hasse mich manchmal dafür, weil ich nicht weiß, ob das normal ist. Ob das nur ich bin. Und dann denke ich an Leo… und ich…“. Ich verstumme. Mein Herz rast.

„Leo.“ Bobby sagt seinen Namen leise, fast nachdenklich. Dann hebt er eine Augenbraue. „Der Typ vom Shooting?“

Ich nicke.

„Und… was ist mit ihm?“

Mein Magen zieht sich zusammen. Ich lege die Gabel weg, lehne mich zurück, fahre mir durch die Haare.

„Ich weiß es nicht. Er ist cool. Er ist locker. Und wenn er mit mir redet, dann…“.

Ich starre an die Wand. Sammle meine Gedanken. „Dann fühlt es sich an, als wäre ich mehr als nur ein Typ, der irgendwie versucht, reinzupassen. Als wäre ich… wichtig. Besonders. Keine Ahnung.“

Bobby lehnt sich zurück, seine Arme sind locker auf der Stuhllehne. „Und glaubst du, er steht auf Jungs?“

Ich lache kurz, trocken. „Keine Ahnung. Vielleicht. Vielleicht nicht. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein.“

Stille.

Dann sagt Bobby leise: „Aber du hoffst, dass er es tut.“

Ich sehe ihn an. Ja! Das tue ich. Ich presse die Lippen zusammen, nicke langsam.

Bobby atmet tief durch. Dann schüttelt er leicht den Kopf und grinst. „Justin, du machst dir zu viele Gedanken.“

„Ja, danke. Hilft total.“

Er lacht leise. Dann wird er wieder ernst. „Hör zu, Kleiner. Du bist 16. Du bist mitten in all diesen Gefühlen und Gedanken und Unsicherheiten. Und das ist okay. Du musst nicht alles jetzt sofort wissen. Du musst nicht jetzt schon einen perfekten Plan haben, wie du jemanden findest.“

Ich senke den Blick. „Aber ich will nicht warten. Ich will das erleben.“

Bobby nickt langsam. „Ich weiß.“

Er sieht mich an. Lange. Dann sagt er etwas, das mich trifft.

„Du suchst nach Jemandem. Aber du hast noch gar nicht gelernt, wie du dich selbst lieben kannst.“

Ich will erst widersprechen. Aber dann merke ich, dass er vielleicht Recht hat.

„Justin, du bist ein guter Mensch. Du bist klug, talentiert, loyal. Aber du zweifelst so sehr an dir selbst, dass du nicht mal merkst, wie besonders du bist.“

Ich spüre einen Kloß im Hals. Ich kämpfe damit, nicht zu emotional zu werden.

„Und was Leo angeht…“, Bobby grinst leicht. „Vielleicht steht er auf Jungs. Vielleicht nicht. Aber weißt du, was du tun kannst?“

Ich schüttle den Kopf.

„Du kannst einfach du selbst sein. Wenn er dich mag, dann wird er das so oder so tun. Und wenn er mehr als nur Freundschaft für dich fühlt…, dann wirst du es irgendwann merken. Aber hör auf, dich selbst zu stressen. Genieße es. Genieße das Kennenlernen. Das Ungewisse. Das Kribbeln.“

Ich atme tief durch. Er hat wieder Recht. Ich habe mich so sehr auf das Ergebnis fokussiert, dass ich vergessen habe, dass der Weg dorthin auch zählt.

Ich lächele schwach. „Danke, Bobby.“

Er grinst. „Dafür bin ich doch da.“

Dann deutet er auf meinen Teller. „Und jetzt iss, bevor ich dich füttern muss.“

Ich lache leise, greife nach meiner Gabel. Mein Kopf ist immer noch voll. Aber irgendwie…, fühlt sich alles ein bisschen leichter an. Und in meinem Herzen?

Da ist die Vorfreude auf Freitag.

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