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Zuhause

Teil 2

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Ich sah nur so etwas wie eine wischende Bewegung - und dann ein scharfer Schmerz. Stefan hatte mir ins Gesicht geschlagen. Nun stand er auf und begann, seinen Kram zusammenzupacken. Ich saß da und kämpfte ... mit Tränen, mit Scham, mit Trauer und um meine Selbstachtung. Niemand, absolut niemand hatte das Recht, mich zu schlagen und schon gar nicht, weil ich schwul war. In meine Trauer mischte sich Zorn und schließlich konnte ich aufstehen. Mein Zeug war schnell gepackt und wir fuhren schweigend zurück.

Es war eine lange Fahrt und in meinem Kopf wirbelten viele Gedanken durcheinander. Eines war klar: Im Heim war es immer noch viel besser als hier und ich sehnte mich nach meinem eigenen Zimmer und etwas Ruhe ... und nach einem Kaffee mit Karin, sie würde verstehen.

Und ich fühlte Schmerz ... ganz tief.

Und ich begann zu begreifen, was es heißen kann, schwul zu sein.

Und ich begriff, wie allein ich wirklich war.

Als wir ankamen, war es wie in einem schlechten Film. Wir sprachen nicht, es gab sowieso nichts mehr zu sagen. Zum Glück waren Stefans Eltern noch nicht wieder zurück, das ersparte mir die Auseinandersetzung und ich wollte nur weg, egal wohin. Naja, zumindest das war kein Problem, ich mußte nur zum Bahnhof und nach München. Meine Fahrkarte galt zwar erst ab Sonntag, aber für die Zugfahrt nach München hatte ich genug Geld und eine Nacht in München sollte nun wirklich kein Problem sein. Die eigentlich nötige Dusche schenkte ich mir, schnell die Tasche packen, Stefans Badehose ließ ich auf einem Stuhl liegen, er würde sie wohl nicht mehr anziehen - schließlich hatte ich sie getragen.

Stefan sah ich nicht mehr und ich atmete auf, als ich die Haustür hinter mir schloß und auf die Straße trat. Jetzt war ich tatsächlich so allein, wie ich mich fühlte und irgendwie fühlte sich das richtig an. Falls nötig würde ich eben den Weg bis zum Bahnhof zu Fuß gehen, Zeit genug hatte ich ja ... da war nur ein kleines Problem: Welchen Weg mußte ich nehmen? Die ungefähre Richtung war klar, also, los geht's. Hin und wieder fragte ich andere Fußgänger nach der Richtung, einmal wurde ich sogar auf ein Glas Wasser eingeladen, naja, eigentlich auf ein Bier, aber bei 30 Grad im Schatten zog ich Wasser vor. Die letzten Kilometer hatte ein Autofahrer Mitleid und brachte mich zum Bahnhof - eigentlich alles nette Leute, solange sie nicht wußten, daß ich schwul war.

Zur Abwechslung hatte ich dann Glück, es fuhr tatsächlich noch ein Zug nach München und ich brauchte nur einige Minuten zu warten. Es kam wieder ein Exemplar der Gattung »Regionalexpress«, aber diesmal sprach der Schaffner sogar hochdeutsch - es ging offensichtlich aufwärts. Dann die Durchsage »München Hauptbahnhof, der Zug endet hier.« Endlich wieder auf vertrautem Boden, in einer Großstadt konnte mir nicht viel passieren. Im Heim gab es reichlich Jungs, die ihre Zeit auf der Straße hinter sich hatten und ich wußte genug, um keine Anfängerfehler zu machen. Abgesehen davon hatte ich etwas Geld, einen Ausweis und eine gültige Fahrkarte - geradezu paradiesische Zustände. Erstmal die Tasche ins Schließfach, kam nicht in Frage, daß man mir den alleinreisenden Jugendlichen auf 100m ansah. Dann schaute ich mir den Bahnhof gründlich an, wenn ich nachts weglaufen mußte, würde ich wissen, wohin ich lief. Anschließend stattete ich dem Reisezentrum einen langen Besuch ab, die meiste Zeit stand ich in einer Schlange, vor mir eine Frau, die ausgiebig Gebrauch von ihrem Haarspray gemacht hatte - der Geruch war umwerfend. Dafür hatte ich dann die schnellste Verbindung, 4:43 Uhr ging mein Zug, einmal umsteigen und ich wäre wieder zu Hause. Das ließ mir etwas über neun Stunden in München - eigentlich genug Zeit, um das Nachtleben kennenzulernen. Nachdem sich mein Magen nach der Haarsprayattacke wieder beruhigt hatte, machte ich mich auf den Weg einen McD's zu suchen - klar, irgendwo mußte einer sein. Es dauerte auch nicht lange, bis ich fündig wurde, allerdings gefiel mir die Sache nicht, zu viele Sex-Shops, Kinos und Ramschläden, wirklich nicht die Gegend, in der ich im Dunkeln noch unterwegs sein wollte. Also weiter, wenn auch mit knurrendem Magen, ich spielte kurz mit dem Gedanken, ein paar Cheeseburger mitzunehmen, aber dann hätte ich mir auch gleich ein Schild mit der Aufschrift »Tourist« um den Hals hängen können. Endlich kam ich zu einem größeren Platz und am Rand sah ich das vertraute goldene M - nichts wie rein! Der Betrieb hielt sich in Grenzen und ich erwischte einen freien Tisch.

Jetzt hatte ich Zeit, Zeit, den Autopiloten abzuschalten, Zeit nachzudenken. Gestern Abend hatte ich noch bei den Steinbergs gesessen und wir hatten zusammen gelacht. Frau Steinberg und ihre Kochkünste, Herr Steinberg und sein trockener Humor ... und Stefan. Es war schön gewesen, mal ein paar Stunden in der normalen Welt leben zu können ... aber nun war es vorüber und es tat weh.

»Hi, Kleiner, neu hier? Ich kann Dir München zeigen, all die tollen Sachen! Du kannst mich Manfred nennen. Rauchst du eine mit?«

Gut über dreißig, kein Gepäck, Stil etwas zu modisch.

Ich war fremd, nicht blöd, aber ich war allein und ich wollte keinen Ärger, deswegen blieb ich höflich.

»Danke, aber ich bin nicht interessiert. Schönen Abend noch.«

»Hey, du kannst mich doch hier nicht einfach so stehenlassen, du weißt doch gar nicht, was du verpaßt!«

»Ich weiß sehr genau, wo das Ganze enden soll, aber ich bin nicht interessiert, danke.«

Er wollte anfangen zu reden, aber ich stand auf und trat sehr dicht an ihn heran.

»Hören Sie, wir wollen beide kein Aufsehen. Wissen Sie was passieren wird, wenn ich hier anfange Sie anzuschreien, so in etwa: Arschloch, nimm deine Hand aus meiner Hose! Wie gesagt, ich bin nicht interessiert.«

Er hatte verstanden, ich konnte nur hoffen, ihn nicht an einem anderen Ort zu treffen.

Mist, ich hatte einfach nicht aufgepaßt. Wie der letzte Trottel hatte ich vor meinen Cheeseburgern gesessen und traurig ausgesehen - fast ein Wunder, daß sich so lange niemand an mich ’rangemacht hatte.

»Entschuldigung, ist der Platz noch frei?«

Etwas über vierzig, Tablett in der Hand, kein Gepäck. Grrr, hatten es die Jungs denn nicht geschnallt?

»Danke, aber wie ich schon sagte, ich bin nicht interessiert!«

»Ähh, ich weiß nicht woran du nicht interessiert bist, ich wollte eigentlich nur meine Hamburger essen.«

Oops, da hatte ich wohl schief gelegen.

»Entschuldigung, tut mir leid ... selbstverständlich ist der Platz frei, bitte!«

Wir kamen ins Gespräch, er hieß Martin - mit Nachnamen - und kam aus dem Ruhrgebiet. Er hatte irgendwas mit Banken zu tun, jedenfalls hatte er einen Job in München gefunden, aber seine Familie lebte noch im Ruhrgebiet - und er fuhr hoch, wann immer er Zeit hatte.

»Du solltest mal das Häuschen sehen, das ich mir angeschaut hab - wie geschaffen für Inge und die Kinder und für mich. Liegt so richtig schön im Grünen und mit der Straßenbahn brauch' ich nur ne halbe Stunde bis zur Arbeit. Davon haben wir schon lange geträumt, ist ja auch ’n bißchen eng in der Wohnung mit den Kindern.«

Langsam kehrte mein Vertrauen in die Menschheit zurück, wie er da saß und mit leuchtenden Augen von seiner Familie erzählte, es war einfach schön und ich fand mein Lächeln wieder.

»Du, Thommy, sag mal, was hast du da eben eigentlich gemeint, von wegen du hast kein Interesse?«

»Ach, da wollte mich nur einer aufreißen und er war ein bißchen hartnäckig.«

»Wie ... warum ... ein Mann?«

Die Verwirrung in seinem Gesicht war zu schön, ich mußte einfach lachen.

»Entschuldigung, Herr Martin, aber ich bin sicher, diese Typen gibt es auch im Ruhrgebiet, ist ihnen nur bisher nicht aufgefallen.«

»Na, wenn ich den zwischen die Finger kriege!«

Nein, ich lachte nicht, auch wenn Herr Martin etwa so kräftig wirkte. wie ein welkes Salatblatt - schließlich war es der gute Wille, der zählte und den hatte er.

Irgendwann fingen wir uns böse Blicke vom Personal ein, wir blockierten den Tisch und es wurde ziemlich voll.

»Thommy, ich muß los, mein Zug geht um 23:10 Uhr und ich muß noch mein Gepäck abholen.«

»Ich muß auch zum Bahnhof, wenn sie nichts dagegen haben, können wir zusammen gehen.«

»Klar, komm mit, wer weiß was da für Typen unterwegs sind.«

Und so kam ich unter dem Schutz von Herrn Martin zum Bahnhof, wer da wen beschützte war wohl nicht so ganz klar, wie gesagt, er war nicht unbedingt eine imposante Erscheinung.

So gegen kurz vor elf verabschiedeten wir uns und ich schlenderte durch den Bahnhof und überlegte, wie ich die Zeit totschlagen könnte. Mist, der Buchladen hatte schon zu und ein paar Romane standen unerreichbar hinter Fensterglas.

Dann griff jemand nach meinem Oberarm und drehte mich herum.

»Thommy!«

Herr Steinberg. Ich erschrak bis in die Knochen und stotterte herum

»Äh ... ich ... es ...«

Und dann war plötzlich etwas zwischen uns und packte Herrn Steinberg am Hemd

»Ist das der Typ, Thommy? Hat der dich angemacht? Dem brech' ich alle Knochen!«

Herr Martin. Er hatte mich offensichtlich ins Herz geschlossen und nun Herrn Steinberg mit dem aufdringlichen Typen im McD's verwechselt - und er war fest entschlossen, Herrn Steinberg zu zeigen, wo der Hammer hängt.

»Herr Martin, nein, lassen sie ihn los! Er ist ... war ... mein Gastgeber.«

»Was? Er hat schon mit dir? Die Sau! Jetzt kreist der Adler!«

»Nein, Herr Martin, nun lassen sie ihn endlich los! Seine Familie hat mich nach Bayern eingeladen.«

»Oh«

Ich konnte nicht anders, ich lachte bis mir die Tränen aus den Augen liefen. Der respektable Chefarzt einer renommierten Klinik stand zerzaust und völlig verwirrt in der Bahnhofshalle und Herr Martin entschuldigte sich wortreich, schlug mir auf die Schulter und sprintete zum Zug.

»Thommy, kannst du mir bitte erklären, was das hier gerade war?«

»Klar, aber das ist eine lange Geschichte.«

»Ich hab' Zeit - aber nicht hier. Es gab hier in der Gegend mal ein ganz respektables Restaurant, laß uns mal suchen gehen.«

Herr Steinberg hatte - wie üblich - untertrieben. Er kannte nicht nur den Weg sondern auch den schwarzbefrackten Oberkellner und binnen kürzester Zeit hatten wir einen ruhigen Tisch und diverse Vorspeisen.

»Thommy, ich weiß, daß es ziemlich viel verlangt ist, aber ich würde gern wissen, was eigentlich genau passiert ist. Aus Stefan war nicht viel ’rauszukriegen.«

Ich erzählte die ganze Geschichte ... es dauerte lange, aber er hörte zu und unterbrach mich nicht. Eigentlich erzählte ich sehr viel mehr, ich sprach von meiner Angst und von meinen Hoffnungen ... es war verrückt, aber es spielte keine Rolle mehr, ob er es nun wußte oder nicht und es tat einfach gut, mal offen reden zu können.

Irgendwann war ich fertig. Die Vorspeisen standen noch auf dem Tisch, unberührt. Der Aschenbecher war voll, mein Hals fühlte sich rauh an und ich war erschöpft und leer.

»Karl, bringen sie uns bitte zwei Schachteln Camel und zwei Kännchen Kaffe. Thommy, laß uns den Kaffee trinken und dann beenden wir das hier. Ich möchte dich bitten, mit mir nach Hause zu fahren.«

Ich wollte etwas sagen, aber er sprach einfach weiter.

»Nicht, weil meine Frau sich Sorgen macht, nicht um Stefan eine Lektion zu erteilen, sondern weil ich verdammt stolz darauf wäre, dich meinen Sohn zu nennen. Bitte, gib uns eine Chance!«

Karl kam mit dem Kaffee und wir warteten, bis er weg war.

»Ich werde dir nichts vormachen, es wird nicht leicht werden, aber eines weiß ich mit absoluter Sicherheit: Ich werde immer und bedingungslos hinter dir stehen. Ich weiß nicht, ob es dir noch etwas bedeutet, aber darauf hast du mein Wort.«

»Ihr Wort bedeutet mir sehr viel und ich verspreche ihnen auch etwas: Wenn das funktioniert, dann werde ich alles tun, um ein guter Sohn zu sein.«

Und dann sagte Herr Steinberg etwas, das nie vergessen werde

»Willkommen zu Hause, Thommy!«

Wir gingen noch meine Tasche aus dem Schließfach holen und dann fuhren wir durch das nächtliche München. Als wir die Autobahn erreichten, ging bei mir einfach das Licht aus und ich schlief.

Erst viel später habe ich erfahren, daß Herr Steinberg mich ins Bett getragen hat. Stefan wurde wach und sah seinen Vater eine leblose Gestalt die Treppe herauftragen und dachte, ich sei mindestens schwer verletzt. Dann tagte der Familienrat kurz und heftig und während ich selig schlummerte sprach Herr Steinberg wohl einige deutliche Worte, aber das wußte ich damals nicht.

»Guten Morgen!«

Es wurde plötzlich ganz hell und eine Hand schüttelte meine Schulter und langsam wachte ich auf. Ich blinzelte. Herr Steinberg aber irgendwie ... ich blinzelte nochmal ... doch, es war Herr Steinberg, aber in einem reichlich alten grauen Jogginganzug.

»Na, wie wäre es denn mit Frühstück? Ist zwar eigentlich Zeit für das Mittagessen, aber wir haben auch lange geschlafen.«

»Ja, klar ... ich brauch' nur ein paar Minuten.«

Unter der Dusche wurde ich dann wach und ich kann nicht sagen, daß ich mich sonderlich auf die Begegnung mit Stefan freute ... und die kam schneller, als erwartet.

Als ich die Tür öffnete, um zum Frühstück zu gehen, stand Stefan da, er hatte wohl auf mich gewartet. Ich zuckte zusammen, weniger, weil ich Angst vor Stefan gehabt hätte, sondern weil ich nicht erwartet hatte, ihn dort zu sehen. Ich muß wohl wie ein geprügelter Hund ausgesehen haben und in einer gewissen Art und Weise war ich das auch ... und ich fühlte mich auch so.

Ich glaube, das war der Moment, in dem Stefan verstand. Ihm wurde klar, daß ich kein Konkurrent war und kein Monster, sondern ein Junge, der mehr als genug Pech gehabt hatte. Er sah einen Jungen, der verzweifelt ein bißchen Glück suchte und der sich dabei verdammt allein fühlte. Ich glaube, er sah das Mißtrauen und die Angst in meinen Augen und ihm wurde klar, was er getan hatte.

Nein, er sagte nichts, er umarmte mich, ganz fest. Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, was er da tat und dann drückte ich ihn auch an mich. Ich glaube, wir standen ziemlich lange so, denn als ich meine Augen öffnete, sah ich Herrn und Frau Steinberg und sie lächelten bis über beide Ohren.

Wir frühstückten auf der Terrasse und es gab sogar eine eigene Kaffeekanne für mich, mit vernünftigem Kaffee, wenn auch ohne Salz. Ich hatte entsetzlichen Hunger und ließ mich nicht zweimal bitten - unter den erstaunten Augen von Frau Steinberg aß ich so ziemlich alles, was auf dem Tisch war. Erst als sie murmelte

»Ich habe noch ein paar Brötchen eingefroren und etwas Wurst ist auch noch da.«

fand ich wieder zu meiner angeborenen Bescheidenheit und ließ mich in den Stuhl zurückfallen.

»Danke, Frau Steinberg, für mich nicht. Ich bin wirklich satt.«

»Das freut mich, aber ich dachte auch mehr an meinen Mann.«

Oops, ein schneller Blick auf den Tisch, hm, da war wirklich nichts eßbares mehr.

»Ähem, tut mir leid, irgendwie hab' ich wohl die Kontrolle verloren ...«

Herr Steinberg grinste.

»Na, wenn bei dir ein Kontrollverlust immer so aussieht, dann bin ich zufrieden. Wir werden einfach ein paar Brötchen mehr kaufen.«

»Und ich bin froh, daß wir jetzt endlich einen guten Esser im Haus haben, sonst blieb vom Abendessen ja immer so viel übrig.«

Ich dachte an die Heringe mit Sauerkraut und Nudeln zurück ... und wand mich in Verlegenheit, was natürlich die anderen beiden zum lachen brachte.

»Laß mal Mama, Thommy kennt deine Kochkünste schon. Aber wolltet ihr nicht mal zusammen kochen?«

Ich griff dankbar nach dem Rettungsring, den Stefan mir da zuwarf.

»Ja, eine gute Idee!«

Und dann traf es mich, ich hatte etwas nicht unwesentliches vergessen.

»Entschuldigung, mir ist da grad' noch etwas eingefallen. Ich habe morgen wieder Schule!«

Das hatten wir alle vergessen, eigentlich sollte ich schon im Zug sitzen.

Herr Steinberg war mal wieder Herr der Situation

»Johanna, schau doch mal nach den Brötchen in der Tiefkühltruhe, ich geh telefonieren.«

So erfuhr ich den Vornamen von Frau Steinberg und sogar sie schaffte es, mit Brötchen und Wurst aufzutauchen, bis ihr Mann zurück war. Ich weiß bis heute nicht, wie man rund 30 min brauchen kann, um Brötchen in der Mikrowelle aufzutauen, aber was soll's.

»Ich habe mit Karin und deinem Heimleiter gesprochen, du bist bis auf weiteres entschuldigt. Ich habe ihnen die Situation erklärt - natürlich ohne allzuviele Einzelheiten, ich wollte dir nicht vorgreifen. Ach so, Grüße von Karin soll ich noch ausrichten.«

»Danke! Ja, wie geht's denn jetzt eigentlich weiter?«

»Also, ich weiß, daß ich jetzt erst einmal ein oder zwei Brötchen esse, bevor dir einfällt, daß du noch Hunger hast ...«

Ein Grinsen von Herrn Steinberg in meine Richtung.

» ...und dann werde ich eine Zigarette rauchen ...«

Noch ein Grinsen.

»... und dann werde ich anfangen, mir darüber Sorgen zu machen, womit ihr zwei mich zum Abendessen vergiften werdet.«

»Und mich!«

Stefan - wer sonst.

»Und zwischendurch werde ich das Telefon nicht aus der Hand legen und an diesem wunderschönen Sonntag ein paar Leute zum arbeiten bringen.«

Und mit einem freudigen Knurren biß er in sein Brötchen.

»Ich glaube, ich übersetze das mal besser. Wenn mein Göttergatte geruht hat, zu frühstücken und die Luft zu verpesten, wird er mit einigen Leuten telefonieren, um zu klären, wie das nun läuft. Äähh, da fällt mir ein - willst du denn eigentlich bei uns bleiben?«

»Aus ganzem Herzen, Frau Steinberg: Ja!«

Sie stand auf und küßte mich auf die Stirn.

»Ich freue mich, Thommy!«

Herr Steinberg hatte überraschend schnell das erste Brötchen vernichtet und erklärte weiter:

»Weißt du, meistens sind meine Frau und ich ein ziemlich gutes Team - wenn sie mich nicht gerade mit irgendwelchen Gegenständen bewirft oder kocht, wobei ich den ersten Fall vorziehe. Was ich sagen will, ist Folgendes: Stefan und du, ihr beide macht euch gleich unsichtbar, geht nach oben oder spazieren oder macht sonst etwas. Johanna, du nimmst das Telefon im Wohnzimmer, ich bin im Büro. Und stört uns nicht, wenn wir so richtig arbeiten, sind wir unausstehlich.«

Stefan schob den Stuhl zurück und grinste.

»Und das ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mal stolz auf meine Eltern bin. Ich glaube wir gehen jetzt besser.«

Und genau das taten wir.

Während das Dreamteam anfing, die Telefone zu quälen, gingen wir in Stefans Zimmer und ich war ... überrascht. Stefan merkte das natürlich und meinte

»Was hast du erwartet? Designermöbel und Whirlpool?«

»Nein, natürlich nicht ... naja, irgendwie schon. Ich glaub', ich kenne dich einfach noch gar nicht. Du hast recht, das hier hätte ich nicht erwartet.«

Das hier - das war seine Einrichtung, oder besser das Fehlen einer solchen. Das Zimmer war groß und hell, dunkelgrüner Teppichboden, hellbeige Wände. Eine Matratze auf dem Boden, ein uralter Schreibtisch, seine Kleidung hing von einem Karussellständer, wie im Kaufhaus. Einige Bücher, eine Gitarre, der CD-Player bestenfalls Durchschnitt - nein, so hatte ich mir Stefans Zimmer nun wirklich nicht vorgestellt. Einzig sein Notebook, das da so unscheinbar auf dem Schreibtisch stand, paßte nicht so ganz - ich hatte das Modell im TV gesehen, in einem Bericht über die neueste Notebookgeneration.

»Dann sieh es als Designvorschlag für dein Zimmer - schließlich wirst du das Gästezimmer ja wohl anders einrichten, oder?«

»Du bist mir um Längen voraus, darüber hab' ich noch gar nicht nachgedacht. War irgendwie ein bißchen chaotisch in den letzten Tagen.«

»Und daran bin ich schuld. Thommy, ich hab' mich noch nicht bei dir entschuldigt ...«

»Doch, das hast du ... und du hast das ganz toll gemacht.«

»Danke, aber trotzdem ... ich hab mich benommen wie ein Arschloch.«

»Hast Du ...«

Ein schnelles Grinsen.

» ... aber du hast mich auch umarmt und das, obwohl du weißt, daß ich schwul bin.«

»Ist das eigentlich wahr, ich meine, daß ich der erste war, dem du es gesagt hast?«

»Ja.«

»Na toll, und ich hab dich als Antwort geschlagen.«

»Ja, irgendwie hatte ich mir das auch anders vorgestellt.«

»Thommy, ich weiß, das ist wahrscheinlich eine saublöde Frage, aber ... ich mein wir werden hier zusammen wohnen und ... wie ist das mit dir und mir, ich mein ....«

»Du meinst, ob du dir Sorgen machen mußt, daß ich ein Loch in die Wand bohre und dir beim Duschen zuschaue und mir dabei einen runterhole oder das ich eines Nachts an deinem Bett stehe und dir zwischen die Beine greife? Stefan, ich bin schwul, das heißt, ich mag Jungs, so wie du Mädchen magst. Aber wenn ich jetzt ein Mädchen wäre, wenn du eine Schwester bekommen würdest - würdest du dann versuchen, mich beim Duschen zu beobachten, oder mir nachts zwischen die Beine fassen?«

»Ich verstehe, war eine blöde Frage.«

»Nein, war es nicht. Stefan, ich weiß, daß ich schwul bin, aber ich weiß auch nicht viel darüber.«

Stefans Gesicht wurde zum Fragezeichen.

»Wieso, ich meine, du bist schwul, was gibt es denn da noch zu wissen?«

»Stefan! Denk doch mal an deine eigene Reaktion. Was würde denn deine Schulklasse sagen, wenn sie wüßte, daß du einen schwulen Bruder hast? Werden euere Nachbarn noch ein Wort mit mir reden? Krieg ich von den Jungs in der Schule jeden Tag was auf Maul? Und wie ist das überhaupt, mit einem Jungen zusammen zu sein? Verdammt, Stefan, ich weiß gar nichts!«

»War wieder eine saublöde Frage.«

»Na, diesmal wirklich!«

Allerdings konnte Stefan nun auch nichts dafür und ich grinste ihn an.

»Hey, sieht so aus, als wär' das alles nicht mehr nur mein Problem!«

»Thommy, wir sind zwar keine perfekte Familie, aber wenn es ernst wird, dann halten wir zusammen - und das gilt auch für dich. So, und jetzt gibt es einen für dich.«

Er stand auf und griff sich die Gitarre

»Der Song ist vom Boss, er heißt No Surrender und ich glaube, er paßt ganz gut.

Well we made a promise and we swore we'd always remember

No retreat baby no surrender

Blood brothers in the stormy night with a vow to defend

No retreat baby no surrender.»

Stefan sang wunderschön und ich wünschte er würde niemals aufhören. Noch nie hatte jemand für mich ein Lied gesungen, und als der letzte Akkord verklang waren meine Augen feucht.

Stefan legte mir seine Hand auf die Schulter und sagte leise

»Kein Rückzug, Thommy, niemals aufgeben.«

»Kein Rückzug, Stefan, niemals aufgeben.«

Ich glaube, in diesem Moment fingen wir an, Brüder zu werden.

Ich hatte Herrn Steinberg versprochen, ein guter Sohn zu sein und ich war fest entschlossen, so langsam damit anzufangen. Stefans Vorschlag war gut gewesen und ich machte mich leise auf den Weg zur Küche. Ich hatte doch irgendwo ein paar Tomaten gesehen ... und Paprika, Zwiebeln ... Hackfleisch in der Tiefkühltruhe, alles klar, Chili con carne, Reis und Tomatensalat, das war nicht zu aufwendig, aber es sollte schmecken.

Mit den Stimmen des Dreamteams im Hintergrund fing ich an, Fleisch auftauen, Gemüse schneiden, Gewürze suchen, tja, es hat schon Vorteile, wenn man gewöhnlich für 12-14 Leute kocht - da ist so eine kleine Mahlzeit wirklich kein Problem. Natürlich war ich sehr vorsichtig mit dem Aufräumen, schließlich war das hier das Refugium von Frau Steinberg - aber ein paar Sachen in die Spülmaschine, einige gebrauchte Töpfe einweichen, hier und dort mal etwas wischen ...

»Johannes, kommst du mal bitte!«

Frau Steinberg lehnte in der Tür und schaute mich ausdruckslos an, dann tauchte ihr Mann auf.

»Johannes, wann hast du denn meine alte Küche weggetan und mir diese gekauft?«

Herr Steinberg bemühte sich um einen verwunderten Gesichtsausdruck.

»Liebling, das weiß ich nicht mehr so genau, schließlich ist die Küche dein Refugium. Aber es will mir scheinen, als hätte ich den Tisch dort schon einmal irgendwo gesehen - aber damals standen große Mengen schmutzigen Geschirrs auf dem Tisch.«

Häh? Was ging denn hier ab?

»Doch, du hast recht, Johannes! Die Spüle hat auch eine geringfügige Ähnlichkeit mit meiner alten Spüle - aber so genau weiß ich das nicht, schließlich stand immer etwas darauf.«

Worauf sich Herr Steinberg nicht mehr halten konnte und losprustete. Frau Steinberg lachte mit und kam dann zu mir.
»Thommy, ich fürchte, du hast einen großen Fehler gemacht!«

»Äh, nun, das tut mir leid, aber welchen Fehler?«

»Tja, Stefan hilft meinem Mann mit dem Garten und ich fürchte, du hast dich eben für die Küche qualifiziert!«

»Dem Himmel sei Dank! Schatz, bedeutet das, daß ab sofort gelegentlich jemand in der Küche steht, der weiß, was er tut?«

»Das ist seit neunzehn Jahren so, du ignoranter Schnösel - aber ab jetzt gibt es jemanden, der weiß, wie man aufräumt!«

Herr Steinberg hüstelte und murmelte leise:

»Nun, wir wollen auch für kleine Verbesserungen dankbar sein.«

Er war nicht leise genug.

»Wie will jemand, der sein Geld damit verdient, Leute aufzuschneiden, wissen, was gutes Essen ist! Geh in dein Büro und Spiel mit deinen Zangen und Skalpellen - hier wird jetzt gearbeitet!«

Worauf Herr Steinberg sich trollte und Frau Steinberg sich suchend umschaute

»Aber wie es scheint, hast du mir keine Arbeit übriggelassen.«

»Naja, eigentlich hab' ich Kochen nie als Arbeit verstanden. Es macht doch Spaß, ein paar Sachen zusammenzurühren und am Ende steht ein Essen auf dem Tisch.«

»So habe ich das noch nie gesehen, aber ich glaube, du hast das hier im Griff. Ich geh mal den Tisch decken.«

Erstaunlich, sie hatte nicht einmal gefragt, was ich da eigentlich kochte. Nun, ich mag es auch nicht, wenn mich jemand beim Kochen stört, mir konnte es also nur recht sein. Pünktlich um 18:30 Uhr stand das Chili auf dem Tisch - gelernt ist gelernt.

»Hm, was ist das denn? Das Abendessen pünktlich auf dem Tisch - du wirst hier noch alles auf den Kopf stellen!«

Herr Steinberg lachte, ließ sich aber nicht davon abhalten, noch ein Flasche Rotwein zu organisieren. Langsam traf auch der Rest der Familie ein.

»Gut, jetzt laßt uns erstmal essen und dann schauen wir mal, wie die Lage ist.«

Es blieb nicht ein Reiskorn über.

Herr Steinberg lehnte sich mit einem wohligen Stöhnen zurück und begann die Lagebesprechung

»Nun, wie euch vielleicht aufgefallen ist, habe ich heute das ein oder andere Telefongespräch geführt.«

Er nun wieder. Ich saß auf heißen Kohlen und Herr Steinberg fing an, heisse Luft von sich zu geben.

»Es war ja auch ein schöner Nachmittag zum telefonieren.«

Er nahm erstmal ein Schlückchen Rotwein

»Mmmhh, wirklich gut. Wo war ich stehengeblieben?«

Man reiche mir eine Wand, ich möchte mir den Kopf stoßen! Das war ja zum in den Tisch beißen.

»Ach ja, richtig, telefonieren. Wußtet ihr schon, daß Josef ein neues Auto hat? Einen schwarzen Porsche - vielleicht wäre das auch was für uns, was meint ihr?«

Stefan stieg natürlich ein.

»Klar eine super Idee! Aber lieber in rot, schwarz ist nicht so der Hit.«

»Und du Johanna, schwarz oder rot?«

»Also, mir schwebt da eher ein helles Beige vor.«

»Schwarz, rot, beige - vielleicht sollten wir unser neues Familienmitglied einmal fragen. Thommy, mein Sohn, welche Farbe würde dir denn gefallen?«

»Das ist mir eigentlich völlig egal, ich würde viel lieber wissen ... Moment mal, wie haben sie mich gerade genannt?«

»Ja, richtig, ich wußte, ich hatte etwas vergessen. Thommy, du fährst die nächsten Tage in dein Heim ...«

Ein genüßlicher Schluck Rotwein

» ... schließlich müssen wir deine Sachen noch hierhin transportieren.«

Ich schrie vor Freude ... und die anderen grinsten mich an. Mich beschlich ein Verdacht.

»Ihr habt das alle schon gewußt, oder?«

Stefan lachte

»Seit ungefähr vier Uhr. Aber du warst ja in der Küche beschäftigt und wir wollten dich nicht stören.«

Ich kriegte das Grinsen einfach nicht aus dem Gesicht.

»Also, Frau Steinberg, langsam verstehe ich Ihren Drang, Gegenstände nach verschiedenen Familienmitgliedern zu werfen!«

»Nicht war, sie können so schnuckelig sein, aber meistens ist es die Hölle mit ihnen!«

Herr Steinberg übernahm mal wieder die Initiative

»Also, schnuckelig oder nicht, ich denke, wir sollten jetzt anstoßen. Trinken wir auf Thommy und Stefan - unsere Söhne!«

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