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Zuhause

Teil 3

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»Thommy, aufwachen!«

Herr Steinberg, Verzeihung, Johannes, wie ich ihn jetzt nennen sollte, schüttelte meine Schulter. Ich beschloß, mir schnellstmöglich einen Wecker zuzulegen, nein, ich hatte eigentlich nichts dagegen, geweckt zu werden, aber es war Sommer ... und ich schlief doch eher leicht bekleidet. Naja, und morgens gab es da nun mal die obligatorische Beule in der Unterhose und neuer Vater hin oder her - das wäre mir nun doch etwas peinlich gewesen.

Heute war ein bedeutender Tag, wir würden in mein altes Heim fahren und meinen Kram abholen. Ich freute mich schon darauf, Karin noch einmal wiederzusehen und anschließend würde ich vor der Aufgabe stehen, mein neues Zimmer einzurichten - auch nicht schlecht. Das Problem war nur, daß Johanna (Frau Steinberg) fahren würde und das sorgte bei mir für einiges Unwohlsein. Johanna und ein wirklich großer BMW, quer durch Deutschland ... das war schon etwas anderes als Bungee-Jumping oder ein simpler Fallschirmabsprung.

Nun gut, die übliche Morgentoilette und dann - kneifen gilt nicht - ab zum Frühstück.

»Morgen, Thommy! Na, bereit für den großen Spaß?«

»Hallo Johanna, ich wünschte, ich wäre so sicher wie du, daß es ein großer Spaß wird!«

»Feigling! Ist doch toll, zwei Tage Freiheit auf der Autobahn .... ahh, ich freu' mich schon, gute Musik, linke Spur und nichts kann uns aufhalten ...«

»Schatz, bitte denke gelegentlich daran, daß es auch noch andere Autos gibt.«

»Klar! Aber nur hinter mir!«

Na, das konnte ja heiter werden.

»Stefan, wenn ich etwas zu vererben hätte, würde ich dich in meinem Testament erwähnen.«

»Es sei dir verziehen, schließlich zählt der Gedanke! Aber ich wollte noch sagen: Es war schön, dich kennengelernt zu haben.«

»Also, jetzt hört aber auf! Ich verspreche, ich werde vorsichtig fahren! Und jetzt trink deinen Kaffee, wir müssen los.«

Ich hatte Johanna inzwischen in die hohe Kunst des Kaffeekochens eingewiesen und jeden Morgen stand ein extra Kännchen auf dem Frühstückstisch - schließlich wollte ich Kaffee und kein Spülwasser. Schnell noch den letzten Schluck, die Tasche hatte ich schon gepackt, und los ging's.

Ist euch schon mal aufgefallen, daß nie ein Stau da ist, wenn man einen braucht? Und ich brauchte einen, ich meine, nach ein oder zwei Stunden im Stau hätten meine Knie vielleicht aufgehört zu zittern. Vielleicht. Aber da war kein Stau und wir fuhren - links, wo sonst.

Nach rund zwei Stunden die erste Zigarettenpause ... es war etwas schwierig, die Camel aus der Packung zu bekommen und es war noch viel schwieriger, meine Hände so ruhig zu kriegen, daß ich das Feuerzeug bedienen konnte, aber es klappte.

»Na, Thommy, ich hab' doch gesagt, es wird ein riesiger Spaß! Und hab ich zu viel versprochen?«

»Naja, die Musik ist wirklich gut!«

»Angsthase!«

»Nicht wirklich. Aber könntest du trotzdem etwas langsamer fahren?«

»Klar!«

Was sie meinte, war, daß sie schon die theoretische Möglichkeit gehabt hätte, langsamer zu fahren - aber natürlich dachte sie nicht im Traum daran. Irgendwann hörte ich einfach auf, Angst zu haben.

So gegen zwölf mußten wir tanken und bei der Gelegenheit etwas essen - nicht das ich viel Appetit gehabt hätte. Ich stocherte etwas lustlos in meinen Spaghetti, als eine ganze Horde das Restaurant stürmte - Schulausflug. Die Jungs waren ungefähr in meinem Alter und ich riskierte einen unauffälligen Blick.

»Na, ist einer für dich dabei?«

So viel zum Thema unauffällige Blicke.

»Äh, also hör mal, ich hab' doch nur mal geschaut, was für eine Horde da den Lärm macht!«

»Natürlich, du würdest nie einen Jungen anschauen!«

»Johanna, laß gut sein, bitte.«

Ich war wohl zu lange ohne Mutter gewesen, sonst hätte ich gewußt, daß die Erfolgschancen dieser Bitte ungefähr so groß waren, wie die eines Schneeballs in der Hölle.

»Aber Thommy, mich interessiert doch, auf welchen Typ du stehst. Ich meine, ich möchte doch wissen, wie mein zukünftiger Schwiegersohn ungefähr aussehen wird.«

Sie genoß dieses Spiel. Ich wand mich vor Scham und sie weidete sich am Anblick meines Elends, grrr, Mütter! Na warte, Rache ist süß ...

»Johanna, du weißt doch, daß der Charakter viel wichtiger ist als bloße Äußerlichkeiten ...«

Was mich nicht davon abhielt, einen schnellen Blick auf den schmalen blonden Typen zu werfen, der gerade an der Salatbar stand, wirklich ein erfreulicher Anblick.

» .... oder willst du sagen, daß Johannes und du nur geheiratet habt, weil ihr euch körperlich so anziehend fandet?«

Eine wirklich hinterhältige Bemerkung und ich würde mich ja vielleicht auch angemessen schämen - später vielleicht.

»Natürlich, Thommy. Wir haben uns gesehen, sind übereinander hergefallen und haben unser Liebesleben nur unterbrochen, um auf die Toilette zu gehen. Bist du an näheren Einzelheiten interessiert?«

Ich wußte, wann ich verloren hatte.

»Schon gut, schon gut! Du hast gewonnen. Laß mich mal nachdenken ...«

Tja, wie würde ich mir meinen Traumboy denn wünschen, gar nicht so einfach.

»Lächeln müßte er ...«

» ...und so ein Strahlen in den Augen ...«

» ... die Farbe ist völlig egal ...«

» ... und die Haare nicht zu kurz ...«

» ... fröhlich müßte er sein ...«

»Thommy, könntest du bitte das verzückte Lächeln aus dem Gesicht nehmen, sonst denken die Leute hier sonst etwas. Ich glaube, so genau wollte ich das gar nicht wissen. So, und jetzt iß deine Spaghetti damit du groß und stark wirst und dann geht's weiter!«

Immerhin konnte ich sie noch zu einem Kaffee überreden und dabei eine rauchen, aber dann nahm das Schicksal seinen Lauf und ich stieg wieder ins Auto.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder auf die Gruppe zu kommen. Johanna war noch beim Heimleiter, irgendwelche Formalitäten erledigen und so kam ich allein. Ich wußte schon, daß Karin da sein würde, aber der vertraute Geruch ihrer Zigaretten war so etwas wie ein Willkommensgruß.

»Hallo Karin!«

»Hey, wir wollten dein Zimmer schon untervermieten!«

Und dann umarmte sie mich, vor der ganzen Gruppe. Karin war so etwas wie meine Mutter gewesen und wir wußten beide, daß diese Zeit nun vorüber war. Es war ein ziemlicher Trubel, die anderen Jungs wußten natürlich, daß ich eine neue Familie gefunden hatte und natürlich redeten alle durcheinander - eine gute alte Tradition auf der Gruppe. Es gab hier einiges, das ich nicht vermissen würde, aber immerhin hatte ich mit einigen Jungs jahrelang zusammen gelebt und das verbindet. Es gab erst einmal Kaffee und natürlich mußte ich die ganze Geschichte erzählen, wobei ich allerdings einige nicht unwesentliche Einzelheiten wegließ. Ich beschrieb gerade das Haus, als der Chef mit Johanna kam.

»Ja, Frau Steinberg, das ist, oder besser war, Thommys Gruppe. Liebe Leute, das ist Frau Steinberg, Thommys neue Mutter.«

Es wurde schlagartig still und dazu braucht es normalerweise mehr als eine mittlere Katastrophe. Johanna wirkte etwas ... erstaunt. Naja, sie kannte eben kein Heim und wenn man zum ersten Mal auf eine Gruppe kommt, kann das schon etwas seltsam aussehen. Zwölf Jungs so zwischen 14 und 18 saßen, standen oder lagen - locker verteilt - um einen großen Tisch und einige von uns sahen aus, als würden sie bald ihren fünfzigsten Raubüberfall feiern können. Dazu große Mengen an Tassen, Aschenbechern, Tellern, Reste vom Mittagessen, ein paar Zeitungen, einige armselige Pflanzen - das hätte auch die Jahreshauptversammlung einer Gang sein können. Nur um das klarzustellen, unsere Gruppe war relativ gepflegt, aber wenn zwölf Jungs gleichzeitig Kaffee trinken, zu Mittag essen und Zeitung lesen, dann führt das einfach zu einiger Unordnung.

Karin übernahm die Initiative und ging zu Johanna.

»Frau Steinberg, schön sie zu sehen! Kommen sie, setzen sie sich!«

Ingo hatte das Pech, auf dem Stuhl neben Karin zu sitzen. Ihr Zeigefinger fand zielsicher und unauffällig seinen Weg zwischen Ingo Rippen und der arme Kerl sprang japsend auf.

»Ingo, wo du gerade stehst, hol doch bitte eine saubere Tasse und einen Kuchenteller.«

Hatte ich schon erwähnt, daß Karin auch ziemlich gemein sein kann?

»Und bring bitte heißes Wasser mit ...«

Naja, wenn Ingo sowieso in die Küche ging

» ...Johanna trinkt den Kaffee lieber etwas weniger stark.«

Nachdem wir solchermaßen die Gastfreundschaft der Gruppe demonstriert hatten, planten wir kurz den weiteren Ablauf. Johanna und ich würden mein Zeug zusammenpacken und einladen, dann Abendessen auf der Gruppe - was mir einen mißtrauischen Blick von Johanna eintrug. Sie bestand auch darauf, uns anschließend allein zu lassen ... irgendwie war ihr wohl klar, wie wichtig Karin für mich war und sie wollte uns Gelegenheit geben, noch einmal zu reden.

Wir machten uns also auf den Weg in mein Zimmer, als ich im Hintergrund Karins Stimme hörte:

»Ingo, Chris, Ryan, Patrick, hiergeblieben. Der große Manitou hat mir gerade zugeflüstert, daß ihr mir ein bißchen helfen werdet.«

Oops, wenn Karin den großen Manitou ins Spiel brachte, war jeder Fluchtversuch sinnlos. Gut, daß ich nur mein Zimmer ausräumen mußte - nicht das da viel zu räumen gewesen wäre. Sämtliche Möbel gehörten dem Heim ... tja, was blieb da noch ... Kleidung, ein paar Bücher, ein paar CD's mit Player und eine ganze Menge Kleinkram. Und mein Fotoalbum. Es war noch von meinen Eltern, von meinen richtigen Eltern und es war das wichtigste, was ich besaß.

Früher hatte ich mir die Fotos oft angeschaut, aber irgendwann hatte ich das Album in den Tiefen meines Schrankes verschwinden lassen. Es tat einfach zu weh. Nun setzte ich mich aufs Bett und öffnete ich das Album. Das letzte Foto war von meinem elften Geburtstag, einige Wochen vor ihrem Tod. Wir waren auf den Fischmarkt gefahren und ein Tourist hatte uns drei zusammen fotografiert. Ich hatte immer gedacht, daß meine Eltern traurig sein würden, weil ich nun allein war. Aber heute, das wußte ich, heute lächelten sie ... da, wo sie jetzt waren. Es dauerte etwas, bis ich klarkriegte, daß das, was da aufs Papier tropfte, meine Tränen waren. Dann fühlte ich wie sich ein Arm um meine Schultern legte, Johanna.

»Ich bin sicher, deine Eltern freuen sich darüber, daß du jetzt ein neues Zuhause gefunden hast, Thommy. Es müssen tolle Menschen gewesen sein.«

»Ja, das waren sie. Ich wünschte nur ... ich wünschte ...«

»Das sie bei dir wären? Das sind sie, da bin ich sicher. Ich kann mir nichts vorstellen, was Eltern von ihrem Kind trennen könnte, was mich von Stefan trennen könnte - und ich bin sicher, es gibt nichts, was deine Eltern von dir trennen könnte. Sie sind immer bei dir und ich glaube, sie freuen sich gerade.«

»Ja, das glaube ich auch.«

Wir luden die Kartons ins Auto - alle Kartons. Johanna wollte eigentlich direkt einige Dinge aussortieren, aber ich hatte mich durchgesetzt. War schon erstaunlich, mein ganzer Besitz paßte in einen PKW. Zum Glück gab es ja nicht viel zu räumen, aber wir waren schon etwas über die Zeit, also schnell die Treppen hoch und zum Abendessen - immer in der Hoffnung, daß in zwei Minuten noch etwas zu Essen da sein würde.

Aber da hatte ich mich verrechnet - Karin hatte die Jungs offensichtlich ganz schön gescheucht. Weiße Tischdecke, das gute Geschirr, Kerzen und Blumen auf dem Tisch, Weingläser, du liebe Güte, so etwas kannte ich nur von Heiligabend. Auch Johanna guckte etwas erstaunt und Karin grinste

»Tja, Frau Steinberg, ist ja nicht so, als ob wir den Anlaß nicht zu würdigen wüßten. Und selbstverständlich werden die Jungs heute abend ihre besten Manieren zeigen!«

Der letzte Satz ging an die acht, die zum Essen da waren ... ich fragte mich, was Karin ihnen versprochen hatte, wenn sie sich halbwegs anständig benehmen würden - oder womit sie gedroht hatte. Es mußte etwas wirklich großes gewesen sein, denn selbst Chris reichte Johanna ungefragt das Brot und er war sonst dafür bekannt, daß er Käsescheiben in Flugzeuge verwandelte - und sie auch starten ließ.

Es dauerte etwas, bis das Eis gebrochen war, aber dann ging es ziemlich normal zu und nach der üblichen Gewohnheit verschwand alles Eßbare in kürzester Zeit. Gegen acht ließ Johanna uns dann allein und Karin und ich gingen ins Büro.

»Kleiner, deine Geschichte hat mehr Löcher als ein Fischernetz. Ich nehme an, du hast da ein paar unwesentliche Kleinigkeiten weggelassen, aber die würden mich schon interessieren.«

Irgendwann kommt immer die Stunde der Wahrheit, jetzt war es also soweit.

»Naja, ich habe nicht nur Kleinigkeiten weggelassen.«

Und ich erzählte - die ganze Geschichte, komplett, mit allen Einzelheiten.

» ... tja, und das war's eigentlich.«

»Gut, daß ich das nicht vorher gewußt habe!«

Also, nun war ich doch verblüfft.

»Versteh ich nicht, Karin. Ich hatte eigentlich immer gedacht, daß du kein Problem damit hättest, daß ich schwul bin.«

»Hab' ich auch nicht. Aber hätte ich es gewußt, hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut, dich zu den Steinbergs zu schicken. Was mich aber im Moment gerade ziemlich ärgert, ist, daß du es mir nicht vorher gesagt hast. Ich habe immer geglaubt, du würdest mir vertrauen und ... irgendwie bin ich enttäuscht. Hattest Du Angst, es würde irgend etwas ändern?«

»Nein, natürlich nicht .... ja, doch  ... ach, Karin, ich weiß es nicht. Ich wußte einfach nicht, was ich machen sollte. Und .... naja ... ich hab mich auch geschämt. Ich mein ... ich bin anders ... naja, irgendwie nicht so normal ...«

»STOP!! Thommy, du bist schwul und du bist normaler als die meisten Jungs, die ich kenne. Du bist nicht unnormal und du bist nicht anders. Abgesehen davon, glaub' bitte nicht, du wärst der einzige schwule Junge hier, ich kenne noch zwei und ich bin sicher, es gibt hier noch mehr.«

»Waaas? Hier?«

»Ja, hier. Die Beiden waren intelligent genug, mal mit mir zu reden, dafür bin ich nämlich da ... nicht so wie ein gewisser Trottel, dessen Namen ich hier nicht nennen möchte und der meint, er müsse mit allem alleine klarkommen.«

»Jaaa, du hast ja recht. Ich komme mir auch gerade ziemlich blöd vor.«

»Ach, ich liebe diese seltenen Momente, in denen du das zugibst! So, und nun erzähl mal, wie das mir dir weitergehen soll.«

So ganz viel gab es da nicht zu erzählen und so kamen wir ins träumen und planten eine großartige Zukunft. Irgendwann wurde es dann doch Zeit, schlafen zu gehen. Wir umarmten uns wehmütig, denn es war ein Abschied.

»Karin, danke. Für alles!«

»Hey, ich bin stolz auf dich! Und wenn du mich brauchst - jederzeit, klar?«

»Das weiß ich, Karin!«

Ich sah, daß Karins Augen feucht waren und mir ging es auch nicht anders. Ich wußte, daß sie am nächsten Morgen nicht da sein würde, um zu winken, Johanna und ich würden sehr früh fahren.

Und das taten wir dann auch, morgens ohne Frühstück auf die Autobahn, wenigstens konnte mir nicht schlecht werden. Ich saß im Halbschlaf neben Johanna, die Nacht war doch kurz gewesen und morgens ohne Kaffee - da ging gar nichts. Zum Glück hatte Johanna irgendwann ein Einsehen und wir frühstückten an der Autobahn. Es schmeckte ziemlich scheußlich, aber der Kaffee machte wieder einen Menschen aus mir. So langsam verstand ich, warum Johanna sich auf die Fahrt gefreut hatte, es hat schon was, mit gut 200 auf der linken Spur durch Deutschland zu rauschen. Dazu etwas Musik ... das ist schon fast ein Abenteuer.

»Thommy, sag mal, was habt ihr eigentlich im Urlaub gemacht? Habt ihr sechs Wochen auf der Gruppe gesessen oder seid ihr auch mal weggefahren?«

»Im Sommer sind wir immer weggefahren, so zwei, drei Wochen. Meistens haben wir einen billigen Urlaub gemacht und im nächsten Jahr sind wir dann etwas weiter weg gefahren. Vor zwei Jahren waren wir in Schottland, Jens kannte wen, der uns ein Haus organisiert hat. Von da aus sind wir dann jeden Tag ...«

Es gab einen Knall und dann wurde es dunkel.

»Nein, Herr Kollege, da kann ich sie beruhigen. Wenn sie sich die Aufnahmen mal anschauen wollen ...«

Irgend etwas raschelte.

»Sie sehen, es sind saubere Frakturen, ich sehe wirklich keinen Anlaß zur Besorgnis.«

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon der Mann redete, aber wenn er sich keine Sorgen machte, sollte es mir recht sein. Abgesehen davon war es so schön warm und die ganze weiße Watte um mich herum und ich war müde.

Als ich das nächste mal aufwachte, fühlte ich mich fit genug, um die Augen zu öffnen.

»Na, da ist er ja wieder! Hallo Thommy! Gut geschlafen?«

»Äähh, hallo Stefan, ja, aber ... was ist denn los?«

Autsch! Was tat denn da weh? Und warum?

»Mama hat den BMW zu Schrott gefahren und du warst mittendrin. Sie hat es ganz gut überstanden, aber du hast dir was gebrochen - eine Rippe und den linken Unterarm.«

»Wenigsten weiß ich jetzt, was da weh tut. Wo bin ich denn eigentlich?«

»In Augsburg, im Krankenhaus. Papa war schon hier und meinte, du würdest es überleben.«

»Beruhigt mich ungemein. Sag mal, meinst du, du kannst einen der Ärzte überreden, mir was gegen Schmerzen zu geben? Wenn ich atme tut das ziemlich weh.«

»Sollte gehen. Wie wär's denn mit Frühstück?«

»Frühstück? Wieso? Wie spät ist es denn?«

»Es ist jetzt halb neun und ich schwänze gerade Englisch. Du hast den Nachmittag und die Nacht verschlafen, lag wohl an den Medikamenten. Ich geh mal den Arzt suchen.«

Das gab mir Zeit, mich mal umzuschauen. Also, das dicke Ding an meinem linken Arm war wohl eine Schiene und die breiten Klebestreifen um meine Brust sollten wohl eine Art Verband darstellen. Ich stellte mir vor, wie mich die Ärzte im OP mit Tesa-Film verbanden und fing an zu lachen - das ließ aber gleich wieder sein, war doch etwas schmerzhaft. Dazu ein Schlauch in meinem rechten Ellenbogen und da lief eine klare Flüssigkeit rein - wofür das auch immer gut war. Dann kam der Doc.

»Hallo Thommy, na, wie geht's uns denn heute?«

Ich hatte immer gedacht, diesen blöden Spruch gäbe es nur im Fernsehen.

»Gar nicht schlecht, aber es tut weh, wenn ich atme und wenn ich lache.«

»Da hat das eine wohl was mit dem andere zu tun. Wenn du atmest - oder lachst - bewegst sich dein Brustkorb und damit auch die gebrochene Rippe und das schmerzt natürlich. Ich nehme dir die Infusion gleich raus, aber wo sie schon mal drin ist ...«

Er zückte eine Spritze und stach sie in das Röhrchen über dem Schlauch.

»So, in ein paar Minuten geht es besser. Ich komme dann wegen der Infusion noch mal.«

Sprach's und verschwand wobei er fast noch mit einer Schwester kollidierte, die gerade ein Tablett mit meinem Frühstück brachte.

»Hallo Thommy, ich bin Schwester Petra. Dein Bruder meinte, du möchtest gern Kaffee zum Frühstück.«

»Ja, unbedingt, danke. Gibt es das Frühstück hier eigentlich immer so spät?«

Petra lachte.

»Nein, 7:00 wecken und um halb acht gibt's Frühstück - aber heute haben wir dich mal schlafen gelassen, morgen kommen wir dann gnadenlos wecken.«

Na, das konnte ja heiter werden, wie sollte man denn da gesund werden. Das Frühstück war ziemlich mühsam und ich war froh, das Stefan da war. Einhändig Brötchen schneiden und schmieren ist einfach schwierig und ich fühlte mich doch etwas angeschlagen. Beim zweiten Kaffee kam dann der Doc wieder, um den Schlauch zu entfernen.

»Sagen sie mal, wo ist denn die Toilette?«

»Direkt hinter dem Schrank, aber ich glaube, da sollte die Schwester dir helfen.«

Das Lachen tat weh, aber trotzdem.

»Also, eigentlich komme ich seit ein paar Jahren auf der Toilette alleine klar!«

»Ähem, das meinte ich auch nicht. Du bist noch etwas schwach und es wäre gut, wenn jemand auf dich aufpaßt, damit du nicht einfach umkippst.«

Stefan rettete mich, die Vorstellung, daß Petra mich auf die Toilette begleitete, war mir etwas unangenehm.

»Das kann ich doch machen!«

»Hm, warum nicht, aber wenn etwas passiert, rufst du sofort die Schwester, klar? Und langsam und vorsichtig, ich habe keine Lust, auch noch den anderen Arm zu schienen.«

Na, ich konnte mir auch etwas schöneres vorstellen, als mit zwei kaputten Armen durch die Gegend zu laufen.

Nach dem Frühstück begann dann die Prozedur und Stefan nahm meinen rechten Arm. Es war schon unangenehm genug, aus dem Bett zu kommen, aber ich hatte wirklich Pudding in den Knien und die paar Schritte zur Toilette waren eine Tortour. Erst als ich sicher auf der berühmten Schüssel saß und tat, wozu ich gekommen war, bemerkte ich eine unwesentliche Kleinigkeit: Meine Kleidung. Natürlich trug ich eines von diesen Kliniknachthemden - hinten offen. Das wäre an sich nicht weiter schlimm gewesen, aber es handelte sich um ein äußerst knappes Exemplar, vielleicht ausreichend für einen Zehnjährigen, aber sicherlich nicht für mich. Ich hatte einem der schönsten Jungs, die ich jemals getroffen hatte, die ganze Zeit einen wunderbaren Ausblick geboten - und hatte es nicht einmal bemerkt. Stefan hatte sich diskret zurückgezogen und das war auch gut so, denn Klein-Thommy war der Meinung, daß Stefan wirklich gut aussah und begann sich zu regen.

»Thommy, bist du so weit? Können wir?«

»Moment noch, gut Ding will Weile haben!«

Dann wurde mir klar, wie absurd die Situation war, ich saß den Arm dick bandagiert, den Brustkorb getapt, in einem viel zu kurzen Nachthemd auf der Toilette und alles, an was ich dachte, war Sex. Ich grinste, kicherte und lachte dann - und konnte nicht mehr aufhören. Es tat höllisch weh, aber ich begann, mich wieder wie ein Mensch zu fühlen.

»Thommy, alles klar bei dir?«

»Ja, danke, wir können auch wieder zurück.«

Stefan half mir auf dem Weg und es ging schon wesentlicher besser als vorher... und dann klopfte es und Johannes kam ins Zimmer.

»Hallo Thommy, na, wie sieht's denn aus?«

»Hm, Stefan sagte, daß ein berühmter Chefarzt meinte, ich würde es überleben.«

»Ja, dieser berühmte Chefarzt ist sogar höchstpersönlich gekommen um zu sehen, wie sich der Patient denn so macht.«

»Ach weißt du Papa, er hat schon gefrühstückt und war auf dem Klo, ich denke, er ist auf dem Weg der Besserung.«

»Ach, und seit wann bist du der Mediziner in der Familie? Nein, nein, Stefan, wenn ich schon mal hier bin, kann ich deinen Bruder auch gleich untersuchen.«

Und das tat er und er nahm sich Zeit ... viel Zeit ... noch mehr Zeit. Er klopfte und tastete und leuchtete und fragte und schaute...

»Sag mal Johannes, meinst du nicht, daß du es vielleicht ein wenig übertreibst?«

»Nun, vielleicht, aber kannst du dir vorstellen, was Johanna mit mir macht, wenn du plötzlich tot umfällst? Dann gäbe es eine Doppelbeerdigung und ich hänge an meinem Leben.«

»Und ich dachte schon, du würdest dir um mich Sorgen machen.«

»Warum denn? Du hast nur zwei Frakturen und die Kollegen hier haben sehr gute Arbeit geleistet. Nebenbei, wie lange willst du hier eigentlich rumliegen? Johanna ist schon zu Hause und läßt sich nicht vom Kochen abhalten; kannst du dir überhaupt vorstellen wie wir leiden, während du dich hier verwöhnen läßt?«

»Ach, willst du mich im Bett in die Küche rollen?«

»Wieso, hast du dir auch die Beine gebrochen? Stell dich nicht so an, deine linke Hand mußt du schonen und wir werden dir helfen müssen, dein Zimmer einzurichten, aber ansonsten bist du eigentlich gesund.«

Irgendwie hatte ich einen besorgten Vater anders in Erinnerung ... aber er war halt Arzt.

»Na, ich sehe schon, du hast einfach Hunger und willst mich gnadenlos ausbeuten. Hast du denn was zum Anziehen mitgebracht?«

»Nein, ich fürchte, du wirst heute noch hierbleiben müssen, aber ich gehe eigentlich davon aus, daß Johanna dich morgen abholen kommt.«

»Äh, Johanna?«

Johannes grinste.

»Natürlich. Man sagt, daß ein abgeworfener Reiter möglichst schnell wieder auf Pferd steigen soll.«

Jetzt wurde er ernst.

»Thommy, Johanna konnte nichts für den Unfall, der rechte Vorderreifen ist geplatzt und da war nichts zu machen. Sie hat gestern viele Stunden hier gesessen und ich habe sie quasi mit Gewalt nach Hause bringen müssen. Übrigens hat sie darauf bestanden, daß wir zu der Werkstatt fahren, wo der Rest des BMW jetzt steht. Sie hat mit einer Brechstange den Kofferraum aufgebrochen und ein Fotoalbum herausgenommen, dann konnten wir nach Hause fahren. Verstehst du das?«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht! Aber ich bin sehr froh, daß Johanna sich darum gekümmert hat. In dem Album sind Fotos von meinen Eltern und mir und Johanna weiß, wie wichtig sie mir sind.«

»Das erklärt einiges. Gut, ich denke, Stefan und ich fahren jetzt. Ich habe eben noch mit dem Kollegen gesprochen, wenn du dich nicht zu schlimm aufführst, kannst du morgen hier raus.«

»Na, daß überlege ich mir noch ... also, wenn ich die Wahl habe zwischen Küchenarbeit und hier faul im Bett liegen ... hm, ganz schön schwierig.«

»Na, du kannst dich ja noch bis morgen entscheiden.«

Die Entscheidung war nicht schwer und natürlich freute ich mich darauf, wieder nach Hause zu kommen ... zumal das Essen in der Klinik auch nicht sonderlich überzeugend war, Großküche eben.

Am nächsten Morgen noch einmal eine kurze Untersuchung und dann gab der Doc das OK für meine Heimreise - was natürlich bedeutete, daß ich noch zwei Stunden herumlag und wartete.

»Thommy!«

»Johanna, schön, daß du da bist!«

Sie stürmte auf mich zu und drückte mich an sich und ich schrie auf und das Chaos war perfekt, wir sprachen durcheinander.

»Oh Thommy...«

»Macht nichts ...«

»O Gott, deine Rippe ...«

»Johanna ...«

Es war ziemlich irre und wir lachten einfach - wieder keine gute Idee, aber was soll's.

»Johanna, ich hoffe, in deiner Tasche sind ein paar Klamotten, sonst haben wir ein Problem.«

»Haben wir nicht, ich hab Stefans Kleiderschrank geplündert. Ich fürchte, deine Sachen sind kaum noch zu gebrauchen ... du wirst dich später wohl komplett neu einkleiden müssen. Aber jetzt zieh dich erst mal an, ich regele inzwischen die Formalitäten mit der Klinik.«

Was mir sehr recht war - auch wenn ich inzwischen ein anderes, längeres Nachthemd hatte und Johanna nun meine neue Mutter war. Ich grinste allerdings, als ich sah, was sie mir da an Kleidung mitgebracht hatte - Ich meine Shorts und Sandalen und so waren ja in Ordnung, aber ein knallrotes ärmelloses T-Shirt, an den Seiten ungefähr bis zur Gürtellinie ausgeschnitten ... ich habe zwar eine gute Figur, aber ich bin doch kein Schwarzenegger; ich kam mir ziemlich affig vor.

Jedenfalls verabschiedete ich mich kurz von den Schwestern und los ging's, naja, ziemlich langsam, aber es ging. Schließlich saß ich schwer atmend in einem roten Golf.

»Johanna, ich wollte mich noch bei dir bedanken. Johannes sagte, daß du lange bei mir geblieben bist und das du das Fotoalbum gerettet hast.«

»Hey, ich hab' dich fast umgebracht!«

»Nein, hast du nicht und das weißt du auch. Wir haben einfach Pech gehabt. Komm, laß uns nach Hause fahren, wenn ich das so richtig sehe, haben wir eine Menge Arbeit.«

»Du arbeitest überhaupt nicht, Thommy! Du ruhst dich aus!«

»Hab ich schon, abgesehen davon hat dein Mann schon gesagt, daß er mich heute in der Küche sehen will.«

»Na, das wollen wir doch mal sehen!«

Oops, ich hatte den Eindruck, ich würde in Kürze erfahren, wer bei den Steinbergs denn nun wirklich das Sagen hatte. Johanna machte jedenfalls gerade einen sehr energischen Eindruck und sie fuhr auch entsprechend - ich versuchte, mich nicht irgendwo festzuhalten und seufzte leise ... was konnte ich schon tun.

»Sag mal, hatten wir nicht einen weißen Golf? Habt ihr die Mühle umspritzen lassen?«

»Nein, Johannes hat den weißen, der hier ist von den Hubers. Es war schon ein bißchen verrückt, als wir aus der Klinik kamen, standen vier Autos vor der Tür und Inge, also Inge Huber ist eine von den Nachbarn, jedenfalls stand sie in der Küche und kochte ihren berühmten Schweinebraten für uns. Unser Unfall hat sich schnell rumgesprochen und da haben einige Nachbarn ihre Autos vorbei gebracht, falls wir einen Wagen brauchen. Sie hatten schon einen Plan gemacht, wer wann kocht und putzt und so weiter. Weißt du, es ist manchmal unpraktisch, in einem Dorf zu wohnen, aber wenn jemand Schwierigkeiten hat, dann sind die Nachbarn da und helfen.«

»Scheinen ja tolle Leute zu sein. Ich bin gespannt, wie sie auf mich reagieren werden.«

»Wahrscheinlich problemlos ... aber was sie sagen werden, wenn sie erfahren, daß du schwul bist ... das weiß ich auch nicht. Johannes und ich haben schon darüber gesprochen, wie wir das angehen könnten, aber selbstverständlich liegt die letzte Entscheidung bei dir.«

»Also eigentlich würde ich gern erst mal ankommen, ich meine, die Leute mal kennenlernen, mir die Schule anschauen und so. Naja, und wie es dann weitergeht, weiß ich auch noch nicht.«

»Ja, natürlich, ich meinte auch nicht, daß du sofort aller Welt erzählen solltest, daß du schwul bist. Wir dachten eher daran, das Thema hier und da mal unauffällig anzustoßen. Du weißt, ich bin in vielen Vereinen und Gruppen aktiv und ich glaube, ich kann da vielleicht was tun.

»Gute Idee. Aber mach langsam, ich denke, es ist besser, wenn es die Leute von mir erfahren, als wenn es Gerüchte gibt.«

»Klar ... und laß dir Zeit. Und, Thommy?«

»Ja?«

»Egal, was passiert, du bist nicht mehr allein. Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann stehen wir das zusammen durch!«

»Danke. Irgendwie kann ich das noch gar nicht glauben. Ich habe nicht viel Erfahrung damit, Sohn zu sein. Johanna ... wenn ich was falsch mache ... sagst du mir es rechtzeitig? Ihr seid mir sehr wichtig und ... und ich will's einfach nicht vermasseln.«

»Thommy, du kannst es nicht vermasseln. Du gehörst zu uns, egal, was passiert. Wir lieben dich und es gibt nichts, was das ändern könnte. Ich weiß, das du Zeit brauchen wirst, um das wirklich zu verstehen, aber ... ich glaube, wir werden alle ein bißchen Zeit brauchen.«

Das verstand ich wirklich gut, schließlich stand uns allen ein großes Abenteuer bevor.

Die nächsten Tage waren reichlich nervig. Ich schlief wegen der blöden Rippe sehr schlecht und alles dauerte doppelt so lange wie normal. Ich glaube, ich ging allen ziemlich auf die Nerven und maulte dauernd wegen der bescheuerten T-Shirts herum ... naja, mit meinem geschienten Arm kam ich nicht in den Ärmel eines normalen T-Shirts, also lief ich rum wie Rambo für Kinder. Den Rest der Familie beeindruckte meine entsetzlichen Leiden allerdings nicht im Geringsten und sie amüsierten sich prächtig. Jedenfalls kam Johanna nach dem Mittagessen auf die Idee, mit mir ins Möbelhaus zu fahren. Eigentlich hatte ich mich darauf gefreut, mein neues Zimmer einzurichten, aber an diesem Vormittag war wirklich alles schief gegangen. Zuerst hatte ich wohl auf meinem Arm geschlafen und das Ding tat höllisch weh. Dann warf ich den Kaffee um, meine Camels waren zu Ende, kurz und gut, aus dem Tag konnte einfach nichts gutes mehr werden. Ich versuchte, meine Laune in Zaum zu halten und ging, um mein Zimmer auszumessen. In meiner Phantasie sah ich schon die neuen Möbel, ich wollte keinesfalls so eine Sparausstattung wie Stefan, ich dachte eher an etwas gemütliches und auf jeden Fall wollte ich eine Couch - davon träumte ich schon seit Jahren.

Johanna und ich fuhren also ins Möbelhaus ... hm, Möbelpark wäre wohl der bessere Name gewesen. Ein riesiges Gelände mit mehreren Gebäuden, allein die Fußmärsche würden schon anstrengend sein.

»Gut, Thommy, ich schlage vor, wir gehen zuerst nach deiner Couch suchen. Wenn du da das Passende gefunden hast, können wir den Rest suchen.«

»Gute Idee, aber wo müssen wir eigentlich hin?«

Johanna grinste.

»Ach ja, das wird neu für dich sein, wir haben hier in Bayern etwas, das wir Hinweisschilder nennen. Wenn man lesen kann, findet man auch, was man sucht.«

Mist, da hätte ich auch selber drauf kommen können.

»Okay, dann nimm mich armen Unwissenden mal ins Schlepptau, ich folge dir unauffällig.«

»Warum unauffällig? Schämst du dich, mit mir gesehen zu werden?«

»Ooohh, Johanna, laß gut sein, ich bin noch nicht so fit.«

»Immer diese billigen Ausreden. Da steht was von Polstermöbeln, also rechts.«

Also rechts und wir gingen rechts und wir gingen und wir gingen ... und fanden schließlich eine riesige Halle mit Polstermöbeln.

»Puh, also, hier kann man ja Tage verbringen. An was hast du denn so gedacht?«

»Eigentlich hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung, aber ... ich glaube, ich seh' mir das hier mal in Ruhe an.«

»Laß dir Zeit, aber ich nehme an, diese Eiche-Leder Garnituren sind nicht so dein Ding.«

»Nein, sicher nicht, ich denke eher an etwas buntes, ich glaub', da hinten steht so was.«

»Gut, wir treffen uns hier wieder in einer halben Stunde, okay?«

Und so zogen wir los und nach ein paar Minuten war ich im Kaufrausch. Die graue Couch mit den bunten Mustern sah schon edel aus, aber die Armlehnen waren etwas unbequem ... oder vielleicht die rote ... aber die sah so nach Talkshow-Sofa aus, die grün-blaue war vielleicht ein bißchen sehr unauffällig, andererseits sehr bequem und

»Aua!«

»Autsch!«

Nanu, seit wann hatte ich denn ein Echo, so groß war der Laden ja nun auch nicht. Und wer war da vor meinen Arm gelaufen? Ein schneller Blick ... und ich fing an zu grinsen. Der Junge war ungefähr in meinem Alter und hatte eine Schiene am Arm, allerdings am rechten. Und er hatte ein Funkeln in den Augen und grinste auch.

»'schuldigung. Das ist ja echt ’n irrer Zufall.«

»Naja, eher ein irres Zusammentreffen.«

Wir grinsten uns an und irgendwie wollte ich ihn nicht einfach so weggehen lassen.

»Ich bin Thommy, Autounfall.«

»Marcus, Sportunfall, Badminton.«

»Äh, wie kann man sich denn beim Federball verletzen?«

»Also erstens ist Badminton kein Federball und zweitens wenn man dabei gegen die Wand läuft, dann kann das schon passieren. Aber du bist doch auch noch ein bißchen jung für den Führerschein.«

»Meiner Mutter ist auf der Bahn ein Reifen geplatzt und dann sind wir geflogen.«

»Da bist du schon der zweite von dem ich das höre. Bei uns in der Gegend hat auch ’ne Lady ihren BMW in Schrott verwandelt, lag auch an den Reifen. Hast aber Glück gehabt, daß du da ziemlich heil rausgekommen bist.«

»Das kannst du laut sagen. Ist ’ne Woche her und wenn meine blöde Rippe endlich heilen würde, dann wäre ich zufrieden.«

»Moment mal, gaaanz langsam und zum mitschreiben. Du hast dir vor einer Woche Arm und Rippe gebrochen?«

»Ja, wieso?«

»Bei einem Unfall auf der Autobahn weil ein Reifen geplatzt ist?«

»Komm zur Sache.«

»Und du heißt Thommy ... für Thomas?«

»Ungefähr das habe ich dir gerade erzählt ... wo ist das Problem?«

»Du gehörst nicht zufällig zu den Steinbergs, oder?«

Also jetzt fiel mir wirklich die Kinnlade runter und es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder gefaßt hatte.

»Nein, ich gehöre nicht zufällig zu den Steinbergs ... sondern ziemlich absichtlich. Sag mal, wer bist du?«

»Ich bin Marcus Huber und wir sind wohl Nachbarn. Und du mußt der berühmte Thomas sein, zur Zeit das Thema schlechthin. Die Gerüchteküche im Dorf kocht seit Tagen.«

»Kannst du mich bitte Thommy nennen, Thomas sagen nur Lehrer. Und ich wußte nicht, daß ich in der Gerüchteküche bin, was sagen die Buschtrommeln denn so über mich?«

»Sehr viel, weil sie nichts wissen. Laß mal sehen, also ... du kommst aus Amerika oder Australien, ich glaub' Südafrika ist auch im Angebot, deine Eltern sind eigentlich Geheimagenten, Regierungsmitglieder, superreiche Mafiamitglieder oder Verwandte von den Steinbergs, du bist geflohen oder entführt worden oder beides und du hast durch ein Wunder einen katastrophalen Autounfall überlebt und bleibst für eine Weile bei den Steinbergs.«

»Also das mit den Geheimagenten gefällt mir, ist aber leider völliger Quatsch. Meine Eltern sind tot und ich war die letzten Jahre in einem Heim. Eigentlich war es Zufall, daß ich die Steinbergs getroffen habe und ich gehör' jetzt zur Familie.«

»Na dann herzlich willkommen! Jetzt ist mir auch klar, was du hier machst, immerhin mußt du wahrscheinlich dein Zimmer ...«

»Hallo Marcus! Wie ich sehe, kennt ihr euch schon. Was hast du denn gemacht?«

Johanna und eine ihrer atemberaubenden Satzkonstruktionen.

»Hallo Frau Steinberg. War nur ein Sportunfall und wir haben auch schon gelacht, ich meine wir beide mit unseren kaputten Armen.«

»Kein Wunder das ihr euch getroffen habt, ihr paßt wirklich gut zusammen.«

Ich mag ja zweideutige Bemerkungen, aber Johanna übertrieb es mal wieder.

»Ach so, Inge, das ist Thommy, unser neuer Sohn.«

Inge? ... Da war doch mal die Rede von einer Inge Huber und ihrem Schweinebraten gewesen und sie hatte uns ihr Auto überlassen, also mußte das wohl Marcus' Mutter sein - gut kombiniert Mr. Holmes.

»Hallo Thommy, ich bin Marcus' Mutter. Schön, dich kennenzulernen!«

»Guten Tag Frau Huber. Vielen Dank auch für ihr Auto und von ihrem berühmten Schweinebraten habe ich auch schon gehört.«

Was ein breites Lächeln in ihr Gesicht zauberte.

»Schweinebraten muß man nicht hören, den muß man essen! Wenn ich mal wieder einen mache, dann sag ich dir Bescheid und dann kommst du rüber und ißt mit.«

»Vorsicht Inge! Thommys Appetit ist auch berühmt!«

»Bei mir ist noch keiner verhungert. Was macht ihr eigentlich hier?«

Johanna klärte sie auf und es zeigte sich, daß die Hubers vielleicht ihr Wohnzimmer neu einrichten wollten. Irgendwie ergab es sich, daß Marcus und ich mein Sofa suchen gingen und die beiden Frauen sich auf das Wohnzimmer konzentrierten.

»Hey, was hältst du denn von dem hier?«

Sprach's und ließ sich mit einem wohligen Seufzer in die Polster fallen. Eine gute Idee und ich machte es ihm nach, aber langsamer.

»Hey, das ist wirklich bequem. Ich glaub, die nehm' ich!«

Und da saßen wir auf der Couch und grinsten uns an. Himmel, Marcus sah wirklich gut aus, ein umwerfendes Lächeln, glitzernde braune Augen und lange schwarze Haare. Schmales Gesicht, eine leichte Stupsnase, schlank, fast ein bißchen schmal - also eines war sicher, wenn Frau Huber mich zum Essen einlud, dann würde ich mich nicht nur auf den Schweinebraten freuen.

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