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Vorwort

Diese Story und alle Personen sind absolut frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Menschen wäre rein zufällig - und ich bin auch nicht der Thommy in der Geschichte!

Diese Story wird etwas länger, in diesem ersten Teil »passiert« im sexuellen Bereich nichts, was sich aber ändern wird ;-))

Die Bayern kommen im ersten Teil nicht so gut weg, meine Entschuldigung, auch das wird sich ändern.

Ich bevorzuge den Crossover zwischen alter, neuer und zukünftiger Rechtschreibung, besonders die Dialoge sind mit Absicht recht frei gestaltet.

Diese Story ist mein erster Versuch, auch deshalb würde ich mich über Anregungen und Kommentare freuen, bitte an thomas-stories@gmx.net. Ich werde mir viel Mühe geben, schnell zu antworten, aber habt bitte Verständnis, wenn es ’mal ein paar Tage dauert.

 

Puuhh, das war's für heute. Pünktlich 13:00 Uhr und buchstäblich mit dem Glockenschlag beendete Stinker die Stunde, Verzeihung, beendete Herr Dr. Pohlmann die Stunde. Warum ausgerechnet ein Chemielehrer den intensiven Kontakt mit H2O scheute, weiß ich nicht, sagen wir mal, die letzten Reihen waren in seinen Stunden immer äußerst beliebt. Unbestätigten Gerüchten zufolge schmierten sich seine Kollegen unauffällig Wick VapoRub unter die Nase, wenn sie neben Stinker saßen - Lehrer sind auch nur Menschen.

Jetzt aber los! Ein schneller Sprint über den Schulhof und dann auf's Fahrrad und dann ...

»Thomas! Hättest Du noch Zeit, die Tafel zu wischen und die Stühle hochzustellen?«

Immer wieder erstaunlich, wie Lehrer es schaffen, einen Befehl wie eine freundliche Frage klingen zu lassen. Meine Antwort war eigentlich unnötig:

»Wenns denn sein muß...«

Den üblichen Spruch über Kinderarbeit und Ausbeutung der Schüler sparte ich mir - Stinker würde einen guten Spruch nicht mal erkennen, wenn er ihn in den Allerwertesten beißen würde.

Zehn Minuten später erreichte ich mein Fahrrad, natürlich waren die Anderen schon weg, also kämpfte ich mich alleine durch den Verkehr - nebenbei, Fußgänger sind ’ne echte Seuche! Ein paar rote Ampeln und ein Menge Flüche später bog ich in unsere Zufahrt ein, auf dem Fussballplatz war noch nichts los und vor dem Haupteingang standen nur die üblichen Jungs mit ihren Verdauungszigaretten. Alles wie üblich, aber heute war Karins erster Arbeitstag nach ihrem Urlaub und ich freute mich schon auf einen Kaffee mit ihr. Karin war meine Betreuerin und auch wenn die anderen im Team auch ganz nett waren ... Karin war einfach Klasse!

.....

Halt, ich glaube, das muß ich jetzt erklären. Ich wohne in einem Heim, meine Eltern sind bei einem Unfall gestorben, als ich elf war und von meinen Verwandten wollte mich keiner - shit happens. Nein, so lustig war das nicht. Die erste Zeit im Heim habe ich mir jeden Abend gewünscht, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen und wenn man an Trauer und Einsamkeit sterben könnte, dann gäbe es mich nicht mehr. Karin war damals ziemlich neu im Team und sie hat sich wahnsinnig viel um mich gekümmert. Sie geht mir zwar nur bis zur Schulter, aber trotzdem ist sie für mich eine »große« Schwester. Glaubt aber bitte nicht, sie sei so eine Art kleiner harmloser Wonneproppen - als ich 14 war, bin ich mal ziemlich betrunken nach Hause gekommen und sie hat mich ins Bett gebracht und mir geholfen, als der Kater so richtig heftig wurde. Aber danach hatten wir dann ein kleines Gespräch, soll heißen: Karin hat sich schlagartig in eine Furie verwandelt, gegen die Rambo eine Witzfigur ist. Nach einer Viertelstunde war die Sache erledigt - und ich auch. Karin würde die Erste sein, der ich erzählen würde, daß ich schwul bin - das hatte ich mir fest vorgenommen, aber irgendwie war der richtige Moment nie gekommen.

Wir waren mit zwölf Jungs auf der Gruppe, die meisten kamen über das Jugendamt - nicht gerade beste Gesellschaft. Dazu vier Betreuer im Schichtdienst. Immer, wenn sie davon sprachen, wie sie die Arbeit aufteilen sollten und wann wer mit der Arbeit anfangen sollte, wollte ich ihnen ins Gesicht schreien: »Ich bin nicht nur eure Arbeit! Ich bin ein Mensch!« Ich hab mich nie getraut.

Ach so, ihr denkt vielleicht, es sei gar nicht so schlecht, im Heim schwul zu sein, umgeben von vielen Jungs, da läuft bestimmt mal was? Au contraire, mon ami! Es gibt nichts schlimmeres, nur als Beispiel: Im Heim sind die Sitten ein bißchen rauher und wenn jemand sagt: »Fick deine Mutter« dann ist das noch lange kein Grund, sich aufzuregen. Aber wenn irgend jemand als schwul bezeichnet wird, dann kracht es. Es gab zwar viele Jungs und auch ein paar, die ich ziemlich nett fand, aber wenn ’rausgekommen wäre, daß ich schwul bin, dann hätte ich mir ein anderes Heim suchen können. Wenigstens hatte ich seit zwei Jahren mein eigenes Zimmer - mit Schloß und Schlüssel! Klar hatten die Betreuer auch einen Schlüssel, aber trotzdem hatte ich meinen eigenen kleinen Raum und das war schon recht praktisch, wenn ich abends mal von ein paar Jungs träumen und mit Klein-Thommy spielen wollte.

...........

Ich ging also auf meine Gruppe - im wesentlichen ist das ein langer Flur mit Zimmern und am Ende Büro, Küche, Wohn- und Fernsehzimmer - und wußte sofort, dass Karin da war. Gauloises ohne Filter, der Geruch war unverwechselbar. Ich stellte meinen Rucksack mit den Schulklamotten an meine Zimmertür und schlich mich leise ins Büro. Karin saß mit dem Rücken zur Tür über den Schreibtisch gebeugt und ich schlich mich ganz vorsichtig an sie heran, meine Hände näherten sich langsam ihrem Kopf ...

»Versuchs gar nicht erst, sonst kitzel ich dich, bis du tot umfällst!«

»Verdammt, gibt es eigentlich irgendwas, das Betreuer nicht sofort merken?«

»Ist mein Job, Kleiner. Ich kann natürlich Gedanken lesen. Abgesehen davon warst Du ungefähr so leise wie eine Elefantenherde auf der Flucht!«

Dann stand sie auf und umarmte mich:

»Hallo Thommy, schön dich zu sehen!«

»Ich freu' mich auch Karin!« und ich drückte sie ganz fest. Wir umarmten uns nur selten und nur, wenn wir allein waren, es wäre nicht gut gewesen, wenn die andern Jungs mitbekommen hätten, wie nahe wir uns standen.

»Und, wo sind deine Lederhosen? Wenn du schon in den Südstaaten der Republik Urlaub machst, dann hättest du wenigstens etwas von den Eingeborenen mitbringen können!«

Karins Urlaubsziel hatte schon vor Wochen zu endlosen Witzen über Bayern geführt. Normalerweise war sie ein Fan von Südseeinseln aber in diesem Jahr war sie nach Bayern gefahren und dazu noch nach Oberbayern.

Karin grinste nur geheimnisvoll und meinte:

»Wart's ab, vielleicht habe ich dir etwas mitgebracht ...«

»Was muß ich tun, damit du mir erzählst, was es ist und was muß ich tun, um es zu kriegen?«

Karin schaute mich freundlich-ausdruckslos an:

»Hm, ich dachte du könntest mir drei Wochen die Schuhe putzen, spülen, die Küche fegen, das Wohnzimmer saubermachen - dann sage ich dir vielleicht, was es ist.«

»Ej, nur weil du mir vielleicht einen billigen Plastikbierkrug mitgebracht hast, soll ich wochenlang den Sklaven ...« Und dann endlich begriff ich den Scherz, war wohl nicht mein Tag. Um den letzten Rest meiner Würde zu bewahren, stellte ich mich also direkt vor Karin, schaute auf sie herab und grollte:

»Jetzt sag mir endlich, was du mitgebracht hast!«

Das war ein Fehler. Ein kleiner, dicker, fester Zeigefinger bohrte sich in meinen Bauch und dann hatte Karin plötzlich mindestens sechs Hände und diese Hände kitzelten mich an allen möglichen Stellen. Ja, ich bin kitzlig, entsetzlich kitzlig und am Ende lag ich japsend am Boden und Karin ließ sich grinsend in den Stuhl fallen. Womit mal wieder klar war, wer das Sagen hatte.

»Thommy, wenn du lange genug auf dem Boden herumgelegen hast, dann müssen wir uns mal unterhalten.«

Oops! Das klang ernst. Ein schneller Blick in mein Sündenregister - ich hatte eigentlich in letzter Zeit keinen größeren Mist gebaut, naja, jedenfalls nichts, wovon sie wissen konnte. Etwas Diplomatie war vielleicht eine gute Idee.

»Ja, natürlich, ich wollte sowieso mit dir einen Kaffee trinken.«

»Gute Idee, setz mal ’ne Kanne an, ich glaube, es wird länger dauern.«

Das hörte sich nun wirklich ernst an. Ich wußte, dass Karin ohne Kaffee kein weiteres Wort verlieren würde, also ging ich in die Küche. Kaffee war Grundnahrungsmittel und wir hatten eine von diesen großen Kaffeemaschinen mit einer 2 Liter Kanne - eine Stunde, eine Kanne.

Ein paar routinierte Handgriffe, dann ich brachte ich meinen Rucksack in mein Zimmer und zog mich um. Es ist schwer genug, als Heimkind in eine normale Schule zu gehen, da muß ich die Vorurteile nicht noch bestätigen. Deshalb lege ich viel Wert auf saubere und angemessene Kleidung, es ist schon bescheuert, wenn die Anderen ’rumlaufen wie Penner, dann stört das niemanden, aber wenn einer von uns mal mit einer dreckigen Hose kommt, dann heißt es sofort: »Typisch Heimkind!« Auf der Gruppe laufe ich auch lieber in T-Shirt und Shorts herum. So, jetzt aber zurück in die Küche, Kaffee in die Warmhaltekanne, zwei Becher und Milch und ab ins Büro - das Schlachtfeld vorbereiten.

»Machst du bitte die Tür zu.«

Hm, die Lage war ernster, als ich gedacht hatte - aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, worum es eigentlich ging. Gut, Kaffee war da, Becher auch, Aschenbecher stand bereit, ich setzte mich und warf meine Camels auf den Tisch, seit ich letzte Woche 16 geworden war, durfte ich auch offiziell rauchen - nicht, daß das früher ein Problem gewesen wäre. Karin holte tief Luft:

»Thommy, du weißt ja, das ich in Urlaub war, in Bayern. Es war sehr schön, ich war am Chiemsee, tolle Gegend.«

Jetzt wurde es langsam Zeit, nervös zu werden. Karin redete nie, niemals um den heißen Brei herum.

»Ich habe da ein Ehepaar getroffen und wir haben uns ganz gut verstanden und zusammen zu Abend gegessen.«

Was ich mir lebhaft vorstellen konnte, Karin konnte innerhalb weniger Minuten aus einem völlig Fremden einen guten Freund machen. Aber was hatte das mit mir zu tun?

»Es sind wirklich sehr nette Leute, sie haben einen Sohn in deinem Alter und sie haben immer bedauert, kein weiteres Kind bekommen zu können. Kann man ja auch verstehen, der Mann hat Karriere gemacht und seine Frau würde sich gern um mehr als einen Sohn kümmern, du kennst das ja, mit 16 ist ihr Sohn schon ziemlich selbständig. Sie haben mir erzählt, das sie vor kurzem noch in dem Gästezimmer standen, das ursprünglich als zweites Kinderzimmer gedacht war und da haben sie sich noch darüber unterhalten, wie schön es gewesen wäre, noch ein Kind zu haben.«

»Karin, ich mag dich ja auch, aber hast du den Zirkus hier veranstaltet, nur um mir was über die Eheprobleme von irgendwelchen Leuten zu erzählen? Willst du heiraten oder was ist los?«

»Quatsch! Erstens bin ich schon mit dem Heim verheiratet und zweitens würde mich sowieso keiner nehmen - bei meinen Dienstzeiten. Nein, diese Leute wünschen sich noch ein Kind!«

»Na und? Willst du Leihmutter wer ...«

Das war der Zeitpunkt, als ich vergaß zu atmen. Karin meinte doch nicht ... nein, verdammt, ich war 16, wer um alles in der Welt würde einen 16-Jährigen ... aber Karin würde mich nie mit sowas auf den Arm nehmen ... das ist doch nur ein Traum, oder ...

Für alle, die sich das nicht vorstellen können: Es gibt einen Traum, den jeder, absolut jeder im Heim träumt: Raus aus dieser Scheisse, raus aus dem Heim, endlich wieder in einer Familie leben. Endlich wieder jung sein dürfen und sich geliebt fühlen. Als ich 11 war, gab es noch Hoffnung, mich zu vermitteln, aber mit steigendem Alter sanken die Chancen. Kurz nach meinem 15. Geburtstag hatte ich meinen Traum ganz tief begraben ... und jetzt tauchte er wieder auf.

»Erde an Thommy! Hey, es brennt, die Russen greifen an, die Außerirdischen sind gelandet, die Welt geht gleich unter - verdammt noch mal, sag was!«

»Karin ... Karin, wenn du mich jetzt verarschst ... ich schwör dir, dann rede ich nie wieder ein Wort mit dir. Also, eine simple Frage: Hat das was mit mir zu tun?«

Karins Gesicht wurde sehr ernst und sie schaute mir direkt in die Augen

»Thommy, du weißt genau, das ich dich nicht auf den Arm nehme. Und: Ja, es hat was mit dir zu tun. Ich kann dir nichts versprechen, außer einer Chance. Hast du am kommenden Wochenende eigentlich was besonderes vor?«

»Naja, vielleicht kann ich zwischen den vielen Pressekonferenzen für dich ein paar Minuten freimachen ... natürlich habe ich nichts besonderes vor.«

»Hm, ich habe eben noch mit dem Chef gesprochen. Wir finden beide, daß du mal einen kleinen Wochenendausflug machen solltest - nach Bayern!«

»Echt? An den Chiemsee? Zu diesen Leuten?«

»Ja, klar. Aber nicht zum Chiemsee, die Leute wohnen in Seuzberg. (Ich hoffe, dieses Dorf existiert nicht wirklich, falls doch meine Entschuldigung an alle Bewohner) Die Familie würde dich gern mal kennenlernen und es ist einfacher, wenn du ’runterfährst.«

Karin ging zum Schreibtisch und nahm einen Umschlag aus einer Schublade. Sie grinste und ließ den Umschlag auf meinen Bauch fallen.

»Na los, schau rein, ich war schon fleißig heute morgen!«

Eine Bahnfahrkarte - Ankunft in Seuzberg: Freitag, 17:34 Uhr.

»Ich schreib' dir für Freitag eine Entschuldigung, du mußt früh los, es wird eine lange Fahrt!«

Ich stand auf und umarmte Karin, ich flüsterte »Danke« und dann fing ich an zu weinen.

Die nächsten Tage tat ich nichts anderes, als auf Freitag zu warten. Karin half mir am Donnerstag, ein paar Sachen zusammenzupacken, nein, natürlich konnte ich das allein, aber irgendwie war es schön, sie dabei zu haben. Ich kontrollierte die Tasche mindestens zehn Mal und dann konnte ich vor Aufregung nicht einschlafen. Ich versuchte, mir einzureden, daß es sowieso nicht klappen würde, daß es völlig bescheuerte Leute sein würden, ich malte mir alle möglichen Katastrophen aus - es half nichts.

Am Freitag hatte Karin frei, also frühstückte ich mit Jens, einem anderen Betreuer. Naja, Frühstück ist wohl übertrieben, mehr als einen Kaffee kriegte ich nicht runter. Nochmal auf's Klo, dann ins Zimmer. Ein letzter langer kritischer Blick in den Spiegel: Die Haare lagen gut, ich habe einen Mittelscheitel und auch wenn das bei blonden Haaren nicht so toll aussieht, mir gefiel es. Mein Ohrring war kaum zu sehen, ich hatte überlegt, ihn abzunehmen, immerhin fuhr ich nach Bayern und die Gerüchte sagten, daß es dort doch etwas konservativ zuging - aber ich wollte da keine Show abziehen. Gut, weißes T-Shirt, grau-schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Nike's ... okay, besser ging es nicht. Jens grinste mich an und wünschte mir viel Glück und dann nahm ich den Bus zum Bahnhof.

Ich war natürlich viel zu früh auf dem Bahnsteig, aber irgendwann kam die übliche Durchsage

»Achtung, Reisende auf Gleis 9, der Intercity 1023 von Hamburg nach München Hauptbahnhof über Münster, Dortmund, Köln, Bonn Schön, das ich dich noch erwische!«

Häh? Was ist los? Etwas verwirrt drehte ich mich um.

»Karin!«

»Klar! Ich wollte mir nur mal den Bahnhof anschauen - und wen treff' ich hier....«

Wie gesagt, Karin ist Klasse.

Der Zug lief ein und ich mußte los.

»Danke, das du gekommen bist!«

»War doch selbstverständlich. Viel Glück und benimm dich, Kleiner!«

»Ich werd' einfach alles so machen wie im Heim!«

»Ich hab's geahnt, das wird ein Desaster!«

Ein schnelles Winken und ich war auf dem Weg. Die Zugfahrt war ziemlich ereignislos, hauptsächlich weil ich hundemüde war und die meiste Zeit schlief. In der Gegend von Augsburg wachte ich dann endgültig auf und kurze Zeit später erreichten wir München. Ich hatte reichlich Zeit zum Umsteigen, aber erstens war die Hölle los und zweitens fand ich den Bahnsteig nicht. Verdammt, der Bahnhof hörte mit Bahnsteig 26 auf und ich mußte zu Nr. 30 - das konnte doch nicht wahr sein. Endlich entdeckte ich in dem Getümmel jemanden in Uniform, naja, manchmal ist die Polizei ja wirklich da, wenn man sie braucht. Ein übrigens sehr freundlicher Polizist (ja, das gibt es auch!) erklärte mir den Weg und drei Minuten später machte ich Bekanntschaft mit einem Regionalexpress. Die Wagen hatten wohl noch die Wettrennen Zug gegen Postkutsche erlebt und unwillkürlich suchte ich nach Einschußlöchern vom letzten Indianerüberfall. Nach ein paar Minuten Fahrt wurde es dann aber wirklich unheimlich, eine Begegnung der dritten Art. Ein Mann in der Uniform der Deutschen Bahn näherte sich und sagte:

»Fkortn bschön!«

Äähh, was war das denn? Aber Schaffner wollen für gewöhnlich Fahrkarten, also gab ich sie ihm.

»'st o Preiss?«

»Entschuldigung, was sagten sie?«

Der Typ grinste bis über beide Ohren

»Ob du aus dem Norden kommst.«

»Äh, ja, ich besuche hier nur jemanden.«

» scho gdacht«

Mit einem freundlich klingenden »Pfürti« gab er mir die Fahrkarten zurück und ging. Meine erste Begegnung mit einem Eingeborenen war also unblutig verlaufen. Ich nahm das als gutes Zeichen.

Faszinierend, in Bayern verging die Zeit langsamer. Ich schaute auf die Uhr und wenn ich schätzungsweise eine halbe Stunde später wieder schaute, dann waren doch nur zwei Minuten vergangen - ich war nervös wie nie. Schnell noch eine Kippe ... und dann war es endlich soweit

»Nächste Station Seuzberg«

Ich stand fertig an der Tür und mein Herzinfarktrisiko lag wahrscheinlich bei 95%, okay, Tür auf und raus.

Tja, und da stand ich am Bahnhof von Seuzberg, naja, Bahnhof ist übertrieben, eher eine bessere Bushaltestelle im Nirgendwo. Viel Gegend, verdammt viel Gegend, ein paar Berge lagen ziemlich romantisch in der abendlichen Sonne ... und keine Spur von Familie Steinberg. Na, das fing ja gut an, eigentlich wollten sie mich hier abholen. Ein paar andere Reisende waren auch ausgestiegen und verkrümelten sich per Auto oder Fahrrad und in ungefähr 60 Sekunden stand ich allein mitten in der Wildnis.

Verdammt, ich komme in jeder Großstadt klar, aber das hier machte mich ratlos. Ich setzte mich auf eine Bank und überlegte, was ich jetzt machen sollte. Erstmal warten. Und ich wartete ... bis ich einen Motor hörte, Sechszylinder, hochtourig, näherkommend. Da hatte jemand wohl seinen Führerschein im Lotto gewonnen und nie gemerkt, daß sein Auto mehr als zwei Gänge hatte. Dann knirschte und kreischte es ganz gewaltig und ich sprang ziemlich erschrocken auf und ging Richtung »Bahnhofsvorplatz«. Ein großer blauer BMW schien mächtig gerutscht zu sein, jedenfalls gab es da ziemlich breite schwarze Streifen auf dem Asphalt.

Drei Türen gingen auf und ich hörte eine Stimme

»... weiß schon warum ich lieber mit dir fahre, Papa.«

Und eine Frauenstimme:

»Jetzt stell dich nicht so mädchenhaft an, wenn man es eilig hat, muß man schnell fahren, einfaches Naturgesetz. Lernt ihr sowas heute nicht mehr in der Schule?« Und dazu ein leises Lachen.

»Jetzt aber los, Thomas wird schon warten!«

Ich war zwar aufgeregt, aber nicht dämlich, das mußten die Steinbergs sein. Kneifen gilt nicht, ’ran an den Feind. Ich näherte mich etwas unentschlossen dem Auto und versuchte, das dämliche Grinsen auf meinem Gesicht loszuwerden. Eine Frau schwang sich ziemlich elegant aus dem Auto, grinste mich schuldbewußt an und streckte mir die Hand entgegen

»Du mußt Thomas sein! Herzlich willkommen! Tut mir sehr leid, Papa kam etwas spät aus der Klinik und da haben wir es einfach nicht rechtzeitig geschafft.«

»Aber du hast es vielleicht gehört, meine Frau hat sich die größte Mühe gegeben, schnell zu sein - oder uns unter die Erde zu bringen. Schön, das du da bist«»

Herr Steinberg schüttelte mir grinsend die Hand.

»Meine Mutter ist der Schrecken aller Fußgänger, Fahrradfahrer und freilaufender Hunde. Hallo, ich bin Stefan.«

Und jetzt fiel mir die Kinnlade ’runter - zum Glück nur im übertragenen Sinne. Frau Steinberg wirkte elegant-fröhlich-mütterlich, Herr Steinberg freundlich-zerstreut aber Stefan ... whaaoo! Ein bißchen kleiner als ich, mittelblond mit leichtem rot, schmales Gesicht und wunderschöne braune Augen. Erstmal tief durchatmen.

»Freut mich, ich bin Thomas. Ich bin wirklich froh, hier zu sein. Aber eigentlich nennen mich nur die Lehrer Thomas, für alle anderen bin ich Thommy.«

»Na dann: Hallo Thommy! Sag mal, hast du gar kein Gepäck mitgebracht?«

Frau Steinberg schien die Praktische in der Familie zu sein.

»Doch, natürlich, das steht noch auf der Bank. Ich hab' das Kreischen gehört und bin losgelaufen ... ich meine ...«

»Wir wissen ganz genau, was du meinst und du hast völlig recht. Meine Frau neigt gelegentlich dazu, die Straßenverkehrsordnung als nutzloses Beiwerk zu betrachten.«

Herr Steinberg rettete die Situation und übernahm auch gleich sanft aber deutlich das Kommando

»Stefan hol bitte Thommys Gepäck. Und du, mein Schatz, gib mir bitte den Autoschlüssel. Der Tag ist für Thommy wohl aufregend genug und wir wollen ihn nicht in Todesangst versetzen.«

»Feigling!« grinste Frau Steinberg und warf ihrem Mann die Schlüssel zu.

Stefan hatte inzwischen meine Tasche in den Kofferraum gestellt und öffnete nun die vierte Tür

»Bitte Platz zu nehmen, der Herr!«

Und das Ganze mit Grinsen und Verbeugung.

»Danke schön, Trinkgeld gibt's später.«

»Ich komm' darauf zurück!«

Na, das konnte ich ja kaum erwarten. Aber jetzt saß ich erstmal in einem wirklich großen BMW und genoß die Fahrt. Auch wenn Herr Steinberg nicht übermäßig rücksichtsvoll fuhr, brauchten wir doch eine gute halbe Stunde. Wir unterhielten uns über Nebensächlichkeiten, irgendwie ist ein Auto nicht der Ort für wichtige Gespräche.

Als wir das Haus erreichten, blieb mir erstmal die Luft weg. Mir war inzwischen klar, daß die Steinergs nicht am Hungertuch nagten, aber das Haus war wirklich ... großzügig. Bayrischer Stil, ab dem ersten Stock Holzverkleidung und so, aber wirklich geschmackvoll, dazu ein wirkliche großes Grundstück, ich glaub' bei Immobilienmaklern nennt man so etwas ein »Anwesen« und vor dem stand ich jetzt.

Herr Steinberg schloß die Tür auf und meinte:

»Tritt ein Thommy! Ich habe schon oft zu einem Gast gesagt ‚Fühl dich wie zu Hause‘ aber heute könnte das eine tiefere Bedeutung haben.«

Und dann schaute er mich lächelnd-ernst an und sagte leise:

»Fühl dich wie zu Hause, Thommy!«

Manchmal spürt man einfach, daß gerade etwas sehr wichtiges geschieht. Das war so ein Moment. Ich schaute ihn an, holte tief Luft und sagte

»Danke!«

Ich trat also ein und schaute mich um. Mein erster Gedanke war »Mann, daß ist gemütlich hier«. Geschmackvoll, aber keine Spur von Protz und Prunk, hier konnte man sich wohlfühlen. Wir gingen ins Wohnzimmer, ja, hier wohnten wirklich Menschen. Eine bequem wirkende Polstergarnitur, auf dem Tisch einige Zeitschriften, Bücher und ein Aschenbecher - gefüllt. Regale und Schränke, alles helles Holz, ein Kamin, große Fenster, ein TV, ein paar Blumen. Das Wohnzimmer war nicht unordentlich, aber wirklich aufgeräumt war es sicherlich nicht - ein sympathischer Zug.

»Thommy, ich nehme an, du möchtest dich erst einmal etwas frisch machen. Stefan zeigt dir dein Zimmer und in einer halben Stunde gibt es dann Abendessen.«

»Ja, vielen Dank, eine Dusche ist wirklich eine gute Idee.«

Stefan ging voraus und ich folgte ihm in den ersten Stock.

Mein Zimmer war natürlich ein Gästezimmer, also etwas unpersönlich, aber es standen frische Blumen auf dem Tisch und ich hatte meine eigene Naßzelle.

Stefan schloß die Tür - aber von innen.

»Du, ich weiß nicht, wer gerade nervöser ist, meine Eltern oder du. Ich möchte dir nur ein paar Dinge sagen, beim Abendessen soll das große Gespräch stattfinden - so sieht jedenfalls der Schlachtplan aus und es wäre gut, wenn du ein paar Sachen wüßtest.«

Stefan grinste mich an und wir setzten uns.

»Also, pass auf. Meine Eltern sind toll, aber sie können manche Sachen einfach nicht so richtig sagen - deshalb tu ich das jetzt.

Erstens, du bist nicht hier, weil wir Mitleid hätten. Wir haben das lange diskutiert und wir würden uns wirklich freuen, wenn hier noch jemand wäre - und ich hab' mir schon immer einen Bruder gewünscht.»

Ich wollte ihn unterbrechen, aber er winkte ab und sprach weiter.

»Zweitens, so wie es aussieht, hat Papa dich schon so gut wie adoptiert und er ist sonst sehr vorsichtig mit schnellen Entschlüssen. Mama mag dich, da bin ich sicher und ... nun, ich fände es auch toll, wenn du hier einziehen würdest.«

Stefan lachte leise und sprach weiter

»Ich glaube, die Frage wird eher sein, ob du hier mit uns leben willst. Überleg' es dir gut, Mama kocht, wie sie fährt - grauenhaft.«

Es tat gut, einfach zu lachen.

»Danke Stefan! Mein Puls war die ganze Zeit auf 200 und jetzt geht's wieder. Ich will natürlich einen guten Eindruck bei euch machen, aber ich hab' mir fest vorgenommen, keine Show abzuziehen. Himmel, kneif mich mal, damit ich weiß, daß ich nicht träume!«

Was er auch tat, naja, was er auch versuchte, an meinem Bauch gibt es nicht viel zu kneifen, dafür aber zu kitzeln und ich brüllte vor lachen. Stefan lachte mit und meinte

»Super! Du bist zwar ein bißchen größer als ich, aber jetzt weiß ich, wie ich damit klarkomme. So, ich lass dich jetzt in Ruhe, damit du noch Duschen kannst. Und lass dir Zeit, Mama hat das Essen nie in einer halben Stunde fertig.«

Er hatte Recht, aber natürlich war ich trotzdem pünktlich unten. Ich wollte gerade in die Küche gehen und fragen, ob ich helfen könnte, da hörte ich Herrn Steinberg

»Thommy, das würde ich nicht tun!«

Mein Gesicht muß wohl ein einziges Fragezeichen gewesen sein, denn Herr Steinberg lachte und winkte mich ins Wohnzimmer.

»Setz dich. Wenn meine Frau kocht, dann ist die Küche Sperrzone, betreten nur unter Lebensgefahr, sogar für mich.« Er grinste verschwörerisch und sprach leise weiter: »Kein lebendes Wesen weiß, was sie eigentlich in der Küche macht, aber es gibt Legenden über merkwürdige Rituale zu nächtlicher Stunde ...«

»Papa, hör auf Thommy zu veralbern. Mama hat es nur nicht gern, wenn ihr jemand über die Schulter schaut. Was allerdings die merkwürdigen Rituale angeht, nun, ich bin nicht sicher, ob der Fisch vom letzten Freitag wirklich von diesem Planeten stammte.«

»Was war mit dem Fisch?«

Frau Steinberg war unbemerkt zu uns gestoßen.

»Nun, wie dem auch sei, ich wollte euch nur sagen, daß das Essen noch etwas dauert.«

»Alles andere hätte mich auch überrascht, Liebling.«

Woraufhin unversehens ein Kissen auf Herrn Steinberg landete. Er warf das Kissen zurück und sagte:

»Thommy, stört es dich, wenn ich rauche?«

»Nicht im geringsten, ich rauche selbst.«

»Na, dagegen kann ich nichts sagen. In meinem Büro und im Wohnzimmer darf ich rauchen, also du auch, und vielleicht wird die Gruppe der Raucher ja demnächst größer.«

Wirklich kein Meister subtiler Andeutungen, aber sein trockener Humor war echt klasse.

Das Abendessen war ... interessant. Ich habe nichts gegen Hering, aber in Kombination mit Sauerkraut und Nudeln hielt sich meine Begeisterung in Grenzen. Dafür vergaß ich völlig, daß ja ein großes Palaver geplant war und die anderen vergaßen es auch. Soll heißen: Vom Essen abgesehen, war der Abend absolut großartig. Wir lachten und erzählten Geschichten, machten Witze und es war so, als ob ich von einem langen Urlaub nach Hause zurückgekommen wäre. Ich erfuhr nebenbei, daß Herr Steinberg Chefarzt an der hiesigen Klinik war, Frau Steinberg war eigentlich Lehrerin für Politik und Geschichte, hatte aber mit Stefans Geburt aufgehört zu arbeiten und Stefan ... verhielt sich etwas merkwürdig. Er war ziemlich still und zurückhaltend, gar nicht der Stefan, der vor dem Essen oben im Zimmer die Sache in die Hand genommen hatte.

Irgendwann wurde es spät und Zeit, schlafen zu gehen:

»Thommy, wir hatten schon mal überlegt, wie wir den morgigen Tag gestalten. Wir haben uns gedacht, es ist vielleicht das Beste, wenn du uns ganz alltäglich erlebst, also kein Sonderprogramm. Ich nehme an, daß du morgen früh erst einmal schlafen willst, das tut Stefan jedenfalls meistens. Nach dem Frühstück möchte Stefan mit dir los, aber es wäre wohl auch ganz gut, wenn du etwas Zeit mit meiner Frau verbringen würdest. Hast du da eine Idee?«

Ich erinnerte mich an die Speisefolge und mein Überlebensinstinkt verhalf mir zu einer Idee.

»Frau Steinberg, ich weiß, daß mein Vorschlag etwas heikel ist, aber bei uns im Heim haben wir immer viel Spaß, wenn wir zusammen kochen und da dachte ich ... vielleicht könnten wir uns zusammen um das Abendessen kümmern.«

Frau Steinberg schaute mich überrascht an

»Ja, kannst du denn kochen?«

»An den Wochenenden müssen wir im Heim selber kochen - und bisher haben die meisten meine Kochkünste überlebt.«

Stefan stöhnte und Herr Steinberg grinste
»Da haben sich ja zwei gesucht und gefunden. Denkt nur bitte daran, daß meine Patienten mich lebend brauchen. Gut, ich glaube, es ist Zeit für das Bett. Schlaft gut, ihr beiden!«

Ich lag noch lange wach und dachte nach. Das war eine tolle Familie und wie es aussah, hatte ich das große Los gezogen. Aber da gab es noch eine Kleinigkeit: Ich bin schwul. Im Heim konnte ich das verstecken, bis ich 18 war - hier könnte ich das auch tun. Seien wir doch mal ehrlich, es ist schon ein Wunder, wenn jemand einen 16-Jährigen aus einem Heim nimmt - aber einen schwulen 16-Jährigen? Genauso gut konnte ich mich darauf verlassen an den nächsten vier Wochenenden jedesmal einige Millionen im Lotto zu gewinnen - ohne einen Schein ausgefüllt zu haben. Die Frage war klar: Heim oder Familie, Wahrheit oder Lüge? Da lag ich nun und ich wurde immer trauriger. Es war ein wirklich schöner Abend gewesen, ich hatte mich wirklich wie zu hause gefühlt ... Zuhause ... das hatte ich lange nicht mehr erlebt. Ich kam mir reichlich alleine vor und es war ein beschissenes Gefühl.

Ich wachte auf und wußte im ersten Moment nicht, wo ich eigentlich war, dann kam die Erinnerung zurück. Die Sonne schien durch die dichten Vorhänge und ein Blick auf die Uhr bestätigte meine Vermutung: Später Vormittag, 10:42 Uhr. Jetzt aber los, was mußten die Steinbergs denn von mir denken. Mit schnellem Duschen hatte ich Übung und der Rest war auch kein Problem. Kurz vor elf kam ich ins Wohnzimmer - keiner da. Im Esszimmer fand ich die Erklärung, ein Zettel lag auf dem Tisch:

Thommy, Stefan,

das Wetter ist so schön, wir sind noch an den Chiemsee gefahren, ihr wollt ja auch los.

Thommy, wenn etwas fehlt, hol es dir einfach aus der Küche

Stefan, schließ bitte das Haus ab, wenn ihr fahrt.

Viel Spass

Schade, aber das Wetter war wirklich schön und ich konnte die Steinbergs gut verstehen. Abgesehen davon hat man im Heim sehr selten Gelegenheit, allein zu frühstücken und die Zeitung hatte ich schon entdeckt. Auf dem Zettel stand »Wenn etwas fehlt, hol es dir einfach aus der Küche« - so wie ich das sah, fehlte so ziemlich alles, bis auf Geschirr, Besteck und Brötchen. Also ab in die bis dahin verbotene Küche. Hm, ehrlich gesagt, wenn das meine Küche gewesen wäre, hätte ich auch nicht gewollt, daß jemand anderes hereinkommt. Wie war das noch? Nur ein Idiot braucht Ordnung, ein Genie beherrscht das Chaos? So wie die Küche aussah, mußte Frau Steinberg ungefähr den IQ von Albert Einstein haben. Sagen wir mal, ich kämpfte mich durch und als die Kaffeemaschine anfing zu röcheln, stand ich vor der uralten Menschheitsfrage: Ei oder nicht Ei. Ich drückte mich vor der Entscheidung, indem ich zwei Eier kochte - vielleicht kam Stefan rechtzeitig und sonst ... auch nicht schlimm, beim Frühstück ist sich jeder selbst der Nächste.

Ziemlich genau nach der zweiten Tasse Kaffee und auf Seite drei der Süddeutschen Zeitung hörte ich Stefan die Treppe herunterkommen - gerade noch rechtzeitig, ich hatte schon begehrliche Blicke auf das zweite Ei geworfen.

»Morgen Thommy! Wo sind denn Mama und Papa?«

Oops, Shorts, weißes T-Shirt, viele gebräunte Haut, das Haar noch naß von der Dusche, der Junge warf mich immer wieder um - entsprechend konfus fiel meine Antwort aus.

»Chiemsee. Morgen Stefan. Ich hab mal alles aus der Küche geholt, was mir schmeckt. Ach so, da liegt der Zettel. Magst du ein Ei?«

Äußerst logische Aneinanderreihung zusammenhangloser Sätze. Aber Stefan verstand mich offensichtlich.

»Klar.«

Er ließ sich auf den Stuhl fallen und fing an zu frühstücken ... bis er den Kaffee probierte. Ich konnte ja wirklich nicht ahnen, daß es bei den Steinbergs üblich war, eine Kaffeebohne kurz in heißes Wasser zu tauchen und das Ergebnis Kaffee zu nennen. Schließlich kam ich aus einer seefahrenden Gegend und bei uns galt die Regel: Zwei Löffel Kaffeemehl pro Tasse, zwei für die Kanne und eine Prise Salz, damit Geschmack drankommt. Stefan spuckte den guten Kaffee auf die Tischdecke

»Booaahh was ist das denn?«

»Ihr habt schon merkwürdige Sitten. Spuckt ihr den Kaffee jeden Morgen auf die Tischdecke oder nur Samstags?«

»Wieso Kaffee? Das soll Kaffee sein? Baahh!«

Ich nahm einen Schluck aus meiner Tasse, nahm Stefans Tasse, trank und nickte anerkennend und meinte grinsend:

»Ja, eindeutig guter Kaffee, schmeckt genauso wie meiner.«

»Um Himmels willen - und du kochst heute abend? Das kann ja heiter werden!«

Stefan träufelte vorsichtig etwas Kaffee in ein Glas Milch und frühstückte weiter, anschließend räumten wir auf und legten eine neue Decke auf.

Stefan lud mich zu einer Fahrradtour ein, inklusive See. Die Badehose lieh er mir und so gegen 13:00 Uhr fuhren wir los. Ich hatte nicht vergessen, wie still er gestern Abend gewesen war und ich war etwas unruhig. Aber zunächst waren da etwa 15km zu fahren - habe ich schon erwähnt, daß es in Bayern Steigungen gibt, ziemliche häßliche Steigungen sogar? Ich mache ziemlich regelmäßig Sport, aber glühende Sonne, kaum Wind und ein Weg, der grundsätzlich nur eine Richtung kennt: nach oben - ich war ziemlich durchgeschwitzt, als wir am See ankamen und ich freute mich einfach auf die Abkühlung. Wir zogen uns hinter einem Baum um und sprangen ins Wasser.

Für alle, die jetzt eine genaue Beschreibung von Stefan erwarten: Hey, ich war ziemlich fertig, er würde vielleicht mein Bruder werden und ich hatte nun wirklich andere Probleme, als darauf zu achten, was er zwischen den Beinen hatte. (Aber er sah ziemlich gut aus ;-))

So richtig spannend wurde es, als wir dann später unter besagtem Baum saßen. Stefan war toll und er bemühte sich redlich, ein guter Gesprächspartner zu sein, aber ich war es leid, verstecken zu spielen.

»Stefan, du warst gestern offen zu mir und ich möchte das jetzt auch sein. Du warst beim Abendessen ziemlich still und ich glaube, du hast grad ganz andere Dinge im Kopf, als hier ’rumzusitzen. Ich weiß, es geht mich nichts an, aber wenn du reden willst - man sagt, ich kann ganz gut zuhören.«

Ich hörte mich schon an wie Karin, vielleicht hatte ich ja doch etwas mehr von ihr gelernt, als ich gedacht hatte.

Stefan schaute mich lange mit seinen braunen Augen an und ich vergaß meine Probleme und das Heim und alles andere.

»Du hast recht. Mir geht im Moment ziemlich viel im Kopf herum. Weißt du ich habe meine Eltern noch nie so erlebt wie gestern abend. Sie waren so fröhlich, so lustig. Wenn wir sonst zusammensitzen, wird das eher langweilig - und es kommt sowieso kaum vor. Papa ist viel in der Klinik und Mama ist auch viel unterwegs, alle möglichen Vereine und Veranstaltungen. Versteh das nicht falsch, meine Eltern kümmern sich um mich, aber ... warum sind sie so gut drauf, wenn du da bist? Bin ich ihnen denn nicht gut genug? Muß ich erst so werden wie du? Vielleicht sollte ich morgen in den Zug steigen und du bleibst hier.«

Ich wollte eigentlich lachen, immerhin war ich der Typ aus dem Heim und Stefan hatte eine gute Familie, aber da war diese Bitterkeit in seiner Stimme. Das durfte doch wohl nicht wahr sein - Stefan beneidete mich?

»Stefan ... ich verstehe nicht viel von Eltern, aber ich weiß genau, daß dich deine Eltern sehr lieben. Ich weiß nicht, warum sie gestern abend so fröhlich waren - aber eines weiß ich: Bitte, wünsch' dir niemals, so zu sein wie ich! Niemals!«

Himmel, ich hatte mir mein coming-out immer etwas anders vorgestellt, aber hier ging es nicht nur um mich. Ich sagte leise

»Abgesehen davon ist es morgen sowieso vorbei.«

Stefan schaute mich überrascht an und fragte mit unsicherer Stimme

»Warum? Magst du uns denn nicht?«

»Doch, ich mag euch sehr und gerade deswegen.«

»Versteh ich nicht.«

»Wenn ihr nicht so toll wärt, dann könnte ich euch belügen. Du weißt nicht, wie es ist, im Heim zu sein und die meisten von uns würden so ziemlich alles tun, um wieder in einer Familie zu sein. Ihr werdet mich aber nicht nehmen, denn ich werde deinen Eltern heute abend die Wahrheit sagen. Stefan, du bist der erste Mensch, dem ich das sage ... Stefan, ich bin schwul.«

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