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Geister der Vergangenheit

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ich kann es nicht lassen. Tut mir leid, aber ich konnte mich einfach noch nicht von Lauri und seinen Freunden trennen. Irgendwie war noch nicht „alles“ erzählt.

Daher hier vorab die Info, für alle die neu auf meine Geschichten stoßen: Dies hier ist der dritte Teil einer Reihe und wahrscheinlich ist es sinnvoll Teil 1 (Racheengel) und Teil 2 (Leanders Erbe) zuerst zu lesen, falls du das noch nicht getan hast, um alle Zusammenhänge besser zu verstehen.

Außerdem möchte ich vorab darauf hinweisen, dass die Geschichte (wie ihre beiden Vorgänger) mögliche Trigger für traumatisierte Menschen enthalten könnten. Wenn du dir unsicher bist, ob die Geschichte dann etwas für dich ist, kontaktiere mich gern vorab über das Feedbackformular.

Ansonsten wünsche ich viel Spaß beim Lesen und freue mich wie immer über Rückmeldungen zur Story.

Lauri

„Lauri? Hast du Zeit?“

Lauri wandte sich von den Kräutern ab, die er zum Trocknen aufgehängt hatte.

„Hallo, Marlon, ja, was gibt’s?“ Marlon sah seinem großen Bruder Lias immer ähnlicher. Das braune Haar fiel ihm wild in die Stirn, als er den Kopf in Sylvesters alte Hütte hereinsteckte. Im letzten Jahr war er wahnsinnig in die Höhe geschossen.

„Ich habe einen Verletzten hier. Könntest du nach ihm sehen?“

„Natürlich. Schick ihn rein“, erwiderte Lauri und humpelte in Richtung Türe, um den Hilfesuchenden in Empfang zu nehmen.

Wie schon vermutet, hatte sich sein Knie von dem Angriff im letzten Jahr nicht gänzlich erholt. Es schmerzte zwar nicht mehr so stark wie am Anfang, aber es war steif geblieben, so dass er es, ähnlich wie sein Ziehvater Sylvester damals, etwas nachzog.

Marlon schob nun einen Jungen durch die Tür, den Lauri bisher noch nie gesehen hatte.

Er musste etwa in Marlons Alter sein, also 15 oder 16. Verschmitzte blaue Augen unter dunkelblondem, halblangem Haar grinsten ihn an.

„Hi. Ich bin Lauri.“

„Arian“, stellte sich der Neue knapp vor.

„Wie kann ich dir helfen?“

Arian warf einen kurzen Blick zu Marlon, den der Junge zwar nicht bemerkte, Lauri aber sehr wohl.

„Marlon, kannst du Finn und deinem Bruder Bescheid sagen, dass wir dann heute wohl noch einen Gast mehr zum Essen haben?“

„Klar, mach ich!“ Und schon war Marlon wieder zur Tür hinaus.

Lauri lehnte locker gegen den Holztisch in der Mitte des Raumes und zog nun fragend eine Augenbraue hoch. „Also?“

„Ach, eigentlich nur ein paar Prellungen“, wich der Junge aus, während er sich in der Stube, die Lauri als Kranken- und Behandlungszimmer nutzte, umsah.

Lauris Skepsis wuchs.

„In Ordnung. Dann zeig mal her. Vielleicht kann ich dir eine Salbe zur schnelleren Heilung geben oder etwas zur Schmerzlinderung.“

Der Junge zögerte einen Moment, bevor er sein Hemd über den Kopf streifte. Lauri erfasste auf den ersten Blick mehrere Prellungen im Bereich des Rückens und der Hüfte. Was seinen Puls in die Höhe schnellen ließ, waren jedoch die sehr deutlichen Würgemale am Hals.

Er deutete auf den Hocker neben der Liege. „Setz dich!“

Geschäftig kramte er daraufhin zwischen den verschiedenen Tiegeln und Kästchen, um die passenden Hilfsmittel herauszusuchen.

„Was sagtest du, wie das passiert ist?“

„Ich habe nichts gesagt.“

Lauri schwieg und dachte sich seinen Teil. Die bisherigen offensichtlichen Verletzungen beschworen bei ihm dunkle Erinnerungen hervor. Gut möglich, dass der Junge einfach nicht darüber sprechen wollte.

Als Arian Platz nahm, verzog er kurz das Gesicht vor Schmerz, auch wenn er sich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen.

Lauri trug vorsichtig eine kühlende Salbe auf die Prellungen auf.

„Ist das alles? Oder gibt es noch was, was ich wissen sollte?“

Der Junge zögerte einen Moment zu lange.

Vorsichtig tupfte Lauri die Salbe auf die gerötete Haut am Hals des Jungen.

„Wie viele waren es?“, fragte er unvermittelt.

Überrascht fuhr Arian herum. Er hatte sich jedoch schnell wieder unter Kontrolle und mit einem abgebrühten Grinsen erwiderte er: „Drei.“

Lauri presste die Lippen aufeinander.

Er hatte also Recht gehabt. Diese Schweine hatten den Jungen festgehalten, ihn geschlagen, gewürgt und dann wahrscheinlich vergewaltigt. Dass Arian die Geschichte so herunterspielte, machte es nicht besser.

„Passiert dir sowas öfter?“

Arian zuckte nur mit den Schultern. „Berufsrisiko!“

Damit wäre alles gesagt. Er drückte dem Jungen ein Töpfchen mit Salbe in die Hand. „Hier, die trägst du vielleicht besser selber auf. Dann schmerzt das Sitzen bald auch nicht mehr.“

Der Junge taxierte ihn einen Moment. Er spürte die Blicke in seinem Rücken, als er die verwendeten Salben wieder an ihren Platz zurückbrachte.

Er haderte mit sich, konnte sich jedoch nicht zurückhalten. Er musste es einfach sagen:

„Und such dir eine andere Arbeit!“

Er hörte das leise Schnauben des Jungen. „Geld ist Geld.“

Lauri wandte sich zu Arian um. Der Junge war aufgestanden und kam nun aufreizend auf ihn zu.

„Oder hast du nur ein Problem damit, dass ich es mit Männern mache? Vielleicht wärst du überrascht, wenn …“ Er legte eine Hand auf Lauris Brust, die dieser sofort energisch wegschob.

„Ich habe kein Problem damit.“

„Vielleicht eine kleine Kostprobe? Für die hier?“ Arian hob das Salbentöpfchen grinsend hoch.

„Die brauchst du nicht bezahlen. Und erst Recht nicht so!“, wehrte Lauri erneut ab.

„Wenn’s dich stört, mach einfach die Augen zu und stell dir vor, ich wäre eine Frau.“ Langsam wurde Lauri wütend. Als Arian vor Lauri auf die Knie ging, packte er den Jungen an den Schultern und riss ihn wieder auf die Beine.

Eindringlich bohrten sich seine eisblauen Augen in den Blick des Jungen.

„Ich habe ‚Nein‘ gesagt! Verstanden?“

Zum ersten Mal zeigte Arian eine Reaktion. Mit hochgezogenen Schultern und weit aufgerissenen Augen nickte er schließlich stumm.

Lauri atmete einmal tief durch, bevor er die Oberarme des Jungen losließ.

„Die Salbe am besten dreimal am Tag auftragen. Wenn die Schmerzen zu stark sind, sag mir Bescheid, dann gebe ich dir noch ein anderes Mittel.“ Lauris Stimme war wieder sanft, was den Jungen nur noch mehr zu verwirren schien.

„Hast du noch Fragen?“

Arian

Ja! Tausende … aber keine, die er jetzt stellen konnte. Also schüttelte er stumm den Kopf.

Was war hier schiefgelaufen? Warum hatte der Kerl ihn so vehement abgewiesen?

Marlon klopfte an, stand aber im gleichen Moment auch schon halb in der Stube.

„Na? Alles in Ordnung? Komm, ich zeig dir alles, wenn du willst!“

Etwas überrumpelt, war Arian dennoch dankbar über die Gelegenheit, der seltsamen Situation hier zu entfliehen. Also warf er sich schnell sein Hemd wieder über und folgte dem quirligen Jungen nach draußen.

„Also, Lauri kennst du ja jetzt schon. Er ist quasi unser Arzt hier. Na ja, er würde wieder meckern, weil er natürlich kein richtiger Arzt ist, aber er kümmert sich eben um alle Kranken und Verletzten.

Hier drüben ist unser Hof. Also von Lias und mir. Das da drüben ist Marianna, sie arbeitet auch bei uns.“ Marlon winkte der sympathisch wirkenden Frau zu, die gerade dabei war, eine Kuh zu melken, während zwei kleine Kinder neben ihr im Dreck spielten.

Sofort zog der redselige Junge ihn jedoch schon weiter und deutete mal hierhin, mal dorthin, stellte ihm diverse Menschen vor, deren Namen Arian meist sofort wieder vergaß, und führte ihn so einmal quer durch das Dörfchen. Zum Schluss kamen sie an einer kleinen gemauerten Schmiede an, wo zwei junge Männer gerade dabei waren, ein Pferd zu beschlagen.

Der eine war unverkennbar Marlons Bruder. Sie sahen sich wahnsinnig ähnlich. Erst als Lias ihnen das Gesicht zuwandte, fiel Arian die große Narbe auf, die sich quer über die eine Gesichtshälfte des Mannes zog. Die Verletzung schien Lias auf dem einen Auge geblendet zu haben, denn die Iris hatte eine unnatürlich blasse Färbung angenommen. Dennoch lächelte er den beiden Jungen freundlich zu und tätschelte dann weiter beruhigend das Pferd, während der andere Mann, den Marlon als Robin vorstellte, das letzte Hufeisen befestigte.

„So, fertig!“ Der Schmied klopfte dem Pferd auf die Flanke.

„Danke. Kommst du dann gleich essen? Marlon hat Besuch mitgebracht.“ Lias nickte in die Richtung der beiden Jungen.

Robin hob die Hand zum Gruß, bevor er antwortete: „Ja, ich räum hier noch schnell auf, dann komme ich.“

Lias drückte Robin zum Abschied ungeniert einen Kuss auf die Lippen.

Na hallo. So läuft der Hase also, fuhr es Arian durch den Kopf. Nur ungewöhnlich, dass die beiden Männer sich hier so öffentlich zeigten.

Er warf einen Seitenblick auf Marlon.

Dieser grinste über das ganze Gesicht. „Ja, die beiden sind ein Paar!“

Ach … als wäre das nicht offensichtlich gewesen.

„Und du?“

Marlon lachte. „Äh nein, ich bin nicht schwul. Und das ist auch gut so, find ich zumindest.“ Er kicherte. „Aber ich habe damit kein Problem. Robin ist toll. Ist wie noch ein großer Bruder.“

Er zog Arian weiter. „Komm, ich zeig dir noch den Rest vom Dorf.“

Zum Abendessen trafen sie dann wieder auf bekannte Gesichter. Lias und Robin natürlich, aber auch Marianna mit ihren Kindern, sowie Lauri und ein weiterer junger Mann, den Marlon als Finn vorstellte, saßen mit am großen Tisch.

Es wurde neben dem Essen auch viel gelacht und erzählt und Arian war etwas überrumpelt von dieser seltsamen Truppe. Normalerweise war er nicht auf den Mund gefallen, aber heute hielt er sich eher zurück und beobachtete. Als es draußen dunkler wurde und das erste Kind in Mariannas Arm eingeschlafen war, verabschiedete sich die Frau und brachte ihre kleinen Kinder mit Hilfe ihrer älteren Tochter ins Bett. Die jungen Männer blieben jedoch noch zusammen sitzen und unterhielten sich weiterhin angeregt.

Finn war aufgestanden und hatte Robin geholfen, den Tisch abzuräumen. Nun stand er hinter Lauri und fuhr diesem durch die dunklen Locken.

Moment mal … was hatte dieser Möchtegern-Arzt denn für eine Show abgeliefert. „Ich habe kein Problem damit!“ Jaja, weil er selbst auf Männer stand.

Arian fand die Tatsache zwar immer noch seltsam, dass sich hier offensichtlich gleich zwei Paare niedergelassen hatten, die keine Hemmungen hatten, ihre Neigungen auch noch offen zu zeigen, aber gleichzeitig faszinierte ihn das auch.

„Seid ihr echt alle schwul?“, platze es aus ihm heraus.

Finn wirkte im ersten Moment etwas verunsichert, was Arian belustigte. Lauris Lippen kräuselten sich eher zu einem kleinen Lächeln und auch Robin und Lias nahmen die Frage locker auf.

„Hast du damit etwa ein Problem?“, fragte Marlon angriffslustig.

Arian lehnte sich entspannt und breit grinsend zurück.

„Nö, bin ich doch auch.“

Marlon lachte: „Na toll, also bin ich immer noch der einzige hier, der nicht auf Männer steht.“

„Schade eigentlich“, grinste Arian frech, was Marlon wiederum eine ungewohnte, rote Gesichtsfarbe verpasste. Was nicht ist … dachte Arian bei sich.

Die jungen Männer hatten ihn eingeladen, ein paar Tage zu bleiben, um sich zu erholen. Außer Lauri, der die ganze Wahrheit kannte, wussten die anderen nur, dass er überfallen und zusammengeschlagen worden war. So hatte Marlon ihn ja auch gefunden und hierhergebracht.

Arian fand, dass das für den Anfang auch reichte.

Lange konnte er ohnehin nicht bleiben. Viktor erwartete ihn pünktlich zurück, aber bis zum Zahltag würde er sowieso eine Pause brauchen.

Aber so ein kleines bisschen Spaß könnte er schon noch gebrauchen.

Neben Marlon, den er gerne zwischendurch ein bisschen anflirtete, hatte er sich als nächstes Opfer Finn ausgesucht. Auch wenn der junge Mann schon ein paar Jährchen älter war als er, wirkte er teilweise noch unsicherer als Lias kleiner Bruder, der zwar nicht auf Arians Flirtversuche einging, aber trotzdem Spaß mit ihm hatte. Finn hingegen war leichter aus der Fassung zu bringen.

Finn

„Und wie lange seid ihr jetzt zusammen?“, fragte Arian.

„Über zwei Jahre, fast drei“, gab Finn zurück.

Arian grinste ihn an. „Und? War er dein Erster?“

Finn merkte, wie ihm wieder mal das Blut ins Gesicht schoss. Verlegen senkte er den Blick.

„Ähm …“

„Also ja!“ Arian lachte und knuffte Finn freundschaftlich in die Seite.

„Ach, ist doch nichts, weswegen du dich schämen musst.“

Einen Moment schwiegen sie, aber Finn merkte, dass Arian neben ihm unruhig hin und her rutschte.

Fragend sah er Arian an.

Es dauerte nicht lange, bis er weitersprach.

„Und … hast du dich nie gefragt, wie es mit jemand anderem wäre?“

Finn zuckte mit den Schultern.

„Ich bin glücklich mit Lauri.“

„Das hab ich nicht gefragt … Hast du nicht das Gefühl, etwas … mh … verpasst zu haben?“

Finn spürte Arians lauernden Blick auf sich ruhen. Die Pause dauerte einen Moment zu lang.

„Nein!“

Arians Grinsen wurde breiter. „Du hast gezögert!“

„Ich … nein, ich verpasse nichts. Ich bin glücklich, so wie es ist.“

Arians Stimme wurde leiser.

„Ok … aber meine erste Frage hast du immer noch nicht beantwortet.“

Finn war verunsichert. Auf der einen Seite … na ja, konnte schon sein, dass er den einen oder anderen Mann rein optisch attraktiv fand. Fragte er sich wirklich, wie es wäre, einen anderen Mann als Lauri zu küssen, zu berühren? Aber änderte das etwas daran, dass er Lauri liebte und auch niemand anderen wirklich wollte?

Und Lauri …?

Arian sprach die Frage aus. „Glaubst du vielleicht, Lauri schaut außer dir niemanden an? Also nicht, dass du mich falsch verstehst. Bestimmt liebt er dich und so. Bestimmt ist er auch treu, aber ...“

Finn wusste keine Antwort darauf. Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe.

„Ich … er hat auf jeden Fall mehr … ähm … Erfahrung … als ich.“

„Mh!“

„Was meinst du mit ‚Mh!‘?“

„Ach … vergiss es!“ Arian wandte sich ab und lehnte sich etwas zurück. Finn sah ihn fassungslos an.

„Nein, jetzt sag, was du meinst!“

Arian blinzelte zu ihm rüber, schüttelte dann aber wieder den Kopf.

„Ach nein, ich will mich gar nicht einmischen.“

Finn rutschte etwas näher. „Komm schon, sag, was du meintest. Das ist nicht fair.“

„Fair, mh?“ Arian beugte sich wieder zu Finn herüber. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

„Ich dachte nur daran, ob Lauri es vielleicht sogar besser fände, wenn du auch noch anderweitig Erfahrungen sammeln könntest …“ Arian war im Laufe des Satzes immer leiser geworden. Finn spürte plötzlich, wie nah Arian ihm gekommen war. Er fühlte den warmen Atem des jungen Mannes auf seinen Lippen.

Bevor er wusste, was geschah, drückte Arian seine Lippen auf Finns und drückte diesen rücklings zu Boden. Finn war im ersten Moment zu überrumpelt, um zu reagieren. Er spürte Arians Gewicht auf seinem Oberkörper und dessen Zunge in seinem Mund. Nach einigen Schrecksekunden schob er Arian von sich weg.

„Arian! Was soll das?“

„Ach, komm schon … behaupte nicht, dass du nicht neugierig bist!“

Mit einem Mal ließ die Schwere schlagartig nach. Arian wurde hochgerissen und Finn rappelte sich sofort auf.

„Lauri!“

Die eisblauen Augen bohrten sich in Arians Blick. Er wartete ab. Er wartet eine Erklärung ab, schoss es Finn durch den Kopf, und er folgte seinerseits fragend Lauris Blick.

Arian hatte beschwichtigend die Arme gehoben.

„Hey, ich … ich weiß, wie das ausgesehen haben muss!“

„Ach ja?“ Lauri machte nur langsame Schritte auf Arian zu, der daraufhin zurückwich.

Finn griff sanft nach Lauris Arm.

Zuletzt hatte es keine Situationen mehr gegeben, in denen Lauri zugeschlagen hatte, aber Finn war sich nicht sicher, ob dies nicht ein Grund für ihn sein könnte.

Aber Lauri schüttelte seine Hand ebenso sanft ab und zwinkerte Finn verschmitzt zu, jedoch so, dass Arian dies nicht mitbekam.

Er spielt nur mit ihm, folgerte Finn etwas beruhigter und verschränkte die Arme abwartend.

Arian konnte sein Gegenüber hingegen nicht so gut einschätzen.

„Ok, ok … Lauri, pass auf, ich …“

„Du lässt in Zukunft die Finger von meinem Freund.“

Arian nickte und mit einem kurzen Blick zu Finn warf er die ursprüngliche Frage in den Raum. „Ich habe Finn auch nur gefragt, ob er bisher nie wissen wollte, wie es mit einem anderen Mann wäre … wo du doch bisher sein Erster und Einziger bist …“

Nachdem er eben noch so naiv gewesen war, zu glauben, dass Arian einfach nur ein nettes Gespräch mit ihm führen wollte, war sich Finn diesmal absolut sicher, dass er gezielt solche Themen anschnitt. Mit Erfolg. Lauri drehte sich erneut zu ihm um, der Blick war schwer zu deuten.

Schneller als erwartet galt jedoch Arian wieder Lauris Aufmerksamkeit. Arian zuckte trotzdem kaum mit einer Wimper, als Lauri sich nur wenige Zentimeter vor ihm aufbaute.

Einen Augenblick schwiegen sie sich taxierend an.

„In will nicht, dass du in Zukunft nochmal deine Zunge oder sonstigen Körperteile in meinen Freund steckst“, wiederholte Lauri nun kühl seine Forderung. „Es sei denn … er bittet dich darum! Hast du verstanden?“

Arian grinste bereits wieder frech über das ganze Gesicht. „Kapiert!“

Finn hatte die Luft angehalten und ließ diese nun verblüfft entweichen.

Lauri machte kehrt und ließ Arian stehen. Finn schloss sich seinem Freund an. Bei den zügigen Schritten machte sich Lauris steifes Knie wieder deutlicher bemerkbar.

Als sie außer Arians Hörweite waren, fragte Lauri: „Alles in Ordnung?“

„Ich bin mir nicht sicher“, gab Finn zurück und beobachtete seinen Freund von der Seite.

„Hab ich dich gerade richtig verstanden? Es wäre dir egal, wenn ich wollen würde, dass er …“

Lauri unterbrach ihn: „Willst du?“

Finn blieb stehen. „Nein!“

Lauri lächelte. „Gut.“

Sie setzten sich wieder in Bewegung.

„Aber ich meine … wenn ich es wollte, dann wäre es dir egal?“

Diesmal blieb Lauri stehen. Er seufzte.

„Es wäre mir nicht egal. Es stimmt zwar, ich hab in den Jahren vor dir viele Erfahrungen gemacht, aber ich muss sagen, dass ich auf den Großteil davon verzichten könnte. In der Hinsicht hast du nichts verpasst. Es ist nur so, wenn du unglücklich wärst, weil du denkst, dass dir etwas fehlt … dann könnte ich mich damit arrangieren, wenn du noch Erfahrungen sammeln willst, denke ich.“

Er strich Finn eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ich glaube, ich liebe dich zu sehr, um hier egoistisch zu sein.“

Finn war sprachlos.

„Aber wenn ich dir genüge, umso besser!“, grinste Lauri und zog seinen Freund an sich.

Marlon

Marlon verstand sich außerordentlich gut mit Arian. Vielleicht lag es daran, dass ihm schon seit längerem jemand in seinem Alter gefehlt hatte, aber vielleicht lagen die beiden Jungs auch einfach so auf einer Wellenlänge.

Zwar wurde Arian nicht müde, ihn immer wieder anzubaggern, aber Marlon verstand das Ganze mehr als ein Spiel, auf das er nicht wirklich einging. Davon abgesehen, beobachtete Marlon immer wieder gespannt, wie Arian sein „Glück“ bei allen Männern des Freundeskreises versuchte, sich aber selbstverständlich an den jungen Männern die Zähne ausbiss.

Zuletzt hatte er es bei Robin versucht, der ihn mehr oder minder nur ausgelacht hatte und ihm als Antwort auf seine Verführungsversuche liebevoll durch die Haare gewuschelt und seine Wange getätschelt hatte.

„Ach, das ist doch echt lächerlich …“, murrte Arian. Er saß mit Marlon auf dem Dach der Scheune und ließ die Beine baumeln.

Marlon knuffte ihn in die Seite.

„Also normalerweise sollte ich wohl sauer sein, dass du überhaupt versucht hast, meinen Bruder und Robin auseinanderzubringen, aber davon abgesehen, hätte ich dir auch gleich sagen können, dass du da keine Chance hast.“

„Pfff,“ machte Arian. „Kannst du mir echt nicht erzählen, dass die alle hier so …“

„… treu sind?“, vollendete Marlon den Satz.

„… so monogam, ja. Das ist voll unnatürlich.“

Marlon lachte. „Schon mal dran gedacht, dass die sich einfach lieben?“

Arian warf Marlon einen genervten Blick zu.

„Ach, komm. Liebe, wenn ich das schon höre. So was Kitschiges.“

Marlon lehnte sich nach hinten und betrachtete die Wolken über sich.

„Das sagst du nur, weil du die Liebe nicht kennst!“

Arian kaute auf seiner Lippe.

„Aber du! Du hast auch keinen Partner.“

„Oder Partnerin“, setzte Marlon grinsend hinzu. „Ja, das stimmt, aber ich kenne Liebe trotzdem.“

„Ach ja? Dann erzähl mal, du Klugscheißer!“

Marlon hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blinzelte Arian nun gegen die Sonne an.

„Na ich sehe sie täglich bei Lias und Robin. Und bei Lauri und Finn. Und außerdem liebe ich meinen Bruder auch. Das ist zwar anders, als bei einem Liebespaar, aber trotzdem. Ich glaube, irgendwie liebe ich auch Robin. Das ist … mh … hattest du nie jemanden, der für dich alles getan hätte und für den du alles tun würdest?“

Arian

Arian schwieg. Wahrscheinlich, weil der Stich in der Brust gerade zu schmerzhaft gewesen war. Nein, so jemanden hatte er nicht. Weder jetzt, noch früher.

Marlon setzte sich auf und sah Arian forschend an. Er musste bemerkt haben, dass er einen wunden Punkt erwischt hatte.

„Ich … tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.“

Scheiße, was sollte das denn jetzt. Arian biss sich auf die Zunge.

„Ach, ist doch auch egal. Willst du wissen, welche Erfahrung ich gemacht habe? Alle wollen nur vögeln. Alle. Nach außen tun die Leute immer so brav, aber in Wahrheit geht’s ihnen nur darum.“

Marlon wirkte geschockt. Das war gut, dann kam er wenigstens nicht mehr mit diesem Gefühlsmist an. „Und willst du wissen, woher ich das weiß?“

Arian wartete keine Antwort ab. „Ich weiß das, weil ich derjenige bin, wo die verfickten Typen dann ankommen. Egal ob die Zuhause ´ne Olle mit Kindern sitzen haben oder nicht. Ist denen scheißegal. So sieht´s nämlich in der Realität aus.“

Marlons Augen waren noch größer geworden. Diese großen, dunkelbraunen Augen …

Nicht ablenken lassen. Arian zog die Knie an, schlang die Arme um seine Beine und legte sein Kinn auf den Knien ab.

Daran hatte der Junge sicher erst mal zu knabbern.

„Wie auch immer. Ich muss los. Arbeiten, wenn du verstehst, was ich meine.“

So langsam gefiel er sich in der Rolle. Marlon schwieg noch immer und starrte ihn an. Arian konnte den Blick jedoch nicht erwidern. Er rutschte ein Stück weiter runter und ließ sich von dort vom Dach herunterrutschen, so dass er geschmeidig mit beiden Beinen auf dem Boden landete.

Ohne sich zu seinem Freund umzudrehen, hob er die Hand zum Abschied und rief: „Mach´s gut!“

Marlon

Mit offenem Mund saß er noch immer auf dem Scheunendach und sah Arian nach, der das Dorf nun verlassen hatte.

Lias, er musste mit Lias reden. Oder nein! Zuerst Lauri. Arian war ständig bei Lauri. Fast jedes Mal ging er zuerst zu dem dunkelhaarigen jungen Mann, wenn er das Dorf besuchte. Wenn von den Männern hier jemand etwas wusste, dann Lauri.

Hektisch rutschte Marlon nun ebenfalls vom Dach und rannte augenblicklich zu Sylvesters alter Hütte.

Ohne zu klopfen, riss er die Tür auf und platzte mitten in eine Behandlung herein.

Lauri, Marianna und deren älteste Tochter Elisabeth starrten ihn entgeistert an.

„Marlon. Kannst du nicht anklopfen?“, zischte Lauri in an.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass Elisabeth ihre Bluse aufgeknöpft hatte und nun hektisch versuchte, ihre kleinen Brüste mit den Händen zu bedecken. Mit hochrotem Kopf drehte er sich blitzschnell zur Wand. „Oh, tut mir leid! Ich …“

„Vielleicht wartest du besser draußen.“

„Ich äh, ja … tut mir leid!“ Verlegen stolperte er wieder vor die Tür. Oh Gott, war das peinlich gewesen. Ob Elisabeth ihn nun hasste? So ein Mist …

Lauri

Seufzend drehte Lauri sich wieder zu seiner Patientin um.

„Tut mir leid.“

Elisabeth war knallrot angelaufen, aber Marianna lachte schon längst wieder. „Die Jugend von heute, hat einfach keine Zeit.“

Lauri presste die Lippen aufeinander, aber er war froh, dass Marianna das so locker sah. Wobei Elisabeth ihm leid tat. Sie hatte sich ohnehin schon vor ihm geschämt und jetzt platzte auch noch Marlon unangemeldet hier herein.

„Na ja, aber auf jeden Fall kann ich euch beruhigen. Das hört sich nicht wie eine Lungenentzündung an. Ist bisher nur ein normaler Husten.“ Er packte ein paar Kräuter in einen Beutel.

„Hier, kocht daraus einen Tee. Den soll Elisabeth trinken, besonders vor dem Schlafen. Wenn es nicht besser wird, kommt bitte wieder.“

Die beiden Frauen nickten und Elisabeth knöpfte ihre Bluse hastig wieder zu.

Als sie die Hütte verließen, schlichen Marlon und Elisabeth beide mit hochroten Köpfen aneinander vorbei, was Marianna nur ein gutmütiges Lächeln entlockte.

Lauri war mit seinem Gast nicht ganz so umgänglich.

„Mann, Marlon. Spinnst du?“

„Ich … Entschuldigung! Aber ich …“

„Meine Güte, was kann denn so dringend sein, dass du wie ein Berserker hier reinstürmst?“

„Wusstest du das mit Arian?“

Lauri taxierte Marlon.

„Was meinst du?“

Marlon beobachtete seinerseits Lauris Reaktion.

„Wusstest du, als was er … arbeitet?“

Lauri atmete tief aus, bevor er sich von seinem jungen Gast abwand und geschäftig die zuletzt genutzten Arzneimittel wegräumte.

„Hat er es dir erzählt?“, fragte er ruhig.

„Also weißt du es schon länger!“, Marlon war außer sich.

Wie ein aufgescheuchtes Huhn rannte er um Lauri herum.

„Wie kannst du da tatenlos zusehen? Das geht doch nicht, er …“

Lauri hielt inne und wand sich Marlon nun wieder zu.

„Er hat mich gebeten, niemandem davon zu erzählen.“

„Aber … sowas … wie …“ Marlon stammelte und suchte nach Worten.

Lauri tat der Junge fast schon leid.

Er legte Marlon beruhigend beide Hände auf die Schultern.

„Marlon. Das ist einzig und allein Arians Entscheidung.“

Marlon riss sich unsanft los.

„Ach ja? Und wenn er das eigentlich gar nicht tun will? Wenn er dazu gezwungen wird? Oder einfach dazu gezwungen ist, weil er sonst keine Chance hat? Was dann?“

„Dann weiß Arian sicher, dass er hier Hilfe finden kann, denkst du nicht?“

Marlon wurde wieder etwas ruhiger, aber er blitzte Lauri immer noch unfreundlich an.

„Mh“, machte er nur. „Ich hoffe es zumindest.“ Damit machte er kehrt und rannte genauso schnell, wie er eben hineingeplatzt war, wieder hinaus.

Auch wenn er zumindest nach außen hin ruhig geblieben war, nagten Marlons Fragen trotzdem an Lauri. Tja, war es wirklich Arians Entscheidung? Oder hatte Marlon vielleicht Recht und Arian hatte einfach keine andere Wahl. Er hoffte einfach mal, dass er Recht hatte damit, dass Arian wusste, wo er Hilfe bekommen konnte.

Am Abend kuschelte er sich an Finn.

Er verschränkte seine Finger mit denen seines Freundes, während Finn seinen Kopf auf Lauris Brust abgelegt hatte. Da Lias und Robin es nun wohl von Marlon erfahren würden, würde er wohl oder übel auch Finn von Arian erzählen.

Lauri räusperte sich, was Finn ein glucksendes Lachen entlockte. „Spuck’s schon aus Lauri. Was ist los?“

Sie kannten sich einfach schon zu gut.

„Es geht um Arian. Weißt du, er hat Marlon heute erzählt, dass er sein Geld verdient, indem er mit Männern schläft.“

Finn setzte sich augenblicklich auf. „Oh.“

„Marlon war deswegen völlig außer sich.“

„Mh, verständlich. Die beiden verstehen sich ziemlich gut, oder nicht?“

„Ja, Marlon macht sich Sorgen um Arian. Ich wusste das schon etwas länger, weil Arian mit seinen Verletzungen immer zu mir kommt.“

Finn beobachtete ihn genau und schwieg einen Moment nachdenklich, bevor er sich wieder an seinen Freund schmiegte.

„Und wie geht es dir damit?“

Finn war einfach unglaublich. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da dachte Lauri, er hätte es perfektioniert, nichts nach außen zu tragen, aber Finn konnte scheinbar in ihm lesen, wie in einem offenen Buch.

„Ich meine wegen deiner eigenen Vergangenheit.“

Lauri spielte mit einer von Finns Haarsträhnen.

„Mh, ja … es geht. Jedes Mal, wenn Arian bei mir auftaucht, kommt der ganze Mist wieder hoch. Aber ich komme klar, denke ich.“

„Danke, dass du ihm hilfst.“ Finn rutschte ein Stück nach oben und gab Lauri einen zärtlichen Kuss.

Ja, aber half er auch genug?

Arian ließ sich zunächst fast zwei Wochen lang nicht mehr blicken.

Was besonders Marlon sehr zu schaffen machte, aber irgendwann tauchte er dann doch wieder auf und setzte eine Miene auf, als wäre nichts gewesen.

Dennoch blieb die Stimmung zeitweise gedrückt. Marlon war scheinbar immer noch sauer, dass Lauri ihm nichts erzählt hatte, aber mit der Zeit entspannte sich die Situation wieder.

Offenbar fühlte Arian sich nun zumindest besser, jetzt, wo die Freunde davon wussten, wie er sein Geld verdiente. Vielleicht, weil er ein Geheimnis weniger mit sich herumschleppen musste.

Marlon

„Hast du keine Angst?“

„Wovor?“ Arian ließ die Beine vom Steg baumeln. Das Wasser lag in der Sonne glitzernd und träge fließend vor ihnen.

„Ich weiß nicht. Ich hätte Angst, dass die Typen mir wehtun und so.“

Marlon rupfte gedankenverloren Grashalme ab und streute die zerpflückten Stücke ins Wasser.

Arian antwortete nicht sofort.

„Na ja, kann schon mal passieren. Aber Lias und Robin verletzen sich ja auch nicht ständig gegenseitig.“

Verstohlen beobachtete Marlon seinen Freund von der Seite. Arian starrte ins Wasser.

„Nein, natürlich nicht.“

„Alles eine Frage der Technik“, grinste Arian frech.

„Verschon mich mit Einzelheiten.“ Marlon schubste Arian spielerisch zur Seite.

„Warum? Vielleicht ist das mal nützlich für dich zu wissen!“ Arian schubste zurück.

„Sicherlich nicht!“

„Wer weiß?“

„Sollte ich mal Nachhilfebedarf haben, sag ich dir Bescheid.“

Arian lachte. „Ja, mach das.“

Er stand auf und zog sein Hemd über den Kopf. „Und jetzt lass uns schwimmen gehen.“

Mit kurzem Anlauf sprang er in den Fluss, so dass Marlon von oben bis unten nass gespritzt wurde.

Lachend tat er es seinem Freund gleich und tauchte kurz nach ihm ins kühle Wasser ein.

Eine Weile balgten sie im tiefen Wasser. Arian war unter ihm hindurchgetaucht und drückte Marlon nun von hinten unter Wasser, aber Marlon war ein guter Schwimmer, wand sich unter Wasser aus Arians Umklammerung und schwamm ihm blitzschnell davon. Da das Wasser tatsächlich ziemlich kalt war, begann er zu frieren und zog sich nach wenigen Schwimmzügen am Steg hoch und kletterte an Land. Arian war ihm gefolgt, strampelte jedoch noch eine Weile vor dem Steg im Wasser.

„Was ist mit deinem Rücken?“, fragte er ernst.

„Ach das.“ Marlon dachte meist gar nicht an die Narben, die sich kreuz und quer über seinen Rücken zogen. So wie Lauri es damals vorhergesagt hatte, waren die Wunden, auch wenn sie tief und schmerzhaft gewesen waren, dank Lauris Versorgung gut abgeheilt und er hatte von allen am wenigstens Einschränkungen zurückbehalten.

„Puh, ist ‘ne lange Geschichte.“

„Lass hören!“

Marlon klopfte neben sich auf den Steg und Arian zog sich ebenfalls aus dem Wasser.

„Oh Mann, dann muss ich aber voll weit ausholen, glaub ich …“

Arian

Gespannt lauschte Arian Marlons Erzählung. Von der Wessington Bande hatte er irgendwann mal etwas aufgeschnappt, aber viel wusste er von der ganzen Geschichte nicht. Besonders interessant fand er Finns Rolle in der ganzen Geschichte, aber auch Lauri erschien ihm nun in einem ganz neuen Licht. Erstaunt musste er erkennen, dass die jungen Männer hier alle schon ganz schön viel durchmachen mussten.

„Colin schlug mich immer wieder, bis ich ohnmächtig wurde. Den Rest der Geschichte kenne ich daher nur von Lias und den anderen. Robin schoss Colin einen Pfeil in die Hand, aber er schaffte es trotzdem noch, Lias so schwer zu verletzten, dass er sein Augenlicht auf der einen Seite verlor. Genzo zertrümmerte Lauris Kniescheibe und tötete Sylvester, aber Robin konnte Genzo immerhin noch daran hindern, auch Lauri zu töten. Finn brachte mich in Sicherheit und rettete dann Lias vor Colin. Das mal als Kurzfassung.“

Eine Weile schwiegen sie. Irgendwie unglaublich die ganze Sache. Wahrscheinlich hatte diese gemeinsame Geschichte die Paare so sehr zusammengeschweißt.

Vorsichtig strich Arian über eine der weißen Narben auf Marlons Rücken.

„Tut es noch weh?“

Marlon schüttelte den Kopf. „Nein. Stellenweise ist die Haut eher taub, gefühllos. Aber die meiste Zeit denke ich gar nicht daran. Aber na ja, ich muss das ja auch nicht sehen. Findest du, dass es sehr hässlich aussieht?“

Arian zuckte mit den Schultern. „Gehört halt zu dir.“

„Ich meine, glaubst du, Elisabeth findet es schlimm?“

Arian zog seine Hand zurück. „Keine Ahnung, wie Weiber ticken. Ich fände es nicht schlimm.“

Er bemühte sich, seine Stimme genauso ruhig wie zuvor klingen zu lassen, aber überrascht stellte er fest, dass die Frage von Marlon ihn ziemlich aufwühlte. War er etwa eifersüchtig?

„Ich mag sie echt.“

„Mh.“ Mehr brachte er nicht heraus.

„Aber woher soll ich wissen, ob sie mich auch mag?“

Himmel, musste das sein? Arian kaute auf seiner Unterlippe und hoffte, dass Marlon ihm nichts anmerkte. Klar, er hatte Marlon schon die ganze Zeit angebaggert, aber Marlon hatte das ganze bisher für Spaß gehalten. Ganz offensichtlich … Aber war es das nicht auch … gewesen?

Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Wie gesagt, ich hab keine Ahnung von Frauen.“

„Scheinbar nicht!“ Marlon kicherte und knuffte Arian in die Seite. Offenbar war er doch ein besserer Schauspieler, als er dachte.

„Trotzdem danke. Bist ein echter Freund!“ Arian war etwas überrumpelt, als Marlon ihm plötzlich um den Hals fiel. „Danke, dass ich dich trotzdem mit sowas vollquatschen kann!“

Der Kloß in Arians Hals wurde dicker, als er zaghaft die Umarmung erwiderte.

Er fröstelte im Schatten des großen Hafengebäudes. Lässig hatte er einen Fuß gegen die Mauer gestellt und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Eigentlich war das einer seiner bevorzugten Plätze. Er spürte die Blicke der Männer, die an ihm vorbeigingen. Normalerweise war er offensiver. Diesmal verschränkte er die Arme vor der Brust und vermied den Blickkontakt.

Sein Verstand hämmerte hinter seiner Stirn. Arian wusste, er musste langsam einen Kunden finden. Es war schon Donnerstag. Morgen wäre Zahltag. Aber das Gefühl in seiner Brust schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte es sich selbst nicht erklären. Seine Gedanken kreisten immer wieder um Marlon, um das Dorf, in dem die Zeit still zu stehen schien. Das war doch verrückt. Freudlos lachte er auf und schüttelte den Kopf.

„Was ist so lustig?“

Überrascht sah er auf. Der Typ sah immerhin nicht scheiße aus, aber selbst wenn. Als hätte er aktuell die Möglichkeit, wählerisch zu sein.

Arian stieß sich von der Mauer ab und trat so nah an den Mann heran, dass sie sich fast berührten. „Erzähl ich dir später … vielleicht.“

Als er den Kerl hinter sich um die Mauer zog, hatte er es fast geschafft, das Gefühl in seiner Brust zu ersticken. Fast.

Die Münzen klirrten leise. Viktor zählte sie gar nicht erst. Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß er hinter dem pompösen Tisch, in der Hand ein Glas mit rotem Wein.

Arian lief ein Schauer über den Rücken. Viktor sagte lange nichts, taxierte ihn lediglich über den Rand seines Glases hinweg.

„Arian … was ist das?“ Wage deutete der Zuhälter auf die wenigen Münzen.

Arian räusperte sich. „Ähm, das … das ist dein Geld.“

Wieder Schweigen von der anderen Seite des Tisches.

Arian zuckte zusammen, als sein Gegenüber plötzlich mit Schwung aufstand, das Glas immer noch in der Hand. Den Blick nachdenklich zu Boden gerichtet, trat Viktor langsam um den Tisch herum und kam auf Arian zu.

„Und … möchtest du mir das vielleicht auch erklären?“ Arian zwang sich, Viktors Blick standzuhalten. Er wusste, der gut aussehende Mann wollte die Angst in Arians Augen sehen. Trotzdem brachte er kein Wort heraus. Viktor stand nun direkt vor ihm. Mit einem fast gutmütigen Lächeln stellte er das Glas hinter sich ab und ergriff mit beiden Händen Arians Gesicht. Seine Hände waren warm und weich, aber Arian begann trotzdem unwillkürlich, zu zittern.

„Ich möchte das wirklich gerne verstehen, Arian!“ Seine Stimme war butterweich. „Habe ich mich nicht immer gut um dich gekümmert? Du bist mir so ans Herz gewachsen, fast schon wie ein eigener Sohn!“ Arian wurde schlecht bei dem Gedanken. „Und doch trittst du mich so mit Füßen.“ Viktor deutete in Richtung der überschaubaren Münzen.

„Viktor, es tut mir leid. Wirklich! Nächste Woche wird es sicher wieder mehr. Ich versprech es dir!“

Wieder schwieg Viktor lange und sah seinem Zögling dabei tief in die Augen.

„Das hoffe ich. Das hoffe ich wirklich, Arian.“

Er wand sich ab und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.

„Bringst du mir bitte mein Glas?“

Mit gesenktem Blick schlich Arian um den großen Tisch herum.

Wie schaffte Viktor das nur? Obwohl er nun tiefer saß, hatte Arian trotzdem das Gefühl, zu ihm aufschauen zu müssen.

„Trink!“

So sanft Viktors Stimme auch klang, Arian wusste, dass das ein Befehl war und Viktor keine Widerrede duldete. Also nahm er einen Schluck. Es war ein guter Wein. Natürlich. Trotzdem hinterließ er einen bitteren Nachgeschmack.

Viktor beobachtete ihn genau und Arian erkannte den hungrigen Ausdruck in Viktors Blick. Er brauchte keine Worte zu verlieren.

Mit zitternden Händen, darauf bedacht, nichts zu verschütten, übergab er das schwere Glas an den Zuhälter, um danach zwischen Viktors Beinen auf die Knie zu sinken …

Er genoss die Zeit im Dorf. Es kam ihm manchmal wirklich so vor, als wäre er hier in einer anderen Welt. Normalität besaß hier eine völlig andere Bedeutung als dort, wo er herkam.

Finn saß neben ihm und unterstützte ihn geduldig dabei, die Buchstaben zusammenzuziehen.

„Du wirst immer besser“, lobte der blonde junge Mann ihn. Verlegen fuhr Arian sich durch das Haar.

Marlon hatte ihn dazu gedrängt, sich von Finn unterrichten zu lassen. Er hatte sich für einen hoffnungslosen Fall gehalten, allerdings hatte er zuvor auch noch nie einen Lehrer gehabt.

„In Ordnung, machen wir Schluss für heute. Wenn du willst, kannst du das Buch mitnehmen.“

Finn hatte das Büchlein zugeklappt und hielt es Arian nun hin.

„Ich … oh … ähm, danke.“ Die Mentalität der Jungs hier war für ihn immer noch schwer zu händeln. Er bekam im „echten“ Leben selten etwas geschenkt.

Wie so oft fing Marlon ihn direkt an der Tür ab.

„Und? Du willst doch jetzt bestimmt erst mal was machen, um den Kopf wieder freizukriegen, oder?!“ Marlon grinste über das ganze Gesicht.

„Ähm, ich weiß nicht“, gab Arian misstrauisch zurück.

„Ach, komm schon! Ist lustiger, wenn man’s zusammen macht.“

Im Spätsommer gab es auf dem Hof eine Menge zu tun. Neben der Versorgung der Tiere musste auch die Ernte eingefahren werden, Getreide auf den Feldern, aber auch Obst und Gemüse aus dem Garten. Für gewöhnlich packten alle mit an und jede helfende Hand war willkommen.

Für Kost und Logis, die ihm oft genug auf dem Hof zuteil wurde, war Arian gerne bereit, etwas zurückzugeben. Darüber hinaus stellte er immer wieder fest, wie sehr ihm die unterschiedlichen Arbeiten auf dem Hof gefielen. Er musste zugeben, dass der Gedanke, mit einer solchen, „anständigen“ Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, durchaus seinen Reiz hatte.

„Hier, fang!“ Marlon warf ihm einen Apfel zu, bevor er es sich auf einem der dickeren Äste des Apfelbaumes gemütlich machte und die Beine baumeln ließ.

Grinsend legte Arian die gefangene Frucht in den Korb zu den anderen Äpfeln und hob diesen anschließend auf den Karren.

„Weißt du“, begann Marlon kauend, „ich finde, du machst dich echt gut als Erntehelfer!“

„Im Gegensatz zu dir!“, brummte Robin, der Marlon mit einem Schubser von hinten zurück auf den Boden beförderte. „Du sollst die Äpfel sammeln, nicht essen!“

Arian lachte, während Marlon sich die verstaubte Kleidung abklopfte.

Lias schleppte einen weiteren Korb mit Äpfeln zum Karren und gab seinem Freund Recht. „Ich frage mich ohnehin, wo Marlon das ganze Essen hinsteckt? Der Junge ist in der Hinsicht ein Fass ohne Boden.“

„Ich wachse halt noch!“

„So, ein Korb passt noch drauf. Der andere muss getragen werden.“ Robin nickte in die Richtung zweier gut gefüllter Körbe, die noch in einiger Entfernung standen. Arian und Marlon sahen sich kurz an, bevor beide losrannten. Marlon erreichte die Körbe als erster und schnappte sich blitzschnell einen davon. Während er sich feixend zu seinem Freund umdrehte, übersah er jedoch Elisabeth, die gerade mit Marianna und zwei weiteren Frauen aus dem Garten gekommen war.

Nicht nur Marlons Äpfel kugelten über den Boden, sondern auch Elisabeths Kartoffeln.

Schadenfroh kichernd stellte Arian seinen Korb auf dem Wagen ab. Auch Lias und Robin konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Wir gehen schon mal vor, kleiner Bruder!“, rief Lias glucksend und Robin führte das Pferd vorn am Karren in Richtung des Hofes.

Marlon

Warum musste eigentlich ausgerechnet ihm sowas immer passieren.

Mit hochrotem Kopf stammelte er eine Entschuldigung und begann, die Äpfel und Kartoffeln wieder an ihre angestammten Plätze zu bringen.

Elisabeth bemühte sich ebenfalls hastig, ihre Kartoffeln wieder einzusammeln, da die anderen Frauen schon lustig schnatternd weitergegangen waren.

„Tut mir echt leid, ich … du hast dir doch nicht wehgetan, oder?“

Das Mädchen schüttelte schüchtern den Kopf. „Nein, nichts passiert!“

Marlon atmete erleichtert aus. Immerhin. Aus dem Augenwinkel sah er Arian breit grinsend an einen der Apfelbäume gelehnt stehen. Sein Bruder und Robin waren schon längst außer Sichtweite.

Arian

Neben der diebischen Schadenfreude kam beim Anblick der beiden jungen Menschen wieder dieses seltsame Gefühl in ihm hoch. War er tatsächlich eifersüchtig auf dieses Mädchen?

Lässig schlenderte er von seinem Aussichtsposten in die Richtung der beiden jungen Menschen.

Marlons Blick wanderte an seinen Beinen nach oben.

„Was willst du denn noch hier?“ Das Grummeln war schwer zu deuten. Wäre er mit Elisabeth lieber allein gewesen?

Arian hockte sich nieder und begann ebenfalls, Äpfel und Kartoffeln zu sortieren.

„Na, euch helfen“, erwiderte er möglichst beiläufig. Das Grinsen behielt er bei, auch wenn ihm aus irgendwelchen Gründen gar nicht danach zu Mute war.

„Soll ich das für dich tragen?“, bot Marlon dem Mädchen an. Aber sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, danke, ich schaff das schon.“ Sie nahm ihm den Korb ab. Arian entging nicht, wie sich die Hände der beiden berührten.

Als sie sich von den beiden Jungen entfernte, drehte sie sich noch einmal zu Marlon um. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schlug verlegen den Blick nieder.

Meine Güte, wie plump, dachte Arian grummelnd. Noch mehr nervte ihn, dass Marlon offensichtlich auf das Getue ansprang, da er den wehenden Röcken immer noch nachsah.

„Also, was jetzt?“ Leicht genervt wedelte er vor Marlons verklärtem Blick herum.

„Die Äpfel müssen noch zum Vorratslager.“

„Ja, ist ja gut.“ Seufzend bückte Marlon sich und hob den schweren Korb an. Mit verschränkten Armen sah Arian ihm erst zu, bis er schließlich doch zugriff und seinem Freund beim Tragen half.

„Total peinlich, dass ich sie umgerannt hab.“

„Mh!“

„Aber sie schien nicht sauer zu sein, oder?“

„Keine Ahnung, quatsch nicht so viel, hilf lieber mit.“

„Ja, ja, ja …“

Marlon schwebte scheinbar in völlig anderen Sphären, so dass Arian sich gar nicht groß verstellen musste. Marlon bekam es sowieso nicht mit.

Irgendwie hatte er ja schon ein schlechtes Gewissen. Das Mädel war bestimmt nett und konnte ja auch nichts dafür, dass er sich plötzlich so seltsam fühlte.

„Das ist der Letzte?“, fragte Finn und machte sich Notizen, während die Jungen den Korb in den Lagerraum schleppten.

„Ja, der passte nicht mehr auf den Karren.“ Marlon wischte sich den Schweiß von der Stirn und Arian streckte den Rücken durch. Nach der Schlepperei tat ihm alles weh. Aber es war weitaus angenehmer, als alles, was er sonst nach der „Arbeit“ fühlte.

„Hast du denn den Sack da drüben auch mitgezählt?“, fragte Marlon Finn.

Als der junge Mann sich suchend herumdrehte, zwinkerte Marlon Arian zu und ließ eine Flasche aus dem Regal, neben dem sie standen, unter seinem Hemd verschwinden.

„Welchen meinst du?“

„Ach, hab mich vertan. Mach‘s gut!“

Grinsend schob er Arian aus der Tür.

Kichernd rannten die beiden Jungen runter zum Steg, an dem sie sich am liebsten niederließen. Es begann schon zu dämmern.

„Bist du verrückt?“, lachte Arian und schubste Marlon zur Seite, bevor er sich ins Gras fallen ließ.

Marlon zog die Flasche hinter seinem Rücken hervor. „Nur ein bisschen. Merkt Finn eh nicht.“ Er setzte sich neben Arian. „Na gut, er merkt‘s garantiert, aber dann ist die Flasche schon leer.“

„Du bist ja gar nicht so brav, wie ich immer dachte.“

Marlon zog grinsend eine Augenbraue hoch, während er die Flasche ansetzte.

„Vielleicht kennst du mich noch nicht so gut, wie du dachtest.“

„Vielleicht …“

Marlon nahm einen großen Schluck, um sich direkt danach zu schütteln.

„Wie schmeckt‘s?“

Marlon drückte Arian die Flasche in die Hand.

„Ekelhaft!“ Er lachte und ließ sich rücklings ins Gras fallen.

Arian trank ebenfalls von dem hochprozentigen Schnaps.

„Echt eklig. Das ist ja purer Alkohol!“

Er ließ sich ebenfalls neben Marlon auf den Rücken fallen.

„Das benutzt Lauri bestimmt nur zum Desinfizieren von Wunden.“

„Wahrscheinlich.“ Trotzdem griff Marlon erneut nach der Flasche.

„Kann man wirklich nicht trinken.“

Die Flasche wanderte zwischen den beiden Jungen hin und her.

„Warum genau betrinken wir uns eigentlich?“, lallte Arian und rollte sich mühsam auf die Seite. Sein Kopf fühlte sich schon so schwer an.

„Weiß auch nicht“, brachte Marlon nuschelnd hervor. Er hatte einen Arm über den geschlossenen Augen liegen. Den anderen Arm von sich gestreckt. „Brauchen wir einen Grund?“

Auch Arian fiel es langsam schwer, die Augen aufzuhalten. Nach dem dritten Versuch gelang es ihm endlich, seinen Kopf auf die rechte Hand zu stützen. Sein Blick wanderte über Marlons Körper. Die wirren braunen Haare, die sonnengebräunte Haut, der Brustkorb, der sich regelmäßig hob und senkte. Das Hemd war aus der Hose gerutscht und entblößte ein kleines Stückchen Haut, knapp über dem Hüftknochen. Arian seufzte schwer.

„Arian?“

„Mh?“ Er konnte den Blick einfach nicht von dieser kleinen Hautstelle lösen.

„Ich bin froh, dass du hier bist.“

„Ich auch …“

Lias

Mit verschränkten Armen und schiefgelegtem Kopf stand er über den beiden schlafenden Jungen.

Robin legte ihm lachend einen Arm um die Schulter.

„Ach Lias, dein kleiner Bruder kommt halt nicht auf andere Leute. Von wem hat er das wohl?“

Lias bedachte seinen Freund mit einem tadelnden Blick.

„Am liebsten würde ich jetzt einen Eimer kaltes Wasser holen. Oder wir lassen sie einfach die ganze Nacht hier liegen.“

„Sei nicht so herzlos!“, gluckste Robin und hob Arian hoch, während Lias seinen Bruder auf die Arme nahm.

„Die beiden werden morgen schon genug gestraft sein, wenn sie mit einem dicken Kopf aufwachen.“

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht.“

„Ich hab immer Recht!“

Arian

Wie von Robin vorhergesagt, schlichen die beiden Jungen am nächsten Morgen wie geprügelte Hunde zum gedeckten Frühstückstisch, nachdem Lias sie frühzeitig aus dem Bett geschmissen hatte.

Zwar konnte Arian sich nicht daran erinnern, wie sie vom Steg ins Haus gekommen waren, aber er war froh gewesen, am Morgen auf dem Schlaflager wach zu werden.

Lias schien zwar nicht ganz so belustigt zu sein wie Robin, aber überrascht stellte Arian fest, dass es keine Strafpredigt oder Sonstiges gab. Allerdings nahmen die jungen Männer auch wenig Rücksicht auf die hämmernden Kopfschmerzen, die wahrscheinlich auch Marlon quälten. Arians Freund hatte seinen Kopf auf der Tischplatte abgelegt und unter beiden Armen vergraben.

Angeregt unterhielten sich die Freunde, denn auch Finn und Lauri waren zum gemeinsamen Frühstück erschienen. Wahrscheinlich war das die Strafe, fuhr es Arian durch den Kopf, während er seine Schläfen massierte.

„Marlon! Möchtest du vielleicht etwas hiervon?“ Grinsend hielt Robin seinem Schwager einen Teller mit Wurst unter die Nase. Aber Marlon verzog angewidert das Gesicht und lehnte sich vom Tisch weg.

„Bloß nicht. Mir ist schlecht.“ Die Männer lachten schadenfroh.

„Lauri, sag mal, hast du nicht vielleicht irgendwas …“, wandte sich der verkaterte Jugendliche an den dunklen Lockenkopf.

Mit gespieltem Bedauern schüttelte Lauri bereits den Kopf, bevor Marlon seinen Satz zu Ende gebracht hatte. „Nein, tut mir leid. Da müsst ihr jetzt schon durch. Dagegen gibt’s kein Mittel.“

Lias klopfte auf den Tisch.

„So Jungs, los geht’s. Wir haben viel zu tun heute!“ Emsig standen alle auf und wuselten gleich geschäftig herum, lediglich Marlon und Arian rafften sich nur träge auf.

Die Sonne draußen fuhr ebenfalls nochmal wie Blitze durch den schmerzenden Schädel.

„Hach, was für ein herrlicher Tag!“, lachte Robin, der zwischen die beiden Jungen getreten war und jedem einen Arm um die Schulter gelegt hatte.

„Ihr zwei kommt mal mit mir!“

Beschwingt schob er die beiden vor sich her.

„Seid ihr gar nicht sauer?“, brachte Arian nun doch leise heraus. Aber Robin lachte nur wieder herzlich.

„Na, ihr seid doch ganz offensichtlich schon gestraft genug, oder?“ Dabei gab er Marlon einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.

„Und davon abgesehen … wollt ihr wahrscheinlich gar nicht wissen, was Lias und ich in eurem Alter alles angestellt haben.“

Marlon rieb sich vorwurfsvoll den Hinterkopf. „Doch, das würde mich brennend interessieren.“

Auch Arian musste grinsen. So wahnsinnig viel älter waren die anderen jungen Männer hier ja ohnehin nicht, aber mittlerweile hatten diese natürlich dafür Sorge zu tragen, dass auf dem Hof alles seinen geregelten Gang ging. Aber die Vorstellung, dass Lias und Robin vor ein paar Jahren auch mal wenig verantwortungsbewusst gehandelt hatten, beruhigte und belustigte ihn irgendwie.

„Na, ich will euch ja nicht auf dumme Ideen bringen. Aber eine gestohlene Flasche Schnaps war da noch das geringste Übel.“ Wieder lachte Robin beherzt, um den Jungen anschließend die anstehenden Arbeiten zu erklären.

Lias

Robin hing entspannt auf einer Bank vor der Hütte und ließ sich die Nachmittagssonne auf den Bauch scheinen. Lias hatte noch etwas Feuerholz vorbereitet und verstaute die Holzscheite während er immer wieder einen Blick zu Marlon und Arian riskierte, die ganz in der Nähe herumturnten.

Auch Robin beobachtete die Jungen.

„Müssen wir eigentlich bald anbauen?“, grinste der Schmied.

Lias ließ sich neben Robin auf die Bank sinken. „Ich weiß noch nicht so recht, was ich davon halten soll.“

Die beiden Jungen lachten und Marlon schubste Arian zur Seite.

Robin legte seinem Freund beruhigend eine Hand auf den Oberschenkel.

„Ach, komm schon, machst du dir etwa Sorgen um Marlon?“

Lias verschränkte seine Finger mit denen seines Freundes.

„Ich mach mir immer Sorgen um Marlon, das weißt du. Aber ich hätte sicherlich kein Problem damit, wenn er einen Mann mit nach Hause bringt, das ist dir ja wohl klar.“

Robin gluckste leise. „Also, wo ist das Problem? Ist Arian das Problem?“

Lias schüttelte den Kopf. „Nein. Aber siehst du, wie er Marlon ansieht? Das ist neu. Ich weiß nicht, ob Marlon sich darüber im Klaren ist.“

Robin seufzte. „Meinst du nicht, die beiden kriegen das schon allein geregelt?“

„Ich hab einfach das Gefühl, Marlon ermuntert Arian vielleicht, ohne sich darüber bewusst zu sein.“

„Mach’s gut! Pass auf dich auf, ja?!“ Marlon verabschiedete sich mit einer Umarmung von seinem Freund.

Wie als wüsste er, dass er unter Beobachtung stand, hob Arian verstohlen die Hand in die Richtung der beiden jungen Männer, die vor der Hütte saßen. Danach verließ er das Dorf.

Lias und Robin wechselten einen vielsagenden Blick.

Beschwingt trat Marlon gefolgt von Lias und Robin in die Hütte und schwang sich auf die Holzbank am Esstisch.

„Was gibt’s zu essen?“

Lias zog eine Augenbraue hoch, während er einen Korb mit Brot auf den Tisch stellte.

„Was läuft denn da zwischen Arian und dir?“

Marlon antwortete mit vollen Mund: „Häh? Was meinst du? Arian ist mein bester Freund. Sonst nix!“

Lias setzte sich seinem Bruder gegenüber an den Tisch. „Bist du sicher, dass Arian das auch so sieht?“

Marlon schaute verwirrt von Lias zu Robin und zurück.

„Ob er weiß, dass er mein bester Freund ist? Das hoffe ich doch!“

„Ob er weiß, dass da nicht mehr ist?!“

Marlon ließ sich gegen die Rückenlehne fallen.

„Ich … ganz ehrlich. Ich weiß grade nicht, was ihr von mir wollt? Warum sollte Arian denn was anderes denken?“

Robin deckte weiter den Tisch, während er sprach.

„Na ja, du gehst halt sehr vertraut mit Arian um, auch im körperlichen Sinne. Das könnte er falsch verstehen.“

„Oder ist da vielleicht doch mehr?“ Lias grinste verschmitzt.

Marlon schnaubte verärgert. „So einen Quatsch muss ich mir echt nicht anhören. Ihr spinnt!“

Er sprang auf und wandte sich zum Gehen.

Dann fuhr er noch einmal herum und fuchtelte wild mit dem Zeigefinger in der Luft.

„Wisst ihr, bloß weil ihr schwul seid, muss ich das nicht auch sein!“

Mit einem bitterbösen Blick griff er noch einmal in den Brotkorb, bevor er endgültig aus der Hütte stürmte.

Lias und Robin sahen sich verwundert an.

„Was war denn das jetzt bitte?“

Lias zuckte nur mit den Schultern.

Marlon

Wohin? Eigentlich blieb nur Finn.

Missmutig kickte er einen Stein vor sich her auf dem Weg zu Finns und Lauris Hütte.

Hoffentlich war Lauri noch in Sylvesters Hütte beschäftigt.

Zaghaft klopfte er an, bevor er den Kopf durch die Tür steckte.

„Hey Finn … hast du ein bisschen Zeit?“

Finn sah von seinen Listen auf.

„Na klar. Für dich immer Marlon, was gibt’s?“

Marlon wanderte durch das Zimmer. Auf dem Weg hierher hatte er sich schon wieder etwas beruhigt. Doch so wie die Wut verflogen war, hatte sie der Verwirrung Platz gemacht.

„Ach, keine Ahnung. Lias und Robin gehen mir grad auf die Nerven.“

Finn legte sein Schreibmaterial beiseite.

„Was haben die zwei denn angestellt?“

„Blöde Fragen gestellt!“, fauchte Marlon aggressiver als eigentlich beabsichtigt.

Finn hob nur fragend die Augenbrauen und Marlon ließ sich endlich seufzend gegenüber nieder.

„Entschuldigung … Sie meinten, dass ich Arian möglicherweise Hoffnungen machen würde, und ob das meine Absicht sei …“

„Ich dachte, du bist in Elisabeth verliebt?“

Marlon erwiderte Finns Blick zerknirscht, bis er den Blick abwandte und seine Hände anstarrte.

„Ja“, kam es kleinlaut. „Dachte ich auch.“

„Aber?“

„Keine Ahnung. Die blöde Fragerei hat mich total durcheinander gebracht. Aber bloß weil die … und ihr … auf Männer steht, muss das doch nicht auch für mich gelten, oder?“

„Nein, natürlich nicht“, bestätigte Finn.

Marlon kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.

„Wie war das bei dir, als du gemerkt hast, dass du schwul bist?“

Finn atmete tief ein und stieß die Luft geräuschvoll wieder aus.

„Na ja, Frauen haben mich eigentlich noch nie so wirklich interessiert und als ich Lauri getroffen habe …“

Ein verlegenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Bei ihm habe ich mich immer irgendwie sicher gefühlt. Irgendwie richtig, auch wenn ich das anfangs nicht einordnen konnte …“

Marlon wirkte nur noch zerknirschter.

Finn lächelte ihn aufmunternd an.

„Wie fühlst du dich denn in Arians Nähe?“

Marlon zögerte, bevor er antwortete, aber dann sprudelte es förmlich aus ihm heraus.

„Gut. Also ich meine … Ich habe ihn gern in meiner Nähe. Wir verstehen uns irgendwie oft auch ohne viele Worte.“

„Mh und willst du ihn denn auch berühren, ihn küssen?“

Marlon riss die Augen auf.

„Ich … nein, also nicht küssen. Berühren? Ich weiß nicht. Ich denke da meistens gar nicht drüber nach, aber ich umarme oder berühre ihn schon manchmal … oder öfter?!“

Finn legte den Kopf schief. „Na ja, also ich konnte anfangs die meiste Zeit an nichts anderes denken.“ Er lachte.

„Vielleicht hast du einfach grundsätzlich weniger Berührungsängste als andere Männer, was sicherlich der Tatsache geschuldet ist, dass du mit Lias und Robin und auch mit Lauri und mir aufgewachsen bist. Das ist vielleicht einfach grundsätzlich kein Tabu für dich, wie für andere junge Männer. Wie du schon sagst, du denkst gar nicht groß darüber nach, ob es in Ordnung ist, einen anderen Mann zu umarmen, weil das für dich einfach normal ist.“

Marlons Miene klarte ein wenig auf. Finns Erklärung erschien ihm logisch.

Finn beugte sich ein wenig über den Tisch.

„Und mal anders gefragt. Was fühlst du denn, wenn Elisabeth in der Nähe ist?“

Marlon grinste verlegen.

„Wenn sie da ist, fühle ich mich meistens wie der größte Idiot.“

Finn lachte nickend. „Ja, das kenne ich.“

„Mir ist irgendwie heiß und kalt gleichzeitig und alles …“

„… kribbelt?!“, beendete Finn den Satz.

Marlon nickte.

„Na dann ist die Sache doch eindeutig, oder?“

Marlons Mundwinkel zuckten zu einem Lächeln nach oben.

„Aber was mache ich mit Arian? Was wenn Lias und Robin zumindest damit Recht haben, dass ich ihm aus Versehen falsche Hoffnungen gemacht habe? Ich will ihm ja auch nicht wehtun.“

Finn kratzte sich am Kopf. „So abgedroschen das klingt, aber da hilft im Zweifel nur Reden.“

Arian

Er hatte manchmal das Gefühl, als würde Lias ihn beobachten. Bildete er sich das nur ein?

Oder hatte Lias womöglich gemerkt, dass Arian seinen Bruder vielleicht etwas zu sehr mochte?

Nachdenklich beobachtete er den jungen Mann bei der Arbeit.

„Hey!“ Marlon tauchte neben ihm auf. Fast wäre er zusammengezuckt.

„Hey!“

„Wollen wir runter zum Steg?“

„Nur, wenn du nicht wieder eine Flasche geklaut hast!“

Marlon schüttelte grinsend den Kopf. „Nee, davon hab ich auch erst mal genug.“

Gemeinsam schlenderten sie schweigend den kleinen Trampelpfad bis zum Wasser herunter. Marlon wirkte irgendwie bedrückt. Ob er von Elisabeth eine Abfuhr bekommen hatte? Der Gedanke an das Mädchen versetzte Arian wieder mal einen Stich. Vielleicht wäre es wirklich mal an der Zeit die Fronten zu klären.

Gedankenverloren hatte Marlon Steinchen neben sich zusammengekratzt und ließ diese übers Wasser titschen. Arian stand mit den Händen in den Hosentaschen neben ihm und sah schweigend dabei zu.

„Arian?“

„Mh?“

„Wir sind doch Freunde, oder?“

Verstohlen beobachtete Arian seinen Freund aus dem Augenwinkel.

„Ähm, ja?!“ Worauf wollte Marlon hinaus?

Lässig drehte Marlon den Oberkörper, um den flachen Stein über das Wasser zu schicken. Arians Blick blieb an Marlons Lippen hängen. Konzentriert kaute Marlon auf der Unterlippe.

„Dann … können wir doch auch ehrlich zueinander sein, nicht wahr?“

Arian wurde irgendwie heiß. Er hatte das Gefühl, auf diese Vorlage von Marlon reagieren zu müssen.

Er schluckte und versuchte, seiner Stimme einen entspannten Klang zu verleihen. „Ja, natürlich.“

Als Marlon sich plötzlich zu ihm umdrehte, hatte er das Gefühl, als wäre seine Kehle zugeschnürt. Die großen braunen Augen bohrten sich mit unsicherem Blick in seine. Er will mir irgendwas sagen, weiß aber nicht wie, fuhr es Arian durch den Kopf.

Einen Augenblick schwiegen sie sich an.

Arian fühlte sich wie versteinert und verstand sich selbst nicht. Ständig ging er mit wildfremden Männern ins Bett, selbstbewusst, offensiv, aber jetzt, hier …

Weil das etwas völlig anderes ist, schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht war es tatsächlich so, dass er zum ersten Mal mehr für jemand anderen empfand. Diese Erkenntnis war so überwältigend, dass er endlich aus seiner Versteinerung ausbrechen konnte.

Während Marlon immer noch verlegen den flachen Kieselstein in seiner Hand drehte, trat Arian an ihn heran, nahm Marlons Gesicht in seine Hände und legte seine Lippen auf die seines Freundes.

Er hörte wie Marlon der Stein aus den Händen rutschte und zu Boden fiel.

Dann spürte er Marlons Hand auf seiner Brust. Der Widerstand war nur minimal spürbar, aber er war da.

Arian ließ sofort von Marlon ab. Die braunen Augen waren noch größer als zuvor.

In Marlons erschrockenem Gesicht erkannte er, dass es das schon mal nicht gewesen war, was er ihm hatte sagen wollen.

„Tut mir leid.“

Eigentlich hatte Arian das sagen wollen, umso überraschter war er, diese Worte aus Marlons Mund zu hören.

„Tut mir leid“, sagte er sogar noch ein zweites Mal.

Arian schüttelte verwirrt den Kopf. „Wofür entschuldigst du dich bitte?“

Marlon atmete schwer und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Er suchte nach Worten.

„Ich … habe ich dich bisher … ich wollte dir nicht signalisieren, dass ich …“

Arian tat das Gestammel seines Freundes fast schon leid.

„Nein, keine Angst, hast du nicht“, beruhigte er Marlon. Auch wenn es schmerzte, dass Marlon seine Gefühle wohl nicht erwiderte, konnte er dem Jungen kaum böse sein.

Arian ließ sich auf den Steg sinken. „Eigentlich hast du mir immer ziemlich deutlich gesagt, dass du nicht schwul bist. Und dass du in Elisabeth verschossen bist, sieht auch ein Blinder.“

Zaghaft ließ Marlon sich neben ihm nieder.

„War es denn sehr schlimm?“, grinste Arian sein Gegenüber an, auch wenn das Lächeln seine Augen wohl nicht ganz erreichte.

Marlon wurde rot. „Ich … nein, aber …“

„Schon gut!“ Arian tätschelte Marlons Knie. „Du musst mir verzeihen, dass ich es aber zumindest versuchen musste.“

Marlon legte den Kopf schief und Arian las ehrliches Bedauern aus seinem Blick.

„Es tut mir wirklich leid. Du bist mein bester Freund und ich wäre gern der Richtige für dich gewesen. Klingt das bescheuert?“

„Ein bisschen. Aber ich glaube, ich weiß, wie du es meinst.“ Eine Weile starrten beide auf das Wasser vor ihnen.

„Und worüber wolltest du eigentlich mit mir reden?“

„Na ja, eigentlich wollte ich genau darüber mit dir reden.“

„Na dann lag ich ja gar nicht so falsch.“

„Das ändert aber doch nichts an unserer Freundschaft, oder?“

„Nein.“

Zumindest nicht für dich, dachte Arian.

Die letzten Tage war er gereizt und launisch gewesen. Fast hätte er sich sogar vor Viktor im Ton vergriffen, aber zum Glück hatte er sich rechtzeitig besonnen und die Klappe gehalten.

Zurzeit prasselten einfach zu viele neue Erfahrungen auf ihn ein.

Es war seltsam gewesen, sich die Gefühle für Marlon einzugestehen und es war schmerzhaft, dass diese Gefühle nicht erwidert wurden.

Auf der einen Seite sehnte er sich ständig ins Dorf, nicht nur wegen Marlon, der trotz alledem tatsächlich sein bester Freund war, sondern auch, weil er das Leben auf Lias Hof einfach sehr genoss. Gleichzeitig kotzte es ihn an, da es ihm nur immer wieder vor Augen führte, wie scheiße sein eigenes Leben wirklich war. Und das war es.

Irgendwo musste er diesen Frust loswerden. Leider war der potentielle Kunde nicht die richtige Adresse dafür gewesen …

Lauri

„Lauri?“

Arian steckte den Kopf durch die Tür.

Lauri nickte seufzend, da er schon ahnte, was kommen musste. „Ja, komm rein.“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht schlich Arian in die Stube, nachdem er die Tür leise geschlossen hatte.

„Heute ist es einfach scheiße gelaufen. Der Typ war ein Arschloch und noch nicht mal gezahlt hat der. Aua …“

Lauri presste verärgert die Lippen aufeinander, während er mal wieder Arians Verletzungen versorgte.

„Mann, Arian. Ich sag´s jetzt echt zum letzten Mal! Such dir eine andere Arbeit!“

„Sonst was?“, zischte der Junge angriffslustig. „Behandelst du mich sonst nicht mehr?“

Lauri blitzte ihn mit seinen eisblauen Augen mürrisch an. „Doch, natürlich. Trotzdem.“

„Pff, als wäre es so einfach, was Anderes zu finden …“

„Es gibt immer eine Möglichkeit.“

„Das kannst du nur sagen, weil du keine Ahnung hast!“

Lauri fuhr mit Schwung herum. Er packte Arian an den Oberarmen. Arian war erschrocken zusammengezuckt und starrte sein Gegenüber überrascht an.

Einen Moment schwiegen beide.

„Ich habe Ahnung!“, raunte Lauri eindringlich. Dann ließ der Druck an Arians Armen langsam nach. Lauri wandte sich ab und humpelte zurück zu seinem Arzneimittelregal.

Arian lehnte noch immer perplex gegen den Holztisch, gegen den Lauri ihn gedrückt hatte. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

„Moment mal! Was soll das heißen?“

Lauri drehte sich nicht zu ihm um, während er antwortete.

„Das was ich sagte. Ich habe Ahnung, wovon ich spreche.“

Mit offenem Mund stieß Arian sich vom Tisch ab und kam hinter Lauri her.

„Heißt das … willst du damit sagen, du hast dasselbe gemacht wie ich?“

Er ignorierte, wie Lauris Körper sich anspannte.

„Du hast Schwänze gelutscht?“

„Arian!“ Er ignorierte auch den drohenden Unterton in Lauris Stimme.

„Du hast deinen Arsch hingehalten?“

Auf den Kinnhaken war er nicht gefasst. Erschrocken taumelte er zurück.

„Aua! Wofür war der denn?“

Lauri stand schwer atmend vor ihm, beide Hände nach wie vor zu Fäusten geballt.

„Hör einfach auf!“, grolle Lauri.

„Ich habe das schon lange hinter mir gelassen. Aber jedes Mal, wenn du durch diese Tür kommst und mir deine Verletzungen präsentierst, dann kommt der ganze Scheiß wieder hoch.“

Arian rieb sich das schmerzende Kinn.

„Also willst du doch, dass ich nicht wieder herkomme, dass ich verschwinde und für immer wegbleibe!“ Seine Stimme hatte einen verbitterten Unterton angenommen. „Damit du dein perfektes Heile-Welt-Leben mit Finn und deinen Freunden hier in Ruhe weiterleben kannst, ohne an diese Scheiße erinnert zu werden!“

Lauri seufzte und fuhr sich durch die dunklen Locken.

„Nein. Du sollst nicht verschwinden. Du sollst einfach nur damit aufhören. Hör auf damit, dich, deinen Körper und dein Leben so kaputt zu machen. Du bist noch jung. Du hast doch noch alle Chancen der Welt. Man kann immer aussteigen, wenn man will!“

Arian ließ sich mit missmutigem Gesichtsausdruck auf einen Hocker fallen.

„Nein … Selbst wenn ich wollte, wäre es nicht so einfach. Ich … Viktor würde mich nie so einfach gehen lassen.“

Er verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Lauri zog sich einen Hocker ran und ließ sich dem Jungen gegenüber nieder.

„Du arbeitest für Viktor?“

Der Name jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

„Du kennst Viktor? Hast du auch …?“

„Ja, ich kenne ihn, und nein, ich habe nicht für ihn gearbeitet und das war wahrscheinlich auch besser so!“

Er hatte den Zuhälter damals kennengelernt, aber instinktiv einen weiten Bogen um den Mann mit dem einnehmenden Wesen gemacht.

Zerknirscht zuckte Arian mit den Schultern.

„Na ja, jetzt weißt du, warum ich immer spätestens freitags zurück muss. Viktor erwartet sein Geld pünktlich.“

Wieder schwiegen beide eine Weile.

„Kann ich dir helfen?“, fragte Lauri schließlich.

„Du hilfst mir schon genug“, entgegnete Arian mit einem schiefen Grinsen. „Auch wenn du das ja eigentlich gar nicht willst.“

Dann schüttelte er den Kopf.

„Ich wüsste nicht wie. Ich glaube kaum, dass du Viktor überzeugen kannst, mich gehen zu lassen. Trotzdem danke.“

Er erhob sich.

„Ich muss los. Den Rückstand von heute noch aufholen.“

Lauri nickte traurig und Arian ließ ihn sitzen.

In den folgenden Tagen kreisten Lauris Gedanken immer wieder um Arian.

Es war also noch schlimmer, als er bisher gedacht hatte.

Natürlich, unter Viktor war es tatsächlich nicht so leicht, einfach auszusteigen.

Aber Lauri war sich ziemlich sicher, aus Arians Worten herausgelesen zu haben, dass er nichts lieber täte als das — aussteigen.

Gedankenversunken bündelte er verschiedene Heilkräuter, um sie zum Trocknen aufzuhängen. Das Bücken fiel ihm dank des steifen Knies schwer, daher versuchte er, direkt so viele Bündel wie möglich aufzuheben.

Natürlich fiel ihm eines herunter, als er zur gespannten Schnur humpelte.

„Warte, ich helfe dir.“

Finn schnappte sich ebenfalls einen Arm voller Kräuter und sammelte auf dem Weg zu seinem Freund auch das heruntergefallene Bündel auf.

„Danke.“ Lauri nahm Finn nach und nach die Kräuter ab und hängte sie auf.

„Worüber grübelst du wieder, mh?“ Finn schmiegte sich von hinten an seinen Freund und schlang seine Arme um Lauris Oberkörper. Sein Kinn legte er auf Lauris Schulter ab.

Seufzend befestigte Lauri das letzte Bündel an der Schnur.

„Ich muss oft an Arian denken. Ich denke, er würde tatsächlich gern aufhören.“

„Warum tut er das dann nicht. Er würde wunderbar hierher passen.“

„Ja …“

„Aber?“

Lauri drehte sich in Finns Umarmung.

„Er untersteht einem Zuhälter.“

„Oh, mh, was heißt das genau?“

Lauri strich seinem Freund eine der blonden Strähnen aus der Stirn.

„Na Viktor bekommt den Großteil der Einnahmen. Im Gegenzug beschützt er Arian, aber wohl mehr schlecht als recht, so wie der arme Kerl manchmal bei mir aufläuft.“

„Viktor? Mh, kennst du ihn?“

Lauri zögerte einen kurzen Moment.

„Ja.“

Finns grüne aufmerksame Augen suchten in seinen nach Antworten.

„Ich bin ihm ein paar Mal begegnet.“

Finn schien zu spüren, dass er ungern über diese Zeit reden wollte. Daher schwieg er wohl abwartend.

„Ich schätze, Arian hat Recht damit, dass Viktor ihn nicht so einfach gehen lässt.“

„Können wir ihm irgendwie helfen?“

Lauri zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Ich würde, wenn ich könnte.“

„Ja, ich weiß!“

Sanft zog Finn Lauris Gesicht näher heran und gab ihm einen Kuss.

„Vielleicht fällt uns ja noch etwas ein.“

Egal, was er gerade tat, seine Gedanken kreisten tatsächlich nur noch darum.

Er wollte Arian unbedingt helfen, aber allein der Gedanke an Viktor jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Er konnte es sich selbst nicht erklären. Selbst vor Luca und Genzo hatte er nie solche Angst gehabt, obwohl er wusste, dass Genzo seinen Vater getötet hatte und ihm dasselbe Schicksal bevorstünde, wenn die beiden Männer von seinem Plan erfahren hätten. Aber Viktor …

Und das obwohl Viktor nicht einmal eine Bedrohung für sein Leben darstellte, zumindest nicht im gleichen Sinne wie zum Beispiel Genzo. Viktor war subtiler, verführerisch, charmant, manipulativ … Er brachte niemanden um, das hatte er nicht nötig. Er beherrschte.

Allerdings war es Jahre her, dass er Kontakt zu dem Zuhälter hatte. Damals war er selbst noch ein Kind, nicht älter als Arian jetzt. Jetzt war er erwachsen. Ein Mann.

Lauris Blick fiel auf seinen schlafenden Freund neben sich. Finn wusste von alledem nichts. Zwar hatte Lauri ihm damals auf der Lichtung schon viel von seinem früheren Leben erzählt, aber er war dabei wenig ins Detail gegangen. Die ganzen Erinnerungen waren so schon schmerzhaft genug gewesen.

Zärtlich strich er Finn eine Strähne aus dem Gesicht. Er musste daran denken, wie Finn damals immer noch von Albträumen gequält wurde. Das lag nun tatsächlich schon lange zurück. Jetzt schlief er tief und ruhig.

Er musste auch daran denken, wie ungewohnt es gewesen war, sich so auf einen anderen Menschen einzulassen. Wie schwer es ihm gefallen war, sich Finn gegenüber zu öffnen. Und jetzt? Jetzt war der schlanke, junge Mann, der gerade leicht bekleidet neben ihm lag, der Mensch, der so ziemlich alles von ihm wusste. Mit dem er alles teilte.

Vor fünf Jahren hätte er jeden ausgelacht, der ihm das erzählt hätte.

Arian konnte sich das zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht vorstellen. Ein „normales“ Leben führen. Mit Freunden. Mit einem Partner. Mit einer richtigen Arbeit.

Es war so traurig zu wissen, dass Arian diese Perspektive fehlte. Er sollte dieselbe Chance vom Leben erhalten.

Einen Plan hatte er nicht.

Vielleicht war das dumm. Sehr wahrscheinlich war es das. Trotzdem hatte er sich morgens schon früh von Finn verabschiedet und war Arian in die Stadt gefolgt.

Das flaue Gefühl im Magen nahm zu, je näher er dem Hafenviertel kam.

Zwar war er hier später auch anständiger Arbeit nachgegangen, aber manche Ecken beschworen die verhassten Erinnerungen hoch. Als er Arian an einer Hauswand stehen sah, machte er kehrt und nahm eine der anderen Gassen.

Aus irgendeinem Grund wollte er gar nicht, dass Arian wusste, dass er hier war.

Es war nicht schwer gewesen herauszufinden, wo Viktor aktuell wohnte. „Residierte“ passte allerdings besser. Das Gebäude sah schon von außen teuer aus. Die Fassade war weiß gestrichen, aufwendige Schnitzereien verzierten die Front. Die Fenster besaßen Glasscheiben, doch von innen versperrten schwere Vorhänge neugierigen Passanten die Einsicht in Viktors Reich.

Eine Weile hatte Lauri im Schatten einiger Hafengebäude gestanden und die Tür zu Viktors Haus beobachtet. Aber außer zwei jungen Mädchen, die sicherlich auch für Viktor arbeiteten, hatte niemand das Gebäude verlassen oder betreten. Eigentlich wusste er aber auch gar nicht, worauf er wartete, was er hoffte zu sehen.

Die Sonne stieg höher. Es würde bald Mittag sein.

„Was tue ich hier eigentlich?“, raunte Lauri, bevor er sich langsam in Bewegung setzte.

Je langsamer er ging, umso weniger musste er humpeln.

Die Tür kam näher. Der Kloß im Hals wurde größer.

Aber was blieb ihm jetzt noch anderes übrig?

Er versuchte, die Bedenken beiseite zu wischen. Viktor musste man selbstbewusst begegnen.

Kräftig klopfte er an.

Natürlich war es nicht Viktor, der die Tür öffnete, sondern ein Schrank von einem Mann. Groß, kräftig und nicht besonders gut gelaunt scheinbar.

Mit einem abschätzigen Blick taxierte er Lauri.

„Was willst du?“

„Ich will mit Viktor sprechen.“ Herausfordernd hatte Lauri das Kinn angehoben. Seine Stimme klang sicher und kräftig.

Der Kerl kniff die Augen etwas zusammen.

„Und wer bist du?“

„Mein Name ist Lauri. Viktor kennt mich.“

„Mh!“, brummte der Kerl. „Warte hier.“

Damit knallte er Lauri die Tür vor der Nase zu.

Lauri atmete tief durch. Trotz alledem schoss ihm abermals ein „Was tue ich hier eigentlich?“ durch den Kopf. Was genau wollte er Viktor eigentlich sagen? War es schon zu spät, um einfach wieder unverrichteter Dinge zu gehen?

Die Tür wurde abermals von Viktors Angestellten geöffnet.

„Komm rein“, knurrte er und Lauri trat neben ihm durch die Tür.

Der erste Eindruck der äußeren Fassade setzte sich im Inneren des Gebäudes weiter fort.

Kostbare Möbel, Teppiche und Vorhänge zeugten von Viktors Geschmack und vor allem von seinem Reichtum, den er offensichtlich gern zur Schau stellte.

Staunend folgte Lauri dem Bediensteten, wohl wissend, dass die Zurschaustellung dieses Reichtums sicher auch der Einschüchterung diente. Das würde Viktor ähnlich sehen.

Vor einer großen Flügeltür stoppten sie und der Mann deutete Lauri abermals zu warten.

Er öffnete die Tür und mit einem Nicken gab er Lauri den Weg frei.

Bemüht, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, trat Lauri langsam ein.

Zeit, sich umzusehen, hatte er kaum, da Viktor direkt auf ihn zukam.

„Lauri! Schön, dich zu sehen. Wie lange ist es jetzt her, dass wir uns gesehen haben? Sieben Jahre?“

Er hatte sein charmantestes Lächeln aufgesetzt, an das sich Lauri noch gut erinnerte.

„Fünf“, gab Lauri ohne Zögern zurück. Auch daran erinnerte er sich viel zu gut.

„Ich habe mir schon so lange gewünscht, dass du für mich arbeitest.“

Lauri verschränkte die Arme. „Und ich habe es dir damals schon gesagt und ich wiederhole mich auch gerne nochmal: Nein, danke!“

Wieder das süffisante Lächeln, als der Zuhälter zum Tisch trat. Er goss sich etwas Wein ein und hob das Glas mit fragendem Blick zu Lauri. „Auch ein Glas Wein?“

Lauri schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht zum Trinken hergekommen.“

Viktor nahm bedächtig einen Schluck und drehte das Glas dann eine Weile in seinen Händen. Der Blick seiner grauen Augen ruhte weiterhin auf Lauri. „Bist du nicht.“

Er stellte das Glas ab, stieß sich geschmeidig vom Tisch ab und stand nach wenigen Schritten wieder nah vor Lauri. Obwohl er sicher fünfzehn Jahre älter war als Lauri, sah er in der Tat immer noch sehr gut aus. Die leicht angegrauten Schläfen taten dem Gesamtbild keinen Abbruch. Es war kein Wunder, dass ihm so viele junge Männer und Frauen verfallen waren.

„Warum bist du dann hier, mh?“ Das vertrauenswürdige Lächeln hatte er perfekt einstudiert. Er präsentierte eine Reihe weißer, gerader Zähne.

„Es geht um Arian.“

„Ah, Arian. Ja, einer meiner besten Jungs derzeit. Wie kann ich dir behilflich sein? Dachtest du, ich mache dir einen Sonderpreis, weil ich dich so gern habe?“ Viktor lachte leise und legte den Kopf schief, sein aufmerksamer Blick ließ Lauri nicht los.

„Nein, ich möchte, dass du ihn gehen lässt.“ Seine Stimme klang leider nicht so fest, wie er es geplant hatte.

„Ach …“ Viktor wanderte wieder zurück zum Tisch und nahm schwungvoll das Weinglas wieder auf.

Nach einem Schluck setzte er einen gekonnt bedauernden Blick auf.

„Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen. Tut mir leid. Wie gesagt, er ist zurzeit einer der Besten. Ihn abzugeben, würde ein dickes Minusgeschäft für mich bedeuten. Du wirst verstehen, dass ich das nicht zulassen kann.“ Trotz des Lächelns auf Viktors Lippen war deutlich zu spüren, wie ernst er es meinte.

Lauri hatte geahnt, dass Viktor den Jungen nicht ohne Weiteres freigeben würde. Dennoch spürte er, wie schon damals, wie sehr Viktor ihn aus der Bahn warf. Er schwieg, da er nicht wusste, wie er am sinnvollsten weiter vorgehen sollte. Sein Kopf war wie leergepustet. So unsicher hatte er sich schon ewig nicht mehr gefühlt.

Und das Schlimmste war, dass Viktor um seine Wirkung auf Lauri wusste.

Mit einem Finger fuhr er den Rand seines halbvollen Weinglases ab und betrachtete Lauri lauernd.

„Oder willst du mir etwas anbieten, was mich über diesen Verlust hinwegtrösten könnte?“

„Ich …“ Lauri kam ins Trudeln. Erneut stellte Viktor das Glas ab und überwand die kurze Strecke zu Lauri mit wenigen Schritten. Diesmal kam er Lauri noch näher, so dass dieser überrascht einen Schritt zurückwich. Mein Gott, er fühlte sich wieder wie sechzehn und Viktor nutzte das schamlos aus.

Er strich Lauri eine der nicht zu bändigenden Locken aus dem Gesicht und drängte den jungen Mann langsam noch zwei weitere Schritte zurück, bis dieser mit dem Rücken gegen eine an der Wand stehende Kommode stieß.

„Du bist zwar schon älter als die Jungs, die für gewöhnlich für mich arbeiten, aber …“ Er umfasste Lauris Kinn mit einer Hand. „… es gäbe definitiv genug gut zahlende Kunden, die Interesse an dir hätten.“ Lauri stützte sich bereits mit beiden Händen am Rand der Kommode ab, als Viktor sein rechtes Bein zwischen Lauris Beine drängte.

Wieso zum Teufel fühlte er sich Viktor nur so ausgeliefert. Er war doch keine sechzehn mehr und hätte rein körperlich sicherlich gute Chancen, sich gegen den älteren Mann zur Wehr zu setzen, aber er war wie gelähmt. Es war genauso wie damals. Viktor hatte einfach etwas an sich, das Lauri nicht in Worte fassen konnte.

„Das wäre zumindest ein Angebot, über das ich nachdenken könnte“, hauchte Viktor in Lauris Ohr.

Lauri lief es kalt den Rücken hinunter. Er wendete das Gesicht ab und versuchte, seinen Puls zu beruhigen. Da war sie wieder. Diese seltsame Angst.

„Du musst aber wissen, dass ich grundsätzlich meine Ware testen muss.“ Lauri schloss die Augen. Was machte er nur hier? Wie war er auf die dumme Idee gekommen, das zu versuchen? Er hätte wissen müssen, dass Viktor immer noch diese verwirrende Wirkung auf ihn haben würde.

Viktor begann, sich ohne Umschweife an Lauris Hosenbund zu schaffen zu machen. Reflexhaft griff Lauri nach Viktors Handgelenk. Erschrocken starrte er in die grauen Augen seines Gegenübers. Das Lächeln erreichte Viktors Augen nun nicht mehr.

„Na, na, Lauri!“ Der drohende Unterton war nicht zu überhören.

„Du weißt, dass ich immer bekomme, was ich will. Und das hier will ich schon seit über fünf Jahren. Jetzt spazierst du einfach so in mein Haus. Was soll ich denn davon halten?“

„Ich bin mit jemandem zusammen!“, stammelte Lauri heiser.

Viktor drehte seinen Arm aus Lauris Griff heraus und platzierte dessen Hand wieder auf der Kommode.

„Ist das so?“ Viktors Stimme hatte wieder einen lockeren Plauderton angenommen. „Wie süß! Wenn auch eine Verschwendung. Ein Er oder eine Sie? Wenn ich mich recht entsinne, warst du damals noch … nennen wir es mal … unentschlossen.“

Lauris Herz raste. Er wollte Finn gar nicht ins Spiel bringen. Es war dumm von ihm gewesen, seinen Freund zu erwähnen. Für Viktor würde es ohnehin keinen Unterschied machen.

Viktors Blick durchbohrte ihn. Lauri schluckte. „Er.“

Auf Viktors Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, welches Lauri einen kalten Schauer über den Rücken jagte. „Und weiß dein Freund, dass du jetzt gerade hier bist?“

Lauri schüttelte mechanisch den Kopf.

„Na dann ist doch alles geklärt!“

Er konnte Viktor nicht mehr ansehen. „Bitte“, flüsterte er. „Bitte tu das nicht!“

Viktors Grinsen wurde wieder breiter. „Du kannst nicht damit umgehen, die Kontrolle zu verlieren, nicht wahr?! Das macht dir Angst. Das macht nichts. Ich bringe es dir bei. Umdrehen!“

Lauri schluckte. „Viktor, bitte nicht!“ Er fühlte sich so furchtbar zurückversetzt in eine Zeit, die er ein für allemal vergessen wollte, und ja, Viktor hatte Recht. Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis er sich zumindest bei Finn soweit hatte fallen lassen können, um auch einmal die Führung abzugeben.

Der Zuhälter warf lachend den Kopf in den Nacken. Dann griff er erneut nach Lauris Kinn und drehte dessen Gesicht so, dass er gezwungen war, Viktor anzusehen.

„Pass auf, mein Lieber. Da draußen vor der Tür warten zwei nette Herren, die dafür sorgen können, dass du tust, was ich sage. Aber falls du nicht auf Zuschauer stehst, kannst du auch einfach ein bisschen kooperativer sein.“

Lauris Kopf war mit einem Mal so leer. Er war wie eine Marionette und Viktor war der Puppenspieler.

Zitternd begann er, sich umzudrehen, so wie Viktor es befohlen hatte. Zufrieden trat der Zuhälter dafür einen Schritt zurück, um Lauri Platz zu machen. Dabei fiel ihm auf, dass Lauri sein verletztes Bein kaum belastete.

„Was ist mit deinem Bein?“

Lauri räusperte sich. „Lange Geschichte.“ Seine Stimme war nur ein Flüstern. Gedanken an Finn blitzten erneut auf.

„Mh!“, machte Viktor abschätzig. „Bleibt das so?“

Lauri nickte.

„Egal. Würde deinen Wert nur wenig mindern. Du sollst ja nicht tanzen.“ Er trat wieder näher und strich fast sanft von oben durch Lauris Locken, nur um im nächsten Moment brutal zuzupacken und Lauris Kopf nach hinten in den Nacken zu reißen. Erst jetzt sah Lauri, dass er vor einem Spiegel stand. Wahrscheinlich war das alles minutiös von Viktor geplant. Er presste sich von hinten an Lauri heran und schaute über dessen Schulter ebenfalls in den Spiegel. In seinen Augen konnte Lauri erkennen, wie sehr ihn das alles anmachte.

„Zieh dein Hemd aus!“, wies er Lauri an. Mit zitternden Händen begann er, Viktor Folge zu leisten. Der Ältere beobachtete ihn im Spiegel genau. Als die Narbe auf Lauris Brust zum Vorschein kam, pfiff Viktor durch die Zähne. „Was ist denn das für ein Scheiß?“ Mit seiner freien Hand griff er von hinten um Lauris Oberkörper und strich über das Brandmahl.

Lauri erschauderte bei der Berührung.

„Auch die lange Geschichte, was?“

Da Viktor immer noch Lauris Kopf in den Nacken zog, konnte er nur kaum merklich nicken.

„Wie auch immer.“

Lauri wurde schlecht, als er Viktors lüsterne Blicke im Spiegel sah, die seinen Körper taxierten.

„Ansonsten bist du gut in Form. Nicht schlecht.“

Er ließ seine Hand von der Narbe aus über Lauris Körper fahren. Mit den Fingerspitzen zeichnete er Lauris angespannte Bauchmuskeln nach.

Die sanften Berührungen wechselten sich jedoch schnell wieder mit harten Handgriffen ab. Der feste Griff in seinen Schritt ließ Lauri zusammenzucken.

„Ach Lauri, komm schon! Nach der langen Zeit könntest du dich wirklich ein bisschen mehr freuen, mich zu sehen.“ Er strich wieder zärtlich Lauris Locken beiseite und ließ seine Zunge über dessen Hals fahren. Lauri musste eine Würgereiz unterdrücken. Trotzdem war er unfähig, sich zu rühren.

Der Griff in Lauris Nacken blieb ungebrochen, aber Viktor begann nun, ihn quälend langsam nach unten auf die Kommode zu drücken.

„So ist es brav!“

Als Lauris Wange das kühle Holz der Kommode berührte, ließ der Druck in seinem Nacken nach. Viktor strich mit seiner Hand Lauris Wirbelsäule hinab. Lauri kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander, als Viktor bei seiner Lendenwirbelsäule angekommen war.

Er hörte, wie Viktor an seiner eigenen Kleidung nestelte, und kurz darauf spürte er die Hände des Zuhälters an seiner eigenen Hose. Wieder fuhr ein Zittern durch seinen Körper.

„Ich kann ganz sanft sein. Oder hast du es lieber etwas härter? Mh? Worauf stehst du, Lauri?“

„Bitte nicht …“, presste Lauri heiser heraus.

„Schhhh!“, machte Viktor und seine Hände glitten an Lauris Seiten entlang bis zu seiner Hüfte, wo sich der Griff seiner Hände wieder verstärkte.

Lauri konnte das Grinsen auf Viktors Gesicht förmlich hören. „Das ist doch nicht dein erstes Mal!“

Aber es tat mindestens genauso weh. Viktor nahm keine Rücksicht auf den jungen Mann unter sich.

Das Geräusch der Kommode, die immer wieder gegen die Wand knallte, hämmerte in seinem Kopf. Während Viktor ihn mit einer Hand auf dem Rücken weiterhin nach unten drückte, riss er Lauris Kopf plötzlich wieder an den Haaren nach oben.

„Sieh mich an!“, forderte Viktor keuchend. Aber Lauri wollte nichts sehen. Er wollte nicht die Augen öffnen und diese Bilder wieder in seinem Kopf haben, die er mühevoll jahrelang verdrängt hatte.

Aber Viktor ließ Ungehorsam nicht zu. Seine Stöße wurden härter und gleichzeitig knallte er Lauris Kopf brutal auf die Kommode, bevor er ihn erneut hochriss. „Ich sagte: Sieh mich an!“

Mit flatternden Lidern öffnete Lauri die Augen. Seine linke Augenbraue war von dem Schlag aufgeplatzt. Dunkelrotes Blut lief seine Schläfe hinab und tropfte auf die Kommode. Das schien Viktor nur noch mehr anzuheizen. Die ganze Zeit suchte er im Spiegel Lauris Blick.

Es war zu offensichtlich, dass es Viktor rein um die Demonstration von Macht und Überlegenheit ging. Zum Glück dauerte es nicht mehr lange, bis der Zuhälter fertig war. Erst als der Schauer durch Viktors Körper fuhr, ließ sein Griff in Lauris Nacken nach. Trotzdem wagte Lauri es nicht wegzuschauen, bis Viktor seinen Blick abwand.

Er ließ Lauri stehen und wanderte, als wäre nichts gewesen, zurück zum Tisch, um einen Schluck Wein zu trinken.

Lauri fühlte sich um Jahre gealtert. Sein steifes Knie schmerzte. Eigentlich schmerzte sein ganzer Körper, besonders abwärts der Gürtellinie. Mühsam rappelte er sich auf und zog seine Hose hoch, bevor er sich langsam umdrehte.

Er spürte Viktors Blick auf sich ruhen, schaffte es aber lediglich aus dem Augenwinkel, sein Gegenüber zu beobachten, der das Glas erhoben hatte.

„Jetzt vielleicht ein Schluck?“

Lauri schüttelte wortlos den Kopf.

„Mh, schade. Du verpasst was. Ein wirklich guter Jahrgang.“ Viktor kippte den Rest des Weins hinunter.

„Was unsere Geschäftsbeziehung angeht … ich denke, daraus wird nichts. Nichts für ungut, mein Freund, aber du bist doch eigentlich schon zu alt und irgendwie …“ Viktor fuchtelte undefiniert mit dem leeren Glas durch die Luft. „… die ganzen Verletzungen und Narben. Das stört doch das Gesamtbild etwas. Mach doch bitte die Kommode sauber. Blut macht sich nicht so gut auf dem Holz. Du findest den Weg hinaus, oder?“

Er wendete sich ab und ließ Lauri stehen. Einfach so. Bevor er die Tür hinter sich schloss, drehte er sich ein letztes Mal zu Lauri um. Er hatte wieder sein gewinnbringendes Lächeln aufgesetzt. „Ach ja … und Arian gehört mir.“

Die Tür fiel mit einem lauten Knallen ins Schloss. Danach Stille.

Lauri hörte nur seinen eigenen Atem. Sein Herz raste. Vor seinem inneren Auge sah er sich dabei zu, wie er Viktors Arbeitszimmer verwüstete und zu Kleinholz verarbeitete, nur um dem Zuhälter danach das Genick zu brechen.

Statt dies in die Tat umzusetzen, hob er sein Hemd auf, wischte damit die Bluttropfen von der Kommode und zog sich an.

Niemand durfte davon erfahren. Niemand. Erst recht nicht Finn!

Arian

Er hatte am Hafeneingang herumgelungert und nach Kundschaft Ausschau gehalten, als er Lauri erspähte. Alleine seine ungewohnte Haltung machte Arian schon auf die Entfernung stutzig. Er stieß sich von der Hauswand ab, an der er gelehnt hatte, und kam Lauri entgegen.

Der junge Mann sah furchtbar aus. Er war ungewöhnlich blass, seine Augenbraue war aufgeplatzt und blutig.

„Lauri? Was …“ Viel weiter kam er nicht.

Als Lauri seinem Blick begegnete, erkannte er sich selbst darin wieder.

„Viktor. Der Spiegel!“, hauchte Arian und Lauris Augen weiteten sich für einen kurzen Moment erschrocken.

Oh ja, er konnte sich ausmalen, was passiert war.

Plötzlich empfand er eine seltsame Verbundenheit zu Lauri, die vorher noch nicht dagewesen war. Er wusste, was geschehen war, und Lauri musste auch wissen, dass es ihm ebenso ergangen war. Sie teilten eine Erfahrung.

„Komm mit!“, raunte Arian. Als er Lauris Schulter berührte, zuckte dieser kaum merklich zusammen, so dass Arian augenblicklich seine Hand sinken ließ. Ja, er wusste, wie Lauri sich fühlte.

So schnell es Lauris steifes Knie erlaubte, lotste er den verletzten jungen Mann durch das Gewirr der Gassen. Vorbei am Hafen, hinter der Siedlung entlang, bis zu seiner Bucht. Er war selbst so oft hier gewesen. Das Wasser war hier noch sauber, weil die Färberei und der Hafen erst weiter unten Abwasser und Müll in den Fluss kippten. Dennoch kam hier selten jemand vorbei, so dass dieser Ort bestens dazu geeignet war, ungestört im Wasser zu schwimmen. Oder um sich zu waschen …

Lauri starrte mit leerem Blick auf das Wasser.

„Hier kommt eigentlich nie jemand vorbei. Aber ich kann auch aufpassen, dann könntest du … also, wenn du möchtest. Das Wasser ist ganz sauber.“

Lauri schluckte, aber schließlich nickte er und Arian wandte sich ab, damit Lauri sich ungestört entkleiden konnte.

Scheiße. So hatte er den jungen Mann wirklich noch nie erlebt. Lauri hatte ihm zwar erzählt, dass ihm Arians Metier nicht unbekannt war, und auch, dass er Viktor noch von früher kannte, aber offensichtlich hatte der Zuhälter gerade alte Narben aufgerissen.

Er hockte sich an die Böschung und beobachtete den schmalen Trampelpfad, den sie hochgekommen waren, während er hinter sich lauschte und versuchte zu ergründen, was Lauri gerade durchmachte.

Dieser scheiß Spiegel. Lauris Reaktion war eindeutig gewesen. Viktor war ein machtgeiles Arschloch. Arian wollte sich nicht ausmalen, wie viele junge Männer und Frauen er schon vor diesem verfickten Spiegel vergewaltigt hatte, ihn selbst eingeschlossen.

Nach einer Weile hörte er nur mehr den humpelnden Gang von Lauri hinter sich und blickte überrascht auf, als dieser sich neben ihm niederließ.

„Danke.“

Arian nickte nur.

Eine Weile schwiegen sie.

Schließlich war es Lauri, der das Schweigen brach.

„Finn darf das nicht erfahren. Niemand, hörst du?!“

Überrascht sah Arian ihn von der Seite an. „Aber …“

„Kein aber! Er … ich will nicht, dass er davon weiß!“

Arian knirschte mit den Zähnen.

„Er ist dein Freund! Er muss das wissen!“

Lauri legte den Kopf auf seinen angezogenen Knien ab, so dass sein Gesicht unter den dichten Locken verschwand.

„Ich kann nicht. Ich … warum habe ich mich nicht gewehrt?!“, kam es gedämpft durch den dunklen Haarschopf.

Freudlos lachte Arian auf.

„Vielleicht weil du so schlau warst, es nicht noch schlimmer zu machen?“

Lauri hob den Kopf und sah ihn fragend an.

Arians Blick schweifte wieder in die Ferne. Sein Kiefer arbeitete. Er haderte mich sich, eigentlich wollte er die Bilder von früher auch nicht wieder aufwärmen, aber irgendwie fühlte er sich Lauri gegenüber schuldig. Ohne ihn wäre Lauri gar nicht hierher zurückgekehrt und hätte schon gar nicht an Viktors Tür geklopft. Warum zum Teufel hatte er das überhaupt getan?!

„Hat er dir erzählt, dass er seine „Ware“ testet? Tja, nicht nur einmal. Er führt regelmäßig „Qualitätskontrollen“ durch. So nennt er das. Einmal hatte ich keinen Bock mehr auf den Scheiß. War ne verfickt beschissene Idee, sich zu wehren. Seine beiden kleingeistigen Leibwächter haben … ach, vergiss es.“

Arian blinzelte energisch die Tränen weg, die sich in seinen Augenwinkeln sammelten. Darüber hatte er auch noch nie mit jemandem gesprochen.

„Also … am besten packst du deinen Kram zusammen und gehst mal schnell zu Finn und zu deinen Freunden zurück. Tut mir leid, dass ich dich in diese Lage gebracht habe. Du hättest nicht herkommen sollen!“

Arian stand auf.

Lauri sah ihn fassungslos an. Dann stand er ebenfalls auf.

Arian sah ihm an, dass er um Worte rang.

„Du musst nichts sagen“, winkte er ab.

Doch Lauri fasste sich wieder.

„Ich hatte unterschätzt, welchen Einfluss Viktor noch immer auf mich hat.“

Arian schwieg.

„Es tut mir leid. Ich wollte dir da raushelfen, aber offensichtlich bin ich selbst zu schwach, um mich gegen Viktor zur Wehr zu setzen.“

Lauri atmete tief durch. Dann verschränkte er die Arme, wie um sich selbst zu wärmen, und ließ sich wieder auf der Erde nieder.

„Kennst du seine Geschichte?“

„Viktors?“ Arian wurde neugierig. Wusste Lauri mehr als er? Er folgte Lauris Beispiel und setzte sich neben den jungen Mann.

Lauri nickte. „Glaub bloß nicht, dass ich ihn verteidigen will. Er hat eigentlich ähnlich angefangen wie du … und ich. Seine Eltern hat er früh verloren, keine Verwandten, die sich kümmern konnten oder wollten. Aber schon immer ein hübsches Gesicht. Wohin führt das?“ Arian brauchte die Antwort nicht zu geben. Lauri fuhr fort.

„Schätzungsweise ist er denselben steinigen Weg gegangen wie wir und über kurz oder lang macht einen das kaputt. Allerdings hat er früh festgestellt, dass man mehr verdient, wenn man andere für sich arbeiten lässt. Er war damals noch nicht so einflussreich wie heute, aber er hatte schon immer ein sehr einnehmendes Wesen. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber er hat irgendwie die Gabe, andere Menschen um den Finger zu wickeln und einzuschüchtern. Ich war ihm damals ein Dorn im Auge, auch wenn er das nie so deutlich hat raushängen lassen. Er war immer freundlich, zuvorkommend … aber ich hatte schon damals ein ungutes Gefühl bei ihm und wusste, dass ich mich besser von ihm fernhalte. Wir sind uns nur selten und nie völlig allein begegnet, was wahrscheinlich meine Rettung war. Ich hätte einfach nicht gedacht, dass er immer noch diese Wirkung auf mich hat.“

Arian kaute auf seiner Unterlippe.

„Tja … und was machen wir jetzt?“

„Ich bin ehrlich. Ich weiß es nicht. Aber ich möchte nicht, dass du das weitermachen musst.“

Arian biss sich noch ein bisschen fester auf die Lippe, um nicht loszuheulen. Dieser kleine unscheinbare Satz drückte so viel aus und hatte irgendwie eine Art Ventil geöffnet.

Nein, er wollte das auch nicht. Nicht mehr. Insbesondere nicht, seitdem er gesehen hatte, dass es auch ein anderes Leben geben könnte, auch für ihn.

Lauri sah ihn traurig von der Seite an und sprach es aus: „Und wenn du ehrlich bist, willst du das auch nicht!“

Lauri hatte es geschafft. Er hatte den Wall, den Arian mühsam aufgebaut hatte, einfach niedergerissen.

Lauri

Arian weinte. Zuerst versuchte er, es zu unterdrücken, aber er schafft es nicht und schlussendlich liefen die Tränen.

Lauri hätte am liebsten mitgeheult. Er hatte das alles schon durch, auch wenn die Vergewaltigung durch Viktor die alten Wunden noch einmal brutal aufgerissen hatten. Er wusste noch zu gut, wie es sich angefühlt hatte, an genau diesem Punkt anzukommen, wenn man feststellt, dass man so nicht weitermachen kann und will.

„Komm einfach mit!“

„Er findet mich!“

„Und dann?“

„Schleift er mich zurück und …“

„Das werden wir verhindern!“

„Ach ja?“ Arian blickte ihn aus feuchten Augen wissend an.

„Würdest du das immer noch verhindern, wenn er stattdessen droht, Finn etwas anzutun?“

Lauri erwiderte Arians Blick und zog den Jungen in eine schützende Umarmung fest an sich.

„Wie ich schon sagte: Wir werden das verhindern!“

Finn

Er brütete über den Inventurlisten. Sein Kopf rauchte. Wahrscheinlich war die Luft hier drin mittlerweile auch zu stickig. Müde rieb er sich die Augen. Trotzdem wollte er noch fertig werden, bevor es zu dunkel sein würde, um die Zahlen zu erkennen.

Wie so oft schon legte Lauri plötzlich von hinten die Arme um ihn. Trotz des Knies war er immer noch nahezu lautlos unterwegs, wenn er das wollte. Vielleicht war Finn aber auch zu konzentriert gewesen, um irgendetwas zu hören. Lauri grub sein Gesicht in Finns wirres, blondes Haar und Finn lehnte sich entspannt nach hinten gegen seinen Freund.

„Da bist du ja endlich. Ich hab mich schon gefragt, wo du so lange steckst!“ Er drückte Lauris Arm und richtete seinen Blick nach oben. Lauri atmete tief ein. Auf Finns Lippen stahl sich ein Lächeln. Er drehte sich in Lauris Umarmung und griff seinerseits in Lauris dunkle Locken, um dessen Gesicht zu sich heranzuziehen. Lauris Augen blieben geschlossen, als sich ihre Lippen trafen.

Finn fuhr mit den Fingerspitzen über Lauris Wangen. Aufmerksam beobachtete er seinen Freund, der nun doch die Augen geöffnet hatte und ihn mit einem undefinierbaren Blick anschaute.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Finn misstrauisch. Sein Blick fiel auf die Wunde an Lauris Augenbraue. Vorsichtig strich er mit einem Finger darüber. „Was ist passiert?“

Er stand auf und kam um den Hocker herum, auf dem er gesessen hatte. Lauris Lippen verzogen sich kurz zu einem freudlosen Lächeln. „Später …“, murmelte er und zog seinen verwirrten Freund wieder an sich. In einer engen Umarmung taumelten beide in Richtung des Schlaflagers, bis Lauri dagegen stieß. Zwischen einigen verzweifelt wirkenden Küssen versuchte Finn, das Wort zu ergreifen.

„Lauri … was …?“ Aber Lauri erstickte seine Fragen mit seinen Lippen und schüttelte leicht den Kopf.

Er zog Finn über sich auf das Lager. „Ich brauche dich jetzt einfach, in Ordnung?“

Hastig wühlte er sich durch Finns Kleidung.

„Bitte schlaf mit mir!“

Finns Atem hatte sich ebenfalls beschleunigt, dennoch hielt er erneut kurz inne und mit Blick auf Lauris Augenbraue fragte er: „Bist du sicher, dass das gerade eine gute Idee ist?“

Lauris Verhalten irritierte ihn. Mal abgesehen davon, dass es eigentlich eher selten dazu kam, dass Finn den aktiven Part übernahm, wirkte Lauri aktuell ziemlich aufgewühlt. Irgendetwas musste vorgefallen sein, was Lauri ihm zum momentanen Zeitpunkt wohl nicht erzählen wollte.

„Ja, bin ich!“, erwiderte Lauri kurz angebunden und presste seine Lippen erneut auf die seines Freundes.

Finn war hin- und hergerissen. Eigentlich hätte er lieber zuerst gewusst, was mit Lauri los war. Andererseits …

Finns Körper sank schwer auf Lauris Brust. Sein Puls beruhigte sich langsam und er genoss die enge Umarmung seines Freundes.

Auch Lauris Atemzüge wurden wieder tiefer und gleichmäßiger. Er fuhr sanft durch Finns Haare und spielte mit einzelnen Strähnen.

„Ich war bei Viktor.“

„Bei diesem Zuhälter?“

Lauri atmete tief ein.

„Ja … er …“, er zögerte.

Finn rappelte sich auf, auch wenn er spürte, dass Lauri ihn am liebsten festgehalten hätte.

Lauris Augen erschreckten ihn und Lauri versuchte nun, Finns Blicken auszuweichen. Er fuhr sich selbst durch die dunklen Locken und rieb seine Schläfen. Finn wartete. Er wusste, dass es keinen Sinn ergab, Lauri zu irgendetwas zu drängen.

Lauri

Er rang mit sich. Finn wusste ohnehin, dass irgendetwas vorgefallen sein musste. Er konnte seinem Freund nichts vormachen, aber er wollte eigentlich nicht darüber sprechen.

Finn schwieg, worüber Lauri sehr dankbar war. Wenn er ihn nur nicht so anstarren würde.

„Er hat … mich vergewaltigt.“ Die Stille war erdrückend, aber nur kurz.

So sehr Finn sich eben noch zurückgehalten hatte, umso mehr brach es jetzt aus ihm heraus.

„Er hat was?! Lauri! Oh … mein Gott!“ Er griff vorsichtig nach Lauris Schultern, um die Hände Sekunden später wieder zurückzuziehen.

„Was … scheiße! Wie? Oh mein Gott! Bist du … ok?“ Zärtlich nahm Finn Lauris Gesicht in beide Hände. „Und warum sagst du das erst jetzt? Oh Gott. Hab ich dir wehgetan? Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich doch niemals …“

„Ja“, unterbrach Lauri ihn. „Das ist der Punkt. Dann hättest du nicht mit mir geschlafen.“

Finn schwieg fassungslos und versuchte förmlich, aus Lauris Gesicht herauszulesen, was gerade in seinem Kopf vorging.

Aber Lauri konnte das kaum selbst in Worte fassen.

„Und nein, du hast mir nicht wehgetan. Du …“ Lauri strich Finn eine Strähne aus dem Gesicht, dann lehnte er seine Stirn an die seines Freundes.

„Ich … ich wollte mich daran erinnern, dass es auch anders sein kann. Mit dir.“

Als er wieder aufsah, erkannte er, dass Finn Tränen in den Augen hatte.

„Oh bitte, wein jetzt nicht! Es ist ok. Ich … ich bin ok.“

„Scheiße Lauri … was machen wir denn jetzt?“

Lauri schwieg einen kurzen Augenblick. Dann schüttelte er leicht den Kopf.

„Gar nichts.“

„Gar nichts?“

„Gar nichts!“

Finn

Er starrte Lauri an und biss sich dabei auf die Unterlippe. Schließlich seufzte er, stand auf und füllte am Tisch zwei Becher. Obwohl er Lauri nun schon gut drei Jahre kannte, alle erdenklichen Veränderungen an seinem Freund miterlebt hatte, war er zeitweise immer noch schockiert darüber, wie abgeklärt Lauri manchmal wirkte.

„Hier.“ Er drückte Lauri einen der Becher in die Hand, als er sich wieder neben seinem Freund niederließ, der sich mittlerweile eine Decke um die Hüfte geschlungen und sich gänzlich aufgesetzt hatte.

„Danke.“

Sie tranken eine Weile schweigend.

„Warum warst du bei ihm?“

„Ich dachte, in einem Anflug von Größenwahn, ich könnte ihn dazu bringen, Arian freizugeben.“

Finn beobachtete Lauri von der Seite, der nachdenklich in seinen Becher stierte.

„War wohl nicht so erfolgreich der Versuch?“

Lauri schüttelte den Kopf.

„Nein. Viktor hat mir sehr deutlich gezeigt, an welcher Stelle ich stehe.“

Finn biss sich auf die Zunge, weil ihm sonst wieder Tränen in die Augen geschossen wären. Zaghaft hob er die Hand, unsicher, ob Lauri derzeit überhaupt berührt werden wollte.

Lauri bemerkte das Zögern und lächelte seinen Freund aufmunternd an.

„Ich … darf ich … möchtest du überhaupt, dass …?“

„Ach Finn! Du darfst mich immer anfassen.“

Finn nickte und legte den Arm um seinen Freund, zog ihn an sich, so dass Lauris Kopf an seiner Schulter lehnte.

„Hat er dich verletzt? Also …“

„Körperlich? Nein, nicht sehr. Außer hier an der Stirn. Ihm ging es eher darum, mich zu demütigen, nehme ich an.“

Lauri

Überraschenderweise tat es doch gut, mit Finn darüber zu reden. Er wollte jetzt nur nicht von seinem Freund wie ein rohes Ei behandelt werden.

„Ich habe Arian aber trotzdem mit hergebracht.“

„Ich dachte, Viktor hat ihn nicht gehen lassen?“

„Ja, aber das kann ja so nicht weitergehen. Arian musste da weg.“

„Mh, in Ordnung.“

„Arian hat Angst. Er befürchtet, dass Viktor ihn sucht und auch findet.“

„Und ist die Angst berechtigt?“

„Wahrscheinlich schon.“

Wieder schwiegen sie einen Moment. Lauri wusste selbst, dass er ein großes Risiko eingegangen war, als er Arian einfach mitgenommen hatte. Eigentlich war Viktor ja äußerst deutlich gewesen. Lauri hatte den Zuhälter nun quasi herausgefordert.

„Hast du einen Plan?“, fragte Finn schließlich zaghaft.

Lauri presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.

„Nein, absolut gar keinen. Aber ich denke, wir müssen mit Lias und Robin darüber reden. Sie müssen gewarnt sein, falls Viktor oder seine Leibwächter hier auftauchen.“

Finn atmete schwer aus und Lauri wusste, was in seinem Kopf vorgehen musste.

Ob das jemals aufhören würde … ?

„Hi … wir müssen reden!“

Lias, Robin, Marlon und Arian saßen am Tisch beim Abendessen, als Lauri und Finn hineinplatzten.

Vier Augenpaare waren auf sie gerichtet. Lias stand sofort auf und bot den Freunden einen Platz am Tisch an.

„Kommt rein. Wollt ihr auch noch was essen?“

Finn schüttelte den Kopf.

Lauri fing Arians Blick auf. Ja, jetzt wurde es ernst. Arian wusste das. Er schob den Teller von sich.

Die beiden jungen Männer setzten sich zu ihren Freunden an den Tisch.

„So ernst?“ Robin hob fragend eine Augenbraue und lächelte sie aufmunternd an.

Lauris Blick fiel auf Marlon, der von allen am verwirrtesten aussah.

„Marlon, vielleicht …“

„Nee, vergiss es! Immer schmeißt ihr mich raus und schließt mich aus. Ich bin kein Kind mehr, ok? Ich bleibe hier!“

Trotzig verschränkte der Junge die Arme vor der Brust und lehnte sich demonstrativ nach hinten.

Lias legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. „Na schön, vielleicht hat Marlon Recht.“

Lauri zuckte mit den Schultern, aber er nickte.

„Also, was ist los?“, fragte Lias und drehte seinen Becher zwischen den Händen.

Lauri atmete tief durch. „Wo fange ich am besten an…?“

Arian unterbrach ihn. „Am besten bei mir.“ Alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Die Selbstsicherheit, die er sonst so gern zur Schau stellte, war wie weggeblasen. Er wirkte fast ein bisschen blass um die Nase.

„Na ja … eigentlich wisst ihr ja alle schon, was ich … mache.“ Er räusperte sich. Lauri lächelte ihm ermutigend zu.

„Ich … bin nur … also ich arbeite für jemanden.“ Er kam ins Straucheln und Lauri übernahm.

„Er heißt Viktor. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat, aber er hat zig Jungen und Mädchen unter sich, die er ausnutzt. Ich kenne ihn noch von früher, auch wenn ich das Glück hatte, nicht in seinem Dunstkreis zu landen. Arian will aussteigen, aber das ist bei Viktor nicht so einfach.“

Lauri machte eine kurze Gedankenpause. In Finns Blick konnte er die Frage erkennen, wie viel er den Freunden nun erzählen würde.

„Ich, ich war bei Viktor. Ich dachte, ich könnte ihn dazu bringen, Arian gehen zu lassen.“

Robin räusperte sich. „Klingt, als wärst du nicht so erfolgreich gewesen.“

„Aber Arian ist doch hier?! Also alles gut, oder nicht?“, warf Marlon ein.

Lauri schüttelte den Kopf. „Nein. Viktor hat mir unmissverständlich klar gemacht, dass er Arian nicht so einfach ziehen lässt. Ich habe ihn aber trotzdem mitgenommen.“

Lauri zögerte einen Moment.

„Ich fürchte, ich hab Viktor eine Kriegserklärung hinterlassen.“

Lias lehnte sich nachdenklich zurück und warf einen Blick auf Arian, der schuldbewusst seine Hände anstarrte, die auf dem Tisch lagen.

„Tut mir leid, euch da mit reinzuziehen. Ich dachte nur, ihr solltet das wissen …“, erklärte Lauri.

„Nein, alles in Ordnung! Du hast schon richtig gehandelt!“, beruhigte Lias ihn.

„Arian ist ein Freund von Marlon, also gehört er praktisch zur Familie.“ Er lächelte den Jungen freundlich an.

Robin war wie immer am pragmatischsten. „Was denkt ihr, wann müssen wir mit einer Reaktion von Viktor rechnen?“

Arian meldete sich zu Wort. „Er erwartet normalerweise, dass ich freitags das Geld vorbeibringe.“

„Das wären noch drei Tage“, rechnete Robin.

„Ja, aber nach gestern kann ich mir gut vorstellen, dass er schon früher bemerkt, dass Arian weg ist. Und er wird wissen, dass er bei mir ist“, warf Lauri ein.

Arian

Es war seltsam, dem Gespräch der Freunde zu lauschen. Zu hören, wie sie über ihn sprachen. Freund, Familie … Worte, die es lange in Arians Wortschatz nicht gab. Sie brachten sich in Gefahr für ihn. Sie alle, obwohl sie ihn doch kaum kannten. Wie sollte er das jemals wieder gutmachen? Und wie sollte er damit leben können, wenn einem von ihnen etwas zustoßen würde? Wegen ihm …

„Entschuldigt Leute, aber ich glaube, ich kann das nicht.“ Er war aufgestanden.

„Ich denke, ich gehe lieber wieder zurück und … mach einfach weiter.“

Jetzt starrten ihn fünf Augenpaare ungläubig an. Marlon war ebenfalls aufgesprungen und packte ihn am Arm.

„Bist du bescheuert?“

„Nein. Das war einfach eine total blöde Idee. Entschuldige Lauri … nochmal. Vielen Dank für eure Mühe, wirklich, aber ich kann das nicht verantworten, euch da reinzuziehen.“

„Lias!“, wandte Marlon sich hilfesuchend an seinen Bruder.

Lias erhob sich ebenfalls.

„Arian, das ist doch Unfug! Natürlich bleibst du!“

„Aber …“

„Kein Aber! Wir sind alle …“ Lias warf einen kurzen Seitenblick auf seinen kleinen Bruder, bevor er weitersprach: „… erwachsene Menschen und ich denke, wir sind uns einig, dass wir dir helfen wollen und uns der Risiken durchaus bewusst sind.“

„Außerdem sind wir schon mit anderen Idioten fertig geworden!“, grinste Marlon triumphierend.

„Also setz dich wieder!“ Damit drückte der Junge seinen Freund wieder auf den Schemel und nahm auch selbst wieder Platz.

Verdammt, dieser Heile-Welt-Quatsch hier trieb Arian fast die Tränen in die Augen. Wieso waren die alle so?! Die benahmen sich wirklich wie eine große, glückliche Familie. Wahrscheinlich weil sie eine sind, dachte Arian zerknirscht, wobei ihm im nächsten Moment in den Sinn kam, dass sie ihn aufgenommen hatten und er möglicherweise sogar ein Teil dieser Familie sein konnte. Konnte er?

„Aber, was machen wir, wenn Viktor hier auftaucht?“, fragte er kleinlaut.

Die Männer sahen sich nachdenklich an.

„Wie ist dieser Viktor denn so drauf? Ich kenne ihn ja nicht. Ist das mehr so ein Typ wie Luca oder Colin?“, fragte Robin und schenkte den Freunden etwas Wein nach.

Lauri schüttelte den Kopf. „Nein, so ist er nicht. Du wirst wahrscheinlich überrascht sein, wenn du ihn das erste Mal siehst und mit ihm sprichst. Er ist charmant, wortgewandt, höflich … zumindest meistens. Er hat die Gabe, Leute um den Finger zu wickeln.“

„Ich lass mich nicht so leicht um den Finger wickeln. Dann reden wir doch einfach mit ihm!“, platzte Marlon dazwischen.

Arian und Lauri warfen sich vielsagende Blicke zu.

„So einfach ist das nicht …“, begann Lauri. „Ist ja nicht so, dass ich das nicht schon versucht hätte.“

„Ja, aber wie darf ich mir das vorstellen? Du bist zu ihm hin und fragst: ‚Lässt du Arian bitte gehen!’ Er sagt: ‚Nö!’ Und du sagst: ‚Ok!’ Und haust wieder ab?“ Marlon redete sich richtig in Rage.

Finn rutschte etwas unruhig hin und her. Lauri hatte ihm sicher doch die ganze Geschichte erzählt. Er sah aus, als würde er Marlon gleich ins Gesicht springen. Aber Lauri war die Ruhe in Person. Arian sah, wie er Finn beruhigend eine Hand auf den Oberschenkel legte.

„Nein, so war es nicht.“

„Ach ja, wie denn dann?“

Lauri schwieg. Aber auch Robin und Lias sahen den Lockenkopf fragend an.

„Du weißt nicht, wie er ist, bis du ihn kennengelernt hast.“

Arian erkannte den Schmerz in Lauris Augen.

Marlon scheinbar nicht.

„Meine Güte, was ist los mit dir, Lauri? Hast du Angst vor dem Kerl, oder was? Du bist doch sonst nicht so. Hat er dir ein paar reingehauen?“

„Er hat mich vergewaltigt, wenn du es genau wissen willst.“

Wow, das hatte gesessen. Außer Finn, der einfach nur äußerst bedrückt aussah, standen den anderen Jungs die Münder offen.

„Oh“, war zunächst alles, was Marlon rausbrachte.

„Oh … ich … scheiße. Lauri, tut mir leid … ich …“

Lauri winkte ab.

„Vergiss es“, antwortete er kopfschüttelnd. „Tut auch nichts zur Sache. Ich sage nur, unterschätzt Viktor nicht, weil er sich nach außen hin freundlich und nett gibt.“

Arian schluckte. Dass Lauri die ganze Geschichte jetzt doch so vom Tisch wischte, überraschte ihn. Aber gut, er wollte offensichtlich nicht weiter auf das Thema eingehen, verständlicherweise.

Also knüpfte Arian an. „Er hat auch zwei Leibwächter. So zwei hässliche und verblödete Vollidioten, die ihn auf Schritt und Tritt begleiten.“

Lauri nickte. „Er ist körperlich nicht unbedingt stark. Wenn es nur darum ginge, könnte ich es mit ihm aufnehmen. Robin auf jeden Fall. Aber es ist auch nicht seine Körperkraft, die ihn gefährlich macht.“

Lias und Robin hatten sich wieder einigermaßen gefangen. Marlon saß wie ein Häufchen Elend auf seinem Hocker und schämte sich wahrscheinlich gerade in Grund und Boden, weil er Lauri so angegangen war.

Robin räusperte sich. „In Ordnung … das heißt jetzt für uns? In welcher Hinsicht sollten wir uns vor ihm in Acht nehmen?“

„Seid nicht mit ihm alleine! Er würde Mittel und Wege finden, euch so fertig zu machen, dass ihr alles tut, was er sagt. Ich schätze, zusammen haben wir ganz gute Chancen.“

Arian fuhr es bei Lauris Worten eiskalt den Rücken herunter. Aber er hatte Recht. Genau so war es.

Lauri

Die Tage gingen nur schleppend vorbei. Die Stimmung blieb gedrückt. Alle warteten, wie vor einem drohenden Gewitter. Keiner wusste, wann es genau über sie hereinbrechen würde.

Besonders Arian schlich wie ein geprügelter Hund durch das Dorf, da er sich für all das verantwortlich fühlte.

Es klopfte zaghaft.

„Darf ich reinkommen?“

„Natürlich!“ Lauri bot Arian mit einer lockeren Handbewegung einen Sitzplatz an.

Allerdings trat der Junge lediglich ein und streifte dann wie ein gefangenes Tier im Käfig durch den Raum.

Eine Weile sah Lauri sich das mit verschränkten Armen an, bis er Arian sanft festhielt und auf die Bank drückte.

„Setz dich! Das kann man ja nicht mit ansehen.“

Er stellte zwei Becher auf den Tisch.

„Was ist los? Du siehst schlecht aus, wenn ich das so sagen darf.“

Wenn er ehrlich war, sah Arian sogar schlechter aus, als zu den Zeiten, in denen er geprügelt und verletzt in Lauris Hütte geschlichen kam.

Er war blass und dunkle Augenringe ließen ihn älter wirken, als er war.

Fahrig fuhr er sich immer wieder durch das Gesicht und die Haare und wenn seine Hände doch einen Moment untätig waren, zitterten sie.

Arian presste zuerst fest die Lippen aufeinander, doch dann platzte es aus ihm heraus.

„Ich glaube, das war eine scheiß Idee!“

Lauri füllte ruhig die beiden Becher und schob einen davon über den Tisch, bevor er antwortete.

„Was genau meinst du?“

„Viktor herauszufordern!“ Arian umklammerte den Becher, ohne daraus zu trinken.

„Ich halte das nicht aus. Diese Ungewissheit … Ich habe Angst, Lauri. Wirklich eine scheiß Angst!“

„Ich weiß, aber du bist nicht allein! Wir …“

„Nein!“ Arian unterbrach ihn. „Nein, ich meine … ich hab Angst … um euch.“

Lauri konnte erkennen, wie sehr Arian mit sich selbst kämpfen musste. Die Tränen waren ihm in die Augen geschossen, auch wenn er tapfer versuchte, diese wegzublinzeln.

„Ich wollte euch nie da mit reinziehen. Das wäre nicht fair. Das ist nicht fair. Ihr habt alle selber schon genug Scheiße erlebt und hättet es verdient, in Ruhe und Frieden zu leben …“

Die letzten Worte gingen fast unter, da Arian sich nicht mehr zusammenreißen konnte. Seine Schultern bebten unter den Schluchzern. Lauri nahm den Jungen instinktiv in den Arm und hielt ihn einfach nur fest, bis das Beben abebbte.

Das war einer dieser Momente, in denen Lauri nochmal schmerzlich bewusst wurde, wie jung Arian eigentlich noch war. Er wirkte so zerbrechlich. Er war noch so sehr Kind.

Lauri konnte nicht anders, als sich an Finn zurückzuerinnern. Wie viel konnte ein Mensch ertragen, bis er daran zerbrach?

„Und warum denkst du, dass du es weniger verdient hättest, in Ruhe und Frieden zu leben?“

Langsam rückte Arian von ihm ab. Beschämt wischte er sich durchs Gesicht.

„Ich, ich sollte einfach zurückgehen. Es ist sicher noch nicht zu spät. Viktor wird sauer sein, er wird … mich sicher bestrafen. Aber damit wäre das Thema abgehakt.“

In Lauri kam die Wut wieder hoch. „Viktor wird dich nie wieder anrühren! Dafür werde ich sorgen!“

Arian taxierte Lauri, während er auf seiner Unterlippe kaute.

„Ich will dir nicht zu nahe treten, Lauri, aber das letzte Mal, als du dafür sorgen wolltest …“

„Ich weiß! Aber diesmal sind wir nicht allein. Die anderen stehen auch hinter uns. Viktor hat nur dann Macht über uns, wenn wir denken, dass wir allein sind. Und das bist du nicht. Nicht mehr!“

Arian schluckte.

Lauri drückte aufmunternd seine Hand. „Glaub mir, ich musste das auch erst lernen.“

Marlon

„Warum müssen wir eigentlich immer die blöden Arbeiten erledigen?“, murrte Marlon.

„Irgendwer muss es ja machen“, grinste Arian halbherzig und stellte den schweren Sack voller Kartoffeln ab, bis Marlon zu ihm aufgeschlossen hatte.

Missmutig schleppte Marlon seinen Kartoffelsack weiter, bis ihm Arians Körperhaltung auffiel.

Sein Freund war plötzlich wie angewurzelt stehen geblieben. Sein Gesicht war mit einem Mal kreidebleich.

Marlon folgte seinem Blick und entdeckte einen fremden Mann, der genügsam durch das Dorf spazierte und dabei direkt auf die beiden Jungen zukam.

„Viktor!“, flüsterte Arian, dabei hätte er nichts sagen müssen. Marlon hatte es sich schon gedacht.

Abwartend stellte er sich neben seinen Freund. Arian musste nicht alleine auf diesen Viktor treffen.

Der Zuhälter schlenderte lächelnd auf die Jungen zu, bis ihn nur noch zwei Meter von ihnen trennte.

Marlon spürte die Anspannung seines Freundes.

Schließlich ergriff der Fremde das Wort.

„Nett habt ihr es hier!“ Demonstrativ sah er sich erneut im Dorf um. „So … rustikal, nicht wahr?!“

Er setzte ein besorgtes Gesicht auf und Marlon kam nicht umhin zu erkennen, was Lauri und Arian gemeint hatten. Dieser Mann war freundlich, aber etwas Bedrohliches ging von ihm aus.

„Aber die Landluft bekommt dir nicht gut. Du siehst nicht gut aus, Arian!“

Der Zuhälter hatte einen weiteren Schritt auf Arian zugemacht und die Hand gehoben, wie um seinem Zögling sanft über die Wange zu streicheln.

Marlon schob sich mutig dazwischen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Lassen Sie Arian in Ruhe!“

Blitzschnell setzte der Fremde wieder ein charmantes Lächeln auf. Weiße, gerade Zähne blitzten Marlon entgegen.

„Entschuldige, wie unhöflich von mir. Ich habe es versäumt, mich vorzustellen.“

Er streckte Marlon eine Hand entgegen, die dieser ignorierte, was Viktor wiederum gekonnt überspielte.

„Mein Name ist Viktor, ich …“

„Ich weiß, wer Sie sind!“

„Schön. Und mit wem habe ich die Ehre?“

Marlon zögerte einen Moment, bevor er antwortete.

„Ich bin Marlon.“

„Hallo Marlon, schön, dich kennenzulernen.“

Es war schwierig, die abweisende Haltung aufrechtzuerhalten, wenn Viktor so scheiß freundlich blieb.

„Und du bist ein Freund von Arian, mh?“

„Ich bin sein bester Freund! Und Sie sollen ihn in Ruhe lassen!“

„Sein bester Freund also. Arian, du hast mir noch gar nichts von deinem hübschen Freund erzählt.“

Marlon spürte, dass Arians Anspannung wuchs.

Gleichzeitig schwand Marlons Selbstsicherheit. Wie sollte er es nur schaffen, Viktor loszuwerden?

„Was wollen Sie hier?“

„Oh, das ist einfach, hübscher Marlon. Ich bin gekommen, um Arian abzuholen. Da er es versäumt hat, sich vor drei Tagen, wie verabredet, bei mir zu melden.“

Marlon fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.

„Aber vielleicht möchte Arian gar nicht mehr für Sie arbeiten?“

Wieder das charmante Lächeln, doch Viktors Augen blieben kalt, was Marlon eine Gänsehaut verursachte.

„Arian ist allerdings einen Vertrag mit mir eingegangen. Was ein Vertrag ist, weißt du doch, oder?“

Marlon nickte.

Unsicher drehte er sich zu Arian um, als erhoffte er sich von seinem Freund Unterstützung. Doch Arian stand immer noch blass und versteinert, mit aufeinander gepressten Lippen hinter ihm.

„Vielleicht möchtest du Arian ja auch begleiten?“

Viktors Stimme hatte nun einen schmeichelnden Unterton angenommen. Die Gänsehaut bei Marlon

blieb.

„Die Jungen gehen nirgendwohin.“

Erleichtert atmete Marlon aus, als er Robins warme, starke Hand auf seiner Schulter spürte und dessen kräftige Stimme hörte.

Viktor war wieder einen Schritt zurückgewichen.

„Nun gut, für Marlon mag das stimmen“, räumte Viktor ein.

„Nein, beide Jungen bleiben hier. Aber Sie sollten jetzt verschwinden.“

Viktor schien abzuwägen, ob er sich wirklich mit Robin anlegen sollte.

Auf seinem Gesicht regte sich jedoch keine Miene.

„Na schön. Ich denke, es wäre allerdings notwendig, dass ich noch ein Wort mit Lauri wechsele.“

„Nein, ich denke nicht. Es ist lediglich notwendig, dass Sie auf der Stelle meinen Grund und Boden verlassen.“

Marlon war begeistert, wie souverän Robin mit Viktor umging. Und es schien zu wirken.

Viktor setzte zwar wieder sein Lächeln auf und ein Funkeln seiner grauen Augen galt Arian, dennoch hob er beschwichtigend die Arme und setzte sich rückwärtig in Bewegung.

„Gut, ich gehe. Allerdings ist das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen. Einen schönen Tag wünsche ich.“ Damit drehte er sich um und verließ den Hof.

Erleichtert drehte Marlon sich zu Arian und Robin um.

„Oh Mann, Robin. Gut, dass du gekommen bist.“

Aufmunternd drückte Robin Marlons Schulter, bevor er sich Arian zuwandte.

„Alles in Ordnung?“

Arian, immer noch blass um die Nase, nickte zaghaft.

„Kommt erst mal mit rein.“ Robin schulterte ohne Anstrengung die beiden liegengebliebenen Kartoffelsäcke und schob die beiden Jungen vor sich her ins Haus.

Lauri

„Klopf, klopf!“

Die Stimme ließ Lauri einen eiskalten Schauer über den Rücken fahren. Als er sich herumdrehte, stand Viktor in der offenen Tür und lächelte sein bekannt charmantes Lächeln.

„Darf ich reinkommen?“

Lauri war schon lange nicht mehr so schnell an der Tür gewesen. Selbstbewusster, als er es von sich selbst erwartet hatte, stellte er sich dem Zuhälter in den Weg.

„Nein.“

Viktor zuckte nicht einmal mit der Wimper.

„An eurer Gastfreundschaft müsst ihr hier definitiv noch arbeiten.“

„Was willst …“

„Oh Lauri.“ Viktor unterbrach ihn scharf und seine Stimme war hart und kalt geworden. Gefährlich.

„Frag mich ja nicht, was ich hier will!“

Lauri schwieg. Nun gut, warum Viktor hier war, war ihm allerdings wirklich klar.

„Wenn man es genau nimmt, hast du mich bestohlen. War ich letzte Woche vielleicht nicht deutlich genug?“

„Doch, das warst du.“

„Dann erkläre mir doch bitte, was dich dazu bewogen hat, Arian trotzdem einfach mitzunehmen?“

Lauri dämmerte es, dass Viktor bisher wahrscheinlich wenig bis gar keine Gegenwehr erfahren hatte.

„Arian möchte nicht mehr für dich arbeiten.“

„Und neuerdings kann jeder machen, was er will?! Arian ist mit mir einen Vertrag eingegangen. Er gehört mir, so lange, bis ich ihn freigebe.“

„Dann gib ihn frei!“ Lauri war selbst überrascht über seine Selbstsicherheit. In seinen eigenen vier Wänden fühlte er sich Viktor irgendwie weitaus weniger ausgeliefert.

Der Zuhälter lachte freudlos auf.

„Solange Arian mir gutes Geld einbringt, geht er nirgendwohin. Es sei denn, du bietest mir eine andere Einnahmequelle. Soll ich stattdessen den hübschen Marlon mitnehmen? Oder das kleine Mädel, das so freundlich war, mir den Weg zu dir zu weisen?“

„Du wirst niemanden mitnehmen.“

Viktor presste die Lippen aufeinander und taxierte sein Gegenüber. Wahrscheinlich war auch er überrascht, wie Lauris Verhalten sich zu ihrem letzten Aufeinandertreffen verändert hatte.

„Lauri, kannst du mir mal hierbei helfen?“

Finn kam nichtsahnend mit einem Pergament in der Hand um die Ecke.

Als er Viktor sah, blieb er abrupt stehen.

„Oh, hallo.“

Für einen kurzen Moment hielt Lauri die Luft an. Er hätte ein Zusammentreffen der beiden Männer gerne vermieden.

Viktor schaltete genauso schnell, wie von Lauri befürchtet.

Mit seinem einstudierten Lächeln wendete er sich Finn zu.

„Hallo, noch so ein Hübscher.“

Das unerwartete Kompliment sorgte bei Finn prompt für gerötete Wangen.

Viktor drehte sich mit einem triumphalen Grinsen zu Lauri um.

„Dein Freund, nehme ich an. Einen guten Geschmack hast du ja. Das muss man dir lassen.“

Spätestens jetzt musste Finn auch wissen, mit wem er es zu tun hatte.

Der Zuhälter wandte sich wieder dem blonden jungen Mann zu und streckte ihm seine Hand entgegen.

„Freut mich, dich kennenzulernen!“

Eine lange vergessene Wut stieg in Lauri hoch. Die Emotion war so mächtig, dass sie jegliche Angst vor Viktor überdeckte.

„Fass ihn nicht an!“, fauchte er Viktor an und stellte sich vor seinen Freund.

Das überhebliche Grinsen auf Viktors Gesicht wurde breiter.

„Na sowas … so kenne ich dich gar nicht, Lauri. Sind wir etwa besitzergreifend?“

Er trat einen Schritt näher an Lauri heran, seine Stimme wurde wieder gefährlich leise.

„Vielleicht hilft dir das ja, den Unterschied zwischen ‚mein‘ und ‚dein‘ besser zu verstehen.“

Damit schritt er gemächlich an den beiden jungen Männern vorbei.

„Bis bald, meine Lieben. Wir sehen uns.“ Es klang wie eine Drohung.

Arian

Marlon war völlig euphorisch. Arian hingegen saß angespannt am Tisch und beobachtete, wie Marlon immer wieder zwischen Tür und Kamin hin und her wanderte.

„Und dann sagte Robin: „Nein! Es ist notwendig, dass Sie meinen Grund und Boden verlassen!“ Marlon versuchte, Robin zu imitieren, und brach direkt danach in Gelächter aus.

„Und ihr hättet den Typen sehen sollen. Ich wette, der hat sich vor Angst in die Hose gemacht!“

Arian kaute nervös auf seinen Fingernägeln. Nein, so hatte er Viktors Reaktion nicht aufgefasst, aber auch Robin schien die Situation realistischer einzuschätzen.

„Marlon, jetzt komm mal wieder runter. Ich glaube nicht, dass Viktor Angst hatte. Er hat lediglich eingesehen, dass er in der jetzigen Situation am kürzeren Hebel saß. Das bedeutet gar nichts.“

Der Schmied warf Arian einen nachdenklichen Blick zu.

„Wir warten jetzt auf Lauri und Finn, und dann werden wir uns besprechen. So schnell wird Viktor sicher nicht aufgeben“, stimmte auch Lias zu, der sich die ganze Geschichte gerade hatte schildern lassen.

Lange dauerte es auch nicht, bis die beiden jungen Männer sich ebenfalls im Haupthaus des Hofes einfanden.

„Er war hier! Viktor war hier!“, platzte Marlon sofort heraus.

„Ja, ich weiß. Er war auch bei mir“, erwiderte Lauri zähneknirschend und Robin zog mit Blick auf den überraschten Marlon eine Augenbraue hoch.

„Siehst du, Viktor lässt sich gar nichts sagen.“

Missmutig ließ Marlon sich neben Arian auf die Bank fallen und auch die anderen Männer nahmen am Tisch Platz.

„Was wollte er von dir?“, fragte Lias an Lauri gewandt.

„Mir drohen“, gab Lauri knapp zurück und Arian entging nicht, dass Lauri dabei seinen blonden Freund ansah.

„Was hat er denn gesagt?“, wollte Marlon neugierig wissen.

„Eigentlich nicht viel. Nur, dass ich ihn bestohlen hätte, weil Arian sein Eigentum ist, und dass ich wohl den Unterschied zwischen ‚mein‘ und ‚dein‘ nicht verstünde.“

„Mh und was jetzt? Wie geht es weiter?“ Lias warf die Fragen offen in den Raum. Aber er bekam keine Antwort. Alle grübelten vor sich hin.

Arian hatte wiedermal, oder immer noch, ein schlechtes Gewissen. Das Gefühl konnte er einfach nicht abschütteln, egal wie sehr Lauri oder Marlon ihn bestärkten.

Schließlich ergriff doch wieder Lauri das Wort.

„Ich denke, wir sollten einfach weiter so verfahren wie bisher. Schaut zu, dass ihr euch möglichst nicht allein bewegt. Viktor hat keine ‚Armee‘ wie Luca oder Colin. Er hat seine zwei Leibwächter, ja. Aber selbst mit denen sind wir immer noch in der Überzahl. Ansonsten können wir wohl nur abwarten.“

Arian konnte spüren, dass Lauri selbst nicht zufrieden mit dieser Lösung war, aber was blieb ihnen aktuell anderes übrig, als weiter zu warten. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, wieder tage-, vielleicht wochenlang diese Ungewissheit aushalten zu müssen.

Er war so unglaublich dankbar dafür, in dieser Nacht nicht allein schlafen zu müssen. Auch wenn er sich nur aus Platzgründen das Lager mit Marlon teilte, so war doch der warme Körper neben ihm, von dem die tiefen gleichmäßigen Atemzüge ausgingen, irgendwie tröstlich.

Finn

Lauri wälzte sich die halbe Nacht unruhig hin und her. Finn hatte Viktors Worte durchaus verstanden, wenn er sie auch nur geflüstert hatte. Und ja, Lauri hatte Recht, es war eine Drohung, die ganz sicher Finn galt.

Als Lauri sich erneut von links nach rechts drehte, zog Finn seinen Freund an sich heran und bettete dessen Kopf in seiner Halsbeuge. Lauri schlang augenblicklich die Arme um ihn.

Beruhigend strich Finn seinem Freund über die Schulter und den Rücken.

„Ich weiß, dass du Angst hast“, flüsterte er in die wirren Locken, die ihn im Gesicht kitzelten.

Der Druck der Umarmung verstärkte sich kurzzeitig.

„Erzähle mir von Viktor. Wie ist er so?“

Eine gefühlte Ewigkeit hörte Finn nichts, außer Lauris Atem.

Schließlich begann Lauri doch zu erzählen.

„Er ist machtversessen. Es gefällt ihm, andere Menschen um den Finger zu wickeln, ihre Angst zu sehen. Er will, dass alles nach seiner Pfeife tanzt.“

„Wovor hat er Angst?“

„Keine Ahnung.“ Lauri machte eine Pause. Wahrscheinlich dachte er über die Frage nach.

„Jeder hat doch vor irgendetwas Angst. Vielleicht müssen wir nur seine Schwachstelle herausfinden?“, murmelte Finn müde. Nachdem Lauri nicht mehr quer durch das Bett wühlte, wurde er schläfrig.

„Vielleicht …“, kam es gähnend zurück.

„Bestimmt fällt uns morgen etwas ein.“

„Mh mh …“

Lauri war am nächsten Morgen schon früh unterwegs zu Sylvesters Hütte. Auf dem angrenzenden Hof hatte es wohl einen kleinen Unfall gegeben und Lauris Fertigkeiten als Arzt wurden benötigt.

Finn hatte sich hingegen viel Zeit gelassen mit dem Aufstehen. Er hatte sich vorgenommen, die restlichen Vorräte zu zählen und zu notieren, die Robin, Lias und die Jungs so fleißig ins Lager schleppten. Lias hatte ihn gebeten auszurechnen, welchen Anteil der Ernte sie selbst für die Wintermonate benötigen würden, so dass der Rest in der nächsten Zeit verkauft werden könnte.

Gerade räumte er noch den Tisch ab, um Platz zu schaffen, als er hörte, wie in seinem Rücken jemand durch die Tür trat.

„Hast du noch etwas vergessen?“, lächelnd drehte er sich um, in dem Glauben, seinem Freund gegenüberzustehen. Der Schlag mit dem Knüppel traf ihn daher völlig unerwartet und Schwärze breitete sich aus.

Lauri

Eine gebrochene Rippe und einige Prellungen musste er versorgen. Als der Verletzte sich schließlich wieder auf den Heimweg machen konnte, stand die Herbstsonne schon hoch am Himmel.

Zeit für das gemeinsame Mittagessen.

Lauri wusch sich die Hände und machte sich auf den Weg zu Lias‘ und Robins Hof.

Dort herrschte wie immer geschäftiges Treiben. Die Jungs deckten den Tisch, während Robin am Feuer stand und den Eintopf beaufsichtigte. Lias brachte gerade noch ein paar Holzscheite.

„Wo hast du Finn gelassen?“, fragte Lias im Vorbeigehen.

Perplex blieb Lauri stehen und sah sich kurz um.

„Ich dachte, er wäre bei euch? Er wollte irgendwelche Wintervorräte durchgehen.“

Lias und Robin zuckten entschuldigend mit den Schultern.

„Ja, das wollte er, aber da er bisher nicht aufgetaucht war, nahm ich an, dass er dir assistierte.“

Lauris Puls beschleunigte sich augenblicklich. Da lief etwas ganz gehörig schief.

Er machte auf dem Absatz kehrt und humpelte so schnell er konnte zur gemeinsamen Hütte.

Viktor würde es doch wohl nicht wagen … eine andere Erklärung für Finns Fernbleiben wollte ihm jedoch partout nicht einfallen.

Mit Schwung stieß er die Tür auf und trat in die Stube.

Einen Moment brauchten seine Augen, um sich an das etwas schummrige Licht in der Hütte zu gewöhnen. Alles sah aus wie immer. Keine Anzeichen eines Kampfes.

„Finn?“, rief Lauri. „Bist du da?“

Er bekam keine Antwort. Stattdessen nahm er wahr, dass seine Freunde ihm gefolgt waren und ebenfalls in der Tür standen.

„Finn!“, rief er noch einmal lauter und humpelte noch einige Schritte weiter in die Stube.

Da fiel ihm ein Pergament auf, welches auf dem Tisch lag. Vielleicht hatte Finn ihm eine Nachricht hinterlassen.

„Ist der von Finn? Was schreibt er?“, platzte Marlon heraus.

Lauri hatte den Zettel sofort an sich genommen. Beim Lesen der Worte bemerkte er selbst, wie seine Hände anfingen zu zittern.

„Mein lieber Lauri,

vermisst du etwas, das dir gehört? Sei gewiss, ich werde mich gut um deinen Freund kümmern.

Ich war so frei, die Diskussionsgrundlage etwas ausgeglichener zu gestalten.

Du wirst von mir hören.

Viktor“

Arian

Arians Herz schlug ihm bis zum Hals. Wie Lauri dieses Blatt hielt, wie er zitterte, sein Gesicht wurde blass … das konnte nur bedeuten, dass Viktor seine Hände hier im Spiel hatte.

Erschrocken zuckte er zusammen, als Lauri einen markerschütternden Schrei losließ und begann, vor Wut alles vom Tisch zu fegen, was herumstand.

Robin und Lias zogen die beiden Jungen aus der Gefahrenzone und einen Moment warteten die vier draußen, während Lauri in der Stube wütete. Schließlich nickte Lias jedoch seinem Freund zu und Robin schob sich durch die Tür, um den völlig aufgelösten Lauri zu beruhigen.

Arian rutschte mit dem Rücken an der Hauswand herunter. Er fühlte sich zu schwach, um stehen zu bleiben. Wenn Viktor Finn in seiner Gewalt hatte, dann war das alles definitiv seine Schuld. Aber sei es drum. Vielleicht könnten sie einen Austausch arrangieren?!

Von drinnen hörte er Robins Stimme. Er konnte die Worte zwar nicht verstehen, aber am Klang war erkennbar, dass er versuchte, Lauri zu beruhigen.

Lauris Worte waren umso verständlicher. „Wie kann er es wagen?! Wenn er Finn auch nur ein Haar krümmt, werde ich ihn umbringen!“

Zumindest schmiss er nicht mehr mit Sachen um sich, so dass sich nun auch Lias und Marlon in die Hütte gewagt hatten. Mühsam rappelte Arian sich auf und folgte den Männern. Lauri saß völlig fertig auf dem Boden, Robin hockte neben ihm und hatte Lias und Marlon gerade den Brief gegeben, der Lauris Tobsuchtsanfall ausgelöst hatte. Nachdem sie die kurzen Sätze gelesen hatten, reichte Marlon das Pergament an Arian weiter, der es mit zitternden Händen annahm.

Als er die Worte mühsam entzifferte, kam er nicht umhin, sich daran zu erinnern, dass er nur durch Finns Unterstützung jetzt in der Lage war, diesen Brief überhaupt zu lesen.

Als er vom Pergament aufsah, traf ihn sofort der Blick von Lauris wütend funkelnden Augen.

„Es, es tut mir so leid. Sicher wird Viktor sich auf einen Tausch einlassen. Das ist es doch, was er will.“

Auf Robins Schulter gestützt rappelte Lauri sich langsam hoch.

„Oh nein. Hier wird nichts und niemand ausgetauscht. Aber dafür wird Viktor büßen, das schwöre ich dir!“

Finn

Der hämmernde Kopfschmerz holte ihn langsam zurück aus der Bewusstlosigkeit.

Nur mühsam öffnete er die Augen, denn auch das helle Licht stach wie ein Messer in seinen Schädel. Seine Schläfe brannte und er spürte eine Kruste getrockneten Blutes an seinem Haaransatz.

Als er reflexartig an seinen schmerzenden Kopf greifen wollte, bemerkte er, dass seine Hände gefesselt waren.

„Oh, du bist wach.“ Finn brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, wer mit ihm sprach.

„Bitte verzeih die Unannehmlichkeiten. Ich bin kein Freund von körperlicher Gewalt, musst du wissen, aber Ivan ist leider oft etwas zu grob.“

Unter größter Kraftanstrengung zwang Finn sich dennoch, das Kinn anzuheben und Viktor anzusehen.

„Dein Freund, Lauri, hat gestern verhindert, dass ich mich ordentlich vorstellen konnte. Das war äußerst unhöflich. Daher möchte ich das gern nachholen. Ich bin …“

„Ich weiß, wer du bist“, unterbrach Finn ihn.

„Wie schön. Dann wäre das ja geklärt. Vielleicht magst du mir auch deinen Namen verraten, mein Hübscher?“

Finn schwieg.

Viktor wartete nur kurz, bevor er weitersprach. „Ich hoffe, du sitzt bequem. Die Fesseln musst du entschuldigen, aber sicher ist sicher, du weißt schon. Möchtest du etwas trinken?“

Wieder schwieg Finn. Er war nicht an einer Unterhaltung interessiert mit diesem Mann, der vor zwei Wochen noch seinen Freund vergewaltigt hatte. Seltsamerweise verspürte er zwar eine Menge für diesen Mann, angefangen mit Verachtung, aber Angst gehörte nicht dazu.

Viktor nahm ein Glas Rotwein auf, welches auf einem Beistelltischchen neben seinem eigenen Stuhl gestanden hatte und setzte es Finn an die Lippen. Obwohl dieser seine Lippen nicht in Erwartung des Getränkes öffnete, begann Viktor, das Glas zu kippen und nach wenigen Sekunden ergoss sich das gekühlte, rote Getränk über Finns Kinn, Hals und Oberkörper.

Finn hielt Viktors Blick stand, bis Viktor selbst den Augenkontakt abbrach, um mit seinem Blick dem Fluss des Weines zu folgen. Angewidert beobachtete Finn, wie der Zuhälter sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe leckte, bevor er das leere Glas abstellte.

„Du hast den guten Wein verschüttet“, tadelte der Ältere ruhig und Finn konnte nicht verhindern, dass er zusammenzuckte, als Viktor plötzlich in einer schnellen Bewegung Finns nasses Hemd vom Kragen ausgehend in der Mitte zerriss.

„Wir werden etwas Frisches für dich finden“, plauderte Viktor weiter und schob Finn das weingetränkte Hemd rechts und links über die Schultern.

„Ach Herrgott, seid ihr eigentlich alle so verschandelt?“ Der Zuhälter rümpfte die Nase, als er Finns Brandmahl auf der Brust entdeckte.

Finn begann zu frösteln, aber er wusste nicht, ob es an seinem nassen, entblößten Oberkörper lag oder ob doch Viktor dieses Gefühl auslöste.

Es fühlte sich widerlich an, wie Viktor seinen Körper betrachtete, und der Gedanke daran, was dieser Mann bereits mit Arian, Lauri und so vielen anderen Jungen und Mädchen angestellt hatte, verursachte ihm Übelkeit.

„Weißt du, warum du hier bist?“

Der Zuhälter war aufgestanden und füllte sein Glas an einem Tisch mit neuem Wein auf.

„Na ja, vielleicht kannst du es dir denken“, fuhr er fort, da Finn nach wie vor nicht antwortete.

„Ich dachte, Lauri wäre etwas kooperativer, wenn ich die Ausgangslage für unseren Disput ein wenig ins Gleichgewicht rücke.“

Er nahm einen Schluck und stellte das Glas anschließend auf dem Beistelltisch ab.

Dann hockte er sich so vor Finn, dass sich ihre Gesichter in etwa auf gleicher Höhe befanden.

Er hatte die Finger nach Finns Schlüsselbein ausgestreckt, zog seine Hand aber schlussendlich doch zurück, ohne ihn zu berühren.

„Wie gesagt, ich bin kein Freund von körperlicher Gewalt.“ Finn hielt dem Blick der grauen Augen stand, was Viktor erneut ein Lächeln entlockte.

„Und ich denke, für den Anfang reicht es, dass Lauri weiß, dass du hier bist, meinst du nicht?!“

Die Zeit in Viktors Gefangenschaft verging schleppend langsam.

Ivan hatte Finn tatsächlich ein trockenes Hemd gebracht und kurzzeitig seine Fesseln gelöst, damit er sich umziehen konnte.

Auch brachte er Finn Wein und etwas zu essen.

Finn lehnte jedoch konsequent alles schweigend ab. Er zweifelte nicht daran, dass Lauri und seine Freunde alles daran setzen würden, ihn aus Viktors Hand zu befreien, doch er konnte sich auch ausmalen, was in Lauri aktuell vorgehen musste.

Gedankenverloren starrte er aus dem kleinen Fenster zu seiner Rechten, als Viktor wieder den Raum betrat.

„Na, denkst du an Lauri?“, schmunzelte der Zuhälter belustigt und zog sich einen Stuhl heran.

„Lauri wird wohl noch auf eine Nachricht von uns warten. Aber ich war so frei, mir ein paar Informationen zu besorgen … Finn.“

Bei der Nennung seines Namens blickte Finn überrascht auf, was Viktor erneut ein Grinsen entlockte.

„Ja, ich habe meine Quellen. Ich weiß auch noch eine ganze Menge mehr über dich. Interessant, wirklich interessant.“

Sein Lächeln verschwand, als er den unberührten Teller und das volle Glas betrachtete.

„Ts, ts, Finn, warum willst du denn nichts essen? Ich will mir nicht von Lauri vorwerfen lassen, ich hätte mich nicht gut um dich gekümmert.“

Er klaubte ein paar Trauben vom Teller und schob sie sich selbst in den Mund, während er seinen Gefangenen beobachtete.

„Ich möchte doch wirklich gern deine Bedürfnisse erfüllen.“

Viktor kam näher. Seine Knie berührten die seines Gefangenen und als er sich weiter vorbeugte, legte er eine Hand auf Finns Knie, wie um sich abzustützen.

„Alle deine Bedürfnisse …“

Seine Stimme hatte einen rauen Klang angenommen und Finn erkannten denselben hungrigen Blick, wie zu dem Zeitpunkt, als er Finn den Wein über die Brust geschüttet hatte.

Ein Schauer fuhr durch seinen Körper und er konnte nicht verhindern, dass auch der Zuhälter Finns Anspannung spürte.

Mit einem triumphierenden Grinsen schob Viktor seine Hand weiter nach oben.

„Dein Schweigen werte ich als Zustimmung!“, raunte Viktor ihm ins Ohr.

Finns Puls beschleunigte sich und er begann, sich erstmals zu regen. Er wollte nicht mit Viktor reden, aber noch weniger wollte er von ihm berührt werden.

Viktor hingegen kostete Finns Zerrissenheit aus und ließ seinen Gefangenen nicht aus den Augen. Quälend langsam schob er seine Hand weiter, bis …

„Hör auf!“

Viktor hielt inne, ließ seine Hand jedoch auf Finns Bein liegen.

„Möchtest du jetzt doch mit mir reden?“

Er begann, mit dem Zeigefinger kleine Kreise auf Finns Oberschenkel zu malen.

Als Finn nicht sofort antwortete, begann er die Kreise rasch zu vergrößern.

„Ja!“

Er zog wieder kleinere Kreise.

Finn räusperte sich. „Ja, ich … rede mit dir.“

„Das ist schön“, lächelte Viktor so aufmunternd, dass Finn ganz schlecht wurde.

„Worüber willst du reden?“, fragte er leise.

Viktor zog endlich seine Hand weg und legte den Zeigefinger gespielt nachdenklich an seine Lippen.

„Vielleicht erklärst du mir zuerst einmal, warum du nichts essen möchtest?“

„Keinen Hunger“, erwiderte Finn knapp, wobei das eigentlich gelogen war. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr zu sich genommen und ein leises Bauchgrummeln verriet ihn prompt.

Viktor griff erneut nach den Trauben und mit der anderen Hand umfasste er Finns Kinn.

„Lüg mich nicht an.“

Seine Stimme war nicht laut, doch der Klang seiner Worte duldete keine Widerworte.

„Iss!“

Einen Augenblick starrten die beiden Männer einander an, bevor Finn zaghaft den Mund öffnete.

Er wusste, er hatte den Kampf verloren, und obwohl es sich gerade nur um eine harmlose Traube handelte, die Viktor geradezu sanft in seinen Mund schob, konnte er erstmals wirklich verstehen, wovon Lauri und Arian immer gesprochen hatten.

Viktor verstand es auf‘s Feinste, Menschen auch ohne Anwendung von Kraft dazu zu bringen, das zu tun, was er wollte.

Offensichtlich begnügte der Zuhälter sich auch mit dieser eindrucksvollen Darstellung seiner Macht, denn nachdem er abgewartet hatte, ob Finn auch brav kaute und das Obst herunterschluckte, tätschelte er lächelnd Finns Wange und stand auf.

Die Fesseln begannen zu schmerzen, außerdem verlor Finn jegliches Zeitgefühl. Wie lange das Ganze hier wohl noch dauern würde?

„So, mein Hübscher. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir Lauri eine Nachricht zukommen lassen, denkst du nicht?“

Viktor schwang sich hinter den großen Schreibtisch und kritzelte schnell einige Zeilen aufs Papier.

Finn beobachtete ihn und es dauerte nicht lange, bis sich ihre Blicke trafen.

„Möchtest du vielleicht, dass ich deinem Freund etwas ausrichte?“, fragte Viktor freundlich.

Finn schüttelte den Kopf.

„Nicht? Kein ‚Ich liebe dich!‘ oder ‚Ich vermisse dich!‘?“ Bedauernd schob Viktor die Unterlippe vor.

Und nachdem Finn nichts erwiderte, fügte er lauernd hinzu. „Redest du nicht mehr mit mir?“

Sofort blickte Finn wieder auf.

„Doch. Ich … nein, du brauchst nichts schreiben. Lauri weiß, was ich für ihn empfinde.“

Viktor legte das Kinn auf seinem Handrücken ab.

„Ach, wie süß … ihr führt so eine richtige Bilderbuchbeziehung, was? Ewige Liebe und so.“

Finn wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Aber Viktor überging diesmal sein Schweigen. Er faltete und versiegelte die Nachricht an Lauri und übergab sie an Ivan, der daraufhin den Raum verließ.

Einen Moment blieb Viktor zurückgelehnt hinter dem großen Tisch sitzen und betrachtete Finn nachdenklich.

„Ich nehme an, du weißt dich zu benehmen?! Dann würde ich deine Fesseln lösen. Es muss unbequem sein, stundenlang so zu sitzen.“

Finn nickte und fügte ein leises „Ja.“ hinzu, um Viktor keinen Grund zu liefern, wieder mit seiner Diskussion anzufangen.

Der Zuhälter erhob sich und trat hinter Finns Stuhl. Während er die Fesseln löste, stand er so dicht hinter Finn, dass dieser die Wärme des fremden Körpers spüren konnte.

Nachdem seine Hände befreit waren, rieb Finn die schmerzenden Handgelenke. Die Fesseln hatten bereits unschöne Druckstellen hinterlassen und es tat gut, endlich wieder richtig die Finger bewegen zu können.

„Es steht dir selbstverständlich frei, dich im Raum zu bewegen. Solange du keine Versuche unternimmst, diesen Raum zu verlassen.“ Viktor lehnte lässig mit verschränkten Armen an einer Kommode und beobachtete Finn, wie dieser zaghaft aufstand. Sein Nacken schmerzte ebenfalls und auch seinen Beinen tat es gut, wieder zu stehen und ein paar Schritte zu gehen.

„Danke.“ Mehr brachte er nicht über die Lippen, doch es reichte, um Viktor ein Lächeln zu entlocken.

„Dann erzähl doch mal, wie habt ihr euch kennen gelernt, Lauri und du?“

Finn zögerte. Er wusste nicht, was Viktor mit seinem permanenten Wunsch nach Konversation bezweckte.

Er räusperte sich. „Ähm, er … hat mir damals das Leben gerettet.“

„Hach, wie romantisch.“ Es klang spöttisch aus Viktors Mund. „Und jetzt? Ist es die große Liebe, ja?“

Viktor hatte sich in Bewegung gesetzt. Es wirkte fast so, als würde er Finns Schritte durch den Raum verfolgen.

„Und ihr seid immer ehrlich zueinander?“ Die Frage hatte einen merkwürdigen Unterton. Finn war vor der Kommode stehen geblieben, an der Viktor eben gelehnt hatte. Er stand vor einem großen Spiegel. In diesem trafen sich ihre Blicke, als Viktor hinter ihm näherkam.

„Wir erzählen uns alles, ja.“

„Warum hat er dir dann nicht erzählt, dass er mich besucht hat?“

Finn wusste, dass Viktor ihn nur provozieren wollte. Er zuckte mit den Schultern.

„Er wollte mich wohl nicht beunruhigen.“

„Beunruhigen, mh?!“ Viktor trat von hinten noch näher an Finn heran. Unwillkürlich spannte Finn sich wieder an. Ihm fuhr immer wieder durch den Kopf, was Viktor mit Lauri angestellt hatte.

Im Spiegel suchte Viktor wieder einmal Augenkontakt.

Finns Puls beschleunigte sich und er musste sich konzentrieren, damit er nicht anfing zu zittern.

„Willst du mich jetzt auch vergewaltigen?“

Viktors Mundwinkel zuckte nach oben.

„Auch?“

„Ich weiß, was du Lauri angetan hast.“

„Na ja, wollen wir erst einmal festhalten, dass Lauri sich nicht sonderlich gewehrt hat, aber nun gut …“

Finn zuckte erschrocken zusammen, als Viktor sein Becken von hinten gegen Finns Hüfte presste. Viktors Erregung war deutlich spürbar.

„Ich muss zugeben, dass die Vorstellung, dich hier zu nehmen, durchaus reizvoll wäre. Er stand genau hier, wo du jetzt stehst.“

Der Zuhälter trat jedoch plötzlich wieder einen Schritt zurück.

„Aber Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude und wir wollen doch erst einmal sehen, wie dein Freund auf meine letzte Nachricht reagiert, nicht wahr?“

Lauri

„Wir sollten sofort los!“

Lauri schlich trotz seines steifen Knies wie ein gefangenes Tier durch die Stube.

„Jede Stunde … jede Minute, die Finn in Viktors Händen verbringen muss, ist eine Minute zu viel!“

Die Wut in ihm war so übermächtig, dass es fast körperlich schmerzte. Es fiel ihm unglaublich schwer, rational zu denken.

„Und was hast du dann vor?“, fragte Lias ruhig, der dafür den rationalen Part übernahm.

„Ich … keine Ahnung. Wenn’s sein muss, brech ich ihm alle Knochen“, grollte Lauri.

„Sehr konstruktiv!“, warf Robin ein, was ihm direkt einen bitterbösen Blick aus eisblauen Augen einbrachte.

„Viktor … er hat geschrieben, dass er sich wieder meldet, also …“, setzte Arian zaghaft an. Er zuckte jedoch sofort erschrocken zusammen, als Lauri zu ihm herumfuhr.

„Und so lange warten? Niemals! Du weißt, wozu er fähig ist!“

Seine eigenen Worte ließen neben der Wut auch die Angst wieder auflodern.

„Lauri?“

Die sanfte Stimme von Marianna erklang aus Richtung der Tür.

Die gutmütige Frau hatte einen besorgten Gesichtsausdruck und knetete ihre Hände.

„Da ist jemand, der dich sprechen will.“

Sofort humpelte Lauri zur Tür. Seine Freunde folgten ihm.

Draußen auf dem Hof stand einer der beiden Leibwächter. Lauri erkannte das hämische Grinsen sofort und auch Arian duckte sich hinter Marlon, als er den Mann entdeckte.

Ohne große Worte hielt der Fremde Lauri ein gefaltetes und versiegeltes Pergament hin.

Gehässig blieb er dabei jedoch mitten auf dem Hof stehen und ließ Lauri auf ihn zu stolpern.

Lauri überging die Demütigung und riss dem Leibwächter die Nachricht aus der Hand.

In Sekunden zerbrach er das Siegel und entfaltete den Brief, um die Nachricht zu lesen.

„Mein lieber Lauri,

ich hoffe, du hattest Zeit, dich mit der neuen Situation anzufreunden.

Wenn du bereit für neue Verhandlungen bist, triff mich heute Abend bei Dämmerungseinbruch auf der Lichtung im Eichenwald. Komm allein.

Ich freue mich schon auf unser Wiedersehen.

Viktor.“

Wutentbrannt starrte Lauri auf die Zeilen, dann ins Gesicht des Boten.

„Wie lautet deine Antwort?“, fragte dieser nur mit einem Grinsen.

Da Lauri sich aktuell nicht in der Lage sah, zu sprechen, ohne den Leibwächter aufs Übelste zu beschimpfen und anzuschreien, nickte er lediglich.

Das genügte Viktors Anhänger. Er machte kehrt und verließ das Dorf, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Und?“

Lias legte Lauri sanft eine Hand auf die Schulter. Lauris Körper bebte vor Wut.

Wortlos reichte er den Brief weiter, so dass seine Freunde die Zeilen selbst überfliegen konnten.

„Willst du dich wirklich allein mit ihm treffen?“, fragte Robin skeptisch. „Genau davor hast du uns immer gewarnt.“

„Ich muss“, gab Lauri zähneknirschend zurück.

Die wenigen Stunden bis zur Dämmerung fühlte Lauri sich wie fremdgesteuert. Wut und Angst wechselten sich in der Vorherrschaft ab. Und erstmals nach so langer Zeit kamen Rachegefühle in ihm hoch, nicht unähnlich denen nach dem Tod seines Vaters.

Seine Freunde versuchten, ihn zu beruhigen, aber der permanente Versuch einer Unterhaltung machte ihn derzeit wahnsinnig, so dass er irgendwann vom Hof geflüchtet war und nun seine Zeit bei den Gräbern von Sylvester und Leander fristete.

„Ich hatte mir vorgenommen, nie wieder so zu werden“, flüsterte er entschuldigend dem Holzkreuz über der Grabstätte seines Vaters zu. „Aber ich befürchte, wenn er Finn etwas antut, werde ich mich vergessen.“

Die Sonne sank langsam dem Horizont entgegen und Lauri machte sich auf den Weg zur beschriebenen Lichtung.

Als er vom Pferd stieg, sah er Viktor bereits lässig an eine der Eichen gelehnt auf ihn warten.

„Wo ist Finn?“

Viktor lächelte gewohnt überheblich, während er Lauri begrüßte.

„Schön, dich zu sehen, Lauri. Keine Sorge. Deinem Freund geht es gut.“

„Wenn du ihm irgendetwas angetan hast …“

„Ich habe Finn nicht angerührt … bisher.“

Die Wut brodelte in Lauri. Die Vorstellung, dass Viktor seinen Freund berührte, ihn zu irgendetwas zwingen würde, machte ihn wahnsinnig. Die unterschwellige Drohung von Viktor verfehlte ihre Wirkung nicht.

Wütend presste Lauri die Lippen aufeinander.

„Was willst du?“, grollte er.

Viktor schlenderte entspannt einige Schritte zwischen den Bäumen umher.

„Ach, das ist einfach, Lauri. Zum einen wollte ich dir den Unterschied zwischen ‚mein‘ und ‚dein‘ näher bringen. Ich denke, das ist mir schon ganz gut gelungen.“

„Nur, dass du da einiges durcheinander bringst, Viktor. Finn gehört mir nicht und noch weniger gehört dir Arian. Das sind eigenständige Menschen und in keinem Fall hast du das Recht, einen freien Menschen zu entführen und einzusperren.“

Viktor verdrehte theatralisch die Augen.

„Ach Lauri, du bist immer so pathetisch. Wie auch immer. Ich will Arian zurück und du willst deinen hübschen Freund wieder in deine Arme schließen. Also …“

Lauri ballte die Hände zu Fäusten.

„Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, ich würde Arian gegen Finn eintauschen?“

„Nicht?“

Viktor tat überrascht.

„Doch, das dachte ich. Ich dachte, Finn wäre dir wichtiger. Ewige Liebe und so. Das wird den kleinen Romantiker sicher hart treffen, zu erfahren, dass er dir egal ist.“

Lauris Wut wuchs.

„Hör auf, meine Worte zu verdrehen.“

Viktor lehnte sich schulterzuckend an einen Baum.

„Na, etwas anderes kann ich da nicht heraushören. Aber wie du willst. Behalte Arian und ich lerne Finn an. Dein hübscher Freund hat allerdings einiges zu tun, um den Rückstand von Arian aufzuholen.“

Vor seinem inneren Augen sah Lauri sich selbst, wie er auf Viktor zusprang und ihm das Genick brach. Nur eine klitzekleine schnelle Bewegung wäre von Nöten.

Obwohl er sich bemühte, nach außen hin ruhig zu bleiben, merkte der Zuhälter ihm die Zerrissenheit an.

„Oh, oh, Lauri. Ich warne dich vor. Ivan und Gregor sind instruiert. Sollte mir irgendetwas zustoßen, wirst du Finn nie wiedersehen.“

Lauri schwieg. Er versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen.

„Nur schade, dass dein Freund auch schon so verschandelt ist. Beizeiten muss mir einer von euch mal eure ‚lange Geschichte‘ dazu erzählen.“

Lauri lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. Viktor kannte die Narbe auf Finns Brust, fuhr es ihm panisch durch den Kopf. Warum hatte er Finn nackt gesehen?

„Ach Lauri, du bist so leicht zu durchschauen. Das ist schon fast langweilig.“

Viktor lachte leise.

„Also, überleg es dir. Bring mir Arian oder lass es bleiben. Deine Entscheidung. Aber warte nicht zu lange. Ich werde wohl spätestens morgen damit anfangen müssen, Finn anzulernen. Ich will ja nicht noch mehr Minus machen.“

Er kehrte Lauri den Rücken zu, wohlweislich, dass Lauri es nicht wagen würde, ihm etwas anzutun.

„Du weißt ja, wo du mich findest, falls du es dir noch anders überlegst!“

Damit ließ er Lauri wieder einmal stehen.

Arian

Lauri war völlig aufgelöst, als er von seinem Treffen mit Viktor berichtete.

„Er lässt mir nicht viel Zeit. Nur bis morgen. Dann wird er anfangen, sich an Finn zu vergreifen, wenn er es bis jetzt wirklich noch nicht getan hat, wie er behauptet.“

Die Freunde schwiegen ratlos.

Arian sank immer mehr in sich zusammen. Es tat ihm so unfassbar leid, was gerade passierte.

„Es gibt doch nur eine Lösung“, brachte er mühsam hervor.

„Nein!“

Die Blicke der anderen Männer wanderten zwischen Lauri und Arian hin und her.

„Aber was willst du sonst machen? Viktor hat gewonnen!“

„Nein!“

„Ich gehe zurück und du bringst Finn in Sicherheit.“

„Nein, Arian! Ich weigere mich, das als einzige Lösung zu akzeptieren.“

Arian seufzte.

„Viktor wird keine Ruhe geben. Selbst wenn du eine Möglichkeit findest, Finn dort rauszuholen … Er wird nicht aufgeben und euch immer weiter belästigen, bis er seinen Willen hat. Wenn ich zurück gehe … dann muss ich das vielleicht noch zwei bis drei Jahre durchziehen. Danach bin ich Viktor ohnehin zu alt. Aber euch lässt er dann in Ruhe.“

Lauri schüttelte mit aufeinander gepressten Lippen den Kopf.

„Nein. Einfach nur nein!“

„So kommen wir nicht weiter und wir stehen unter Zeitdruck“, gab Lias zu bedenken.

„Du kannst dich nicht hinsetzen und zu allem ‚Nein!‘ sagen“, wandte Lias sich nun direkt an Lauri.

Marlon sprang entrüstet auf.

„Aber du kannst doch genauso wenig Arian wieder zurückzwingen!“

Lias schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht können wir etwas Zeit gewinnen, wenn wir so tun, als würden wir Arian gegen Finn austauschen.“

Lauri und Arian guckten skeptisch, während Robin seinem Freund interessiert zunickte.

„Erzähl mehr. Wie stellst du dir das genau vor?“

Lias hob entschuldigend die Hände.

„Na, einen ausgeklügelten Plan habe ich noch nicht. Und wahrscheinlich hat Arian auch Recht damit, dass wir es längst nicht ausgestanden haben, wenn Finn wieder bei uns ist. Aber wenn Viktor sich sicher fühlt, wird er vielleicht unaufmerksam.“

„Damit könntest du zumindest Recht haben“, gab Arian zu. „Viktor ist es gewohnt, seinen Willen zu bekommen.“

Lias nickte. „Dann ist das jetzt erst mal unsere einzige Chance, Finn da rauszuholen.“

Finn

Langsam war er erschöpft. Das Warten machte ihn müde. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Auch wenn Viktor ihn bisher tatsächlich nicht wirklich angerührt hatte, konnte er sich nicht überwinden, in Viktors Haus die Augen zu schließen.

Eine Weile war er ruhelos durch den Raum gestreift. Um den Spiegel hatte er nach Viktors Worten einen Bogen gemacht. Schließlich war er schwer auf eine Bank gesunken. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt. Er starrte an die Decke.

Finn wusste nicht, was Viktor Lauri geschrieben hatte, und er hatte auch keinen blassen Schimmer, wie es weitergehen würde. Dank der subtilen und weniger subtilen Drohungen stellte er sich jedoch geradezu darauf ein, dass ihm ein ähnliches Schicksal wie Arian und Lauri bevorstand.

Irgendwann öffnete sich die Flügeltür erneut und Viktor trat frisch und erholt ins Zimmer. Er hatte offensichtlich die Nacht genutzt, um sich auszuschlafen. Finn konnte sich ausmalen, dass er bei weitem nicht so aussehen würde.

„Guten Morgen, Finn. Hast du gut geschlafen?“

Wieder dieses gefährliche Lächeln, die blitzenden, weißen Zähne.

Müde hob Finn den Kopf. Viktors Gesichtsausdruck verriet, dass er eine verbale Antwort erwartete.

„Nein.“

„Wie schade. Soll ich dir trotzdem von meinem Treffen mir Lauri erzählen?“

Finn holte tief Luft.

Viktor setzte eine bedauernde Miene auf.

„Du bist doch sicher neugierig. Wobei ich für dich eigentlich keine so guten Neuigkeiten habe.“

Viktor ließ diese Information erst einmal sacken und beobachtete Finn genau.

Dieser bemühte sich, keine Regung zu zeigen.

Also fuhr Viktor fort.

„Ich dachte, ich würde ihm die Entscheidung leichter machen, aber scheinbar will er sich nicht für dich entscheiden.“

Ein kleiner Stich fuhr Finn durch die Brust, auch wenn er wusste, dass Viktor ihn weiterhin nur provozieren wollte. Natürlich würde Lauri Arian nicht ins Messer laufen lassen.

Viktor hatte sich wieder einen Stuhl herangezogen, um sich direkt vor Finn niederzulassen.

„Aber na ja … Arian und Lauri verbindet wahrscheinlich die gemeinsame Vergangenheit, nicht wahr?“

Wieder der neugierige, forschende Blick. Finn bemühte sich weiterhin, emotionslos zu wirken.

„Wie viele Männer hattest du schon Finn, mh?“

Viktor rutschte näher an seinen Gefangenen heran, was Finn erneut deutlich machte, dass er sprechen musste.

„Einen.“

Viktor biss sich auf die Unterlippe. Wahrscheinlich sollte es bedauernd wirken, aber in diesem Fall war die diebische Freude in Viktors Augen nicht zu übersehen.

„Oh, er war dein Erster. Das muss wehtun.“ Der Zuhälter versuchte, seiner Stimme einen sanften Klang zu verleihen. „Das muss wirklich wehtun, jetzt so abserviert zu werden.“

Finn biss sich auf die Zunge, während er sich bemühte, Viktors fragendem Blick standzuhalten.

„Du siehst traurig aus, Finn. Erzähl mir, was du denkst.“

Finn schluckte. „Lauri wird schon die richtige Entscheidung treffen.“

„Aber wenn er sich für Arian entscheidet …“

„Ich sagte bereits: Lauri wird die richtige Entscheidung treffen.“

Viktor schwieg einen kurzen Moment und kniff die Augen etwas zusammen.

„Wie diplomatisch …“

Wieder kam er Finn näher. „Ich könnte dich auf jeden Fall trösten.“

„Danke, kein Bedarf!“, gab Finn sofort zurück.

Viktor lachte leise und strich Finn eine Strähne aus dem Gesicht.

„Glaub mir, wenn du bisher nur Sex mit Lauri hattest, dann hast du definitiv etwas verpasst.“

Finn schüttelte den Kopf. Selbst wenn Viktor mit dieser Aussage recht haben sollte, wäre der Zuhälter der allerletzte Mensch auf Erden mit dem Finn diese Erfahrungen nachholen wollen würde.

„Ich denke nicht.“

Wieder ein Lachen von Viktor.

„Das sagst du nur, weil du nichts anderes kennst. Dann erzähl doch mal. Worauf stehst du? Wie hat er es dir besorgt? Magst du es lieber hart oder lieber auf die sanfte Tour?“

Finn spannte sich an. Viktors Fragerei war einfach nur unverschämt.

„Ich werde mit dir nicht darüber reden.“

„Ist das so?“ Viktor erhob sich, nur um sich dann rechts und links von Finn abzustützen. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von Finn entfernt. Instinktiv war Finn zurückgewichen und er spürte nun die Wand in seinem Rücken.

„Wenn du mir nicht sagst, wie du es gern hast, werde ich es wohl selbst rausfinden müssen.“

Viktors Stimme klang keineswegs mehr sanft, eher kalt und bedrohlich.

Finn wandte seinen Blick ab. Viktor würde ihn ohnehin vergewaltigen, egal wie er reagieren würde, da war er sich sicher.

Was er allerdings über Lauri gesagt hatte, verunsicherte Finn leider, obwohl er es sich nicht eingestehen wollte. Ein Teil von ihm, der größere sicherlich, war sich sicher, dass Lauri alles daran setzte, ihn aus Viktors Händen zu befreien, und dass er lediglich nicht bereit war, Arian dafür an den Zuhälter auszuliefern. Er würde einen Weg finden. Aber eine klitzekleine Stimme in seinem Kopf schrie immer wieder: Er entscheidet sich nicht für dich!

Arian

Sie ritten schweigend über die Handelsstraße in Richtung Stadt.

Lauri war angespannt. Das war seiner kompletten Körperhaltung zu entnehmen.

Arian hing eher wie ein Häufchen Elend im Sattel.

„Ich finde das immer noch nicht gut.“ Lauri hielt den Blick starr nach vorne gerichtet, während er sprach.

„Du weißt, dass eine nicht geringe Gefahr besteht, dass dir dabei etwas passiert.“

Nun sah Lauri ihn doch an. Die Zerrissenheit und der Schmerz standen ihm ins Gesicht geschrieben.

Arian nickte. Ja, das wusste er. Das hatte er schon gewusst, bevor Lauri es ausgesprochen hatte.

„Ja, ich weiß. Aber das ist in Ordnung. Finn ist nur wegen mir in dieser Lage. Das ist das Geringste, was ich tun kann, um zu helfen.“

Lauri nickte kurz. „Danke. Trotzdem … ich hätte dich gern da rausgehalten.“

„Ich weiß.“

Sie kamen der Stadt näher. Die Stadtmauer war schon zu erkennen. In Arians Magen rumorte es.

Plötzlich griff Lauri in seine Zügel und hielt beide Pferde an. Überrascht sah Arian ihn an.

„Und, Arian?“

„Ja?“

„Egal was Viktor sagt oder tut, vergiss nicht, wir lassen dich nicht im Stich! Hörst du? Wir holen dich da raus! Ganz gleich, was Viktor behauptet!“

Arian nickte zaghaft. Lauris blaue Augen bohrten sich in seine, als suchten sie dort nach einer Antwort.

„Ich verspreche es dir!“ Lauri zog Arian an sich in eine feste Umarmung.

Es fühlte sich so gut an, auch wenn Arian spürte, dass Lauris Herz genauso schnell pochte wie sein eigenes. Er hatte genauso viel Angst. Aber Lauris Worte waren ehrlich und Arian vertraute ihm, wie er noch nie einem Menschen zuvor vertraut hatte.

Langsam löste er sich aus Lauris Umarmung und nickte seinem Freund zu.

„Danke. Aber jetzt lass uns weiter reiten. Finn braucht dich!“

Den Rest des Weges legten sie nahezu schweigend zurück. Beide hingen ihren eigenen Gedanken nach. Arian begann unwillkürlich zu zittern, als sie Viktors Haus näher kamen. Ja, er hatte Angst davor, was Viktor mit ihm anstellen würde. Aber er hatte sich selbst gesagt, dass er das eigentlich schon alles hinter sich hatte, während Finn noch absolut unschuldig war und es definitiv nicht verdient hatte, von Viktor benutzt zu werden.

Er warf einen nervösen Blick auf Lauri, der verbissen nach vorne starrte.

Sie banden die Pferde an und Arian hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, als sie zur Haustür gingen. Lauri legte Arian eine Hand auf die Schulter und drückte diese aufmunternd. Nach einem kurzen Nicken klopfte er an die Tür.

Ivan öffnete den beiden jungen Männern und grinste sofort dreckig.

„Ich kann gar nicht sagen, dass Viktor euch schon erwartet, aber er wird sich freuen, euch zu sehen.“

Er trat einen Schritt zurück, um die beiden Gäste ins Haus zu lassen.

Lauri ließ seine Hand auf Arians Schulter und schob den Jungen vor sich her.

Als er das Haus betrat, wurde er fast überwältigt von den Emotionen, die dieses Gebäude und die damit verknüpften Erinnerungen in ihm hervorriefen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn und nur durch Lauris Hand auf seiner Schulter konnte er verhindern, dass sein Körper zitterte wie Espenlaub.

„Wartet hier!“, wies Ivan die beiden Männer an und verschwand durch den Flur in Richtung der großen Flügeltür, die zu Viktors Arbeitszimmer führte.

Finn

„Sieh mich an, Finn.“

Er hatte die Augen geschlossen und versuchte krampfhaft, an etwas anderes zu denken. Aber Viktor machte es ihm durch sein permanentes Gerede schwer.

Er spürte die Hände des Zuhälters auf seiner nackten Haut. Er strich über Finns entblößten Oberkörper, zeichnete mit der Fingerspitze die Narbe auf der Brust nach.

„Oder genießt du meine Berührungen gerade so sehr?“ Finn konnte das hämische Grinsen förmlich hören. Dennoch öffnete er die Augen.

„Von Genießen kann keine Rede sein“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Viktor kniff Finn daraufhin in die Brustwarze, was diesen schmerzerfüllt aufstöhnen ließ.

„Ich wäre mir da nicht so sicher. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du mich anflehen, dich nochmal zu ficken“, gab der Ältere zurück und begann eine Hand in Finns Hose zu schieben. Mit flatternden Augenlidern bemühte Finn sich, Viktors Blicken standzuhalten, als es plötzlich an der Flügeltür klopfte.

„Was?“, fauchte Viktor schroff.

„Sir, Lauri ist hier, mit Arian.“

Der Zuhälter zog belustigt eine Augenbraue hoch, als er seinen Gefangenen betrachtete.

„Sieh an, dein treuer Ritter kommt doch und bringt mir sogar ein Geschenk mit. Dabei sind wir hier noch gar nicht fertig.“

Dann sprach er lauter in Richtung der Türe: „Sie sollen warten.“

Würde Viktor es wirklich wagen, ihn zu vergewaltigen, während Lauri und Arian im Nebenraum warteten?

Als sich die Schritte vor der Tür entfernt hatten, wandte Viktor Finn wieder seine gesamte Aufmerksamkeit zu.

„So, also, wo waren wir stehengeblieben. Ach ja … du wolltest mich anbetteln, dich zu ficken.“

„Niemals.“

„Na ja, wenn dir das lieber ist, können wir auch ‚Liebe machen‘.“ Viktor lachte dreckig. „Ich sagte ja schon, du darfst mir gern mitteilen, wo deine Vorlieben liegen.“

„Meine Vorliebe wartet draußen.“

„Ach, jetzt fang nicht wieder mit dieser abgedroschenen Scheiße an.“ So langsam klang Viktor genervt.

Finn fuhr ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er wusste nicht wieso, aber er musste das einfach fragen.

„Hast du jemals jemanden geliebt?“

Viktors Zögern war nur kurz. Ein Schatten über seinen grauen Augen. Sofort wieder verflogen.

„Nein“, hauchte er kühl.

„Dann bist du derjenige, der etwas verpasst hat.“

Einen kurzen Moment bohrten sich die grauen Augen in Finns Blick.

Dann gab Viktor ihm einen leichten Klaps auf die Wange und wandte sich ab.

„Zieh dich an. Wir haben Besuch.“

„Seine Schwachstelle!“, fuhr es Finn durch den Kopf. Das musste seine Schwachstelle sein.

Während er aufgeregt sein Hemd zuknöpfte, gab Viktor seinem Leibwächter Bescheid, dass er nun bereit war, den Besuch zu empfangen.

Viktors Zögern hatte zu lange gedauert. Hatte er doch jemanden geliebt? Hatte er diese Person verloren? Oder hatte man ihn schwer verletzt? Wie konnten sie nur mehr darüber hinausfinden?

Viktor nahm hinter seinem großen Schreibtisch Platz, während Finn ungeduldig stehenblieb.

Es dauerte nicht lange, bis Ivan die Tür öffnete und Lauri und Arian Einlass gewährte.

Ohne Viktor zu beachten stürzten Lauri und Finn sofort aufeinander zu. Lauri umfasste Finns Gesicht mit beiden Händen und legte seine Stirn an die seines Freundes. „Geht es dir gut?“, flüsterte er. Finn antwortete mit einem Nicken.

„Ich hatte dir doch versprochen, dass ich mich gut um deinen Freund kümmern würde.“

Lauri wandte sich mit einem eisigen Blick zu Viktor um.

Finn war sich nicht sicher, ob er es sich nur einbildete, aber er hatte das Gefühl, dass Viktors sonst so perfekt einstudiertes Lächeln diesmal gestelzt wirkte.

Dann fiel sein Blick auf Arian. Der Junge war direkt an der Tür stehengeblieben und sah aus wie ein Häufchen Elend. Hochgezogene Schultern, ziemlich blass um die Nase. Seine Angst vor Viktor war offensichtlich.

„Aber ich muss zugeben, ich bin überrascht, Lauri. Gestern klang es irgendwie gar nicht danach, dass du mir Arian zurückbringen würdest.“

Lauri hatte die Hände zu Fäusten geballt, blieb ansonsten aber äußerlich recht ruhig, als er antwortete.

„Ich tue das auch nicht freiwillig.“

Viktor hatte die Fingerspitzen aneinander gelegt und legte den Kopf schief.

Das angespannte Lächeln erreichte seine Augen schon längst nicht mehr.

„Ja, ja, die Liebe, nicht wahr? Wirklich vorbildlich ihr zwei.“

Er stand auf und schlenderte zu Arian, der noch weiter in sich zusammensackte, als der Zuhälter einen Arm um seine Schulter legte.

„Aber schön, dass du wieder da bist, Arian. Ich habe dich schon vermisst. Wir haben so viel nachzuholen.“

Bei seinem letzten Satz fixierte er wieder Finn und Lauri. Finn lief es eiskalt den Rücken hinunter. Das konnten sie doch nicht tun, Arian hierlassen, bei diesem Monster.

Er ergriff Lauris Hand und suchte den Blickkontakt zu seinem Freund.

Lauri sah ihm nur kurz in die Augen. Wut und Schmerz stand darin geschrieben. Finn war fassungslos. Sie lieferten Arian wirklich aus?

„Das kann nicht euer Ernst sein?“, flüsterte er Lauri zu.

Nachdem er Viktor kennengelernt hatte, war er ebenfalls der Meinung, dass niemand auch nur eine Minute länger als nötig mit dem Zuhälter verbringen sollte.

Lauri presste die Lippen aufeinander. Viktor beobachtete sie aufmerksam.

„Es geht nicht anders“, erwiderte Lauri leise und ließ den Kopf hängen.

„Aber …“, setzte Finn an. Lauri drückte seine Hand. Finn schwieg und hoffte inständig, dass es einen weiteren Plan gab.

„Also …“ Lauri setzte sich mit Finn an der Hand in Bewegung.

„Wir gehen dann.“

Viktor trat mit Arian im Arm einen Schritt zur Seite und machte den Durchgang zur Flügeltür frei.

„Bitte.“

Arians Blick blieb starr auf den Boden gerichtet. Finn ließ sich von Lauri mitziehen, aber in seinem Kopf schwirrten tausend Fragen.

„Es war schön, dich kennenzulernen, Finn. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“

Viktors graue Augen bohrten sich in seine und Finn war froh, von Lauri mitgezogen zu werden.

So schnell es Lauris steifes Knie zuließ, drängten die beiden jungen Männer nach draußen.

Und so sehr Finn selbst diesem Ort entfliehen wollte, so sehr beunruhigte ihn die Vorstellung, dass sie gerade Arian mit Viktor alleingelassen hatten.

Als sie auf der Straße endlich um die nächste Häuserecke gebogen waren, blieb Finn stehen und hielt Lauri fest.

„Lauri, warte! Was ist mit Arian? Wir können ihn doch nicht dort lassen!“

Lauri blieb stehen und seufzte. „Nein, das können wir nicht. Da hast du Recht. Aber Viktor soll sich in Sicherheit wiegen. Er soll denken, dass er gewonnen hat.“

Finn war verwirrt. Aber bevor er fragen konnte, was Lauri damit meinte, schlang sein Freund seine Arme um Finn und küsste ihn.

In Lauris Umarmung fiel endlich die Anspannung etwas von ihm ab. Und er konnte sogar ein bisschen verstehen, wieso Lauri nach der Vergewaltigung damals mit ihm schlafen wollte. Es tat gut, Lauri wieder bei sich zu haben, und die Nähe verdrängte die Erinnerungen an Viktor zumindest ein wenig.

Lauri ergriff Finns Schultern und hielt seinen Freund nun ein Stück von sich weg. Die eisblauen Augen bohrten sich fragend in seine.

„Geht es dir wirklich gut? Hat er dich angerührt?“

Finn nickte zaghaft.

„Mir geht es gut, ja.“

„Und …?“

„Er … nicht wirklich. Er hat mich angefasst, ja. Aber damit hat es sich schon.“

Lauri presste die Lippen aufeinander. Erneut zog er Finn heran und drückte ihn fest an sich.

„Es tut mir so leid. Ich wünschte, das wäre dir erspart geblieben.“

„Das ist doch nicht deine Schuld.“ Einen Moment genoss er die Umarmung, schließlich schob er Lauri jedoch von sich weg.

„Wie geht es jetzt mit Arian weiter?“

„Bei der nächsten Gelegenheit nehmen wir ihn wieder mit.“

„Was heißt ‚bei der nächsten Gelegenheit‘? Ich glaube kaum, dass Viktor Arian direkt wieder auf die Straße schicken wird, oder?“

Lauri schüttelte den Kopf. „Nein, wahrscheinlich nicht. Aber da es ihm tatsächlich nur um Macht und Geld geht, wird er Arian sicherlich trotzdem arbeiten lassen. Arian sagte, dass er zu diesem Zweck mehrere Zimmer hat. Dort ‚arbeiten‘ für gewöhnlich erst einmal alle, die er neu unter seine Fittiche genommen hat und die er erst kontrollieren will.“

„Und wie hilft uns das weiter?“

„Wir schicken Lias rein.“

„Lias?“

„Er ist der Einzige, den Viktor noch nicht gesehen hat. Er wird so tun, als wolle er Arian kaufen und während Viktor denkt, er verdiene gerade gutes Geld, verschwinden die beiden über das Dach.“

Finn war skeptisch, aber es war zumindest ein Plan.

„Und dann? Geht alles von vorne los?“

Lauri wirkte zerknirscht. „Einen besseren Plan hatten wir auf die Schnelle nicht. Viktor hat mir nicht viel Zeit gelassen, eine Entscheidung zu treffen.“

Finn nickte. Er musste an den Stich in der Brust denken, als Viktor davon erzählt hatte.

Lauri beobachtete seinen Freund aufmerksam.

„Du hast doch nicht daran gezweifelt, dass ich dich da raushole, oder?“

Finns Mundwinkel zuckte nach oben. „Ich wusste, dass du einen Weg findest.“

Lauri

Er wusste selbst, dass das eine ziemlich diplomatische Antwort war. Aber er konnte sich ausmalen, wie Viktor die Situation ausgenutzt hatte, um Finn zu verunsichern.

„Komm, jetzt können wir leider nichts mehr für Arian tun.“

„Warte nochmal!“

Finn hielt ihn erneut fest.

„Ich glaube, ich habe eine Schwachstelle bei Viktor entdeckt.“

Lauri zog überrascht eine Augenbraue hoch.

„In Ordnung. Und wie sieht diese aus?“

„Weißt du, ob Viktor jemals verliebt war?“

Lauri überlegte. Spontan fiel ihm dazu nichts ein. Aber die Frage war interessant.

„Er … reagierte sehr seltsam, als ich ihm diese Frage stellte. Und danach ließ er von mir ab. Vielleicht wäre das ein Punkt, an dem wir ansetzen könnten.“

„Mh, ja, vielleicht. Ich selbst weiß darüber nichts. Aber ich kenne vielleicht jemanden, der etwas wissen könnte.“ Lauri grübelte. Diese ganze Geschichte verlangte ihm wirklich einiges ab. Scheinbar war es tatsächlich nötig, noch tiefer in die Vergangenheit einzutauchen.

„Komm mit. Zuerst treffen wir Robin, Lias und Marlon und dann überlegen wir in deiner Sache weiter.“

Arian

Ihm war übel. Und er hatte Angst, auch wenn er sich selbst immer wieder sagte, dass Viktor ihm kaum etwas Neues oder Schlimmeres antun könnte, als das, was er ohnehin schon mitgemacht hatte.

Seit Lauri und Finn das Haus verlassen hatten, hatte Viktor geschwiegen, was sicher kein gutes Zeichen war. Umso mehr zuckte er zusammen, als der Zuhälter nun das Wort an ihn richtete.

„Das war wohl nichts, Arian.“

Der Junge sah unsicher auf.

„Hattest du wirklich geglaubt, du hättest auch nur den Hauch einer Chance gehabt?“

Viktor sah eher belustigt als wütend aus, was Arian noch mehr verunsicherte.

„Lass mich raten. Er hat dir versprochen, dich wieder rauszuholen? Natürlich … wie sonst sollte man das Lamm zur Schlachtbank führen, als mit leeren Versprechungen. Sonst wärst du sicher nicht so bereitwillig mitgegangen.“

Viktor lachte gehässig und seine Worte taten weh. Arian versuchte, sich Lauris Versprechen ins Gedächtnis zu rufen. Lauri hatte ihn gewarnt. Er wusste, dass Viktor versuchen würde, ihn entsprechend zu verunsichern.

Viktor war von seinem Platz aufgestanden, von dem aus er den Jungen beobachtet hatte. Nach wenigen Schritten stand er vor Arian, dessen Herz ihm bis zum Hals schlug. Sanft aber bestimmt hob Viktor Arians Kinn mit zwei Fingern an, so dass dieser den Zuhälter ansehen musste.

„Weißt du eigentlich, was mich deine zwei Wochen gekostet haben?“

Arian schluckte. Rühren konnte er sich nicht. Er fühlte sich erstarrt wie eine Maus vor einer Schlange.

„Du hast einiges zu tun, um das aufzuholen.“ Viktor sah seinem Zögling tief in die Augen.

„Aber ich denke, du benötigst derzeit etwas mehr Aufsicht. Daher wirst du die nächste Zeit oben für mich arbeiten.“

Die oberen Zimmer. Wie er es vorausgesehen hatte. Zumindest ein Fünkchen Hoffnung stieg in Arian auf.

Immer noch taxierte Viktor ihn, als erwarte er irgendeine Antwort in Arians Augen zu entdecken.

Schlussendlich legte er dem Jungen rechts und links eine Hand auf die Schultern. Unwillkürlich spannte Arian sich an. Dass er Viktor zu Diensten sein musste, war eigentlich nichts Neues.

Der Ältere strich Arians Hemd über den Schultern glatt.

„Du siehst gut aus.“

Es fiel Arian schwer, Viktors Blick zu deuten. Was wollte er? Sollte er wie üblich …?

Zaghaft ging Arian in die Knie. Umso überraschter war er, als Viktor ihn an den Oberarmen festhielt.

Sein Blick immer noch unergründlich. Vielleicht ein Hauch von Wehmut?

Plötzlich wandte Viktor sich von ihm ab.

„Ivan wird dich nach oben bringen.“

Verwirrt stolperte er hinter dem Leibwächter die Treppen hinauf. Er hatte einiges von Viktor erwartet, aber das sicherlich nicht.

Ivan führte ihn durch den langen Flur im oberen Stockwerk. Vor einer der Türen blieb er stehen, öffnete diese und ließ Arian zuerst eintreten.

Als er aufsah, wurde er ein weiteres Mal überrascht.

Er war nicht allein in dem komfortablen Zimmer. Ein Junge, der scheinbar bis gerade auf dem gigantischen Himmelbett gesessen hatte, war bei ihrem Eintreten aufgesprungen.

Offensichtlich kein Kunde, viel zu jung. Fragend sah Arian Ivan an, der ein dreckiges Grinsen aufsetzte.

„Viktor ist der Meinung, du könntest dich bei der Einarbeitung der Neuen nützlich machen.“

Mit offenem Mund starrte Arian erst den Jungen an, dann wieder Ivan.

„Ich … nein, bitte. Das kann ich nicht!“

Ivan schob Arian weiter in den Raum.

„Du solltest Viktor nicht schon wieder enttäuschen.“

Damit verließ der Leibwächter das Zimmer und Arian hörte, wie er die Tür hinter sich abschloss.

Lauri

Sie trafen sich in einer kleinen Spelunke, weit ab vom Hafen.

Die Stimmung war wie zu erwarten gedrückt, auch wenn sich alle freuten, Finn wohlbehalten wiederzusehen.

„Wie geht es Arian?“, platzte Marlon sofort raus.

„Wissen wir leider nicht“, gab Lauri zerknirscht zu.

„Aber möglicherweise haben wir einen neuen Ansatzpunkt.“

„Lass hören!“, forderte Robin ihn auf.

Lauri nickte Finn zu und dieser berichtete den Freunden von seiner Vermutung.

„Und wie soll uns das helfen?“, murrte Marlon.

Lauri seufzte. „Vielleicht ein Druckmittel, sicher wissen wir das nicht. Aber alles, was uns gegen Viktor helfen könnte, sollten wir weiter verfolgen. Bei unserem ursprünglichen Plan bleiben wir natürlich trotzdem. Lias gibt sich als Freier aus und wird mit Arian verschwinden. Kriegt ihr das hin?“

Lias und Robin nickten.

„Gut, ich werde versuchen, etwas mehr über Viktors potentielles Liebesleben zu erfahren.“ Lauri hatte zwar mit sich gehadert, aber er wusste, er konnte mit Finn alles teilen. „Begleitest du mich?“

Finn nickte ebenfalls. „Natürlich.“

Er musste tief in der Vergangenheit wühlen. Es galt einige ehemalige Kollegen ausfindig zu machen, um zu finden, was oder besser wen er eigentlich suchte …

Arian

„Ähm, hallo … ich bin Benedikt. Du, du kannst aber ruhig Bene sagen.“

Der andere Junge wirkte mindestens genauso nervös.

Arian stand immer noch unschlüssig in der Mitte des Raumes. Das hier war schlimm. Schlimmer als alles, was Viktor je von ihm verlangt hatte.

„Mh, und du bist?“ Benedikt fuhr sich aufgeregt durch das rostbraune Haar.

„Arian. Ich, ich heiße Arian.“ Schnellen Schrittes kam er nun auf den fremden Jungen zu.

„Hör zu … Benedikt. Ich, ich kann das nicht machen.“

Bene sank zurück auf das Bett. Er sah verwirrt aus. Es zerriss Arian geradezu das Herz. Er hatte auch einmal in so einem Zimmer gesessen. In den meisten Fällen übernahm Viktor selbst die Einarbeitung, aber Arian wusste, dass er manchmal ein paar seiner Zöglinge mit dieser Aufgabe betraute.

Seufzend setzte Arian sich neben den Jungen.

„Ich bin ehrlich zu dir: Wenn du die Möglichkeit hast, hau ab! Mach irgendwas anderes, egal was, aber verschwinde von hier und mach einen weiten Bogen um Viktor“, raunte er.

Große grüne Augen blickten ihn verwirrt an.

„Aber ich … ich kann nirgendwohin. Viktor sagt …“

„Scheiß drauf, was Viktor sagt. Er schmiert dir solange Honig ums Maul, bis er dich in der Tasche hat und dann beutet er dich ein paar Jahre aus, bis du in seinen Augen zu alt bist. Dann setzt er dich vor die Tür und du hast immer noch nichts!“

Benedikt suchte förmlich nach Worten. Aber Arian ließ ihn gar nicht dazu kommen, etwas zu erwidern.

„Was denkst du, warum wir hier sind?“

„Ähm, Viktor sagte, jemand kommt her und zeigt mir alles, was ich wissen muss.“

„Im Klartext, jemand kommt und vögelt dich. Wenn du Glück hast, jemand, der Rücksicht nimmt, wenn du Pech hast, jemand wie Ivan. Gewonnen hast du in beiden Fällen nichts. Denn selbst, wenn du einen netten Kerl erwischst, hat das im Endeffekt nichts mit der Realität zu tun.“

Benedikt wirkte geschockt. Er schüttelte kaum merklich den Kopf, während er seine Hände anstarrte.

„Aber …“

„Kein aber! Glaub mir einfach. Ich mache das jetzt seit über einem Jahr und weiß, wovon ich rede. Wenn du nicht nach Viktors Pfeife tanzt, wird er nicht mehr so nett sein, wie er es jetzt vielleicht noch ist.“

Der Junge wurde blass um die Nase.

Er tat Arian leid, aber besser er erfuhr jetzt die Wahrheit, als wenn es zu spät wäre.

Eine Weile schwiegen sie. Bis Bene aussprach, woran auch Arian dachte.

„Aber wenn Viktor so ist, wie du sagst, was wird er dann machen, wenn wir jetzt nicht tun, was er dir aufgetragen hat?“

Arian kaute auf seiner Unterlippe. „Vielleicht schickt er dir jemand anderen. Oder er macht es selbst. Oder er zwingt mich dazu, es zu tun.“

Arian spürte, wie Benes Atmung sich beschleunigte. Alles keine schönen Aussichten, in der Tat.

Benedikt fuhr sich hastig mit der Zunge über die Lippen, als er sich zu Arian umdrehte.

„Aber … aber sollten wir dann nicht besser tun, was er will?“

Arian sah Bene traurig an. Er erinnerte ihn an Marlon. Genauso unschuldig.

„Hattest du überhaupt schon mal Sex?“

Benedikt wurde rot und Arian schloss daraufhin für ein paar Sekunden die Augen. Er war verzweifelt und entsetzt zugleich.

Das war wirklich das Schlimmste, was Viktor ihm je angetan hatte. Er wollte ernsthaft, dass er diesem Jungen die Unschuld nahm und ihn damit zu dem machte, wovor er selbst gerade flüchtete.

„Ich weiß, du willst das nicht tun. Aber … das klingt jetzt bestimmt verrückt … genau das macht dich in meiner Situation gerade äußerst sympathisch.“ Ein verlegenes Lächeln stahl sich auf Benes Gesicht und offenbarte ein kleines Grübchen.

Arian war zum Heulen zu Mute.

„Dein erstes Mal sollte nicht so sein! Ich kann das nicht! Wirklich nicht!“

„Aber wenn du es nicht tust, dann wird es ein anderer tun und der ist dann vielleicht nicht so nett.“

Damit hatte Bene wahrscheinlich Recht, was die ganze Sache trotzdem nicht einfacher machte.

Schüchtern rutschte Benedikt näher. Arian sah ihm an, dass ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Ihm wurde schlecht. Wie kam er aus dieser Situation nur heraus?

Der Junge war nett, er wollte ihn auch nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen.

Bene knibbelte nervös an seinen Finger. „Oder findest du mich zu abstoßend?“

Arian verdrehte die Augen. „Du weißt selbst, dass du nicht hier wärst, wenn es so wäre. Viktor sucht sich seine Jungs schon sehr genau aus.“

„Dann sag mir, was ich tun soll. Was müsste ich jetzt tun, wenn du ein Kunde wärst?“

Arian ließ sich nach hinten aufs Bett fallen. Einen Arm hatte er quer über seine Augen gelegt.

„Das … ach, keine Ahnung, das kommt drauf an.“

Er spürte Benedikt nah neben sich. „Worauf?“

„Na auf den Typen. Es gibt Kerle, die wollen dich einfach benutzen. Die sagen dir schon, was du tun sollst oder zeigen es dir. Und andere … na ja … die wollen halt, dass du die Initiative übernimmst. Kann man nicht so pauschal sagen.“

„Mh … und was willst du?“

Arian öffnete die Augen und sah Bene an, dessen Gesicht nur wenige Zentimeter über seinem schwebte. Passend zu seiner Haarfarbe war sein Gesicht gesprenkelt mit lauter Sommersprossen.

„Ich will jetzt gar nicht hier sein. Was aber nichts mit dir zu tun hat“, fügte er noch hinzu und ohne darüber nachzudenken, strich er dem fremden Jungen sanft über die Wange.

„Dann … gehörst du gerade wohl eher zur zweiten Fraktion“, murmelte dieser und beugte sich etwas herunter, um Arian zu küssen.

Auf der einen Seite wehrte Arian sich zwar nicht, auf der anderen Seite weigerte er sich aber auch, die Initiative zu übernehmen.

Während Benedikts Lippen über seinen Hals wanderten, bekam er eine Gänsehaut.

„Vielleicht kannst du mir zumindest sagen, wenn ich irgendwas falsch mache“, raunte Bene ihm ins Ohr. Etwas linkisch und mit zitternden Händen öffnete er Arians Hemd.

Arian räusperte sich. Der Kloß in seinem Hals war größer geworden. Er bekam ein schlechtes Gewissen, weil sich Benes Berührungen leider tatsächlich gut anfühlten.

Obwohl er sich deswegen absolut miserabel fühlte, konnte er seine Hände nicht stillhalten. Zaghaft fuhr er Bene durch das widerspenstige, rostbraune Haar.

Das ließ den Jungen wiederum etwas mutiger werden. Er setzte sich kurzerhand auf Arians Schoß.

Wieder beugte er sich zu Arian herunter und küsste ihn.

„Du darfst mir aber auch sagen, wenn ich irgendwas gut mache.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich küsse normalerweise nicht …“, murmelte Arian mit Benes Lippen auf seinen. „Aha“, gab Benedikt zurück, ohne den Kuss großartig zu unterbrechen.

Arian schämte sich. Eigentlich war er gerade nicht besser als die Freier, die er in den letzten Monaten selbst immer verflucht hatte.

Finn

Er begleitete Lauri nun schon seit Stunden durch die Stadt. Immer wieder hielten sie irgendwo an und Lauri wechselte wenige Worte mit verschiedenen Männern. Jedes Mal wurden sie wieder woanders hingeschickt. Wen genau Lauri suchte, wusste Finn nicht. Sein Freund war gerade wieder recht wortkarg und verschlossen. Aber Finn hatte gelernt, auf Lauri zu vertrauen und ihn nicht zu drängen. Finn wusste, dass Lauri gerade ziemlich in seiner Vergangenheit wühlen musste und dass er das nur ungern tat, also wartete er ab und folgte Lauri, ohne Fragen zu stellen.

Diesmal klopften sie an die Tür einer kleinen Baracke in der Nähe einer Holzfällersiedlung.

„Ja?“, kam es dumpf aus dem Inneren der Hütte.

„Ich suche einen Mann namens Ryan. Mir wurde gesagt, ich würde ihn hier finden.“

Hinter der Holztür – Stille.

Lauri und Finn sahen sich an, ehe Lauri ein weiteres Mal anklopfte.

„Verschwinde!“, tönte es von drinnen.

„Ich glaube, wir sind hier richtig“, raunte Lauri seinem Freund zu.

„Ryan? Ich bin’s, Lauri!“

Nach einer Pause öffnete sich die Tür einen Spalt.

„Was willst du hier, Lauri? Ich habe mit der Zeit abgeschlossen.“

„Das habe ich auch. Es geht um Viktor!“

„Mit dem habe ich auch abgeschlossen.“

Ryan wollte die Tür wieder schließen, aber Lauri stellte einen Fuß in den Türspalt.

„Das glaube ich dir gerne, aber ich brauche deine Hilfe, bitte.“

Wieder ein Grummeln von der anderen Seite, aber schließlich öffnete der Mann doch die Tür, zumindest so weit, dass Lauri und Finn hineinschlüpfen konnten.

Im Inneren der Baracke war es dämmrig, da alle Fensterläden geschlossen waren. Nur ein kleines Feuer knisterte im Kamin. Es roch nach Kiefernadeln und Baumharz.

Nachdem sich Finns Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte er diesen Ryan erstmals genauer in Augenschein nehmen.

Er war älter als Lauri und Finn, wahrscheinlich Mitte dreißig, also eher in Viktors Alter. Dabei sah er aber auch immer noch gut aus. Dunkles, kurzgeschorenes Haar und ein Dreitagebart, tiefbraune Augen, die besonders in diesen Lichtverhältnissen fast schwarz wirkten. Von der körperlichen Arbeit trainiert, mit wettergegerbter, braungebrannter Haut, stand Ryan mit verschränkten Armen und ernstem Blick vor ihnen.

„Also, was willst du?“

„Dürfen wir uns setzen?“, fragte Lauri zurück.

„Wenn’s sein muss“, knurrte der Ältere, aber er zog sich auch selbst einen Schemel heran.

„Es geht um Viktor.“

„Das sagtest du bereits. Ich habe mit Viktor nichts mehr zu schaffen, seit … keine Ahnung … drei oder vier Jahren. Ich habe das alles lange hinter mir gelassen und will damit auch nichts mehr zu tun haben.“

Lauri hob beschwichtigend die Hände.

„Ryan, glaub mir, mir geht es nicht anders. Ich hatte Viktor auch seit gut fünf Jahren nicht mehr gesehen und keinen Gedanken an ihn verschwendet.“

Der Waldarbeiter zog eine dunkle Augenbraue hoch und wartete auf eine weitere Erklärung.

In der Kurzfassung erklärte Lauri ihm daher die Gründe für sein letztes Aufeinandertreffen mit dem Zuhälter.

„Und weiter? Was wollt ihr jetzt von mir? Du weißt so gut wie ich, dass der Junge einfach Pech hat. Da muss er jetzt wohl durch, bis Viktor das Interesse an ihm verliert.“

„Wir wollen uns damit aber nicht abfinden und wir haben überlegt, ob Viktor nicht auch eine Schwachstelle hat, an der man ansetzen könnte.“

Ryan lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und beobachtete die beiden jungen Männer vor sich misstrauisch.

„Und wieso zum Teufel steht ihr jetzt vor meiner Tür?“

Finn räusperte sich.

„Ähm, ich fragte ihn, ob er selbst schon einmal verliebt gewesen sei und seine Reaktion war sehr seltsam. Er sagte zwar ‚nein‘, aber ich denke, das war nicht die Wahrheit.“

Lauri ergänzte: „Du kanntest Viktor am längsten. Wenn es mal jemand anderen in seinem Leben gab, dann müsstest du es wissen.“

Ryan sagte nichts. Er funkelte die beiden ungebetenen Gäste lediglich unter tiefhängenden Lidern an.

„Ryan?“

Er stand auf, wanderte zum Kaminfeuer und begann in der Glut zu stochern.

„Ryan, bitte. Wenn du etwas weißt, dann sag es uns. Weißt du von Jemandem, der Viktor wichtig gewesen sein könnte?“

Finn legte seinem Freund eine Hand auf das Bein. Es war nur eine Ahnung, aber könnte es vielleicht sein, dass …

„Ja. Glaube ich zumindest“, kam es nun von Ryan.

Bevor Lauri etwas sagen konnte, drückte Finn erneut Lauris Oberschenkel und schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Höchstwahrscheinlich sucht ihr mich.“

Die drei Männer schwiegen einen Moment.

Ryan drehte sich nur halb zu den beiden Jüngeren um. Die Flammen des Kaminfeuers warfen tanzende Schatten auf sein Gesicht. Er brachte ein schiefes Lächeln zustanden.

„Ich kann mir vorstellen, was ihr jetzt denkt: Wie kann irgendjemand so ein Arschloch lieben.“

Lauri und Finn ließen das unkommentiert, aber Finn musste zugeben, dass die Vorstellung seltsam war, dass sich jemand wirklich zu Viktor hingezogen fühlen könnte und dass Viktor darüber hinaus zu ehrlichen Gefühlen fähig sein sollte.

Ryan atmete tief ein und nahm wieder auf seinem Schemel Platz.

„Er war aber nicht immer so. Und darüber hinaus ist kein Mensch nur gut oder nur schlecht.“

Lauri nickte. „Ich wusste nicht, dass ihr beiden liiert wart.“

„Eine Beziehung ist ja auch nicht besonders förderlich in unserem Metier. Aber es war nett, den Scheiß nicht allein durchzustehen.“

„Warum habt ihr euch getrennt?“, fragte Finn sanft.

„Unsere Ansichten drifteten mit der Zeit immer weiter auseinander. Wir hatten beide die Schnauze voll von dieser Art Arbeit. Aber während ich einfach etwas ganz anderes machen wollte, neu anfangen, hatte Viktor sich eben in den Kopf gesetzt, andere für sich arbeiten zu lassen.“

„Und dann seid ihr getrennte Wege gegangen“, schloss Finn

„Nicht sofort. Aber wir stritten immer häufiger. Mir gefielen Viktors Praktiken ganz und gar nicht. Vor ein paar Jahren konnte ich das dann eben nicht mehr aushalten und bin gegangen.“

„Hat Viktor danach noch einmal versucht, Kontakt mit dir aufzunehmen?“, fragte Lauri, woraufhin Ryan verächtlich schnaubte.

„Wo denkst du hin? Selbst wenn ihm überhaupt etwas daran … an mir … gelegen wäre, wäre er ohnehin viel zu stolz dafür.“

Finn wagte sich vorsichtig voran. „Liegt dir denn noch etwas an ihm?“

Ryan schwieg mit unergründlichem Blick.

„Was tut das schon zur Sache?“, brummte er schließlich. „Und sowieso … ich weiß immer noch nicht, was ihr hier wollt.“

Lauri und Finn sahen sich an.

„Mh, was, wenn Viktor dich auch vermisst und nur, wie du es selbst sagst, zu stolz ist, um das zuzugeben?“, warf Lauri in den Raum.

„Dann ist das ja wohl verdammt nochmal sein Problem!“, fauchte Ryan gereizt.

„So und jetzt raus hier. Ich habe noch zu tun!“

Unsanft schob der Holzfäller die beiden jungen Männer zur Tür hinaus.

„Ihr braucht auch nicht nochmal wieder zu kommen. Ich will damit nichts mehr zu tun haben!“

Damit knallte er Lauri und Finn die Tür vor der Nase zu.

Finn sah Lauri nachdenklich an.

„Mh, das war … interessant. Aber was fangen wir jetzt mit dieser Information an?“

Lauri presste die Lippen aufeinander. „Mal sehen. Jetzt lass uns erstmal zurückreiten und sehen, ob Lias in der Zwischenzeit Arian befreien konnte.“

Arian

Er lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und schämte sich zu Tode.

Er hoffte inständig, dass Bene jetzt nicht auch noch reden wollte. Dazu wäre er in keinster Weise in der Lage. Es war schon schwer genug, seine eigenen Gedanken zu ordnen.

Seit er Marlon und die anderen kennengelernt hatte, hatten sich seine Ansichten und Einstellungen zu so einigen Themen doch sehr grundlegend verändert.

Wahrscheinlich hätte er sich noch vor einem halben Jahr kaum diese Gedanken gemacht. Er hätte mit dem hübschen, fremden Jungen ein wenig Spaß gehabt, ihm vielleicht auch den ein oder anderen nützlichen Tip gegeben und das wäre es dann gewesen.

Jetzt aber hatte er so ein verdammt schlechtes Gewissen, und das, obwohl es Benedikt scheinbar gefallen hatte.

Trotzdem fühlte es sich nicht richtig an.

Als die Tür ohne Ankündigung aufgestoßen wurde, schossen beide Jungen erschrocken nach oben.

Es war Viktor, natürlich, der mit verschränkten Armen lässig im Türrahmen lehnte.

„Na, ihr Süßen? Ich hoffe, ich störe nicht, aber auf dich wartet Arbeit, Arian. Offenbar wurdest du in den letzten beiden Wochen nicht nur von mir vermisst.“

Arian rappelte sich mühsam hoch und zupfte nervös seine Kleidung zurecht.

„Um Benedikt werde ich mich dann weiter kümmern.“

Mit süffisantem Lächeln trat Viktor in den Raum.

Arian nickte kurz und ohne es zu wollen, warf er nun doch einen Blick in Benes Richtung.

Etwas verunsichert lächelte der Junge ihn an und formte mit den Lippen das Wort „Danke“.

Viktor machte ihm Platz, als er durch die Tür trat. Ivan erwartete ihn im Flur und geleitete ihn zum nächsten Zimmer.

Arian betete innerlich, dass es sich um Lias und keinen echten Freier handelte. Er wusste nicht, ob er dazu jetzt in der Lage gewesen wäre.

Ivans dreckiges Grinsen ging ihm auch gehörig auf die Nerven, aber er wusste, dass es sich nicht lohnte, sich mit dem Leibwächter anzulegen.

Mit gesenktem Kopf betrat er den Raum. Als er aufsah und erkannte, dass Lias vor ihm stand, schossen ihm fast die Tränen in die Augen.

Einen Augenblick rührten sich beide nicht. Aber als die Tür ins Schloss fiel, stolperte Arian auf den großen Bruder seines besten Freundes zu und fiel diesem in die Arme.

Zum Glück stellte Lias keine Fragen und drückte den Jungen lediglich herzlich an sich. Niemals hätte Arian ihm erzählen können, was gerade im Nebenraum passiert war. Zu sehr schämte er sich dafür.

Sanft strich Lias ihm durch das Haar und wartete ab, bis Arian sich von selbst von ihm löste.

„Alles in Ordnung?“, fragte er schließlich leise, als Arian verschämt vor ihm stand.

Arian biss sich auf die Zunge und zuckte ziemlich undifferenziert mit Schultern und Kopf, so dass Lias wohl kaum erkennen konnte, ob es sich um ein Nicken oder ein Kopfschütteln handelte.

Der Junge war dankbar, dass Lias nicht weiter darauf einging.

„Bist du soweit? Robin und Marlon warten auf uns.“

Er nickte, woraufhin Lias zum Fenster huschte und einen Blick nach draußen warf.

Leise öffnete er das Fenster. Arian war froh über den leichten Windhauch. Ihm war immer noch schlecht.

„In Ordnung. Sieht gut aus. Du zuerst?“

Arian nickte stumm und schwang sich behände auf das Fensterbrett, um sich von dort aus auf das Dach zu hangeln.

Lias war direkt hinter ihm, was ihn irgendwie beruhigte.

Sein Blick streifte das angrenzende Fenster. Vor Schreck griff er ins Leere und kam kurz ins Straucheln. Benedikt stand am Fenster und sah ihn mit großen Augen an.

Arians Herz klopfte ihm bis zum Hals. Seine Hand zitterte, als er den Zeigefinger an die Lippen legte. Aber Bene nickte kaum merklich, so dass Arian mit rasendem Puls weiterkletterte.

In gebückter Haltung schlichen die beiden Männer über das Dach bis zum Nachbargebäude. Da die Häuser in der Stadt dicht gedrängt standen, war der Abstand so gering, dass Lias und Arian problemlos auf das Dach des angrenzenden Hauses springen konnten.

Marlon

Ungeduldig hüpfte Marlon von einem Bein auf das andere.

„Wo bleiben sie denn?“

Robin legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Ich bin sicher, sie tauchen gleich auf.“

„Da!“

Aufgeregt zeigte Marlon nach oben. Er hatte seinen Bruder und seinen besten Freund auf dem Dach erspäht. Sie sprangen auf das Nachbargebäude über und Lias rutschte als erster langsam über das Strohdach nach unten. Sicher landete er auf den Füßen und wurde sofort von Marlon belagert.

„Wieso hat das so lange gedauert?“

„Alles zu seiner Zeit, kleiner Bruder!“, grinste Lias und wuschelte Marlon durch die Haare, bevor er sich gemeinsam mit Robin zu Arian umdrehte und ihm die Arme entgegenstreckte, um den Jungen sanft aufzufangen.

Marlon erfasste ein Hochgefühl. Ihr Plan war wunderbar aufgegangen. Jetzt nur noch nach Hause.

Gerade, als die vier jungen Männer um die Häuserecke verschwinden wollten, schnitt Viktors Stimme wie ein Schwert durch die Luft.

„Ein Ausflug war eigentlich nicht im Preis inbegriffen.“

Erschrocken fuhr Marlon herum und auch die anderen Männer hatten sich schlagartig umgedreht.

Viktor sparte sich dieses Mal sein charmantes Lächeln.

Seine Stimme klang eisig. So ganz anders, als das letzte Mal, als Marlon ihm begegnet war. Es fuhr ihm eiskalt den Rücken herunter.

Hinter dem Zuhälter baute sich einer der beiden Leibwächter auf, eine geladene Armbrust in der Hand.

„Ich wusste, ich hab dein Gesicht schon mal gesehen.“ Viktor hatte Lias angesprochen und nickte danach in Marlons Richtung. Die Brüder sahen sich in der Tat sehr ähnlich.

„Ich weiß nicht, für wie blöd ihr mich haltet, aber so langsam bin ich mit meiner Geduld wirklich am Ende.“

Lias stellte sich schützend vor Arian.

„Dann sieh endlich ein, dass Arian nicht mehr für dich arbeiten wird.“

Viktors Kiefer arbeitete und sein wütender Blick schien Lias zu durchbohren.

„Das steht nicht zur Debatte.“

„Richtig. Ich diskutiere das auch nicht“, erwiderte Lias kühl und wandte sich zu seinen Freunden um.

„Los Jungs, wir gehen.“

Marlon ergriff Arians Hand, kalt und schweißnass und zitternd.

Lias und Robin schoben die beiden Jungen vor sich her.

Allerdings trat in diesem Moment der andere Leibwächter, ebenfalls bewaffnet, aus dem Schatten der Gebäude heraus und versperrte ihnen den Weg.

„Ihr geht nirgendwohin!“

Lauri

„Irgendwas stimmt nicht. Die vier müssten schon längst wieder hier sein.“

„Meinst du, der Plan ist schiefgegangen?“ Finn sah besorgt aus, aber auch Lauri kaute nervös auf seiner Unterlippe.

Sie befanden sich nur wenige Häuser von Viktors Residenz entfernt, daher entschieden sie, den Freunden entgegen zu gehen.

Aus einer der Seitengassen waren bekannte Stimmen zu hören. Dicht an die Wand gepresst schlichen Lauri und Finn näher. Vorsichtig warf Lauri einen Blick um die Häuserecke und erfasste in Sekundenschnelle die Situation.

Viktor und seine beiden Leibwächter hatten die Freunde eingekesselt. Die Handlanger waren mit geladenen Armbrüsten bewaffnet und Viktor hatte sichtlich schlechte Laune.

Verdammt. Unschlüssig drehte der junge Mann sich zu seinem blonden Freund um.

„Was jetzt?“, fragte dieser.

„Du bleibst hier!“ Wahrscheinlich konnte Finn den Satz schon mitsprechen und zog daher missbilligend eine Augenbraue hoch.

Als Lauri das Gewicht verlagerte, um ungesehen um die Häuserecke zu schleichen, schoss mal wieder ein stechender Schmerz durch sein Bein. Mit aufeinander gepressten Lippen stützte er sich an der Mauer ab und verfluchte Genzo im Stillen.

Trotzdem biss er die Zähne zusammen und hoffte, trotz der Verletzung schnell genug zu sein.

Da weder Viktor, noch sein Handlanger mit ihm rechnete, gelang es Lauri tatsächlich, sich unbemerkt anzuschleichen. Von hinten konnte er Gregor einen schmerzhaften Faustschlag in die Nieren verpassen und den Handlanger anschließend zu Boden reißen, so dass ihm die Waffe aus der Hand rutschte.

Viktor, der sich überrascht umgedreht hatte, verpasste er einen gut platzierten Schlag direkt auf die Nase, so dass dieser vor Schmerz aufheulte und beide Hände vor das Gesicht gerissen einige Schritte nach hinten taumelte.

Lias und Robin hatten die Unruhe ihrerseits genutzt und Ivan entwaffnet, der nun mit blutender Lippe und erhobenen Händen gegen die Häuserwand zurückgewichen war.

Lauris Handicap verschaffte jedoch Gregor, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder aufgerappelt hatte, die Möglichkeit, den jungen Mann herumzureißen und ihn unsanft gegen die Häuserwand zu schubsen.

Innerhalb kürzester Zeit fand Lauri sich so zwischen Wand und Gregor fixiert. Der Handlanger presste seinen Unterarm brutal gegen Lauris Kehlkopf, so dass dieser sich kaum rühren konnte, ohne Luftnot zu riskieren.

„Du blöder Wichser hast mir die Nase gebrochen!“, zischte Viktor, während er ein Taschentuch aus seinem Ärmel zog.

„Was soll der Scheiß?!“

Auf einen Wink von Viktor ließ der Druck von Gregors Unterarm soweit nach, dass Lauri wieder sprechen konnte.

„Akzeptier endlich, dass Arian nicht mehr für dich arbeiten will.“

Viktor kam langsam auf Lauri zu, seine kalten grauen Augen bohrten sich in die eisblauen seines Gegenübers.

„Arian gehört mir!“

„Du hast mit mir mal über Ängste gesprochen, Viktor … Wovor hast du Angst?“ Lauris Stimme hatte einen herausfordernden Klang angenommen.

Es folgte eine Pause, die wenige Augenblicke zu lang war.

„Angst? Ich habe keine Angst. Aber du solltest welche haben!“

Auf dem Weg zu Lauri und Gregor hob Viktor die Armbrust auf, welche Gregor bei Lauris Angriff hatte fallen lassen.

Kühl richtete der Zuhälter die Waffe auf den jungen Mann.

„Du hast Angst davor, verlassen zu werden, nicht wahr?“ Lauri sprach unbeirrt weiter.

Die Waffe in Viktors Händen bebte.

„Halt die Schnauze!“

„So wie Ryan dich verlassen hat …“

„Ich sagte, halt dein dreckiges Maul!“

„Es ist aber noch nicht zu spät!“

Viktor überwand die kurze Distanz zu Lauri, drückte Gregor zur Seite und richtete den Bolzen der Armbrust direkt auf Lauris Herz.

„Ich sag es nicht noch ein drittes Mal“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

„Viktor!“ Lias warnender Unterton verriet, dass er die Armbrust seinerseits auf den Zuhälter gerichtet hatte, während Robin Ivan in Schach hielt. Aber Viktor schenkte dem jungen Mann nur ein müdes Lächeln.

Sein Bolzen würde Lauris Herz im Zweifel schneller durchbohren, als dass er von Lias getroffen werden würde.

Lauri war sich dessen durchaus ebenfalls bewusst. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinab und nur weil er seine Hände gegen das kühle Mauerwerk pressen konnte, verhinderte er, dass sie zitterten.

Finn

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Fieberhaft suchte Finn nach einer Lösung, um seinen Freund aus dieser lebensbedrohlichen Lage zu befreien. Viktor schien gerade unberechenbar und Finn wollte unbedingt vermeiden, dass er aus Versehen abdrückte.

Als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte, zuckte er erschrocken zusammen. Ungläubig starrte er daraufhin in Ryans dunkle Augen, die missbilligend die Szene hinter der Hausecke betrachteten.

„Vollidioten, alle beide!“, grummelte der Holzfäller, bevor er sich an Finn vorbeischob, der ihm mit offenem Mund hinterherstarrte.

Wo zum Teufel kam Ryan nun her? Bevor Finn seine Gedanken sortieren konnte, war der kräftige Mann schon um die Ecke getreten.

Lauri

„Viktor!“

Dem Zuhälter entglitten sämtliche Gesichtszüge. Lauri hatte Viktor noch nie so gesehen. Wahrscheinlich hatte ihn noch nie jemand so gesehen.

„Ryan?!“

Mit einem Gesichtsausdruck, der nicht weniger missmutig aussah, als zu dem Zeitpunkt, als Finn und Lauri ihn verlassen hatten, stapfte der Holzfäller auf die beiden Männer zu.

Viktor ließ die Armbrust sinken, wahrscheinlich nur, weil er so irritiert war. Die beiden Leibwächter wussten ebenfalls nicht, wie die Situation einzuordnen war, aber da Viktor nichts sagte, rührten sie sich auch nicht.

„Viktor, du verdammter Idiot. Was soll der Mist?“

Ryan baute sich ungerührt vor seinem ehemaligen Freund auf. Er hob die Hand, doch Viktor fuhr blitzschnell herum und richtete die Waffe nun auf den Überraschungsgast.

Die dunklen Augen fixierten zuerst die Spitze des Bolzens, dann, mit hochgezogener Augenbraue den Zuhälter.

„Ist das dein Ernst?“

„Dieselbe Frage könnte ich dir stellen!“, zischte Viktor geladen und bohrte den Bolzen ins Ryans Brustkorb, der trotzdem nicht einen Zentimeter zurückwich.

„Was willst du hier?“

„Nimm sofort die verdammte Armbrust runter, bevor ich wirklich sauer werde!“

Lauri bemerkte, wie Viktors Hände anfingen zu zittern, aber er war wie so oft nicht bereit zurückzurudern.

Ryan seufzte genervt. „Du hast dich wirklich kein Stück verändert, Viktor.“

„Dann verschwinde am besten wieder.“

„Nimm die scheiß Waffe runter!“

Als Viktor nach wie vor nicht auf die Forderung reagierte, schlug Ryan seinem ehemaligen Freund ungerührt die Armbrust aus der Hand.

Als die Waffe zu Boden fiel, löste sich unbeabsichtigt ein Schuss.

Instinktiv hatte sich Lauri zusammengekauert, die Arme zum Schutz über dem Kopf. Auch die anderen Männer in der engen Gasse hatten ähnlich reagiert.

Der Bolzen prallte an einer der Hauswände ab und kam als Querschläger zu den Männern zurück.

Viktor war zu überrascht gewesen, um zu reagieren.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Ryan an, bevor er langsam eine Hand hob und die Wunde an seinem Ohr berührte, die der Streifschuss hinterlassen hatte.

Wie hypnotisiert betrachtete er das Blut an seinen Fingern.

Lauri erkannte jetzt auch bei Ryan eine Regung. Der Brustkorb des kräftigen Mannes hob und senkte sich schneller als zuvor. Der Schreck stand nun auch dem Holzfäller ins Gesicht geschrieben.

Einen Moment starrten sich die beiden Männer geschockt an.

Lauri und alle anderen starrten Viktor und Ryan ebenfalls ungläubig an.

Zu verwirrend war alles, was hier gerade passierte.

Die Verwirrung löste sich auch nicht dadurch, dass Ryan Viktor plötzlich an sich zog.

Die Umarmung dauerte nur einen Wimpernschlag, bis Viktor seinen ehemaligen Freund unwirsch von sich stieß.

„Du hast mich fast umgebracht, du Arschloch!“

Bevor der Zuhälter auf ihn einschlagen konnte, hielt Ryan bereits Viktors blutverschmierten Hände fest.

„Hey, Moment mal! Du hast zuerst die Waffe auf mich gerichtet … und auf Lauri.“

Die beiden Männer sahen nun in Lauris Richtung, der sich mühsam mit der Wand im Rücken aufrappelte.

„Ja, er … ich … er hat …“ Viktor kam ins Straucheln. Noch etwas, was Lauri bei dem sonst so souveränen, abgebrühten Zuhälter noch nie erlebt hatte.

„Es geht um diesen Jungen, nicht wahr?“, fragte Ryan.

„Arian gehört mir.“

„Keiner dieser Jungs gehört dir.“

Viktor funkelte Ryan wütend an, aber der kräftige Mann blieb völlig ruhig.

Seine Stimme war nur ein Flüstern. Wahrscheinlich konnte neben Viktor nur Lauri verstehen, was er sagte.

„Aber es gab mal einen Jungen, dessen Herz gehörte dir … bis du es weggeworfen hast.“

„DU hast MICH verlassen!“, fauchte Viktor. Lauri erkannte ein verräterisches Glänzen in Viktors Augen. Waren das Tränen? Stimmte es wirklich? Viktor war zu echten Gefühlen fähig?

„Nur physisch“, erwiderte Ryan sanft. Er legte Viktor eine Hand auf die Brust. „Hier hattest du mich schon vorher verlassen.“

Zitternd griff Viktor nach Ryans Hand, nur um diese Sekunden später unwirsch von seiner Brust zu wischen.

„Und … was willst du jetzt hier?“ Auch Viktors Stimme war leise geworden.

Ryan trat wieder einen Schritt näher. Es blieb vielleicht eine Handbreit Platz zwischen ihnen.

„Ich weiß nicht …“ Er klang heiser. „Vielleicht sehen, ob du zu einem Neuanfang bereit bist …“

Einen Moment schwiegen sie. Viktor starrte auf den Boden zwischen ihnen.

„Und wie soll der aussehen?“

Es war, als stünde die Zeit still. Keiner der Anwesenden rührte sich.

Ryan senkte den Kopf. Er griff in Viktors Nacken. Ihre Stirnen berührten sich.

„Komm mit mir.“ Viktor presste die Lippen aufeinander, aber er wehrte sich diesmal nicht gegen Ryans Berührung. „Und lass den Jungen gehen. Lass sie alle gehen. Du brauchst sie nicht.“

„Ich kann nicht.“ Nur ein Flüstern, aber Lauri konnte die Verunsicherung heraushören. Niemals hätte er geahnt, dass Ryan so einen großen Einfluss auf Viktor gehabt hatte und hoffentlich immer noch hatte.

„Warum nicht?“

„Ich weiß nicht … Dann … wäre ich allein.“

„Das bist du nicht, das weißt du.“ Seine Lippen waren nur wenige Millimeter von Viktors entfernt.

„Ich habe dich vermisst.“

Lauri konnte nicht ausmachen, wer von beiden nun die Initiative übernommen hatte, aber als sich ihre Lippen trafen, hielt Lauri kurz die Luft an. Ein Blick zu seinen Freunden verriet ihm, dass auch die anderen mehr als überrascht über diese Wendung waren.

Während Arian, Marlon, Robin und Lias das Paar mit offenen Mündern anstarrten, zuckte Finns Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln nach oben.

„Also?“ Ryans dunkle Augen fixierten Viktors Blick. Es dauerte einen Moment, aber dann nickte Viktor, nur leicht und kurz, aber er nickte.

Der Holzfäller griff nach Viktors Hand und schob ihn langsam in Richtung des Hauses.

„Verschwindet“, brummte Ryan, als er an Lauri vorbeiging. Viktor schwieg.

Er schwieg sogar, als Ryan auch Ivan und Gregor anwies, sie zu verlassen und auch, als er einen Jungen vor die Tür setzte, der im Türrahmen gestanden hatte und die ganze Unterhaltung aus der Ferne mitbekommen haben musste.

Als die Tür ins Schloss fiel und die beiden Leibwächter irritiert abzogen, begannen sich auch die Freunde wieder zu regen.

Arian

Es fühlte sich seltsam an. Er zitterte immer noch, daran änderte leider auch Marlons Hand nichts, die er immer noch umklammerte. Er war frei?! Wirklich frei? Die ganze Situation erschien ihm so unwirklich. Wer zum Teufel war dieser Ryan und warum tauchte er ausgerechnet jetzt auf?

Marlon drückte seine Hand, was Arian dazu veranlasste, sich zu seinem besten Freund umzudrehen.

„Oh Mann, was war DAS denn?“ Marlon wirkte zwar nicht minder verwirrt, aber er strahlte über das ganze Gesicht, um Arian anschließend um den Hals zu fallen.

„Ist ja auch völlig egal! Hauptsache dieser Typ hält Viktor fern von uns!“

Sprachlos nickte Arian.

Die jungen Männer wirkten nun alle erleichtert und am Rande schnappte Arian auf, dass Lauri und Finn Ryan ausfindig gemacht hatten. Durch die wilde Unterhaltung fiel sein Blick jedoch auf Benedikt, der immer noch etwas verloren vor dem Haus des Zuhälters stand.

Sanft löste Arian sich aus der Gruppe und ging auf Bene zu, der ihm ebenfalls einige Schritte entgegenkam.

Verlegen standen sie voreinander.

„Ja … ähm … danke.“ Bene fuhr sich nervös durch die Haare.

„Das war nicht mein Verdienst“, gab Arian zurück und nickte mit dem Kopf in die Richtung seiner Freunde.

Benedikt schaute an Arian vorbei zu der Gruppe junger Männer.

„Mh, ja … ich … Entschuldige. Ich wusste nicht, dass du vergeben bist. Sonst hätte ich dich nicht so gedrängt.“

Arian riss die Augen auf.

„Marlon? Er … nein, wir sind nicht zusammen. Er ist mein bester Freund. Aber er ist nicht schwul.“

„Oh, ach so…“

Wieder standen sie verlegen einen Moment schweigend voreinander.

„Wo gehst du jetzt hin?“, fragte Arian schließlich.

Bene zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

Arian kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Ob Bene vielleicht …? Er warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Marlon löste sich von den anderen und kam auf die beiden Jungen zu.

„Na?“ Marlon grinste wie ein Honigkuchenpferd über das ganze Gesicht.

Da die beiden Jungs schwiegen, streckte er Benedikt eine Hand entgegen. „Ich bin Marlon!“

Der Junge nahm die Hand. „Hallo, Bene.“

Marlon rieb seine Handflächen gegeneinander. „Also … wie sieht’s aus? Gehen wir nach Hause?“

Arian nickte. „Ja, ich wollte mich nur noch eben verabschieden.“

Wieder grinste Marlon, als sein Blick zwischen den beiden Jungs hin und her wanderte.

„Alles klar, dann … bis gleich. Mach’s gut, Bene!“

Bene nickte.

„Er ist nett.“

„Ja.“ Arian warf wieder einen Blick über seine Schulter. Irgendwie fühlte er sich immer noch schlecht.

„Muss toll sein, solche Freunde zu haben.“

Der Kloß in seinem Hals wurde dicker, also nickte er nur.

„Also … dann … will ich euch mal nicht aufhalten.“

„Ok … pass auf dich auf.“

„Du auch!“

Marlon war noch nicht bei den anderen angekommen, als Arian ihn am Arm festhielt.

„Marlon … ähm, ich … meinst du, wir … äh glaubst du, Bene könnte …“ Er fand nicht die richtigen Worte. Marlon sah immer noch grinsend an ihm vorbei in Benedikts Richtung.

„Du magst ihn, oder?“

Arian spürte, wie sein Gesicht rot anlief.

„Na ja, schon … irgendwie.“ Die ganze Geschichte wäre wohl zu kompliziert, aber im Grunde traf Marlon den Nagel auf den Kopf.

„Ob er mitkommen kann, willst du wissen?“

Arian kaute nervös auf seiner Unterlippe, aber Marlon lachte nur.

„Bestimmt. Komm, wir fragen Lias und Robin!“

Robin lachte ebenfalls nur und an Lias gerichtet sagte er: „Hab ich nicht gesagt, dass wir noch anbauen müssen.“

Arian knetete verlegen seine Hände. „Ich weiß, ihr habt schon so viel für mich getan. Es ist eigentlich unverschämt, das zu fragen!“

Lias legte Arian aufmunternd eine Hand auf die Schulter. „Ach was. Und wo sechs satt werden, werden auch sieben satt. Wobei … Marlon müsste mal aufhören, Massen an Nahrung in sich reinzuschaufeln.“

„Hey!“ Marlon lachte und an Arian gewandt: „Was hab ich gesagt?!“ Er knuffte seinen besten Freund in die Seite. „Also los, mach schon! Frag ihn!“

Benedikt war noch nicht weit gekommen, als Arian ihn einholte.

„Bene, warte mal!“

Überrascht drehte der Junge sich um.

„Arian?!“

„Ja, ich … also, ich wollte fragen, ob du nicht vielleicht mitkommen willst?“

Arians Herz klopfte ihm bis zum Hals. Warum nur war er so nervös?

Auf Benes Gesicht stahl sich ein Lächeln, aber er sah dennoch verwirrt aus.

„Arian. Du bist mir nichts schuldig oder so.“

Arian schüttelte den Kopf. „Nein, doch … also ich meine, ich hab zwar immer noch ein schlechtes Gewissen, aber … ich würde mich wirklich freuen, wenn du mitkommst.“

Sein Mund fühlte sich wahnsinnig trocken an. Es war gar nicht so einfach gewesen, die Worte rauszubringen.

Benedikt schien einen Moment zu überlegen.

„Lias und Robin haben einen kleinen Hof. Da gibt es immer etwas zu tun. Es ist vielleicht nichts Besonderes, aber es ist eine anständige Arbeit und …“ Arian überlegte, was er noch sagen könnte.

Bene lächelte. „Klingt toll, ich … mh, in Ordnung, wenn du wirklich möchtest.“

Arian nickte nur.

„Aber Arian?“

Er fuhr erneut herum. Nur Benes sanftes Lächeln beruhigte ihn.

„Wenn dich das immer noch so belastet, dann … lass uns doch einfach noch mal von vorne anfangen!“

Verwirrt starrte er auf Benes ausgestreckte Hand.

„Hi, ich bin Benedikt. Kannst aber Bene sagen.“

Ein zaghaftes, verstehendes Lächeln breitete sich nun auch auf Arians Gesicht aus. Er nickte und ergriff die ihm angebotene Hand.

„Ich bin Arian.“

„Schön, dich kennenzulernen, Arian!“

„Ja, find ich auch.“

Nachwort

An dieser Stelle wieder ein ganz dickes Dankeschön an meinen Lieblingskorrektor Torsten. Ich behaupte, so langsam trägt deine Fleißarbeit sogar Früchte und ich mache Fortschritte, was mein Zeichensetzungsmassaker anbelangt.

Dankeschön natürlich auch dir, werter Leser, dass du Lauri und Finn nun schon so lange und treu begleitet hast. Ob die beiden in meinem Kopf nun endlich Ruhe geben …?! Ich glaube ja.

Möglicherweise könnte ich mir aber vorstellen, Marlon und seine neuen Freunde auf ihrem weiteren Lebensweg noch etwas zu begleiten …

Völlig abwegige Vorstellung oder eine gute Idee? Lass mich gern wissen, wie dir die Geschichte gefallen hat und ob du mehr lesen möchtest. Ich freue mich über jedes Feedback und beantworte jede Mail, die hier eintrudelt.

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