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Bruderherz

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„Wie lange soll ich denn noch hier sitzen bleiben?“

Robin zog halb belustigt, halb genervt eine Augenbraue hoch.

„Wenn du mal still sitzen würdest, würde es schneller gehn“, kam die prompte Antwort seines Bruders hinter der Staffelei. Robin ließ den Kopf in den Nacken fallen und seufzte. „Ich frag mich sowieso, warum du nicht einfach in den Spiegel guckst ... Wie viel Uhr haben wir eigentlich?“ Leon ließ den Pinsel sinken und warf Robin einen genervten Blick zu. „Gleich halb 6 ... Ich find's halt einfacher, dich als Vorlage zu benutzen ...“

„Siehste, das ist das Problem ... du benutzt mich nur.“ Robin grinste und packte beim Aufstehen seine Jacke.

„Hey warte, du kannst jetzt nicht einfach gehn! Ich bin noch nicht fertig.“

Leon ließ enttäuscht die Schultern hängen. Robin kam um die Staffelei herum, klopfte Leon ermutigend auf die Schulter und drückte seinem Bruder einen kleinen Spiegel in die Hand, der auf dem Tisch gelegen hatte.

„Ich glaub fest an dich, Bruderherz. Du schaffst das auch ohne mich.“ Er grinste breit.

„Bin mit Lena verabredet.“ Lässig warf er sich die Jacke über die Schulter und schlenderte zur Tür. Am Türrahmen stoppte er noch einmal.

„Hey Leon! Du bist doch heute Abend auch dabei, oder? Abi-Party bei Kesslers, und komm nicht wieder zu spät!“ Leon nickte nur stumm und wandte sich wieder seinem Bild zu. Nach wenigen Pinselstrichen ließ er den Pinsel jedoch wieder sinken und sich auf den Stuhl fallen. Sein Blick wanderte durch das gemeinsame Zimmer der Brüder und blieb auf einem gefalteten Blatt Papier hängen, das auf dem Nebentisch lag. Mit farbigen Fingern griff er danach und las das kurze Anschreiben zum wiederholten Mal.

„Sehr geehrter Herr Brink, vielen Dank für Ihr Interesse an einem Studium an unserer Hochschule. Bitte reichen Sie Ihre Bewerbungsmappe mit mindestens 20 eigenen Arbeiten bis zum 1.8. im Sekretariat ein. Mit freundlichen Grüßen – Ostner“

Noch 3 Monate. Leon warf einen Blick auf das unfertige Bild mit dem Porträt seines Bruders. Murrend nahm er den Spiegel in die Hand und betrachtete sich kritisch darin. Blaue, aufgeweckte Augen, die unter hellbraunen, verwuschelten Haaren hervorblickten, vereinzelte Sommersprossen (davon hatte Robin definitiv mehr, da er sich häufiger draußen aufhielt als sein Bruder), ja sicher, sie waren Zwillinge und für viele sahen sie sich zum Verwechseln ähnlich, aber für Leon lagen dennoch Welten zwischen ihm und seinem Bruder. Sich selbst zu malen war einfach nicht dasselbe ...

„Wie soll ich das Bild jemals fertig bekommen, wenn der Idiot immer abhaut?“

Leon schlenderte die Straße runter. Schon von Weitem konnte man die Musik und die lachenden Stimmen der Abiturienten hören, die bei Kesslers ihren Abschluss feierten. Auch wenn Leon sich auf den Abend mit Freunden und Klassenkameraden freute, war er in Gedanken mal wieder woanders. Schon seit Wochen kreisten seine Gedanken nur noch um das Studium an der Kunsthochschule. Wenn er dort nur angenommen würde, würde sich ein Traum erfüllen. Von morgens bis abends nichts anderes als malen und zeichnen. Die Vorstellung zauberte dem jungen Mann stets ein Lächeln auf die Lippen.

„Robin ... Robin wart doch mal!“ Lena rannte Leon hinterher, in der einen Hand eine fast leere Sektflasche.

„Wo kommst du denn her?“ Leon hatte gar nicht auf die Rufe reagiert und stoppte überrascht, als die Freundin seinen Bruders ihm überschwänglich um den Hals fiel. „Lena ...!“

„Mensch, wo warst du denn?“ Sie roch leicht nach Alkohol und ihrem süßen Parfüm und drückte ihm angeheitert einen Kuss auf den Mund.

„Lena, ich ... ich bin nicht Robin.“ Sanft schob er die junge Frau etwas von sich und sah verlegen auf den Boden. Er mochte die blonde 18-Jährige, aber manchmal konnte er nicht glauben, dass sie ihn und seinen Bruder nach über einem halben Jahr Beziehung manchmal immer noch verwechselte.

„Oh ...!“, Lena grinste.

„Sorry Leon! Willst du ´nen Schluck?“ Sie hielt ihm die Flasche entgegen. Leon schüttelte den Kopf.

„Hast du denn Robin gesehen? Keine Ahnung, wo er auf einmal hin ist ... Na ja, lass uns erst mal reingehen!“ Sie hakte sich bei ihrem Schwager in spe unter und zog Leon mit ins Getümmel.

Während Leon versuchte, sich einen Überblick über das Chaos zu verschaffen, sprang Robin von hinten zwischen seinen Bruder und seine Freundin und legte beiden je einen Arm um die Schulter.

„Na da biste ja! Und versuchst mir gleich wieder meine Freundin auszuspannen!“, grinste er und gab Lena einen Kuss.

„Wie weit biste mit dem Bild gekommen?“ Leon zuckte mit den Schultern und nahm eine Flasche Bier von seinem Bruder entgegen.

„Nicht besonders ...“

„Ach, das wird schon“, lachte Robin und stieß mit Leon an.

„Jetzt lass uns erst mal feiern! Wir haben unser Abi in der Tasche, Junge, was kann jetzt noch schiefgehen?“ Er nahm einen Schluck und musterte seinen Bruder.

„Was dir jetzt noch fehlt, ist ein nettes Mädel, damit du mal was lockerer wirst.“

„Musst du schon wieder damit anfangen?“, murmelte Leon.

„Jap, muss ich. Und das Beste ist, Bruderherz, dass du jede Menge Weiber haben könntest, wenn du wolltest ...“ Robin hatte wieder einen Arm um seinen Bruder gelegt und deutete mit seiner Bierflasche in die Richtung einiger Mädchen, die gemeinsam auf der Tanzfläche standen und lächelnd zu den Brüdern herübersahen. Robin nickte den Damen zu und nahm noch einen Schluck Bier.

„Das ist Jonas' Schwester Melanie mit ihren Freundinnen aus der 11. Was meinst du?“ Leon seufzte.

„Ich meine, du solltest das mir überlassen!“

Robin hob beschwichtigend die Hände.

„Ganz wie du meinst, mein Lieber! Wenn du mich suchst ... bin mit Lena draußen.“

Leon nickte und wanderte an der Tanzfläche vorbei in Richtung Buffet. In der Küche waren nur wenige junge Leute unterwegs, die meisten feierten ausgelassen im Wohnzimmer des Hauses, aber Leon war es meistens sowieso lieber, nicht mitten im Gewühl zu stehen. Noch so ein kleiner, aber feiner Unterschied zwischen den Zwillingen. Robin konnte man wohl als Rampensau bezeichnen. Er spielte Gitarre in einer Band, hervorragend Fußball in der Schulmannschaft und durfte auf keiner Party fehlen. Leon hatte den Gitarrenunterricht nach wenigen Monaten aufgegeben. Gelegentlich schrammelten sie zwar zusammen ein paar Songs, aber über einige einfache Akkorde kam Leon nicht hinaus, während Robin abenteuerliche Soli spielte. Über Sport wollte Leon am liebsten gar nicht nachdenken. Er joggte ganz gern durch das Wäldchen, welches direkt neben ihrem Elternhaus begann, aber Fußball war so ein Spiel, dem er noch nie etwas abgewinnen konnte. Dafür malte und zeichnete er für sein Leben gern. Eigentlich könnten sie verschiedener nicht sein …

„Hi! Gibst du mir mal den Ketchup?“

Eine von Melanies Freundinnen strich sich eine Strähne dunkles Haar aus dem Gesicht. „Klar. Hier.“ Leon reichte die Flasche rüber.

Und noch etwas … Robin, der Frauenschwarm. Seit einem halben Jahr war er jetzt mit Lena zusammen und versuchte seitdem auch ständig, seinen Bruder zu verkuppeln. Vielleicht hätte das auch schon funktioniert, wenn … ja, wenn …

„Herzlichen Glückwunsch zum Abi!“, riss sie Leon aus seinen Gedanken.

„Danke. Aber die Zeugnisse haben wir ja noch gar nicht.“

Sie zuckte mit den Schultern „Haste denn Bedenken, ob du bestanden hast?“

„Nee ... eigentlich nicht“, Leon lachte.

„Ich bin Sara“, sie streckte ihm ihre rechte Hand entgegen.

„Leon“, erwiderte er, als er sie ergriff.

„Ich weiß“, grinste sie wieder und leckte sich einen Finger ab, der etwas vom Ketchup abbekommen hatte. Überrascht zog er eine Augenbraue hoch. Versuchte sie grade, ihn anzubaggern?

„Ach ja?“

„Sollen wir ein bisschen rausgehen? Ist so warm hier drin.“

Sara warf ihm einen fragenden Blick zu, als sie sich zur Tür wendete. Leon folgte ihr schulterzuckend.

Auf der Terrasse war weniger los. Ein sanfter Nachtwind kühlte den beiden die von der Party aufgeheizten Gesichter, während sie sich unterhielten.

„Joa, Robin und du, ihr seht euch schon verdammt ähnlich“, nickte Sara. „Aber so im Großen und Ganzen seid ihr schon ziemlich unterschiedlich, oder?“

Leon zuckte überrascht mit den Schultern und schaute auf das Glas in seiner Hand. “Schon.” Nur wenige Leute schienen sich darüber Gedanken zu machen.

“Ich hab gehört, du malst.” Sara fuhr mit einem Finger über den Rand ihres Glases und spähte neugierig unter ihrem Pony hervor. Unwillkürlich kräuselten sich Leons Lippen zu einem Lächeln, auch wenn er sich fragte, woher sie das wusste.

“Ja, schon. Ich bewerbe mich diesen Sommer an ´ner Kunsthochschule. Wenn alles klappt ...”

„Ich würde ja zu gern mal welche von deinen Bildern sehen …“, säuselte sie, doch gerade in diesem Moment verabschiedete sich Leons Konzentration auf das Gespräch. Ein seltsam beklemmendes Gefühl schnürte ihm den Hals zu und jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.

„Äh Leon! Geht’s dir gut?“

Er blickte kurz auf und sah Saras erschrockenem Gesichtsausdruck an, dass er ziemlich mies aussehen musste.

„Ich … wo ist Robin?“, stammelte er, und stürmte im nächsten Augenblick an dem verwirrten Mädchen vorbei. Das Glas landete etwas unsanft auf der nächsten Abstellmöglichkeit, während er sich durch das Getümmel im Wohnzimmer wühlte. Das beklemmende Gefühl wurde immer stärker und es schien fast so, als würde es allmählich auch die übrigen Partygäste erfassen. Jemand hatte die Musik ausgeschaltet und erschrockene Gesichter machten Leon Platz, der sich endlich zur Haustür vorgekämpft hatte.

Mit letzter Kraft überwand Leon die letzten Meter bis zur Straße und fiel vor Robin auf die Knie. Die Autoscheinwerfer warfen ein unwirkliches Licht auf den verkrümmten Körper. Wie durch Watte hörte er Lena schluchzen.

„Rob?“ Mit zitternden Händen hob er Robin an und bettete dessen Kopf auf seinen Schoß. „Mach keinen Scheiß, Robin!“ Jedes weitere Wort blieb ihm im Hals stecken. Er war nicht einmal in der Lage, nach einem Puls zu fühlen. Er saß einfach nur da und starrte in sein vermeintliches Spiegelbild, das plötzlich so blass und leblos auf seinen Knien lag.

Irgendwann traf der Rettungswagen ein. Leon wusste nicht, wie lange es gedauert hatte. Wie in Trance sah er zu, wie der Notarzt versuchte, Robin zu reanimieren. Jemand hatte ihm eine Decke umgelegt, er wusste nicht wer. Irgendwann gaben sie auf.

Leon wurde erst langsam wieder klarer, als er im Krankenhaus auf einer Liege lag. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war und es war ihm egal. Alles war egal.

„Hey Leon! Alles klar? Geht’s dir gut?“

„Ob es mir gut geht? Du bist tot!“

„Oh …“

Leon starrte an die Decke, direkt in die grellen Leuchtstoffröhren. Ihm tat irgendwie alles weh. Robin war tot …

Draußen hörte er hektische Schritte und Stimmen. Die Tür wurde aufgerissen und seine Eltern stürmten ins Zimmer. Mühsam setzte er sich auf. Seine Mutter fiel ihm um den Hals. Sie war mindestens so blass wie er und ihre Wangen waren noch feucht von den Tränen.

Er hatte nicht die Kraft, sie ebenfalls zu umarmen. Seine Arme kamen ihm so schwer wie Blei vor. Sein Vater legte ebenfalls seine Arme um ihn und seine Mutter.

Eine Weile standen sie so da und schwiegen.

Irgendwann richtete sich seine Mutter auf. Sie nahm Leons Gesicht in beide Hände und blickte ihn mit feuchten Augen an. „Dir ist nichts passiert …“

Es war mehr eine Feststellung, keine Frage. Einer war ihnen geblieben. Einer von Zweien …

Leon nickte nur. Er wollte, nein, er konnte nicht reden. Er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Robin war tot …

Nach einer gefühlten Ewigkeit schlich sich jemand vom Krankenhauspersonal ins Zimmer. Der Kerl wirkte zumindest betroffen, spielte nervös mit seinen Händen herum und erklärte errötend, dass Herr und Frau Brink noch etwas unterschreiben müssten. Dann könnten sie selbstverständlich nach Hause gehen.

Leon lehnte es ab, einen Schluck zu trinken. Müde lehnte er an der weißen Krankenhauswand, während seine Eltern sich mit Formalitäten rumschlagen mussten.

Seine Beine zitterten nicht mehr so schlimm wie vorhin, aber er fühlte sich trotzdem noch schwach. Das Bild von Robins leblosem Körper auf dem Asphalt wollte nicht von seinem inneren Auge verschwinden.

Vielleicht war er gar nicht tot? Nur schwer verletzt, wurde gerade operiert …

Vielleicht konnte er für Robin Blut spenden? Oder eine Niere? Ein Stück von der Lunge?

Seine Eltern wandten sich gerade vom Tresen ab, an dem sie die Formulare ausgefüllt hatten. „Komm, Leon … wir fahren nach Hause!“ Sein Vater legte ihm seine schwere Hand auf die Schulter.

Während der Autofahrt schwiegen sie. Herr Brink schien noch am meisten gefasst zu sein. Er fragte Leon, ob er noch etwas essen oder trinken wolle. Leon schüttelte den Kopf. Ob er diese Nacht bei ihnen schlafen wolle? Wieder schüttelte Leon den Kopf.

„Kümmer dich um Mama …“, flüsterte er und drehte sich um, um in sein Zimmer zu gehen.

Leise schloss er die Tür hinter sich. Er konnte seine Mutter nebenan weinen hören und seinen Vater, der leise mit ihr sprach.

Das Zimmer sah plötzlich so groß aus und vor allem leer.

Erschöpft legte er sich auf sein Bett, ohne sich vorher auszuziehen. Ein Blick auf den Radiowecker verriet ihm, dass es 2:34 Uhr war.

„Hey … geht’s dir schon besser?“

„Geht so … ich bin müde, aber ich glaub nicht, dass ich schlafen kann.“

„Mh! Was machen die Eltern?“

„Du hörst doch! Mama ist völlig mit den Nerven am Ende. Papa versucht sich zusammenzureißen, aber ich glaub, er ist genauso fertig.“

„Tut mir leid!“

„Wie konnte das passieren?“

„Ich hab keine Ahnung …“

Irgendwann fielen Leons Augen doch zu.

Er wachte erst am nächsten Tag gegen Mittag auf.

Kopfschmerzen. Fahler Geschmack im Mund. Brennende Augen.

Irgendwas war doch passiert, oder? Oder nur ein böser Traum?

Er linste zu Robins Bett herüber und erwartete fast, seinen Bruder darin liegen zu sehn. Das Bett war leer. Leon schloss die Augen, drückte das Gesicht tief ins Kissen. Schaute nochmal rüber, aber Robins Bett blieb leer.

„Komm schon, steh auf! Du musst mal was essen, Bruderherz!“

„Wozu …?“

„Es nützt niemandem etwas, wenn du verhungerst!“

„So schnell verhungert kein Mensch.“

„Klugscheißer!“

Leon stand zwar auf. Hunger hatte er aber trotzdem nicht. Den Besuch im Badezimmer hielt er kurz. Er konnte sein Spiegelbild nicht ertragen. Danach schlich er in die Küche.

Seine Mutter saß zusammen gesunken am Esstisch und umklammerte eine Kaffeetasse. Ihre Augen waren rot vom Weinen und als sie Leon ansah, schossen ihr direkt wieder Tränen in die Augen.

Leon drehte sich schnell zur Kaffeemaschine um und goss sich ebenfalls eine Tasse ein. Eigentlich mochte er keinen Kaffee. Er hörte wie sein Vater nebenan telefonierte. Nach dem Gespräch kam er ebenfalls in die Küche.

„Leon … hast du … gut geschlafen?“

Leon zuckte mit den Schultern und nippte am Kaffee. Widerlich … Vielleicht half Zucker. Er schaufelte einige Löffel in die Tasse.

Etwas unschlüssig stand sein Vater neben dem Tisch, das Telefon noch in der Hand.

Seine Mutter stand plötzlich auf und rauschte mit einem erstickten „Tut mir leid“ aus dem Zimmer. Leons Vater seufzte und legte das Telefon samt einigen Notizzetteln auf dem Esstisch ab.

„Ähm … wir fahren nachher zum Bestattungsinstitut. Wir müssen einen Sarg aussuchen. Willst du mit?“

Leon schüttelte den Kopf. Einen Sarg? Und Robin da drin? Die Vorstellung jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Der Kaffee schmeckte immer noch widerlich. Er kippte ihn weg.

Sie hörten Leons Mutter nebenan wieder weinen.

„Ich seh mal nach ihr …“, murmelte sein Vater und verschwand erneut.

Warum war es eigentlich so scheiße still hier?

Leon schaltete das Radio an, um seine Mutter nebenan nicht mehr hören zu müssen.

„Der Song ist super! Den hab ich letztens noch auf der Gitarre geübt.“

„Mh …“

„Du bist heute Morgen nicht sehr gesprächig!“

„Das wärst du wohl auch nicht.“

„Wie geht’s Mom?“

„Scheiße … ich glaub, sie sieht dich, wenn sie mich sieht.“

„War das nicht immer so?“

„Keine Ahnung! … Die wollen nachher ´nen Sarg aussuchen.“

„Schräg!“

„Das ist gruselig. Ich fahr nicht mit.“

„Und was hast du heut vor?“

„Keine Ahnung … nix!“

„Mh …“

„Ja, da fällt dir dann auch nix mehr zu ein, ne!“

Leon schaltete das Radio aus und verkrümelte sich wieder ins Zimmer.

Zuerst machte er die beiden Fenster weit auf. Etwas frische Luft tat ganz gut. Dann sah er sich unschlüssig um. In einem Punkt waren Robin und er sich ziemlich ähnlich (gewesen) … sie waren beide eher unordentlich.

Grob sammelte er erst mal alle Klamotten ein, die auf dem Boden und den Möbeln rumlagen, schleppte alles runter in den Waschkeller und stellte sogar eine Maschine an.

Dann machte er die Betten und räumte seinen Schreibtisch auf. Kurz fiel ihm der Brief der Kunsthochschule in die Hände. Ab in die Schublade damit. Überall lagen und standen seine Bilder rum. Beim Anblick der Porträts von Robin bekam er kurzzeitig eine Gänsehaut und verstaute die kleineren Arbeiten schnell in seiner Mappe. Über die unfertige große Leinwand warf er ein Tuch und räumte es in die hinterste Ecke des Zimmers.

Dabei stolperte er über die Leitung von Robins E-Gitarre.

„Ach Mensch, Rob!“ Er kickte die Leitung ein Stück unters Bett.

„Leon?“ Sein Vater steckte den Kopf ins Zimmer. Überrascht stellte er fest, dass sein Sohn aufgeräumt hatte, ließ das jedoch unkommentiert und fragte stattdessen, ob dieser sich noch umentschieden hatte. Sie würden jetzt losfahren.

Leon schüttelte den Kopf. „Nee … macht ihr mal!“

„Kommst du klar allein?“

„Muss …“

Leon sah seinem Vater an, dass es ihm leidtat, sich gerade nicht um seinen Sohn kümmern zu können. Aber Leon war es sowieso lieber, jetzt allein zu sein.

Als die Haustür zugezogen wurde, setzte er sich auf Robins Bett. Nach kurzem Zögern griff er nach der E-Gitarre seines Bruders und regelte den kleinen Verstärker neben dem Bett.

„Was machsten da?“

„Boah, Robin! Erschreck mich doch nicht so!“

„Du kannst doch gar nicht Gitarre spielen!“

„Ach ja …“

„Das sind DEINE Worte, Bruderherz!“

„Hättest dir ja mehr Mühe geben können, mir was beizubringen!“

Er klimperte unbeholfen und versuchte, die Saiten nachzustimmen.

„Na so wird das nix!“

„Ach sei doch still!“

„Die E-Saite ist viel zu hoch.“

„Ja doch!“

Nach einiger Zeit gab er auf, stellte die Gitarre ordentlich zur Seite und schaltete den Verstärker aus. Irgendwie wusste er nichts mit sich anzufangen. Vielleicht hätte er doch mit seinen Eltern mitfahren sollen?

So langsam knurrte Leon dann aber tatsächlich der Magen. Wie lange hatte er schon nichts mehr gegessen?

Er warf sich eine Jacke über und schlenderte in Richtung Innenstadt.

Die Sonne schien, Vögel zwitscherten, er hörte Kinder in den umliegenden Gärten lachen und spielen … Ätzend. Hatte die Welt nicht mitgekriegt, was gestern passiert war?

Missmutig kickte er eine leere Coladose vor sich her.

„Leon?“

Er wusste, wem die zaghafte Stimme gehörte, noch bevor er den Blick hob. Lena, mit so ziemlich demselben verheulten Gesichtsausdruck wie Leons Mutter, stand nur wenige Schritte vor ihm. Als sich ihre Blicke trafen, füllten sich ihre Augen sofort wieder mit Tränen und wenige Sekunden später fiel sie ihm um den Hals.

Hilflos blieb er stehen, während die Freundin seines Bruders sich an seiner Brust ausweinte, obwohl ihm das eigentlich zu viel war.

Irgendwann ebbte ihr Schluchzen ab und sie richtete sich wieder auf.

Ihre Augen suchten seinen Blick erneut und er fürchtete so etwas wie Hoffnung darin aufleuchten zu sehen.

„Aber es stimmt, nicht wahr?“ Sie putzte sich die Nase.

„Rob ist …“ Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. Leon auch nicht. Er nickte nur.

„Meine Eltern sind grad beim Bestatter“, erklärte er, um wenigstens irgendwas zu sagen. Klang das tröstend? Wahrscheinlich nicht … aber war es seine Aufgabe, sie zu trösten?

Sie biss sich auf die Unterlippe, wohl um nicht erneut zu weinen, und wischte sich schnell über die Augen, bevor sie fragte: „Wohin gehst du? Kann ich dich ein bisschen begleiten?“

Eigentlich war ihm nicht nach Gesellschaft, aber dann hätte er wohl besser direkt zuhause bleiben müssen.

„Keine Ahnung, zu Mäcces oder so. Kannst mitkommen, wenn du willst.“

Robin und er waren oft hier gewesen. Nach der Schule oder mit der Clique.

„Was willst du denn essen?“, fragte er Lena höflicherweise.

Sie warf einen Blick auf die Leuchttafeln und entschied sich schlussendlich doch nur für einen Kaffee.

Leon war froh, dass sie sich schon mal einen Platz suchte und er allein an der Kasse stand.

Ah, ein Burger geht immer! Meine Rede!“

„Irgendwie hab ich gar keinen Appetit!“

„Ach was … das kommt beim Essen! Nett, dass du Lena mitnimmst.“

„Mh!“

„Was, mh?“

„Mh halt … konnte ja schlecht Nein sagen.“

„Hast du sie eigentlich je gemocht?“

„Ja, schon …“

„Aber?“

„Weiß nicht … fandest du es nie komisch, dass sie uns ständig verwechselt hat?“

„Hehe … keine Ahnung. Vielleicht stand sie ja auch ein bisschen auf dich, Bruderherz?“

„So ein Unsinn!“

„Quatsch nicht rum, du bist dran mit bestellen!“

Als er mit dem roten Plastiktablett zu Lena zurückkam und ihr den Kaffee überreichte, lehnte sie mit dem Kopf an der Scheibe und blickte gedankenverloren nach draußen.

„Ich vermiss ihn so. Ich kann es kaum glauben, dass er wirklich … nicht mehr da ist.“

„Mh“, erwiderte Leon nur und fummelte an einem Tütchen Ketchup herum.

Ja, so richtig konnte er es auch noch nicht glauben.

„Wir, wir wollten doch noch so viel zusammen erleben. Urlaub machen, die Welt entdecken und dann zusammen studieren und so … und jetzt? Was mach ich denn jetzt?“

Ihre Stimme klang wieder zittrig. Sollte er sie trösten? Ihm war nicht danach und er wusste auch nicht, was er hätte sagen sollen. Gott sei Dank sprach sie selbst weiter und Leon konnte den Mund halten.

„Mit Robin, das war echt die schönste Zeit meines Lebens. Er war echt toll, so als Freund.“ Unter ihren glasigen Augen verzog sich ihr Mund zu einem kleinen Lächeln.

„Dann behalt ihn so in Erinnerung! Und glaub nicht, dass dein Leben ohne ihn sinnlos wäre“, murmelte Leon. „Das hätte er nicht gewollt. Du bist jung und … hübsch. Und hast noch so viel vor dir. Du findest auch wieder einen neuen Freund …“

Hey, das war gut!“

„Ja, danke … aber siehst du ihren Blick?“

„Jop.“

„Irgendwie schaut sie mich komisch an …“

„Ach, das bildest du dir ein!“

Leon war sich nicht so sicher. Lenas Blicke waren für ihn schwer zu deuten und er zögerte mit der Antwort, als sie ihn bat, noch mit zu ihm gehen zu dürfen.

Aber schlussendlich ließ er sich erweichen und nahm sie mit.

Seine Eltern waren noch nicht zurück, als er ihr die Tür zum gemeinsamen Zimmer der Brüder öffnete. Ihr fiel auch sofort auf, dass es viel ordentlicher als sonst war.

„Hast du aufgeräumt?“

„Robin war es wohl kaum!“, rutschte ihm raus.

Er räusperte sich und steckte die Hände in die Hosentaschen, während Lena zu Robins Zimmerseite wanderte, über das gemachte Bett strich und das Foto vom Nachtisch nahm, dass sie ihrem Freund zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie beide eng umschlungen auf dem Weihnachtsmarkt letztes Jahr. Seufzend ließ sie sich auf dem Bett nieder.

Unschlüssig stand Leon weiterhin an seinen Schreibtisch gelehnt und fragte sich, wann Lena wohl wieder gehen würde. Irgendwie fühlte er sich in ihrer Nähe gerade unwohl. Umso mehr, als sie plötzlich wieder neben ihm stand.

„Ach Leon, … er fehlt mir so sehr.“

„Mh, … mir auch!“

Wieder fiel sie ihm schluchzend um den Hals. Und er fühlte sich schlecht, weil er ihr nicht helfen konnte, nicht helfen wollte. Eigentlich konnte er ihre Nähe gerade überhaupt nicht ertragen und dann … presste sie plötzlich ihre Lippen auf seine. Erschrocken erstarrte er zunächst, aber da sie nicht von ihm abließ, schob er Lena schließlich sanft von sich.

„Äh Lena, … ich …!“

Sie sah ihn mit großen Augen an. Irgendwie erwartungsvoll! Es war so absurd. Robin war tot und er stand hier und knutschte mit seiner Freundin???

Leon rang mit Worten in seinem Kopf. Was sollte er ihr sagen? Eine Weile standen sie schweigend voreinander. Immer noch ihr fragender Blick auf ihm. Leon räusperte sich.

„Lena, ich bin nicht Robin!“

Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Dabei hatte er genau diesen Satz schon so oft zu ihr gesagt.

Er war nicht mal wütend auf sie, obwohl er die ganze Situation mehr als unpassend fand. Er hoffte einfach nur, dass sie bald gehen würde.

Sie tat ihm den Gefallen.

„Ich weiß, … tut mir leid. Ich, ich dachte, … ach egal …“

Leise sammelte sie ihre Sachen zusammen und verschwand.

Mit einem erleichterten Seufzer ließ er sich auf sein Bett fallen.

Was zur Hölle war das denn nur gewesen?

„Sei ihr nicht böse! Sie ist einfach durch den Wind.“

„Ja, ich weiß, ich bin ihr nicht böse.“

„Aber ich hätte ja wohl allen Grund dazu, oder?“

„Hey, sie hat mich geküsst, ja! Ich …“

„Nee, nee, Leon, das mein ich nicht!“

„…?“

„Wann hattest du denn vorgehabt, mir dein kleines Geheimnis zu erzählen?“

„Ich weiß nicht, was du meinst …“

„Sicher? Glaubst du nicht, du hättest es mir erzählen können? Wir haben uns doch sonst alles anvertraut!“

„… Ich war mir noch nicht ganz sicher …“

„Und jetzt bist du es?“

„… Keine Ahnung. Ich weiß gar nix mehr!“

„Vielleicht wird es klarer, wenn du es mal aussprichst!“

„Was willst du von mir, Mann?“

„Dass du ehrlich dir selbst gegenüber bist!“

„Muss das ausgerechnet jetzt sein? Als hätt ich grad nicht genug andere Probleme!“

„Zum Beispiel?“

„Dass du tot bist, du Idiot!“

„…“

„…“

„…“

„Und mich allein gelassen hast!“

„Tut mir leid!“

„Ich wollte es dir sagen. Schon seit Tagen … ich, ich wusste nur nicht wie!“

„Und ich hing dir ständig wegen irgendwelcher Mädels in den Ohren!“

„Ja, wahrscheinlich hätt ich’s dir da einfach mal vor den Kopf knallen müssen! Robin! Du verschwendest deine Zeit! Ich glaube, ich bin schwul! – So, jetzt ist es raus.“

„Tut mir leid!“

„Dass ich schwul bin?“

„Nein, du Honk! Dass ich nicht für dich da war, obwohl du mich gebraucht hast.“

„Jetzt weißt du es ja! ...“

„Leon? Alles klar? Wir sind wieder da.“

Leons Vater steckte den Kopf ins Zimmer der Jungs. Leon rieb sich müde über die Augen. Er musste eingeschlafen sein. Ein Blick auf den Radiowecker verriet, dass es schon später Nachmittag war.

„Ja, alles klar. Und? Wart ihr … erfolgreich?“

Herr Brink räusperte sich.

„Ähm, ja, ich denke, es hätte Robin gefallen so. Wir haben ein paar Bilder mitgebracht, wenn du gucken willst?“

„Ist Rob da drauf?“

„Nein, nur Bilder vom Sarg und den Blumen und solche Sachen.“

„Mh, ja, ich komm gleich!“

„In Ordnung.“

Leon ließ sich noch einmal zurückfallen, legte die Hände über sein Gesicht und rieb sich die Augen. Es war alles so verdammt unwirklich. Als würde er jeden Moment aufwachen und Robin würde neben ihm stehen und ihn auslachen.

Aber er wachte nicht auf.

An keinem verdammten Tag und in keiner verdammten Nacht wachte er auf aus diesem Albtraum.

Die Beerdigung war nochmal wie ein Faustschlag in die Magengrube gewesen.

Die Kirche war brechend voll, fast die ganze Stufe war da, sogar die Lehrer, die ganze Verwandtschaft natürlich und die Nachbarschaft, die Jungs aus Robins Band, seine Fußballmannschaft … kurzum - gefühlt die halbe Stadt.

Das war an sich ja eine schöne Geste, aber Leon fand es furchtbar, dass irgendwie jeder ihm die Hand schütteln und ihm herzliches Beileid wünschen wollte. Und gleichzeitig fühlte er sich regelrecht begafft von den ganzen Leuten. Ob das weniger schlimm gewesen wäre, wären sie keine Zwillinge gewesen? Er konnte es nicht sagen …

Nach der Beisetzung ging die Versammlung im Hause Brink noch weiter. Wenn auch zum Glück nur mit dem engsten Verwandtenkreis. Leon hatte sich für eine Verschnaufpause auf die oberste Treppenstufe zurückgezogen und betrachtete das Gewühl im Wohnzimmer von oben aus.

„Na, wie geht’s dir?“

„Wie soll’s mir schon gehen! Überleg mal, wie strange das hier ist? Das ist deine Beerdigung!“

„Ja, abgefahren!“

„…“

„Wie geht’s den Eltern?“

„Mom hat sich, glaub ich, einigermaßen gefangen. Oder sie erstickt ihre Gefühle grad in Arbeit und Organisation. Auf jeden Fall kann sie mich wieder ansehen, ohne in Tränen auszubrechen.“

„Na, das ist doch schon mal was!“

„Mh! Und Paps … ja, er versucht in letzter Zeit ständig mit mir zu reden. Immer will er über alles reden. Kein Bock auf so was!“

„Er will doch auch nur, dass es dir gut geht!“

„Ich komm schon klar!“

„Ja, klar!“

„Was denn?“

„Du kommst grad kein bisschen klar mit deinem Leben!“

„Sagt der, der gar keins mehr hat.“

„Werd nicht pampig! Ist doch wahr! Du verkriechst dich die ganze Zeit nur noch in deinem Zimmer und starrst die Decke an. Was ist das denn?“

„Ich …“

„…?“

„Also …“

„Komm schon, wenn du nicht langsam wieder auf die Beine kommst, hetzt Paps dir noch so ´nen Psychodoc auf den Hals oder so!“

„Ach!“

„Was ist zum Beispiel mit deiner Bewerbungsmappe?“

Leon warf einen Blick hinter sich ins offene Zimmer. Die Leinwand stand immer noch verhangen neben dem Regal.

„Hat dich doch sonst auch nie interessiert, ob ich mit den Bildern fertig werde …“

„Das stimmt nicht! Außerdem interessiert es mich jetzt gerade! Du hast seit Tagen keinen Stift oder Pinsel mehr angerührt!“

„Kann jetzt eh alles in die Tonne schmeißen. Schließlich bist du nicht mehr da!“

„Hör jetzt verdammt noch mal auf, dich in Selbstmitleid zu baden!“

„Ach, halt‘s Maul, Rob!“

 

Die Tage verstrichen, einer nach dem anderen, alle bedeutungslos und leer.

Einerseits war Leon froh, dass schon alle Prüfungen geschrieben waren und er nicht mehr zur Schule musste. Auf der anderen Seite hatte Robin schon Recht damit, dass er so erst recht nicht mehr vor die Tür kam. Kein Grund sich für irgendwas aufzuraffen.

Seine Eltern hatten mittlerweile längst wieder angefangen zu arbeiten, doch Leon bemerkte durchaus den skeptischen Blick seines Vaters, wenn dieser nachmittags heimkam und Leon genauso verlodert im Jogginganzug vor dem Fernseher vorfand, wie er ihn am Morgen zurückgelassen hatte. Manchmal bekam er dann ein schlechtes Gewissen und befürchtete, sein Vater könnte ihm tatsächlich einen Termin bei einem Psychiater besorgen, aber hey … würde er sich wirklich viel anders verhalten, wenn Robin noch hier wäre? Schließlich hatten sie bis zum Wintersemester frei!

„Hast du schon was gegessen?“

„Nur Cornflakes.“

Herr Brink hing seine Jacke an der Garderobe auf und ließ sich neben seinem Sohn auf dem Sofa nieder.

„Läuft was Gutes?“

Leon zuckte mit den Schultern. Er hatte eigentlich die meiste Zeit gar nicht wirklich hingesehen.

„Sollen wir was kochen? Deine Mutter kommt in einer halben Stunde. Bis dahin kriegen wir zwei doch locker ein paar Spaghetti mit Soße hin. Komm schon, steh auf!“

Seufzend erhob sich Leon. Eigentlich hatte er keine Lust und Hunger auch nicht, aber seinem Vater zuliebe könnte er ja mithelfen. Wenn der doch nur nicht immer so viel reden würde.

„Wann bekommt ihr denn nun eigentlich die Zeugnisse?“

„Nächste Woche Freitag.“

„So ganz hochoffiziell, oder? Ich weiß noch, bei uns gab’s da noch einen richtigen Abschlussball hinterher.“

„Ja, kann sein.“

„Dir ist aber nicht nach feiern, mh?“

„Nicht wirklich. Dir etwa?“

Herr Brink seufzte.

„Ach Leon. Ich bin auch so traurig darüber, dass Robin gestorben ist, dass ich es mit Worten kaum ausdrücken kann. Trotzdem geht das Leben weiter. Und du bist schließlich auch unser Sohn, der sein Abi bestanden hat. Ich finde schon, dass man das feiern darf!“

Leon rührte bedächtig weiter in der Nudelsoße.

„Wie kommst du denn mit deiner Bewerbungsmappe voran?“

Leon seufzte. Gar nicht … um genau zu sein. Er hatte wirklich seit Robins Unfall keinen Stift mehr angerührt. Der Abgabetermin der Mappe rückte unaufhaltsam näher, aber er konnte einfach nicht weitermachen.

Und auf den Abschlussball und die Zeugnisübergabe hatte er auch überhaupt keinen Bock. Natürlich musste dort etwas über Robin gesagt werden, alles andere wäre echt Scheiße. Aber gleichzeitig würde er als Robs Bruder mal wieder voll auf dem Präsentierteller stehen und diese Rolle gefiel ihm absolut gar nicht.

Das Abendessen verlief eher ruhig. Zwar versuchten Leons Eltern ein Tischgespräch anzuregen, aber Leon ging kaum auf das ein, was seine Eltern sagten und stocherte nur lustlos in seinen Nudeln.

„Ich bin müde. Ich geh hoch …“ Er stellte seinen Teller in die Spüle und schlich sich die Treppe hoch.

„Manchmal bist du echt assi, Leon!“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Du machst sie mit deinem Verhalten echt fertig!“

Schweigend lauschte er nach unten.

Seine Mutter schluchzte wieder leise. „Ich glaube, wir verlieren ihn“, hörte er sie sagen und wie sein Vater ihr flüsternd gut zuredete.

„Was soll ich denn machen?“

„Wie gesagt! Komm mal endlich raus aus deinem Loch und mach weiter, Mann!“

Wütend stapfte Leon in sein Zimmer und warf sich schwungvoll auf seinen Schreibtischstuhl.

Was für ein Loch? So ein Schwachsinn.

„Schwachsinn!“, wiederholte er lauter.

Sein Blick fiel auf den Handspiegel, der unter ein paar Zetteln hervorlugte. Eine Weile fixierte er den Spiegel grimmig, bis er ihn schließlich unwirsch unter den Blättern herauszog und trotzig hineinstarrte.

Er sah müde aus. Und kaputt irgendwie. Der grimmige Ausdruck verpasste ihm eine unschöne Falte zwischen den Augenbrauen. Er sah aus, als wäre er in den letzten Wochen um Jahre gealtert.

Immer noch wütend knallte er den Spiegel wieder auf den Tisch, was mit einem lauten Klirren quittiert wurde.

„Verdammt!“ Die Spiegelfläche war in mehrere Teile zerbrochen, hielt sich aber noch im Plastikrahmen. Seufzend nahm Leon den Spiegel wieder hoch und besah sich sein Werk.

Sein Spiegelbild wirkte jetzt verzerrt, zerteilt, zerrissen …

„Du fehlst mir …“, flüsterte er seinem zerrissenen Spiegelbild zu.

„Tut mir leid!“

„Es ist, als ob ein Teil von mir mit dir gestorben ist!“

„Ich weiß! Aber siehst du nicht? Gleichzeitig lebt auch ein Teil von mir in dir weiter!“

Und tatsächlich. Wenn Leon den Spiegel leicht kippte, glaubte er Robs belustigten Ausdruck in seinen eigenen Augen zu sehen. Unwillkürlich musste er lächeln.

„Leon?“

„Mh?“

„Du weißt, dass ich nicht wirklich hier bin, nicht wahr?“

„…“

„Ich bin deine Erinnerung an mich.“

„…“

„Du musst mich loslassen!“

Zum ersten Mal traten Tränen in Leons Augen.

„Ich, ich kann nicht, glaub ich …“

„Doch, das kannst du! Und du musst! Für mich! Für Mom, Paps … Und für dich! Und das weißt du, sonst könnte ich das jetzt nicht zu dir sagen. Du hast noch ein Leben und es ist ok. Du darfst weiter machen.! Du musst es sogar!“

Die Leere, die Leon vorher so ausgefüllt hatte, war wie weggeblasen. Stattdessen war dort Schmerz. Viel Schmerz. Und Wut, Trauer, alles auf einmal.

Die Tränen, die er die ganze Zeit nicht hatte vergießen können, bahnten sich nun unaufhörlich ihren Weg nach draußen.

„Scheiße, Rob! Warum hast du nicht aufgepasst? Wie konnte das passieren? Du hast gesagt, jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Und jetzt bist du tot und lässt mich allein. Du Arschloch! Warum hast du nicht aufgepasst? Ich wollte dir noch so viel sagen. Wir wollten noch so viel zusammen erleben. Es ist nicht fair, dass du jetzt einfach abgehauen bist … es ist nicht fair!“

„Das ist es nicht, da hast du Recht. Aber es ist auch nicht fair, wenn du jetzt alles hinschmeißt. Denn du hast noch alle Chancen in diesem Leben. Also verdammt nochmal nutze sie!“

Leons Blick fiel auf die Bleistifte auf seinem Tisch. Noch unter Tränen und fast trotzig griff er danach, zog sich ein weißes Platt Papier aus dem Stapel und legte los …

„Herr Brink, ich muss Ihnen gratulieren! Diese Arbeiten zeugen von einer solchen Intensität, die wir lange nicht mehr bei unseren Bewerbern bewundern durften.“

Leon lächelte verlegen.

„Vielleicht können Sie den Dozenten noch einmal eine kurze Erläuterung zu Ihren Arbeiten geben. Besonders zu diesem Stück hier.“ Der Professor deutete auf die große Leinwand.

Leon räusperte sich.

„Ähm ja … die Bilder zeigen nicht nur mich, sondern auch meinen Bruder. Wir sind Zwillinge und ich hatte angefangen ihn zu zeichnen. Aber während der Entstehungsphase verstarb mein Bruder bei einem Unfall und ich …“ Leon betrachtete die große Leinwand. Je nachdem, aus welcher Perspektive er das Bild betrachtete, sah er darin Rob oder sich selbst. In Scherben, aber gleichzeitig als Ganzes. „… ich denke, ich habe mit den Bildern seinen Tod verarbeitet und Abschied genommen. Ich musste akzeptieren, dass ich auch ohne ihn ein eigenständiger Mensch bin, der das Recht hat weiterzuleben, aber dass er trotz allem ein Teil von mir bleibt …“

„Mein Beileid zu Ihrem Verlust, Herr Brink! … Die Arbeiten sind wirklich außergewöhnlich. Dass Ihnen ein Platz an unserer Hochschule sicher ist, ist ja klar. Wir würden, wenn Sie damit einverstanden sind, gerne eine kleine Ausstellung mit Ihren Arbeiten zu Semesterbeginn gestalten.“

Leon wurde rot und musste sich ein breites Grinsen verkneifen.

„Ja, gern.“

„Adrian, unsere studentische Hilfskraft, wird mit Ihnen alles Weitere zur Ausstellung besprechen und Sie ein wenig herumführen. Herzlich willkommen noch einmal.“

„Danke, Professor Ostner! Ich freu mich wirklich hier zu sein.“

Nachdem die Dozenten sich verabschiedet hatten, begann Leon seine Arbeiten wieder in die Mappe zu räumen.

„Hi, ich bin Adrian!“

Leon sah auf und direkt in zwei freundliche, dunkelbraune Augen.

„Hi, ich bin Leon!“

„Komm, ich helf dir schnell!“ Adrian schob Leon die kleineren Arbeiten über den Tisch zu.

„Und dann gehen wir erst mal ´nen Kaffee trinken!“, er grinste und Leon musste sich bemühen, nicht rot zu werden.

„Ich seh schon, Bruderherz! Du kommst jetzt wunderbar ohne mich klar!“

„Grins nicht so dämlich!“

„Mach‘s gut Leon!“

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