zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Der Blick ins Gesicht meines Gegenübers

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Der Blick ins Gesicht meines Gegenübers, er ist deprimierend.

Dabei hatte ich so gehofft, dass er derjenige wäre, der mir neue Hoffnung geben kann. Grösser könnte mein Irrtum kaum sein. Macht mir der so vertraute Anblick doch nur täglich von Neuem bewusst, wie leer ich mich seit Jahren fühle.

Glück war in meinem Leben rar gesät, empfand ich doch meine Andersartigkeit, meine anderen Sehnsüchte, immer als eine schwere Last auf meinen Schultern. In meiner Heimat war kein Platz dafür, denn es gab diese Krankheit ja doch nur in verderbteren Gegenden. So schwieg ich jahrelang und mein Verhalten beherrschte die Furcht, dass man es mir ansehen könnte.

Irgendwann fand ich jedoch den Mut, meine Andersartigkeit gegenüber mir selbst zu akzeptieren. Schaffte zu glauben, dass nicht ich der Fehler, sondern die Engstirnigkeit der Anderen das Problem war. Ich fand die Kraft, mein Bekenntnis gegenüber der Person zu wagen, der ich am meisten vertraute und bei der ich diese Gefühle nur schwer im Zaum halten konnte. Euphorie stieg damals in mir auf, als er endlich um mein Geheimnis wusste. Schien er mich doch zu verstehen und nichts Schreckliches an meinen Empfindungen ihm gegenüber zu finden. Erwiderung meiner Gefühle brauchte ich nicht, gab er auch nicht. Dennoch: Allein das Mitteilen, das nicht mehr vor ihm Verstecken müssen meines Innersten, war so viel wert, dass ich fast von Tränen überwältigt wurde. Nur wenige Tage später folgte der grausame Vertrauensbruch.

Plötzlich wusste jeder, was ich so gut verborgen gehalten hatte. Die wenigen Freunde wandten sich ab von mir, meine Eltern verstießen mich. Ich hatte nur noch Wohnrecht, war nicht mehr ihr Sohn. Im Dorf wurde ich zum beliebten Ziel, welches man verspottet, das man tritt, auch wenn es längst am Boden liegt. Er stand immer nur daneben oder ging eilig weg. Ich sah, dass er ablehnte, was passierte, aber helfen, das konnte und wollte er nicht. Seine Versuche mir Trost zu spenden, sein Verhalten zu erklären, seine Beteuerungen das nicht gewollt zu haben, ich wies alles wütend zurück. Mein Leben war ruiniert und dies von ihm, den ich einst geliebt hatte und nun zu hassen begann.

Heute lebe ich hier in Werkstatt und Labor, diesem Ort den ich tief in dem Wald aufgebaut habe, in den mich meine mehrere hundert Meilen weite Flucht zuletzt führte. Meine Kontakte mit der Welt beschränken sich auf das Nötigste, auch wenn sie heute vielleicht nicht mehr so grausam zu mir wäre. Bis auf gelegentliche Besuche von Kunden – Reparaturen und kleine selbstgebaute Spielereien sichern mein Einkommen – bin ich mit mir alleine und auch diese Kontakte beschränken sich auf die zu erledigende Arbeit und wenige, belanglose Wortwechsel.

Ich schaue zum Fenster: Draußen fällt der Schnee in dicken Flocken. Heute nimmt wohl niemand mehr den Weg zu mir auf sich. Die von vielen ersehnten weißen Weihnachten also dieses Jahr. Persönlich bringt mir dies höchstens den Trost, dass ich dieses Jahr über diese schrecklichen Tage meine Ruhe habe und eingeschneit bin.

Dabei sehne ich mich eigentlich nach Nähe, jemanden zum Reden. Kontakte mit anderen Menschen führen mir aber immer wieder nur schmerzlich vor Augen, wie unfähig ich zum normalen Umgang mit ihnen geworden bin.

Zu Beginn hatte ich diese Bedürfnisse noch nicht. Die ersten drei Jahre habe ich den Kontakt mit meinen Kunden aufs Allernötigste beschränkt und ihre Versuche abgewimmelt, mehr von mir zu erfahren. Die Einsamkeit war willkommen, sie schmeckte süß und heilte meine Wunden, wie ich glaubte. In den sieben darauffolgenden Jahren wurde sie jedoch bitter und schmerzlich, aber ich selbst war längst auch verbittert. Ich hatte meinen grantigen, mürrischen Ruf schon zu sehr gefestigt, als dass meine unbeholfenen Kontaktversuche wahr genommen worden wären. Heute habe ich damit abgeschlossen, mein Schicksal außerhalb der Gesellschaft akzeptiert.

Der Blick ins Gesicht meines Gegenübers, so habe ich doch angefangen, oder? Ich sehe da in traurige, leere Augen und denke an den Menschen zurück, der damals meine Augen mit so großer Sehnsucht erfüllt hat. Ich denke an den Menschen, der mein Herz mehrfach in seinen Grundfesten erschüttert hat; vor Freude, vor Wut und später vor Hass. Das alles ist lange her, der Verrat heute verziehen und ich wünschte wir könnten in Freundschaft zueinander finden, doch wie sollte das gehen? Denn diese Person ist so weit weg von mir, die Distanz zwischen uns so groß und selbst, wenn ich sie überbrücken könnte: Würde er noch mit mir reden wollen?

Ach, was sollen all diese Fragen überhaupt? Geld habe ich kaum, nicht genug jedenfalls, um den Flug in meine Heimat bezahlen zu können. Gedanken daran sind sinnlos und ich werde ihn niemals wiedersehen. Die Vergangenheit ist gelebt und kann nicht geändert werden.

Abermals blicke ich ins Gesicht meines Gegenübers, in diese mir so vertrauten, traurigen Augen. Wie konnte ich jemals glauben, dass er mich lieben oder auch nur mögen könnte? Wie sollte ausgerechnet er mich lieben, wenn ich es doch selbst nicht tat? In diesem Moment blickt er auf und der Blick aus dem Gesicht meines Gegenübers ist immer noch so kalt und hart, wie ich ihn sonst aus dem Spiegel kenne.

Wie konnte ich auch etwas anderes erwarten? Der Blick ins Gesicht meines Gegenübers, er zeigt mich selbst.

Aus Einsamkeit erschuf ich ihn, meinen Klon. Ich wollte jemanden zum Reden, dürstete danach dem tristen Vegetieren zu entkommen, doch beim Blick ins Gesicht meines Gegenübers überkommt mich jetzt ein eisiger Schauer. Sonst fühle ich nichts, nur eine Spur kalter Wut darüber, dass ich nicht früher ausgebrochen bin aus diesem Gefängnis hier. Zu spät ist es längst dafür: Der Blick ins Gesicht meines Gegenübers macht mir klar, dass ich innerlich schon längst gestorben, was ich doch für eine leere Hülse geworden bin.

Ich hatte eine harte Zeit, habe gelitten, ja, das mag sein. Tief in diese abgelegene Gegend habe ich mich aber selbst verbannt. Hier kommt kaum jemand hin und wenn, dann will er lediglich meine Dienste in Anspruch nehmen. Selbst diese Gelegenheiten für ein wenig belanglosen Austausch, für etwas menschlichen Kontakt habe ich immer abgeblockt, dafür gesorgt, dass es auch niemand mehr versucht. Schuldig bin ich und verantworte selbst was aus mir geworden ist: ein Verrückter, der nicht einmal mehr mit sich selber sprechen kann. Immer gab ich allen Anderen die Schuld – und die mögen sie auch mittragen –, aber der Hauptschuldige an meinem verkorksten Leben bin ich selbst! Das Arschloch, das mein Leben zur kalten Hölle machte, sehe ich im Gesicht meines Gegenübers!

Ein heftiger Zorn auf mich selbst packt mich, ich reiße mit einer ungeahnten Kraft den Tisch zwischen uns zur Seite und schlage voller Wut auf ihn ein… will es zumindest. Doch er weicht aus und geht zum Gegenangriff über.


Gleichwertig, wie wir waren, konnte im Normalfall keiner von uns gewinnen.

Der Zufall entschied, er stolperte unglücklich in eine der Maschinen und löste dadurch einen Kurzschluss aus. In einem Anflug von plötzlichem Mitgefühl wollte ich ihn, der mir so viel Schmerz bereitet hatte, noch retten. Mein Griff nach ihm sorgte jedoch nur dafür, dass ich selbst einen elektrischen Schlag erhielt. Mit gnadenloser Wucht wurde ich zurückgeschleudert und schlug hart auf den Boden auf. Hilflos sah ich mit an, wie mein Gegenüber langsam und unter grausigen, unmenschlich klingenden Schreien verschmorte, bevor ich selbst das Bewusstsein verlor.

Inzwischen bin ich wieder hellwach und sitze in einem dunklen Zimmer. Draußen ist es schon Nacht und nur der Mondschein lässt mich einige Umrisse erkennen. Wo ich bin, das weiß ich nicht, aber ich kann mich bruchstückhaft an kurze Wachmomente vor meinem Aufwachen in diesem Raum erinnern:

Der Kurzschluss setzte das Labor in Brand und eine Hälfte brannte schon lichterloh, als ich zum ersten Mal wieder erwachte. Der Versuch aufzustehen, mich vor der Hitze zu retten, er war gnadenlos zum Scheitern verurteilt. Nebel trübte meine Sinne als ich mich aufrichtete, zu sehr begann mir wohl bereits der dichte Rauch zuzusetzen. In Erwartung, dass die in Flammen vergehenden kläglichen Reste dieses Lebens das Letzte sein würden, was meine Augen je sähen, gab ich nach und hieß Morpheus willkommen.

Aber ich erwachte ein zweites Mal, sah den verhangenen Himmel und davor eine schwarze Rauchfahne. Es roch nach Asche und verbranntem Holz, die Erde schien zu schwanken. Da wurde mir erneut schwindlig und die Welt versank wieder im Dunkel.

Später erwachte ich noch ein drittes, flüchtiges Mal. Die Welt schwankte noch immer, doch ich war inzwischen klar genug bei Verstand um zu begreifen, dass ich getragen wurde. Jemand hatte mich gerettet! Mit großer Mühe drehte ich meinen Kopf ein wenig und sah einen schwarzen Umriss über mir. Doch ich war immer noch so furchtbar müde…

Nun sitze ich irgendwo in einem Zimmer. Ich bin sauber, habe frische Sachen an, die mir viel zu groß sind und stolpere bei meinen ersten unvorsichtigen Schritten vor mich hin, bis ich endlich die Hosenbeine hochkrempele.

Meine Schritte führen mich zur Türe, an welche ich lauschend mein Ohr lege, aber kein Geräusch ist zu vernehmen. Leise öffne ich, betrete einen Gang und schwanke diesen unsicher entlang bis zu einer Küche. Dort steht er, mein Retter und blickt auf, als er mich bemerkt. „Ah, schon wach? Vielleicht einen Kaffee, zur Stärkung?“, fragt er freundlich, doch ich starre nur wortlos zurück. „Okay, ich mache einfach mal welchen“, entgegnet er auf mein Schweigen, setzt sich in Bewegung und dreht mir den Rücken zu. „Übrigens: Der Arzt ist inzwischen schon wieder gegangen“, setzt er das so einseitige Gespräch fort und wartet auf eine Reaktion von mir. Ich aber kann keinen klaren Gedanken fassen, finde keine Worte.

„Er hat mir die Medikamente für dich dagelassen“, führte er seinen Monolog geduldig weiter. „Der Doktor hat auch festgestellt, dass du zum Glück nur wenig Rauch eingeatmet hast und mir gesagt, du bräuchtest jetzt in erster Linie Ruhe. Fühl dich also ruhig als Gast in diesem Haus für die nächste Zeit, mir ist die Abwechslung willkommen“, unterbreitet er abschließend mit einem Lächeln. Ein Impuls durchzuckt mich, ich laufe los, falle ihm um den Hals, stoße ein „Danke!“ hervor und beginne haltlos zu Schluchzen.

Jahre später:

Damals muss mindestens eine halbe Stunde vergangen sein, bevor er mich soweit beruhigen konnte, dass ich wieder Worte fand, doch dann sprudelten sie nur so aus mir hervor. Meine Seele konnte wieder atmen, der Druck, der Ballast wurde von ihr genommen. Schweigend hielt er mich in seinen Armen, während ich erzählte und dabei nur das eine Geheimnis für mich behielt, für zu fantastisch hielt ich das Thema. So sparte ich das Gegenüber, dessen kalter Blick inzwischen nur noch eine verblassende Erinnerung ist, in meiner Erzählung aus.

Hinterher erfuhr ich dann von meinem bis dato so stillen Zuhörer, dass er Holzfäller sei und darum so spät am Heiligabend noch im tiefen Wald unterwegs war. Jemand anderen schien er in meinem lichterloh brennenden ehemaligen Zuhause nicht bemerkt zu haben.

Viel ist seitdem mit mir passiert, ich rede offen mit Menschen, ziehe mich nur noch selten in mich zurück, ich lache oft - oh mein Gott, mir wurde erst in dieser Zeit richtig bewusst wie wenig freudige Momente ich in meinen Erinnerungen für die Jahre davor finden kann – und ich freue mich einfach, am Leben zu sein, diesen Tag damals überlebt zu haben. Mein damaliger Retter und ich leben heute zusammen und wir führen eine wundervolle Beziehung.

Nur an manchen Tagen denke ich noch an dieses Gesicht zurück, dass mir damals gegenüber saß. In diesen Momenten kremple ich immer meine Ärmel hoch und mein Blick fällt auf die Zahl die dort steht: 247. Ja, ich war bereits das 247. Experiment meines Schöpfers, dazu gedacht ihn seiner Einsamkeit zu entreißen. Die ersten rund 150 Versuche waren noch ein reines Herantasten an die Möglichkeiten, reine Forschung. Danach folgten die ernsthaften Versuche und mit Ihnen grausige Fehlschläge, an die ich mich mit Grauen erinnere. Hätte mein Schöpfer mir nicht wenigstes diese seiner Erinnerungen ersparen können? Nun gut, meine Erinnerungen machen mich aus, ob es nun meine sind oder seine.

Erst Experiment Nummer 213 brachte den ersten Klon hervor, der lebte, der ihm seine unendliche Traurigkeit und Einsamkeit erst richtig bewusst machte. Er war der erste von vielen der ihm, nun ja: Einen Spiegel vorhielt.

213 und alle Nachfolgenden starben immer schnell innerhalb von wenigen Tagen. So vergaß er schnell wieder dieses Wissen um seine Verantwortlichkeit für sein Leben. Er stellte in seinem Wahn immer wieder neue Versuche an und grub immer wieder neue Gräber im Wald. Mit mir gelang es ihm endlich, ein dauerhaft lebensfähiges Ebenbild zu erschaffen und erst ich ließ ihn nicht mehr vergessen, wer sein Gefängnis – welches sein Leben war – erschuf und aufrechterhielt. Diese Erkenntnis, in den ersten drei Monaten meines Lebens bei ihm gereift, endete letztlich für ihn mit der Erlösung durch den Tod.

Nicht immer reicht das Wissen, dass alles nur ein Programm ist, welches mir eingegeben wurde, um die Erinnerungen zu verjagen. Übermannen können sie mich aber nicht mehr. Ich werde nur nachdenklich und bin in Gedanken bei diesem traurigen Gegenüber, das mir damals in die Augen blickte.

Auch heute schicke ich wieder still meine Gedanken an ihn hinaus:

Ich lebe für dich weiter, Schöpfer. Lebe das Leben, dass Deines hätte sein sollen. Genieße die Freiheit, nach der Du nicht gegriffen hast. Möge es Dir ein Trost sein, wo immer Du jetzt sein magst!

Lesemodus deaktivieren (?)