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Der Sommer unseres Lebens

Teil 2

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ich hoffe, ich habe euch nicht allzu lange auf die Fortsetzung warten lassen. Ich weiß selbst, wie lange einem dabei die Zeit werden kann. Bisher haben sich Dennis und Jan nicht sonderlich geschickt angestellt, nicht wahr? Sehen wir einmal, ob sich das ändert …

Viel Spaß mit Teil 2!

Kapitel 5 – Ich kann nicht mehr!

Ich glaube nicht, dass ich mich jemals in meinem Leben schrecklicher gefühlt habe als heute morgen. Und ich glaube nicht, dass man sich noch schlechter fühlen kann. Ich bin am absoluten Nullpunkt angekommen. Wenn nicht sogar darunter. Ich habe nicht nur keine blasse Ahnung, wie spät es ist, ich weiß nicht einmal mit Sicherheit, welcher Wochentag heute ist. Am besten lasse ich die Augen einfach zu und hoffe, dass dieser Tag vorübergeht.

Ich muss wieder an gestern denken. Daran, wie wir nebeneinander auf Jans Bett gesessen haben, an seinen Blick, an seinen Finger auf meiner Wange und seine Lippen auf meinen. Dann geht auf einmal alles ganz schnell! Ich springe aus dem Bett, renne ins Bad und übergebe mich in die Toilette.

Jetzt weiß ich, dass ich mich durchaus noch schlechter fühlen kann als direkt nach dem Aufwachen. Wie ein Häufchen Elend hocke ich auf dem kalten Fliesenboden und lehne meine Stirn an das Porzellan. Ich möchte am liebsten sterben. Scheiße, jetzt fange ich schon wieder an zu heulen …

Ich höre mein Handy in meinem Zimmer klingeln, aber ich bin nicht in der Lage aufzustehen, geschweige denn, mit irgendjemandem zu reden. Ich weiß sowieso nicht, wie ich je wieder meinen Stufenkameraden – allen voran Jan – unter die Augen treten soll. Das hat doch bestimmt schon die Runde gemacht. Vielleicht lachen sie sich hinter meinem Rücken längst über mich kaputt. Über die dumme, verliebte Schwuchtel, die dem Mädchenschwarm schöne Augen macht. Ich rolle mich auf dem Badezimmerboden, wo ich immer noch liege, zusammen und möchte am liebsten sterben.

Irgendwann wird mir fürchterlich kalt, außerdem wird mir bewusst, dass ich wohl nicht so einfach sterben werde, auch wenn ich noch stundenlang hier herumliege. Also stehe ich mit wackeligen Beinen auf, streife meine Sachen ab und steige unter die Dusche. Dort drehe ich das Wasser so heiß, wie ich es aushalten kann, dann so kalt wie möglich doch selbst das holt mich heute nicht wirklich ins Leben zurück. Ich gebe auf, steige aus der Dusche und putze meine Zähne wobei ich arg mit meinem Würgereiz zu kämpfen habe. Ich höre schon wieder mein Handy klingeln, aber ich kann mich immer noch nicht durchringen, hinüberzulaufen und nachzusehen, wer mich anruft.

Ich habe keine Ahnung, warum ich es tue, aber ich style mein Haar so gut es geht, und der Typ, der mir etwas später aus dem Spiegel müde und mit Ringen unter den Augen entgegenschaut, sieht schon wieder halbwegs menschlich aus.

Ich ziehe einige von meinen neuen Klamotten an, ein eng anliegendes, hellblaues Shirt und eine knielange Jeans, denn wenn ich jetzt auch noch frustrierende Kleidung trage, drehe ich völlig am Rad; und mache mir Kaffee. Nachdem ich zwei Tassen des starken, schwarzen Gebräus mit viel Zucker versehen und getrunken und dazu ein trockenes Brötchen heruntergewürgt habe, geht es mir etwas besser. Ich fühle mich zwar immer noch ein bisschen wackelig und irgendwie verletzt, aber ich denke, so kann ich den Tag überstehen. Allzu viel ist davon ja nicht mehr übrig, immerhin ist es schon drei Uhr.

Zurück in meinem Zimmer werfe ich dann doch einen Blick auf mein Handy. Zwei verpasste Anrufe, einer von Jan, das war der erste, und einer von Jens, das war der zweite. Nachdem er mich nicht erreichen konnte, hat Jens eine SMS geschrieben: „Morgen Abend, 21:00 Uhr, Party bei mir. Kommst du?“

Ich drücke die Antwort-Taste, fange dreimal an und lösche den Text wieder. Ich finde nicht die richtigen Worte, und mir fällt einfach keine passende Ausrede ein, die mich davor bewahrt, mich ihren Blicken stellen zu müssen. Nur gut, dass ich nicht auf Jans Annäherungsversuch hereingefallen bin, sonst könnte ich mich dort nie wieder sehen lassen.

Letztendlich ergebe ich mich, denn irgendwann muss es ja sein, schreibe nur „O.K.“ und schicke die Nachricht ab, bevor ich es mir wieder anders überlegen kann.

Kurz darauf klingelt das Telefon schon wieder – es ist noch einmal Jan. Nein, ich will jetzt nicht mit ihm sprechen, denke ich und drücke trotzdem die Rufannahme. Ich weiß, dass ich mich zum Trottel mache aber der Wunsch, seine Stimme zu hören ist trotz allem übermächtig, und alleine beim Gedanken daran durchläuft es mich heiß und kalt. Was bin ich nur für ein Waschlappen!

„Hallo?“, sage ich möglichst emotionslos.

„Hi, ich bin’s, Jan.“

Oh Mann, ich liebe seine Stimme!

„Ich weiß“, sage ich kühl und könnte meinen Körper dafür erschlagen, dass er mein Herz schneller schlagen lässt. „Was gibt's?“

Wartet er nur darauf, dass ich für ihn das Taxi spiele oder was? Das kann er knicken.

„Ich dachte … Ich wollte nur … Wir sind hier alle am Strand nur du nicht. Kommst du gleich noch?“

Was ist denn mit dem los? Wieso stammelt der so herum?

„Nein, ich glaube nicht. Mir geht’s heute nicht besonders“, sage ich und bin entschlossen, mich nicht überreden zu lassen.

„Meinetwegen?“, fragt er leise.

„Hör mal, Jan: Es dreht sich nicht immer nur alles um dich“, sage ich eisig und kann beinahe hören, wie er zusammenzuckt. Ha, das hat gesessen! Was bildet er sich eigentlich ein? Glaubt er etwa, ich denke an nichts anderes als an ihn?

„Nein, nein – natürlich nicht“, sagt er schnell. „Entschuldige.“

Ich glaube, wenn er sich noch einmal bei mir entschuldigt, dann muss ich gleich wieder kotzen. Seit wann ist Jan eigentlich so devot? Ich hatte bisher eher den Eindruck gehabt, es sei ihm relativ gleichgültig, was die meisten Leute von ihm denken. Zumindest war das bei seinen zahlreichen Rumknutschereien mit irgendwelchen Schnecken und den folgenden Abfuhren immer so gewesen.

„Sonst noch was?“, frage ich leicht genervt. „Ich wollte gerade aus dem Haus gehen.“

„Ähm ja … Ähm … Bist du morgen Abend bei Jens?“

„Ja, ich denke schon. – Sofern ich wieder fit bin.“

„Gut“, sagt er. „Dann sehen wir uns ja morgen.“ Er klingt erleichtert – beinahe fröhlich. „Bis dann. – Und gute Besserung!“

„Danke. Bis dann.“

Ich lege auf. Er könnte jetzt wirklich langsam damit aufhören, herumzuschleimen; er weiß doch, dass ich ihn durchschaut habe. Vielleicht ist es doch keine gute Idee, auf diese Party zu gehen – ich sollte mich besser eine Weile von ihm fernhalten, bevor sich das Karussell noch schneller dreht, und ich gar nicht mehr hinaus komme. Aber wie soll ich das nur schaffen? Er übt immer noch eine geradezu erschreckende Anziehungskraft auf mich aus, und natürlich will ein Teil von mir nur zu gern glauben, dass er die Dinge, welche er sagt und tut, tatsächlich ernst meint. Noch habe ich diesen Teil im Griff, aber wenn er so weitermacht, kann ich für nichts mehr garantieren.

Ich überlege, was ich mit dem Rest des Tages anfangen soll, aber mir fällt nichts ein. Ich habe überhaupt keine Lust, hinauszugehen und Leute zu treffen, gleichgültig wen. Hierbleiben und schon wieder besaufen fällt auch flach denn erstens werden meine Eltern sich irgendwann wundern, wo denn ihre Alkohol-Vorräte bleiben, und zweitens geht es mir immer noch dreckig, und ich bin froh, dass mein Fünfzehn-Uhr-Frühstück sich noch nicht wieder den Weg ins Freie gebahnt hat.

Warum habe ich eigentlich niemanden, dem ich die ganze Scheiße einfach erzählen kann? Diesen ultimativen „besten Freund“ oder meinetwegen auch die ultimative „beste Freundin“ – ich bin da nicht so pingelig. Ich glaube, wenn ich nur einmal über alles reden könnte, jemandem sagen könnte, was in mir vorgeht, ihn fragen könnte, was er dazu meint, dann würde es mich nicht so zerfressen. Aber ich habe niemanden … Keiner weiß davon, denn ich hüte dieses kleine, dunkle Geheimnis bisher wirklich gut.

Manchmal, denke ich, zu gut. Vielleicht sollte ich mich einfach erwischen lassen, dann gäbe es einen riesigen Tumult, und wenn sich alles gelegt hat, könnte ich endlich über meinen Liebeskummer sprechen, wie jeder andere auch. Stattdessen bleibt mir nur dieser dämliche Chat oder ein Forum. Ganz toll … Ich habe keine Ahnung, wer sich hinter „Sammy23“ oder „Tommyboy“ verbirgt. Es könnte ein geiler alter Bock sein; irgendein Hetero, der sich an den Problemen von kleinen, verklemmten Schwuchteln aufgeilt oder sogar einer meiner Lehrer. Ich schüttle mich bei dieser Vorstellung: grausig!

Nein, ich will mit jemand reden, der echt ist – den es wirklich gibt; der mir gegenüber sitzt und meine Hand drückt, wenn es mir mies geht. Und das tut es momentan wirklich. Mir kommen schon wieder die Tränen als mir bewusst wird, wie schrecklich ich mich wirklich fühle.

Ich atme tief durch, um die Überschwemmung zu verhindern, und dann überlege ich, was ich tun kann. Mir fällt nur ein einziger Mensch ein, bei dem ich es wagen würde, mich zu outen, und ich finde, jetzt ist der perfekte Moment dafür. Ich bin so verzweifelt, dass die Panik vor der Reaktion ein Witz dagegen ist, wenn ich dafür die Chance habe, endlich meinen ganzen Frust loszuwerden.

Ich schreibe einen Zettel an meine Eltern – „Es kann heute spät werden. Gruß, Dennis“ –, nehme meinen Schlüssel und steige ins Auto. Ich überlege nicht lange, ich tue es einfach. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich sagen werde aber unterwegs habe ich noch genug Zeit, um zu überlegen. Schließlich habe ich knapp dreihundert Kilometer zu fahren. Dass mein Bruder gar nicht zu Hause sein oder keine Zeit haben könnte, kommt mir nicht in den Sinn, dazu bin ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt.

Nach etwas mehr als drei Stunden Fahrt, finde ich tatsächlich einen Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung und steige aus. Was ich ihm sagen soll, weiß ich leider immer noch nicht, denn ich konnte unterwegs nicht überlegen, weil ich die ganze Zeit wieder und wieder daran gedacht habe, wie beschissen meine aktuelle Situation ist und ich mich nur im Kreis, um diesen einen Gedanken, gedreht habe.

Egal, erst mal sehen, ob er zu Hause ist, denke ich mir. – Dann wird mir schon irgendetwas einfallen. Ich drücke die Klingel, und kurz darauf krächzt die Sprechanlage.

„Ja? Wer ist denn da?“, fragt eine Frauenstimme.

Scheiße! – er wohnt hier nicht mehr. Aber sein Name steht auf der Klingel … Dann ist er nicht allein. – Ebenfalls Mist.

„Äh, hallo!“, sage ich, dann fällt mir ein, dass ich vielleicht sagen sollte, wer ich bin. „Hier ist Dennis, der Bruder von Simon … Ist er zu Hause?“

„Ja. Augenblick“, sagt sie.

Kurz darauf höre ich eine Stimme von oben.

„Bist du das wirklich, Kleiner?“

Ich schaue nach oben und sehe Simons Kopf aus dem Fenster ragen. Niemandem außer ihm würde ich es erlauben, mich so zu nennen.

„Ja. Störe ich?“

„Quatsch! Komm rauf.“

An der Tür summt es, und ich drücke sie auf. Im Flur ist es dämmrig und angenehm kühl. Die Vorteile eines Altbaus liegen in diesem Jahr wirklich auf der Hand. Mein Zimmer unter dem Dach ist momentan der reinste Brutkasten, sodass ich schon oft überlegt habe, in den Keller umzuziehen, aber zwischen den Konservendosen zu wohnen ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss.

Ich eile die Treppen hoch und oben werde ich von Simon fröhlich empfangen: „Hallo, Kleiner! Das ist ja eine Überraschung.“ Sein Lächeln friert ein, sobald er meinen Gesichtsausdruck sieht. „Ist was passiert?“

Ich will ihm sagen, dass alles in Ordnung ist; dass alle gesund sind, und es allen gut geht – breche aber stattdessen in Tränen aus.

„Hey, Kleiner. Ist ja gut“, sagt er zärtlich, legt seinen Arm um meine Schultern und schiebt mich in die Wohnung. Genau das war es, was mir so gefehlt hat, und weil es so gut tut, weine ich nur noch heftiger. Er sagt gar nichts mehr, schiebt mich auf das Sofa und sitzt einfach neben mir. Sein Arm liegt immer noch auf meinen Schultern und er drückt mich an sich.

Ich bekomme gar nicht mit, wie seine Freundin vom Sofa aufsteht, aus dem Zimmer geht und in der Küche Tee kocht. Auch nicht, wie sie ein Tablett mit Tassen, Teekanne und Keksen bringt und auf den Tisch stellt. Immer noch weinend versuche ich schließlich, Simons Sorgen um den Gesundheitszustand der Familienmitglieder zu zerstreuen.

„Zu Hause ist alles okay“, bringe ich, von Schluchzern unterbrochen, heraus, aber ich würde nicht viel darauf wetten, dass er mir glaubt.

Er gießt Tee ein und hält mir die Tasse hin. Ich bin froh, dass meine Hände sich an etwas anderem als seinem nassgeheulten T-Shirt festhalten können und nippe daran. Erdbeere. Sofort fällt mir wieder mein blöder Wunschtraum ein, in dem Jan mich küsst, und sein Kuss nach Erdbeeren schmeckt. Simon schafft es gerade noch, die Tasse zu retten als mich ein neuer Weinkrampf schüttelt. Ich kann einfach nicht mehr. Sosehr ich auch versuche, mich zusammenzureißen: Es geht nicht. Minutenlang kriege ich mich einfach nicht wieder in den Griff.

Simon stellt die Tasse wieder ab und zieht mich wieder in seine Arme. Er hält mich ganz fest, sagt immer wieder leise „Alles wird gut! Jetzt bist du ja hier!“ und streicht über meinen Rücken. Irgendwann werden meine Schluchzer weniger, und meine Tränen versiegen, ich bin fix und fertig, und sehe ihn aus meinen rotgeheulten Augen an.

„Mir geht’s echt scheiße.“

Er nickt einfach, und ich sehe, dass auch seine Augen verdächtig glänzen. Und dann sprudelt alles aus mir heraus. Dass ich seit Wochen – ach, Blödsinn: seit Monaten! – heimlich in einen Schulkameraden verliebt bin; dass ich es nicht wage, mich dem Objekt meiner Begierde zu offenbaren; dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt eine Chance habe, zurückgeliebt zu werden. Ich beginne mit dem Tag, als ich Jan auf dem Schulhof ansah, und es plötzlich „klick“ machte und ende heute – genauer gesagt vor einer knappen Stunde, als ich hier angekommen bin. Dann sehe ich ihn an und warte auf eine Reaktion.

Er fragt: „Glaubst du denn wirklich, dass er dich nur verarscht hat? Oder hast du einfach Angst davor, was passieren könnte, wenn du zulässt, dass er sich auch in dich verliebt?“

Ich starre ihn an und kann nicht glauben, was ich höre. Kein „Was? Du bist schwul?“, kein „Bist du auch wirklich sicher?“, kein „Hast du es Mam und Pap schon gesagt?“, kein „Warum hast du es mir nicht eher erzählt?“ – nichts von alledem. So, als hätte er es längst gewusst und – was mich noch viel mehr verwirrt – so, als wäre es völlig in Ordnung.

„Was?“

Was redet er denn da? Angst, dass Jan sich auch in mich verliebt? Hallo? Ob das wohl das ist, was ich mir am meisten wünsche?

„Tu es doch einfach“, sagt er. „Lass es einfach zu. Du weißt vorher nie, ob es funktioniert oder ob du auf die Nase fällst. Egal, ob du in einen Jungen oder ein Mädchen verknallt bist. Und ja, es tut weh, wenn es nicht funktioniert – verdammt weh. Aber es nicht zu versuchen ist viel bitterer, denn du weißt nie, ob du nicht vielleicht aus Feigheit die Liebe deines Lebens verpasst.“

Bei der Stelle „Liebe des Lebens“ fällt mir seine Freundin wieder ein, die immer noch neben uns im Sessel sitzt, und ich erinnere mich doch wieder an meine gute Kinderstube.

„Entschuldige, ich habe mich dir noch gar nicht vorgestellt“, sage ich – immer noch schniefend. „Ich bin Dennis.“

Sie lächelt und hat sofort bei mir gewonnen.

„Sarah“, sagt sie, und ich finde, dass sie auch genau wie eine Sarah aussieht: Sie hat langes, hellbraunes und naturgelocktes Haar, das sie locker-unordentlich am Hinterkopf zusammengeknüllt hat. Ein paar Strähnen haben sich losgerissen und kringeln sich um ihr Gesicht. Sie ist klein, zierlich und hat – soweit ich das beurteilen kann – eine super Figur. – Für eine Frau jedenfalls. Mein Bruder hat echt einen tollen Geschmack. Und offensichtlich eine große Portion Glück dazu.

Sie reicht mir ihre Hand, und ich drücke sie.

„Freut mich“, sage ich und meine es ehrlich.

„Mich auch“, sagt sie, und ich habe den Eindruck, dass auch sie die Wahrheit sagt.

„Bist du mit meinem Bruder fest zusammen?“, frage ich sie geradeheraus, und sie nickt lächelnd.

„Das finde ich gut. Dann ist dir bestimmt schon aufgefallen, dass er ein toller Typ ist“, sage ich, und Simon stupst mich in die Seite.

„Nun trag mal nicht so dick auf.“

„Wieso?“, sagt Sarah und lächelt mich verschwörerisch an. „Er hat doch Recht.“

Sie blinzeln einander zu, und dann fällt mir wieder ein, dass ich ja total unangemeldet hier aufgetaucht bin.

„Habe ich euch eigentlich gestört? Vielleicht hattet ihr ja noch was vor. – Immerhin ist Freitagabend.“

„Nichts, was wir nicht später nachholen können“, sagt Simon und lächelt Sarah in einer ganz bestimmten Weise über meinen Kopf hinweg an. Als ich mich umdrehe, diesen Blick sehe und mir klar wird, was er meint, werde ich rot.

„Mach dir mal keinen Kopf deswegen“, sagt mein Bruder und wuschelt durch mein Haar.

Dann mustert er mich und sagt: „Was hast du überhaupt mit deinen Haaren angestellt? Du siehst ja richtig niedlich aus. Und neue Klamotten hast du auch, oder? Ich könnte echt verstehen, wenn er sich in dich verknallt hat.“

Verlegen rutsche ich auf dem Sofa herum. – Ich habe hier mein ganzes verkorkstes Liebesleben ausgepackt, das eigentlich nicht einmal existent ist und habe ihres gestört.

Sarah lächelt mich entwaffnend an und sagt: „Es ist wirklich nicht so schlimm. Ich muss jetzt eh los und arbeiten.“

Sie steht auf und verschwindet in einem der hinteren Räume, und ich muss jetzt auch erst einmal aufstehen und einem dringenden Bedürfnis nachgehen. Als ich zurückkomme, hat sie eine kurze Jeans und ein Shirt angezogen und küsst meinen Bruder zum Abschied.

Er fährt ihr mit den Fingern durchs Haar, lächelt und sagt: „Wir sehen uns morgen, Engel.“

Er sagt es so zärtlich, dass ich fast schon wieder heulen muss.

Später drängt er mir eine Pizza auf, obwohl ich vorher vehement behauptet habe, nicht hungrig zu sein. Als wir aber schließlich die Kartons aufklappen und mich die Schinkenpizza dann unverschämt anduftet, knurrt mir allerdings doch der Magen und ich verputze sie bis auf den letzten Krümel. Sehr satt und zufrieden pitschern wir uns noch ein, zwei Gläschen Rotwein hinein und quatschen über dies und das. Er will alles über Jan wissen, und ich erzähle ihm nur zu gerne, warum ich diesen Burschen so abgöttisch liebe, denn das tue ich auch, wenn ich bisweilen versuche, mir etwas anderes einzureden.

Irgendwann frage ich ihn, warum er nicht einmal wirklich überrascht gewesen ist, dass ich auf Jungs stehe, und er meint nur: „Ach, Kleiner. Überleg mal, wie lange ich dich schon kenne. Ich hab’s mir irgendwie gedacht. Ich meine, du stehst auf HIM und auf Leonardo di Caprio und hast keinen Blick für Shakira oder Beyonce übrig. Und wenn ich ’ne Freundin hatte, hat es dich kaum interessiert. – Jeder andere jüngere Bruder hätte zumindest mal versucht, zu spannen – du aber nicht.“

„Oh. Und ich dachte immer, ich wäre ein guter Schauspieler. Bin ich echt so leicht zu durchschauen?“

„Wenn man dich so gut kennt, wie ich …“

Er sieht mich an und mir wird ganz warm ums Herz. Plötzlich fühle ich mich überhaupt nicht mehr einsam und traurig, weil ich einen so phantastischen Bruder habe.

Kapitel 6 – Party Time!

Während ich mich für die Party fertigmache, denke ich noch einmal daran, was seit gestern Nachmittag alles passiert ist. Natürlich bin ich abends nicht mehr nach Hause gefahren – erstens war es schon ziemlich spät und zweitens hatte ich Alkohol getrunken. Und dann fahre ich prinzipiell nicht, auch wenn mich dadurch einige für einen Spießer halten. Aber ich bin lieber ein lebender, gesunder Spießer als ein lässiger Typ, der besoffen vor einen Baum fährt.

Nach dem Frühstück bei Simon bin ich ziemlich bald aufgebrochen. Vorher habe ich allerdings noch schnell meine Eltern angerufen, um ihnen zu sagen, dass alles in Ordnung ist, wo ich bin und wann ich nach Hause komme. Mam war wirklich erleichtert – sie hatte sich schon Sorgen gemacht, weil ich nachts gar nicht nach Hause gekommen bin.

Auf der Heimfahrt habe ich mich zum ersten Mal seit langem wirklich gut und im Reinen mit mir selbst gefühlt. Sogar mehr als das: Ich hatte mich geoutet! – Zum ersten Mal! Und es war viel einfacher als ich erwartet hatte. Natürlich lag das an meinem absolut phantastischen Bruder, der einfach super reagiert hat. Ich hätte es wissen müssen – immerhin hatten wir immer ein ganz besonderes Verhältnis. Die Streitereien und Reibereien, die Rivalitäten, welche andere mit ihren Geschwistern haben, hatte es bei uns nie gegeben. Irgendwie war es manchmal fast beängstigend gewesen, wie gut wir einander verstanden hatten. Für Brüder mit einem Altersunterschied von vier Jahren ist das sicherlich nicht selbstverständlich.

Ich kehre vor dem Badezimmerspiegel aus meiner Gedankenreise zurück und bearbeite meinen Kopf mit Gel und Spray, bis ich zufrieden bin. Aber was ziehe ich an? Ich öffne meinen Schrank und schiebe meine neuen Sachen hin und her. Irgendwie gefällt mir nichts so richtig. Zumindest scheint nichts davon zu meiner derzeitigen Stimmung zu passen.

Dann fällt mein Blick auf die schwarze Hose. Die, für die mir bisher keine passende Gelegenheit einfiel. Ich ziehe sie aus dem Schrank und halte sie mit ausgestreckten Armen hoch. Ein Lächeln schleicht auf mein Gesicht. – Ja, das ist es! Ich steige hinein und ziehe dazu das neue, ärmellose Shirt an.

Leider sind meine Eltern zu Hause und ich kann den großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer nicht benutzen. Ich stelle mich im Bad auf die Zehenspitzen und versuche, mich im Spiegel über dem Waschbecken so weit wie möglich anzusehen. Sehr erfolgreich bin ich nicht, aber es muss reichen. Wenn ich das richtig sehe, sehe ich heute ziemlich gut aus.

Ich nehme meinen Schlüssel vom Haken und rufe auf dem Weg zur Tür „Ich fahre jetzt!“ in Richtung meiner Eltern.

„Ja! Viel Spaß, Schatz!“, ruft meine Mutter aus dem Wohnzimmer zurück, und mein Vater brummt etwas Ähnliches.

Ich bin froh, dass sie nach meiner Rückkehr nicht tiefer gebohrt hat, um den wahren Grund für meinen Besuch bei Simon zu erfahren. Meine Erklärung, dass ich mit ihm telefoniert habe und er gefragt hat, ob ich nicht einfach kommen will, weil ich ja keine Schule habe, haben sie wohl geglaubt. – Hoffe ich jedenfalls.

Bei dem Gedanken, es ihr und Pap auch irgendwann sagen zu müssen, dreht sich mir allerdings ein bisschen der Magen um.

„Bist du morgen zum Frühstück hier?“

„Ja, ich denke schon!“

„Alles klar, dann bis morgen!“

„Bis morgen!“

Dann bin ich auch schon draußen, auf dem Weg zu Jens und das gute Gefühl hält immer noch an. Ich habe sogar kurz überlegt, ob ich Jan anrufen und ihm anbieten soll, ihn mitzunehmen, aber dann habe ich es doch nicht getan. Er soll ruhig einmal selbst sehen, wie er dorthin kommt. Vielleicht kann ich ihn ja mit zurück nehmen. Sehen wir einmal, wie er sich aufführt. Im Bezug auf ihn bin ich momentan ein bisschen verwirrt. Mir sausen einerseits immer noch die Worte von Simon durch den Kopf, ich solle es einfach drauf ankommen lassen, aber andererseits ist da auch immer noch das Gefühl, von ihm nur verarscht zu werden.

Als ich bei Jens klingele, sind schon etliche Leute da, die Musik dudelt laut aus den Boxen und der Partykeller ist schummrig beleuchtet.

„Scheiße, Dennis? Bist Du das wirklich?!“, begrüßt er mich.

Wie nett! Aber er grinst dabei, also sehe ich das als Kompliment. Dann zeigt er mir, wo die Getränke stehen und geht, um sich wieder um die Musik zu kümmern.

Ich stelle mich zu Manuela, und sie legt die Hand auf meine Schulter und dreht mich langsam nach rechts und links. Sie sieht an mir herunter, dann wieder hoch.

„Wow!“, sagt sie nur und zieht die Augenbrauen hoch.

Dann kommt sie mir näher und flüstert: „Für wen hast du dich denn so aufgebrezelt?“

Als sie sich grinsend wieder zurückzieht, bin ich froh, dass es relativ düster ist und sie nicht sieht, wie ich rot werde.

Da mir keine passende Antwort einfällt, ziehe ich es vor zu schweigen. Ich sehe mich um und stelle fest, dass Jan noch nicht hier ist. Na gut, ich werde sicherlich auch ohne ihn eine Menge Spaß haben. Und Spaß haben will ich! – Notfalls alleine. Ich hole mir eine Cola und für Manuela auch eine, allerdings ist in der ein guter Schuss Bacardi drinnen.

Jens sieht uns zusammen stehen und gesellt sich zu uns. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass er es nicht besonders gern sieht, dass ich mich so intensiv mit Manuela unterhalte. Während wir zu dritt dort stehen, achte ich auf seine Blicke und Gesten. Schließlich weiß ich am allerbesten, wie es aussieht, wenn man jemanden aus der Ferne anschmachtet, und – um ehrlich zu sein – ich habe das Gefühl, dass er genau das bei Manuela tut.

Jetzt legt sie ihre Hand auf meine Schulter und kommt mir ziemlich nahe, um mir etwas ins Ohr zu schreien, damit ich sie trotz der sehr lauten Musik verstehe. Irgendjemand hat die Anlage weiter aufgedreht und es wird getanzt. Jens fixiert erst ihre Hand, sieht dann abwechselnd auf sie und mich und wendet ganz schnell den Blick ab als er bemerkt, dass ich ihn anschaue.

So, das reicht, mein Freund! Jetzt teste ich dich einmal richtig! Ich lege meine Hand auf ihre Taille und nähere mich ihr um zu antworten. Dabei schiele ich zu Jens ohne dass er es bemerkt. Wenn Blicke töten könnten, würde ich auf der Stelle leblos zusammensacken. Ich muss mich arg zusammenreißen, um nicht loszulachen. Er ist so herrlich durchschaubar.

Also gut, dann spiele ich jetzt einmal ein bisschen Amor: Ich nehme meine Hand weg, zücke stattdessen Pfeil und Bogen, drehe mich zu Jens und sage „Ich lasse euch beide jetzt mal alleine.“, zwinkere ihm vielsagend zu und verschwinde.

Im Weggehen schieße ich schnell zwei Liebespfeile über die Schulter ab. So, und jetzt muss er selbst sehen, wie er klar kommt.

„Hey!“, sage ich freundlich zu Jan, der inzwischen eingetroffen ist und alleine an der Theke herumsteht und die Tanzfläche beobachtet. Er sieht irgendwie unglücklich aus und mir ist versöhnlich zumute.

„Alles klar?“

Er sieht mich an wie ein waidwundes Reh.

„Und bei dir?“

Ich schaffe es zu lächeln.

„Ganz okay.“

„Hör mal, wegen vorgestern …“, beginnt er so leise, dass ich ihn gerade eben verstehen kann. Erstens will ich davon nichts mehr hören und zweitens schon gar nicht hier, wo es vielleicht noch jemand von den anderen mitbekommt.

Ich schüttle den Kopf.

„Es ist ja nichts passiert.“

„Du bist nicht mehr sauer deswegen?“

„Ach, Quatsch!“, sage ich lässig.

Ich wachse über mich selbst hinaus. Keine Ahnung, woher ich plötzlich das Rückgrat nehme, aber es ist definitiv da. Außerdem wird mir klar, dass ich nicht mehr nur glühend in ihn verknallt bin, sondern das es bereits viel mehr ist. Ich habe ihn richtig gern und er ist mir wichtig. So wichtig, dass ich sogar bereit bin, über meinen Schatten zu springen und zu versuchen, ganz normal mit ihm umzugehen damit wir wenigstens befreundet sein können.

Ich stupse ihn mit dem Ellenbogen an. „Aber meine CD hätte ich gern zurück. – Es ist jetzt so ruhig im Auto.“

„Oh shit, die habe ich heute nicht dabei“, sagt er. „Kann ich sie dir morgen geben? Oder wenn wir uns das nächste Mal sehen? Ist das okay?“

Warum wirkt er deshalb so panisch? Es ist doch nur eine CD.

Dann legt jemand „She Moves In Her Own Way“ von The Kooks auf, und mich hält nichts mehr.

„Los, lass uns tanzen!“, rufe ich ihm zu, aber er schüttelt den Kopf.

„Später vielleicht“, sagt er, aber ich lasse mich von ihm nicht davon abhalten und stürme auf die Tanzfläche, wo ich total abdrehe.

Dieser Song ist einfach zu geil! Wenn ich einmal im Wahn bin, ist es mir völlig gleich, was danach gespielt wird, ich mache einfach weiter. Es tut unglaublich gut, sich einfach nur zur Musik zu bewegen und an nichts anderes mehr zu denken.

Als ich später völlig außer Atem ein Wasser herunterstürze, sehe ich aus dem Augenwinkel, dass er mich beobachtet. Will er das Spiel jetzt umdrehen oder was? Ich bin entschlossen, mich nicht aus der Bahn werfen zu lassen und ignoriere ihn, so gut ich kann.

Obwohl ich den ganzen Abend bei Cola und Wasser bleibe, wird es ein richtig lustiger Abend. Ich unterhalte mich, tanze und schaue den anderen beim Betrunkenwerden zu. Ich sehe mit einem zufriedenen Lächeln, wie Jens endlich den Arm um Manuela legt und als ich das nächste Mal hinschaue, knutschen sie bereits heftig. Sie hören übrigens den ganzen Abend nicht mehr damit auf. Wusste ich es doch!

Mit Jan unterhalte ich mich später auch noch einmal. Wir schaffen es irgendwie, ganz normal miteinander umzugehen, und er erzählt mir, dass er noch dringend einen Job für die Ferien sucht, wenn möglich sogar auch für später. Allerdings rechnet er sich da keine besonderen Chancen aus, denn Stellen, die man zusätzlich zur Schule schaffen kann, sind sehr spärlich gesät. Tja, das ist offensichtlich wieder eine Sache, bei der ich deutlich mehr Glück gehabt habe als andere.

Natürlich nehme ich ihn abends mit nach Hause, ich bin ja kein Unmensch, außerdem komme ich ohnehin fast bei ihm zu Hause vorbei. Na ja, „abends“ ist gut gesagt … – Eigentlich ist schon früher Morgen, als wir durch die verlassene Stadt fahren. Er ist ziemlich blau – ich stocknüchtern. Klar, schließlich fahre ich ja auch. Viel redet er nicht, und ich muss gestehen, dass ich jetzt auch nicht unbedingt unterhalten werden möchte, denn ich bin ziemlich müde und versuche, mich aufs Fahren zu konzentrieren. Aus den Boxen dudelt leise eine etwas ältere CD von Reamon. Meine HIM-CD ist ja immer noch bei ihm.

Vor seiner Haustür halte ich an, und er pellt sich mühsam aus dem Sitz, schaut noch einmal kurz durch die Tür und bedankt sich bei mir fürs Heimfahren.

„Fährst du morgen zum See?“, fragt er dann.

„Ja, ich denke schon“, sage ich. „Soll ich dich mitnehmen? Wie immer um zwei Uhr?“

„Das wäre super", nuschelt er und hat Mühe, ruhig zu stehen.

„Alles klar. Bis dann!“, sage ich und er wirft die Tür ins Schloss. Ich fädle mich in den nicht vorhandenen Verkehr ein und mache mich auf das letzte Stück des Heimwegs.

Es wird höchste Zeit, dass wieder ein bisschen Normalität einkehrt nach den letzten Tagen, in denen so ziemlich alles drunter und drüber ging. Das kann ja niemand auf Dauer aushalten.

Kapitel 7 – Es normalisiert sich …

Ausschlafen, mit meinen Eltern zusammen frühstücken, ein paar Geschichten von der gestrigen Party und von meinem Besuch bei Simon erzählen … Es ist ein ganz normaler Sonntagmorgen, und das tut zur Abwechslung richtig gut. Ich bin fast erstaunt, dass ich mich immer noch ziemlich gut und ausgeglichen fühle. Hoffentlich bleibt das jetzt für eine Weile so. Ständig diese Heulerei und Verzweiflung – davon habe ich wirklich die Nase voll.

Ich habe so gute Laune, dass ich nach dem Frühstück sogar noch meiner Mutter helfe, die Küche zu putzen, während wir weiterquatschen. Warum sieht sie mich dabei nur so komisch von der Seite an? Kann ein Sohn denn nicht einfach seiner Mutter bei der Hausarbeit helfen?

Nachmittags sammle ich Jan ein und steuere unseren Badesee an. Wenn es so weitergeht, kennt mein Auto die Strecke bald im Schlaf, und ich brauche gar nicht mehr zu lenken. Jan hat sogar an meine CD gedacht und so können wir während der Fahrt endlich wieder dem süßen Ville Valo lauschen. – Der hat mir echt gefehlt.

Heute sind alle unglaublich faul. Die gestrige Party hat offensichtlich ihren Tribut gefordert, denn wir sind nur sehr spärlich besetzt, und die Wenigen, welche da sind, lungern nur herum und haben zu nichts Lust. Da ich als einziger von den anwesenden gestern nichts getrunken und außerdem endlich wieder eine Nacht vernünftig geschlafen habe, bin ich auch als einziger fit wie ein Turnschuh. Deshalb geht mir auch mein Buch nach einer Weile tierisch auf die Nerven, außerdem ist es heiß wie in einem Affenkäfig. Ich schaue in den strahlend blauen Himmel und denke, dass es ruhig einmal wieder regnen könnte. Ein bisschen Abkühlung könnte nicht schaden.

„Ich gehe ins Wasser. – Kommt jemand mit?“

Natürlich nicht! … Da liegen sie, wie die Robben am Strand, und winken träge ab. Selbst mein Jan hat keine Lust, obwohl er sonst ziemlich sportlich ist. Er ist zwar nicht mehr so extrem verschlossen wie in der letzten Woche, trägt er auch heute wieder den ganzen Tag lang sein T-Shirt. Mich würde brennend interessieren, warum er das tut, aber ich hoffe einfach, dass er mir von sich aus erzählen würde, was das zu bedeuten hat, wenn er darüber reden wollte und frage nicht mehr nach.

Ich lasse mich alleine ins Wasser gleiten, und weil es langweilig ist, alleine herumzuplantschen, schwimme ich mit langen Zügen los. Ich will noch einmal in diese Bucht, welche ich letztens entdeckt habe. Mal sehen, ob heute auch niemand dort ist!

Heute kommt mir der Weg dorthin etwas länger vor als beim letzten Mal, aber das liegt bestimmt daran, dass ich da im Allgemeinen nicht mehr viel gemerkt habe. Ich komme erschöpft dort an, krabble auf allen Vieren aus dem Wasser und bleibe erst einmal bäuchlings auf den Steinen liegen. Dann drehe ich mich vorsichtig auf dem harten Untergrund auf den Rücken. Ich setze mich auf, lege die Arme um die Knie und sehe mich um. Dann schließe ich die Augen und lege den Kopf auf meinen Arm. Es ist einfach toll hier. Ich bin ganz alleine und das leise Rascheln der Blätter und das Plätschern des Wassers sind die einzigen Geräusche, welche ich höre.

Irgendwann wird mir langweilig und ich mache mich daran, zurück in unsere Bucht zu schwimmen. Ich konzentriere mich darauf, meine Kräfte gut einzuteilen, um nicht vorzeitig abzusaufen. Als ich triefend aus dem Wasser steige, kommen gerade Jens und Manuela Arm in Arm dazu. Er grinst mich an. – Offensichtlich hat er mir verziehen, dass ihn ein bisschen eifersüchtig gemacht habe.

Sie quetschen sich so nah wie möglich nebeneinander auf ihre Handtücher und flüstern leise miteinander, jedenfalls dann, wenn sie einander nicht gerade küssen. Okay, von denen ist heute nicht mehr viel zu erwarten. Ich schüttle das Wasser aus meinem Haar und gehe zu meinem Platz zurück. Nachdem ich mich ein bisschen abgetrocknet habe, lege ich das Handtuch wieder auf den Boden, setze mich darauf und lese weiter in meinem Buch. Vielleicht ist ein fauler Sonntag gar nicht so schlecht. Da kann ich mich von dem Stress der letzten Zeit erholen.

Ich weiß nicht, ob ich es aus alter Gewohnheit tue oder weil er mich immer noch nicht loslässt, aber ich beginne wieder, Jan über den Buchrand zu beobachten. Es ist wie ein Zwang: Er ist so wunderschön, dass es eine Schande wäre, ihn nicht anzusehen. Auch, wenn ich leider nicht mehr so viel von seinem Körper zu sehen bekomme, weil er in der letzten Zeit immer diese blöden T-Shirts trägt. Er sollte wirklich endlich damit aufhören.

Einmal erwischt er mich dabei, dass ich ihn ansehe. Unsere Blicke treffen einander kurz, aber er ist dieses Mal derjenige, welcher sofort wieder wegsieht und einen dummen Kommentar verkneift er sich. – Glück gehabt!

Die nächsten Tage ähneln einander so sehr, dass ich jegliches Gefühl für Raum und Zeit verliere. Ich habe keine Ahnung, ob es Montag, Mittwoch oder Freitag ist. Ist ja auch eigentlich gleich, denn wir haben ja Ferien. Wir treffen einander täglich in leicht wechselnder Zusammenstellung am See. Inzwischen gehöre ich sozusagen zum „harten Kern“ der Truppe, und wenn einer der anderen eine Verabredung treffen will, bin ich nicht mehr einer, der gefragt wird, ob „ihr alle“ auch kommt oder der einfach mitgeht, wenn alle gehen, jetzt werde ich direkt gefragt. Ich habe zwar immer noch keinen Freund, aber zumindest einige neue Freunde gewonnen – und das ist auch nicht schlecht!

!He, was haltet ihr davon, wenn wir morgen Abend bei uns im Garten ein kleines Lagerfeuer machen? So langsam geht mir der Biergarten jeden Abend auf die Nerven! Außerdem sind meine Eltern bis zum Wochenende nicht da, und ihr könntet alle bei mir pennen. Wer hat, kann ein Zelt mitbringen – oder zumindest einen Schlafsack. Notfalls haben wir auch noch ein Gästezimmer.“

Jens bringt den phantastischsten Vorschlag des Sommers ganz ruhig und gelassen während seine Finger mit denen von Manuela spielen.

„Geil!“, meint Andy sofort. „Wie früher bei den Pfadfindern. Bloß mit deutlich mehr Alk.“

Er grinst und scheint sich schon darauf zu freuen.

Weil alle sofort ziemlich begeistert sind, verbringen wir diesen Abend damit, im Biergarten zu sitzen und den nächsten Abend zu planen. Mein Auto und ich werden zum Bierholen eingeteilt und Jan bietet sofort an, mir zu helfen. Ich bin dankbar, dass ich die Kisten nicht alleine schleppen muss, denn ein Muskelprotz bin ich ja nun wirklich nicht. Er hingegen kann bestimmt locker zwei Kisten gleichzeitig tragen.

Jens will außer unserer Clique auch noch ein paar Bekannte aus seiner Nachbarschaft einladen. Zwei von ihnen sind bei der Feuerwehr und so zerstreuen sich auch meine Bedenken, was alles passieren kann, wenn ein paar betrunkene Jugendliche am offenen Lagerfeuer hantieren. Ja, ich weiß, manchmal bin ich ein Schisser …

Wir überlegen, ob wir bei der Gelegenheit auch ein paar Würstchen grillen sollen, verwerfen den Gedanken aber wieder, weil es zu viel Arbeit wäre und einige dann den ganzen Abend am Grill herumstehen und die Dinger umdrehen müssten. Ich mache den Vorschlag, einen Sack Kartoffeln mitzubringen, die wir dann in der Glut backen könnten und das trifft auf volle Zustimmung und bringt Andy dazu, noch ein paar Pfadfinder-Geschichten zum Besten zu geben.

Schließlich sind alle Aufgaben verteilt und irgendwie hat beinahe jeder von uns irgendeine Lagerfeuer-Geschichte zu erzählen, so dass uns an diesem Abend der Gesprächsstoff nicht mehr ausgeht.

Kapitel 8 – Das Feuer brennt.

Ich sammle Jan ein und wir machen uns auf den Weg zum Getränkemarkt. Ich bin heilfroh, dass ich mir einen Einkaufszettel geschrieben habe, denn der Anblick, wie er die Kisten stemmt, lässt mein Gehirn abschalten. Ich meine, ich habe ja schon längst festgestellt, dass er recht muskulös ist aber ihn arbeiten zu sehen, macht mich richtig an, auch wenn ich das natürlich niemals öffentlich zugeben – wenn nicht sogar abstreiten! – würde.

Ich reiße mich zusammen, so gut ich kann und schaffe es sogar, ihm beim Tragen und Einladen zu helfen. Mein Herz wummert wie wild, und ich versuche mir einzureden, dass es an der Anstrengung liegt.

Als wir die Fuhre bei Jens abliefern, ist es schon fünf. Wir tragen das ganze Zeug in den Keller, damit es wenigstens einigermaßen kühl steht.

Ich frage: „Wie willst du das viele Bier bei diesem Wetter eigentlich kalt kriegen?“

Er grinst.

„Ich hab da meine Tricks. – Ihr werdet es ja sehen!“

Weil er so weit erst einmal fertig mit den Vorbereitungen ist und Manuela noch abholen will, machen wir uns wieder auf den Weg und verabreden, gegen zwanzig Uhr wiederzukommen. Ich überlege gerade noch, dass es sich kaum lohnt, für die paar Stunden wieder nach Hause zu fahren, da fragt mich Jan auch schon, ob ich so lange mit zu ihm komme. – Ein bisschen MTV gucken oder so. Ich verkneife mir einen Kommentar in die Richtung, dass er mich aber nicht wieder befummeln soll und stimme zu. Ich kann trotz allem immer noch keine Gelegenheit verstreichen lassen, mit ihm zusammen zu sein. Vielleicht können wir ja wirklich wenigstens Freunde werden.

Seine Eltern sind zum Glück nicht da und wir hocken im Wohnzimmer auf der Couch, schauen MTV, trinken Cola und futtern Chips. Es ist richtig schön, einfach mit ihm hier zu sitzen, über dies und das zu reden und seine Nähe zu spüren, sodass ich fast gar nicht mehr zum Lagerfeuer möchte.

„Hey!“, sagt er schließlich mit einem Blick auf die Uhr. „Ich glaube, wir müssen jetzt los!“

„Ja. – Dann mal los!“, sage ich und sehe ihn an – es sieht fast so aus, als würde er auch lieber hier bleiben wollen, aber dann rafft er sich auf.

„Wart mal kurz, ich hole noch mein Iglu“, sagt er und verschwindet, um kurz darauf mit zwei Paketen unter dem Arm zurückzukommen. Zelt und Schlafsack. Meiner liegt schon im Auto und ein Zelt besitze ich gar nicht. Aber Jens hatte ja gesagt, dass wir auch drinnen schlafen können. Notfalls penne ich halt draußen einfach so im Schlafsack. Bei der Wärme ist das auch nicht weiter tragisch.

Wieder bei Jens angekommen, begrüßen wir erst einmal alle, die schon da sind, und suchen uns einen Platz am noch nicht entzündeten Feuer. Es ist immer noch richtig warm und die Sonne senkt sich langsam.

„Bier ist da vorne“, sagt Jan und deutet zum Carport, unter dem eine Zinkbadewanne steht, die mit Wasser und großen Eisklumpen gefüllt ist. Jetzt weiß ich, wie er das Bier kühl halten will, denke ich und fische zwei Flaschen heraus, deren Etiketten bereits oben an der Wasseroberfläche schwimmen.

Eine halte ich Jan hinterrücks in den Nacken und er schreit auf. Ich springe aber schnell genug lachend zur Seite, so dass mich sein Fangschlag auf Wadenhöhe nicht erwischt.

Als ich mich wieder neben ihn fallen lasse, zischt er: „Das kriegst du zurück, verlass dich drauf!“

Ich grinse ihn frech an und sage: „Das werden wir ja sehen!“

Als es zu dämmern beginnt, zünden die Feuerwehr-Jungs das Feuer an. Da bestätigt sich wieder das Klischee: Feuerwehrmänner sind alle kleine Pyromanen.

Als es erst einmal richtig brennt und flackerndes, rot-orangefarbenes Licht unsere Gesichter beleuchtet, wird es richtig romantisch. Jens und Manuela können wieder einmal nicht die Finger voneinander lassen, aber das stört niemanden. Überall bilden sich jetzt kleine Grüppchen, die sich leise unterhalten. Das Feuer knackt und knistert, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, holt einer der Nachbarsjungen auch noch seine Wanderklampfe.

Wow, ich wusste gar nicht, dass Gitarrenmusik so sexy machen kann. Er spielt verdammt gut, ich glaube, irgendwas von Jack Johnson oder so, und klasse singen kann er auch. Dazu sieht er auch noch verdammt gut aus. So ein schlanker, hellhäutiger Typ mit schulterlangen, dunklen Locken. Eine Mischung aus James Blunt und Mika. – Sehr süß!

Dazu kommt noch, dass das flackernde Feuer ihn rot-golden anleuchtet, und ehe ich weiß, was passiert, starre ich ihn auch schon die ganze Zeit an. Er bemerkt meinen Blick offensichtlich und sieht direkt in meine Augen, sodass mein Herz einen Galoppsprung macht. Der Hauch eines Lächelns umspielt seine Mundwinkel und sein Blinzeln ist so langsam, als würde er es ganz bewusst tun. Hey, Moment einmal, was passiert jetzt hier?

„He, Dino!“, sagt jetzt einer der anderen, die ich hier zum ersten Mal sehe, entweder ein Feuerwehr-Kumpel oder anderer Nachbar. „Hör schon auf, den anzumachen, du sollst doch die Finger von Jens’ Kumpeln lassen. – Schon vergessen?“

Dino dreht sich zur Seite, unterbricht den Song und zeigt dem rothaarigen Jungen den Mittelfinger. Ich fange an zu grinsen. Das tue ich auch noch, als er mich wieder ansieht. Seine Augen bewegen sich zur Seite, und er nickt mit dem Kopf kaum merkbar in die gleiche Richtung. Dann sieht er mich wieder fragend an. Er will, dass ich mit ihm hier verschwinde, soviel ist klar. Einen winzigen Moment zögere ich, dann schüttle ich genauso minimal den Kopf, werfe ihm noch einen entschuldigenden Blick zu und wende mich ab.

Jans Blick, der mich in diesem Moment trifft, kann ich nur bedingt deuten. Scheiße, er hat das alles mitbekommen! Jetzt kann ich wohl nicht mehr leugnen, dass ich auf Jungs stehe. Immerhin habe ich gerade ganz deutlich mit dem Gitarren-Typen geflirtet. Ich ignoriere seinen Blick und beteilige mich an der Unterhaltung, die er gerade mit Sven führt und hoffe, dass er vielleicht doch nichts davon bemerkt hat. Oder, dass er es falsch interpretiert. Gut, dass unsere Gesichter durch das Feuer ohnehin rot aussehen, so bemerkt er nicht, dass mir sämtliches Blut in den Kopf gestiegen ist.

„Wer ist als nächstes dran mit Holz holen?“, fragt Markus irgendwann und bevor ich sagen kann „Immer der, der fragt“, bin ich schon selbst der Depp, der gehen muss, wie alle einstimmig beschließen.

Also gut, warum auch nicht? Irgendwann ist schließlich jeder an der Reihe. Ich tappe quer über das Grundstück zum Schuppen, neben dem ein ganzer Stapel abgeschnittene Äste und so ein Zeug herumliegen, aus dem ich im nicht gerade üppigen Licht der herüberscheinenden Straßenlaterne möglichst brauchbare Knüppel für das Feuer heraussuche.

Plötzlich höre ich ein Knacken, als ein Zweig unter einem Fuß zerbricht, und als ich über meine Schulter sehe, steht Jan hinter mir.

„Willst du mir beim Schleppen helfen? Das finde ich nett“, sage ich und zerre einen weiteren Ast aus dem Stapel.

„Eigentlich …“, sagt er und irgendetwas in seinem Tonfall bringt mich dazu, den Ast loszulassen und mich zu ihm umzudrehen.

Er steht einfach nur da, mit herunterhängenden Händen, und sieht mich an, und ich werde aus seinem Gesichtsausdruck nicht schlau. Er lächelt nicht, aber er sieht auch nicht aus, als wäre er sauer auf mich. Warum auch? Ich habe doch nichts gemacht.

Er tritt einen Schritt auf mich zu, sodass wir direkt voreinander stehen. Mir fällt das Holzstück aus der Hand, und ich bin unfähig, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen, weil seine unmittelbare Nähe mich erstarren lässt. Er sieht mir direkt in die Augen und ein Stromschlag durchzuckt mich, als ich seine Finger ganz leicht auf meinem Handrücken spüre. Ohne wirklich darüber nachzudenken, was ich tue, drehe ich meine Hand und unsere Finger verschränken sich ineinander.

Er hält meine Hand fest und rückt noch näher, sodass wir einander beinahe berühren. Ich kann fühlen, wie sein Atem über meine Wange streicht. Seine Lippen nähern sich meinen wie in Zeitlupe und kurz bevor sie sich berühren, fragt er kaum hörbar: „Darf ich?“

„Versuchs doch einfach“, hauche ich zurück und bekomme kurz darauf den sanftesten und süßesten Kuss meines Lebens.

Dieses Mal stoße ich ihn nicht weg, auch wenn ich einen winzigen Augenblick lang eine Vision habe, wie alle aus ihren Verstecken stürzen und mich auslachen. Ich denke an Simons Worte, schiebe die Bilder beiseite und lasse mich voll und ganz auf Jan ein. Ich öffne meine Lippen ein wenig und ganz vorsichtig und zaghaft schiebt sich seine Zunge hindurch. Ich stupse sie mit meiner an, umkreise sie langsam und was sanft und zärtlich begann, wird wilder und heftiger. Mein Bauch kribbelt als würden tausend Ameisen darin Samba tanzen.

Ich lege meine Arme um Jan und ziehe ihn an mich, doch plötzlich zuckt er zusammen und rückt ein bisschen von mir weg.

„Au!“

„Hab ich dir wehgetan?“, frage ich erschrocken und weiß nicht, was hier vorgeht, ich habe ihn zwar heftig an mich gedrückt, kann mir aber nicht vorstellen, ihm dabei Schmerzen zugefügt zu haben. Nicht, dass das doch nur ein Scherz ist …

Er schüttelt den Kopf und nickt gleichzeitig. Plötzlich verstehe ich! Sein schmerzverzerrtes Gesicht beim Einsteigen ins Auto, das T-Shirt, das er seit ein paar Tagen nicht mehr ablegt, sein Schmerzensschrei am See als ich ihn angestoßen habe, all das passt dazu.

„Darf ich es sehen?“, frage ich ihn leise.

Er sieht nach unten als wäre mein Blick ihm peinlich und hebt ganz langsam das Shirt hoch.

Im diffusen Licht sehe ich trotz allem sehr deutlich, wie ein länglicher, ziemlich großer und immer noch dunkler Bluterguss die glatte, seidige Haut auf seinem Rücken verunstaltet. Ich nehme erschrocken die Finger vor meinen Mund.

„Oh, Scheiße!“, Dann fahre ich mit den Fingerspitzen vorsichtig über seine Haut und lasse die Stelle dabei aus. Seine Haut fühlt sich an wie Samt. Er dreht sich zu mir zurück und unsere Lippen finden einander wie von selbst. Während er mich ein zweites Mal küsst, nutze ich die Gelegenheit und schiebe die Hand weiter unter sein Shirt. Er glaubt doch nicht im Ernst, dass ich sie dort je wieder wegnehme!

„Deine Haut ist noch viel weicher als sie aussieht“, flüstere ich zwischen unseren Küssen hindurch. Dann spüre ich, wie er ganz langsam und zaghaft ebenfalls mit der Hand unter mein Shirt wandert. Ich erschauere, als er ganz leicht über meinen Bauch streicht.

„Deine nicht –“, wispert er zurück, „die sieht genauso weich aus, wie sie ist!“, und mich durchläuft ein weiterer Schauer. Nach vielen weiteren Küssen, lehne ich atemlos meine Stirn an seine und frage leise: „Jan?“

„Ja?“, kommt es ebenso leise zurück.

Ich wage es kaum, zu fragen …

„Du … du … verarscht mich doch nicht, oder?“

Er zieht den Kopf zurück und sieht mich an. – Einen Herzschlag lang habe ich wieder diese Vision, dann streicht er mir zärtlich eine Strähne aus der Stirn.

„Nein, natürlich nicht.“

Ich sehe ihn an und liebe ihn mehr als je zuvor. Ich verstehe zwar immer noch nicht, was genau passiert ist, wann er begonnen hat, in mir ebenfalls mehr als nur einen Kumpel zu sehen, aber das alles ist jetzt ohnehin unwichtig. Die Hauptsache ist, dass er es tut. Wir küssen einander wieder und wieder und ich bin nicht sicher, ob ich je wieder in der Lage sein werde, ihn los zu lassen.

Plötzlich kreist ein Gedanke wie die Murmel beim Roulette durch meinen Kopf und ich beginne unkontrolliert zu kichern. Ich kann einfach nicht anders. Ich versuche verzweifelt, es herunterzuschlucken, aber es gelingt mir einfach nicht.

„Was ist?“, fragt er verwirrt.

„Nichts“, pruste ich leise und habe mich immer noch nicht wieder im Griff.

Er sieht mich an als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank und schüttelt den Kopf. Das blöde ist, dass sein ratloser Gesichtsausdruck die Sache nicht wirklich besser macht.

„Entschuldige“, sage ich irgendwann keuchend. „Ich habe mich nur die ganze Zeit gefragt, was denn jetzt mit den Erdbeeren ist.“

„Erdbeeren?“, fragt er und ist total überfordert.

Klar, er kann ja auch nichts von meinen Wunschträumen wissen.

„Ja, Erdbeeren!“, sage ich und kann zumindest wieder normal reden. „Weißt du, ich habe immer gedacht, wenn ich dich irgendwann endlich küsse, schmeckt dein Kuss nach Erdbeeren.“

Jetzt fängt er an, leise zu lachen und er steigert sich beinahe so sehr hinein wie ich eben. – Na, hör mal: So lustig war es auch nicht!

„Weißt du was?“, fragt er schließlich, ebenfalls atemlos. „Ich habe immer gedacht, du schmeckst nach Zitrone.“

Und dann kichern wir beide los und müssen uns aneinander festhalten, um nicht umzukippen.

Irgendwann nach zahllosen weiteren Küssen lehnt er atemlos seinen Kopf gegen meinen und fragt leise: „Oh, Scheiße! – Was mache ich denn jetzt nur?“

„Wieso denn?“, frage ich.

„Ich habe mich tatsächlich in einen Jungen verliebt“, flüstert er in mein Ohr.

„Na und?“, frage ich ihn leise. „Was ist dabei? Ich doch auch.“

Er sieht mich an, und ich bekomme eine Gänsehaut von seinem Blick, so viel Liebe liegt darin. Dann küssen wir einander wieder. – Und wieder. – Und wieder.

Er kann genau wie ich nicht genug davon bekommen. Am liebsten würden wir genau wie Jens und Manuela den ganzen Abend miteinander knutschen, aber das wäre vermutlich keine gute Idee – es sei denn, man steht auf große Auftritte.

„Ich glaube, wir müssen mal langsam zurück“, bemerke ich widerwillig. „Sonst fangen die an, uns zu suchen, und ich weiß nicht, ob es gut wäre, wenn sie uns hier so finden.“

„Ich weiß“, meint er. „Noch einen kleinen Moment.“

Er umarmt mich ganz fest, und ich habe das Gefühl zu verglühen. Er ist heißer als jedes Lagerfeuer es sein kann.

Dann reißen wir schnell einen Haufen Äste aus dem Stapel, laden uns jeder einen Arm voll auf und stolpern zurück – nicht ohne vorher leise beschlossen zu haben, dass die anderen erst einmal nichts von uns wissen müssen.

Erstaunlicherweise schwirren keine Herzchen um uns herum, und auch sonst müssen wir wohl beide die geborenen Schauspieler sein, denn niemand schöpft Verdacht. Na ja, vielleicht der süße Typ mit der Gitarre, der mir ein Augenzwinkern über das Feuer wirft, auf das hin ich mich nur noch mit roten Ohren zur Seite drehen kann. Vielleicht gräbt er mich aber auch nur wieder an.

Ich komme gerade von der Toilette und laufe dem Klampfen-Typen, Dino, wie ich mich erinnere, direkt in die Arme und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, denn wir rasseln voll zusammen. Als ich merke, auf wen ich da geprallt bin, will ich schnell flüchten, aber er sieht mich direkt an und grinst hintergründig.

„Na?“, fragt er. „Ist bei euch Turteltauben endlich der Knoten geplatzt?“

Ich starre ihn so entgeistert an, dass er lachen muss.

„Du hast doch nicht geglaubt, dass man euch das nicht ansieht, oder? Außerdem habt Ihr euch vorher schon den ganzen Abend so umständlich umkreist – das konnte ich ja kaum noch mitansehen.“

Ich kann immer noch nichts sagen.

„Keine Angst, die anderen haben nichts gemerkt. Heten sehen so etwas nicht. – Die meisten jedenfalls. Und ich werde euch bestimmt nicht verraten!“

„Äh…“ – Mehr fällt mir nicht ein.

Er lacht wieder.

„Sammle dein Gehirn ein, bevor du wieder rausgehst.“ Und dann setzt er noch einen drauf: „Ihr seid übrigens ein echt süßes Paar! Viel Glück.“

Er verschwindet hinter der Toilettentür, und ich stehe immer noch mit offenem Mund da und starre hinter ihm her.

Wir gehören zu den letzten, die noch am Feuer sitzen. Ich hätte mich zwar lieber schon vor Stunden mit Jan zurückgezogen, hätte es aber nie gewagt, mit ihm zusammen in das Zelt zu kriechen, während die anderen noch wach sind. Er hat mir natürlich einen Platz darin angeboten, selbstverständlich ohne Hintergedanken wie er mir zuflüsterte. Wer’s glaubt, wird selig … Ich an seiner Stelle hätte jedenfalls welche gehabt …

Jens und Manuela sind längst verschwunden, und vom Feuer ist nicht mehr viel übrig. Die beiden haben es gut, denke ich. Erst können sie hier den ganzen Abend Händchen halten und herumknutschen, und dann ist es ganz normal, dass sie zusammen in seinem Bett liegen. Zuerst bin ich ein bisschen neidisch, aber die Vorstellung, statt Jan ein Mädchen küssen zu müssen, lässt mich das schnell vergessen, und ich weiß, dass ich mit ihm das bessere Los gezogen habe, denn er küsst einfach fantastisch.

„Ich gehe jetzt auch in die Falle“, meint mein Schatz und gähnt bereits zum dritten Mal innerhalb der letzten zehn Minuten. – Dann sieht er mich an und fragt: „Kommst du mit oder bleibst du noch?“

Als ich sehe, dass Andy und Lars, einer der Feuerwehr-Kumpel, sich auch schon recken und strecken, frage ich „Sollen wir dann das Feuer ausmachen?“ und beide nicken.

„Ich komme gleich nach“, sage ich zu Jan, obwohl ich es kaum noch erwarten kann, endlich mit ihm alleine zu sein und helfe ihnen, die Schubkarre mit dem Sand zu holen und das Feuer zuzuschaufeln. Es dauert nicht lange und ich krabble auf allen Vieren in das Iglu-Zelt.

Es ist stockdunkel darin, und ich taste nach meinem Schlafsack, pelle mich ungeschickt aus den Klamotten und krieche, nur noch in Unterhosen, hinein.

Bevor ich Jan fragen kann, ob er schon schläft, spüre ich seine suchende Hand auf meinem Arm. Ich nehme sie in meine und robbe näher zu ihm hin. Auf der Suche nach seinen Lippen, stupse ich mit seiner Nase zusammen und muss kichern. Aber dann finden wir doch noch zueinander.

Wir machen da weiter, wo wir vorhin am Holzschuppen aufgehört haben. Wir küssen einander und flüstern leise miteinander. Ich frage ihn, wann er denn diesen Sinneswandel durchgemacht hat und plötzlich nicht mehr mit Mädchen herumknutschen wollte, sondern mit mir.

Er sagt, das könne er gar nicht so genau auf den Punkt bringen, irgendwann habe er es einfach gewusst, und als er mich letzte Woche zu küssen versucht hat, und ich ihn weg gestoßen habe, habe er die Welt nicht mehr verstanden.

Ich gestehe, dass es mir nicht anders ging. Bei mir lag es allerdings eher daran, dass ich nicht im Traum damit gerechnet habe, dass er sich wirklich für mich interessiert, sondern dass ich davon ausgegangen bin, dass er mich nach Strich und Faden verarscht.

„Das tue ich nicht. – Ehrlich nicht“, bestätigt er noch einmal leise, und ich glaube ihm.

Er sagt, auf der letzten Party, als er mich in diesem Hammer-Outfit gesehen hat, sei ihm endgültig klar geworden, dass er unbedingt noch einen zweiten Versuch starten muss. In seinem Kopf hätte es in dem Moment derart „klick“ gemacht, dass er befürchten musste, ich könnte es hören.

Später erzählt er mir sogar noch ganz leise, wie er zu dem fürchterlichen Bluterguss auf seinem Rücken gekommen ist. Es hätte wie so oft in der letzten Zeit einen heftigen Streit mit seinem Vater gegeben, der schon länger von ihm verlangt, dass er sich endlich einen Job sucht, um ein bisschen Geld für die Haushaltskasse bei zusteuern. Seit sein Vater seine Stelle verloren hätte, sei das Geld bei Jan zu Hause nämlich relativ knapp. Jan hätte ihm auf den Kopf zugesagt, dass er es nicht einsähe, die Sauferei seines Vaters zu finanzieren, und dann sei der, auch in diesem Moment nicht ganz nüchtern, ausgerastet und hätte ihn heftig zurückgestoßen, genau gegen eine Türklinke. Jan hätte sich nichts anmerken lassen und sei aus dem Haus gerannt – genau in dem Moment, als ich ihn abholen wollte.

Jetzt weiß ich auch, warum er an diesem Tag so gehetzt ausgesehen hatte. Ich lege so viel Zärtlichkeit in meine Umarmung, wie ich nur kann. Ich möchte, dass er weiß, dass er sich auf mich verlassen kann.

Dann höre ich in der Dunkelheit ein leises „Zip“.

„Was machst Du denn da?“, flüstere ich.

Das Geräusch wiederholt sich in einer etwas anderen Tonhöhe und ich spüre, wie seine Hand sich langsam in meinen jetzt offenen Schlafsack schiebt und vorsichtig über meine Haut streichelt. – Er küsst mich.

„Du bist so weit weg“, haucht er und rückt herüber, in meinen Schlafsack hinein, ganz nah an mich heran, sodass ich seine Wärme spüren kann. Ich kann nicht verhindern, dass ich eine unglaubliche Erektion bekomme und spüre deutlich, dass es ihm nicht anders ergeht, aber wir lassen es für heute Nacht trotzdem dabei, dass wir einander immer wieder zärtlich küssen und sanft streicheln, bis wir irgendwann aneinandergeschmiegt einschlafen.

Nachwort

Na also, es geht doch!

Die beiden haben also endlich zueinander gefunden. Aber das ist noch lange nicht alles! Das Leben hält immer noch die eine oder andere Überraschung in der Hinterhand.

Ob es zwischen den beiden so harmonisch bleibt; ob Jan vielleicht doch nur irgendeine Schweinerei plant; was die Freunde dazu sagen, falls sie es überhaupt erfahren; und wie es ganz allgemein weiter geht, erfahrt ihr (hoffentlich bald) in Teil 3!

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