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Der Sommer unseres Lebens

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Er und Ich

Warum gehe ich Idiot nicht endlich aus der Sonne? Wahrscheinlich werde ich morgen rot wie eine Tomate sein, und meine Haut wird in Scheiben abfallen, denn auch wenn ich nicht extrem hellhäutig bin – nach stundenlangem Braten in der Sonne bin auch ich gut durch. Ich verlagere meine Haltung ein wenig, und meine Augen wandern wieder über den oberen Rand des Buches auf dessen Seite dreiundfünfzig ich jetzt seit fast einer Stunde festhänge. Kein Wunder, schließlich habe ich kaum einen Blick für die Buchstaben, die sich dort drängen und um meine Aufmerksamkeit heischen – ich sehe nur IHN. ER liegt auf dem Handtuch neben mir am Strand des Badesees, und ich kann mich nicht erinnern, jemals irgendjemanden entspannter auf einem Handtuch liegen gesehen zu haben. – Nein, mit Sicherheit nicht.

Seit heute Morgen sind endlich Sommerferien, und die Sonne meint es gut mit uns. Im Gegensatz zu fast allen anderen großen Ferien an die ich mich erinnern kann, scheint es in diesem Jahr wirklich ein echter Sommer zu werden. Eigentlich hätte ich allen Grund gute Laune zu haben, denn ich habe frei, mein Zeugnis war recht gut, und da ich während des Schuljahres nebenbei in der Firma meines Vaters gearbeitet habe, kann ich die gesamten Ferien genießen, ohne einen Ferienjob machen zu müssen, wie viele meiner Schulkameraden. Alles wäre perfekt, wenn da nicht …

Ich hebe wieder den Blick und werfe erneut einen Blick auf IHN.

ER heißt übrigens Jan, ist wie ich achtzehn Jahre alt und der absolute Mädchenschwarm unserer Schule. Nun ja, wie man an mir sieht, stehen nicht nur die Mädchen auf ihn. Aber man muss auch völlig blind und taub sein, um ihm nicht zu verfallen. Er ist etwas über einen Meter achtzig (würde ich schätzen), schlank, sportlich, hat dunkles, fast schwarzes Haar, das er immer so kunstvoll verstrubbelt, dass man es unbedingt durchwuseln möchte, und er hat braune Augen mit langen, seidigen Wimpern. Sein Gesicht ist bildhübsch, und ich würde meinen rechten Arm dafür geben, nur einmal diese wunderbaren, vollen, geschwungenen Lippen küssen zu dürfen. Leider bin ich da nicht alleine. So ziemlich alle Mädchen aus meiner Stufe – und auch einige aus der darunter – sind scharf auf diesen Typen. Hin und wieder geht er mit der einen oder anderen, aber er scheint sich da nicht festlegen zu wollen, mein süßer Casanova. Und so bricht er die Herzen der Mädchen reihenweise und hat immer einen lockeren Spruch parat.

Und ich? Tja, ich bin … einfach Dennis. Langweiliger Name – langweiliger Typ. Mittelgroß, mittelbraunes Haar, mittlerer Notenschnitt. Ich glaube, alles an mir ist mittelmäßig. Was soll ich schon großartig über mich sagen? An mir gibt es nichts Besonderes. Außer, dass ich in Jan verknallt bin. Den Grad meiner Verknalltheit würde ich durchaus nicht als mittelmäßig bezeichnen, sondern als ziemlich heftig.

Ich sehe, wie die jetzt schon tiefstehende Sonne seine gebräunte Haut streichelt und den feinen Härchen auf seinen Beinen und Armen ein winziges Funkeln entlockt. Ohne es zu wollen, bleibt mein Blick wieder an seinen Badeshorts hängen, und ich wünsche mir, in der Zeit zu leben, als Badehosen noch keine beuligen, schlottrigen Lappen waren, sondern aus Stretch-Stoff bestanden und wirklich nur das Nötigste bedeckten.

Jetzt dreht er den Kopf und öffnet im selben Moment die Augen. Sie schießen einen kleinen Blitz in meine, die ihn immer noch über den Rand des Buches mustern. Ich sehe schnell wieder auf die Seite und hoffe, dass er es nicht bemerkt hat. Nur gut, dass ich von der vielen Sonne ohnehin einen roten Kopf habe, so fällt es wohl nicht auf, dass mir plötzlich noch ein wenig heißer wird.

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragt er mich ganz leise.

Ich sehe mich hektisch um: Die wenigen Leute aus unserer Stufe, welche noch hier sind, plantschen gerade im Wasser. Es sind nur noch Mark, Sandra, Andi und Jens, die unsere traute Zweisamkeit stören, und zumindest in diesem Augenblick scheinen sie weder Augen noch Ohren für uns zu haben.

„Wie meinst du das?“, frage ich blöd und glaube immer noch, ich hätte mich so unauffällig verhalten, dass er nichts bemerkt haben kann.

„Na ja, du beobachtest mich. – Du hast seit einer Ewigkeit nicht umgeblättert“, sagt er.

Ich schlage rasch die Seite um und gebe vor, voll und ganz in der Geschichte versunken zu sein. Ich lege einen Finger auf eine beliebige Stelle der Seite, senke das Buch ein wenig, wage es, ihn direkt anzusehen und frage verwirrt: „Was?“

An mir ist wirklich ein Schauspieler verloren gegangen.

„Tu doch nicht so“, sagt er. „Aber mach ruhig – mich stört das nicht.“

Er schließt seine Augen wieder, öffnet seine Lippen ein wenig, leckt mit seiner rosa Zungenspitze über seine Unterlippe und räkelt sich unverschämt auf seinem Handtuch. Eine Hand legt er unter seinen Kopf, mit den Fingerspitzen der anderen streicht er ganz leicht über seinen Oberschenkel. Irre ich mich oder hat er tatsächlich das Becken ein wenig vorgeschoben? – Mir wird schon wieder heiß. Ich muss wirklich dringend aus der Sonne.

Ich sehe die anderen vier aus dem Wasser kommen, auf uns zusteuern und versinke wieder in mein Buch. Sandra läuft direkt zu Jan und schüttelt das Wasser aus ihrem Haar auf ihn. In Sekundenbruchteilen springt er auf, schnappt sie und trägt sie zurück zum See. Er wirft sie ins Wasser, springt hinterher und taucht sie unter. Wie ich sie beneide! Er hat sie berührt … Die anderen lachen sich halbtot, und natürlich stimme ich ein, obwohl mir eigentlich zum weglaufen zumute ist.

„Wir hauen gleich ab“, sagt Jens. „Kommst du morgen auch, Dennis?“

Dass er mich direkt anspricht, hat wohl in erster Linie damit zu tun, dass Jan noch im Wasser ist.

„Ja, klar. Warum nicht?“, antworte ich.

Das ist nämlich nicht die Art, in der ich üblicherweise eingeladen werde. Es sind selten Sätze wie „Bist du auch da?“ oder „Kommst du auch, Dennis?“, sondern Sätze, wie „Ihr kommt doch alle?“ oder „Gehen wir morgen da-und-da hin?“, die ich einfach auf mich beziehe und bei dem entsprechenden Ereignis auftauche. Anscheinend ist es in Ordnung, denn bisher hat sich noch niemand beschwert. Es stört mich nicht, dass offensichtlich niemand wirklich Wert darauf legt, dass ich dabei bin. Die Hauptsache ist, DASS ich dabei bin. Vor allem, wenn auch mein Jan dabei ist.

Jetzt kommt er gerade mit Sabine triefend vom Wasser zurück und lässt sich auf sein Handtuch fallen. Ich muss mich konzentrieren um nicht schon wieder zu starren, schließlich sind die anderen noch da. Trotzdem muss ich einfach noch einen Blick riskieren. Das Wasser tropft von seinem dunklen Haar und rinnt an seinem Rücken herunter. Ich sehe einen einzelnen Wassertropfen an seinem Ohrläppchen hängen, in dem sich das Sonnenlicht bricht …

„… Dennis?“

Ich zucke zusammen als ich meinen Namen höre. Jans braune Scheinwerfer fixieren mich – ein undeutbares Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Mist, ich muss mich wirklich langsam zusammenreißen.

„Ähm … was?“, frage ich, während meine Ohren so heiß werden, dass sie zu explodieren drohen: Er hat mich schon wieder erwischt.

„Ich habe gefragt, ob du mich mitnehmen kannst“, fragt Jan. „Die anderen wollen jetzt nämlich los, und ich würde mich gern noch ein bisschen in der Sonne trocknen lassen. – Ich habe nämlich keine zweite Badehose dabei.“

Ich glotze ihn an wie ein Volldepp: Will er mir jetzt etwa zu verstehen geben, dass wir beide hier gleich ganz alleine sein werden?

„Ähm, ja, klar. Kann ich machen“, sage ich, und noch bevor ich wieder richtig zu mir kommen kann, haben sich die vier verabschiedet und wir sitzen alleine im jetzt langsam von gold nach rot umschlagenden Sonnenlicht.

Ich nehme wieder mein Buch und lese weiter – wenigstens versuche ich es –, während er reglos daliegt.

Jan dreht sich auf die Seite und stützt den Kopf in seine Hand. Er sieht mich direkt an.

Ich lasse das Buch sinken und frage eine Spur zu schroff: „Was?“

Er streckt die Hand aus und legt sie auf mein Knie.

„Bist Du in mich verknallt?“, fragt er leise.

Ein Tropfen Wasser rinnt direkt neben seinem linken Auge herab. Das Gewicht und die Wärme seiner Hand und die Rauheit seiner Stimme rauben mir beinahe den Atem.

„Spinnst Du?“, frage ich laut, schlage seine Hand zur Seite und stehe auf. „Sehe ich etwa aus wie eine Schwuchtel?“

Scheiße! Wie kommt er darauf? Gesagt haben kann es ihm niemand, schließlich hüte ich dieses Geheimnis wie einen Staatsschatz. Nicht auszudenken, wenn irgendjemand erfährt, dass ich kleiner Homo in den größten Aufreißer der Schule verliebt bin. Ich muss mich besser zusammenreißen; ich muss noch unauffälliger werden. Ich nehme mir vor, ihn nicht mehr so anzustarren, obwohl ich genau weiß, dass ich diesen Vorsatz schneller brechen werde als der Donner auf den Blitz folgt. Er ist einfach zu … nein, Schluss jetzt! Ab sofort ist Starren verboten!

„Wir müssen jetzt los.“, höre ich mich sagen.

Ich sehe auf die Uhr. Es ist schon fast neun.

„Meine Eltern kriegen einen Anfall, wenn ich erst so spät nach Hause komme.“

Das ist zwar glatt gelogen, aber als Ausrede durchaus akzeptabel. Dann schaufle ich meine Sachen in die Sporttasche, steige in meine Shorts und ziehe mein T-Shirt an. Als ich mich – immer noch wütend – umdrehe, sehe ich, dass Jan ebenfalls einpackt. In diesem Licht sieht es beinahe aus, als wäre er rot geworden.

Während der Heimfahrt schweigen wir einander an. Zum Glück dauert die Fahrt bis zu ihm nach Hause nur knapp zwanzig Minuten und meine HIM-CD dudelt im Autoradio, so lässt es sich gerade eben ertragen. Dann sind wir endlich da, und ich werde endlich von seiner Anwesenheit erlöst. Ich halte vor dem Haus und Jan nimmt seine Tasche vorne aus dem Fußraum.

„Hör mal, Dennis“, sagt er leise und dreht sich noch einmal zu mir um, bevor er tatsächlich aussteigt, „tut mir leid wegen eben. – Ich wollte dich nicht … ach, ich weiß auch nicht … Es tut mir einfach leid.“

Er öffnet die Tür und steigt aus.

„Schon gut.“, sage ich und starre auf mein Lenkrad.

„Bist du morgen auch auf dem Strand?“, fragt er.

„Klar“, sage ich und habe keine Ahnung, welcher Teufel mich reitet, als ich ihn frage „Soll ich dich abholen?“

Trotz allem kann ich offensichtlich nicht die Finger von ihm lassen.

„Das wäre toll.“ Er strahlt mich an. „Um zwei?“

Ich nicke, sage „Bis morgen dann …“ und starte den Motor. Nichts wie weg hier, bevor ich doch noch etwas Dummes sage oder tue. Im Rückspiegel sehe ich, dass er mir hinterherschaut, bis ich um die nächste Ecke verschwunden bin.

Kapitel 2 – Das macht der doch mit Absicht!

Auf dem Weg zu Jan beschließe ich, den gestrigen Vorfall ganz einfach totzuschweigen – so, als wäre nichts passiert. Eigentlich ist ja auch nichts passiert. Wenn ich auch nur ein bisschen Glück habe, redet er auch nicht mehr darüber. Zur Abwechslung könnte ich ruhig einmal ein bisschen Glück haben, finde ich. Na gut, ich kann nicht behaupten, dass ich im Leben wirklich schlecht dran bin, zumindest was die äußeren Umstände angeht. Meine Eltern gehen beide arbeiten, wir haben ein eigenes Haus, in dem mein Bruder und ich jeweils ein eigenes Zimmer haben. Das heißt, eigentlich habe nur noch ich mein Zimmer dort denn mein Bruder wohnt nicht mehr zu Hause seit er sein Studium begonnen hat.

Ach ja, und ich habe ein eigenes Auto, das ich mir mühsam in den Ferien und neben der Schule erarbeitet habe. Damit bin ich vielen meiner Klassenkameraden deutlich voraus. Gut, es ist nur ein Corsa, aber immerhin ist er schwarz, so weit konnte ich mich durchsetzen!

Ich parke ein und gehe zu dem Haus, in dem Jan wohnt. Gerade als ich klingeln will, fliegt die Tür auf und er mir beinahe in die Arme.

„Lass uns bloß machen, dass wir hier weg kommen. Bei mir ist dicke Luft.“

Aus der sich langsam schließenden Tür kann ich hören, wie sein Vater etwas hinter ihm her ruft, das ich nicht verstehen kann. Er gibt keine Antwort, läuft an mir vorbei zum Auto, und ich habe den Eindruck, als sei er auf der Flucht.

Als wir mit dem Wagen auf der Straße sind und uns langsam vom Haus entfernen, frage ich ihn vorsichtig: „Hast du Ärger zu Hause?“

„Ja, könnte man so sagen."“, sagt er knapp, dann schweigt er so beharrlich, dass ich es nicht wage, weitere Fragen zu stellen.

Immer noch schweigend kommen wir am See an und schleppen unsere Taschen zur Bucht, wo wir von den anderen begrüßt werden, doch mein süßer Jan ist heute nicht richtig bei der Sache. Ich dementsprechend auch nicht. Ich habe ständig das Gefühl, in seiner Nähe sein zu müssen, um ihm beizustehen, auch wenn er das nicht fordert, geschweige denn bemerkt. Die meiste Zeit liegt er einfach da und starrt vor sich hin. Er tut mir so unendlich leid, und ich wünsche mir nichts mehr als ihn einfach in den Arm nehmen und trösten zu können, aber natürlich tue ich das nicht. Das übernimmt Daniela für mich – und ich hasse sie dafür. Schon seit Wochen himmelt sie meinen Schatz an, scharwenzelt um ihn herum, wann immer sie ihn sieht und lässt keine Gelegenheit aus, ihn zu berühren und heute ist er ihr schutzlos ausgeliefert.

„Hey, was ist denn heute los mit dir?“, fragt sie, schleimt sich damit ein und setzt sich zu ihm auf das Handtuch. Ich durchbohre ihren Rücken mit meinen Blicken, kann ihr aber offensichtlich damit keinen Schaden zufügen, denn sie rutscht noch etwas näher an ihn heran und legt ihre Patschhand auf seinen Arm. Jetzt zerknittert sie den Flaum dort mit ihrer Pranke und merkt nicht einmal, dass sie ihn nervt.

„Ach, gar nichts“, sagt er. „vergiss es.“

Aber natürlich tut sie das nicht – im Gegenteil. Sie harrt dort aus, wie ein abgelegter Sandsack und schleimt weiter.

„Wenn ich irgendwas für dich tun kann …“

Dabei fährt ihr Finger über seinen Arm, so dass mir beinahe übel wird.

Und dann passiert das wirklich Schreckliche! Ich meine noch, einen kurzen Blick von ihm über ihre Schulter hinweg zu erhaschen, dann legt er den Arm um sie und küsst sie. Direkt vor meinen Augen! Und ich kann einfach nicht wegsehen, weil ich so entsetzt bin. Ich meine, ich habe ihn schon öfter Mädchen küssen sehen – das ist es ja gar nicht. Es ist nur … ich weiß auch nicht genau. Ausgerechnet Daniela! Und ausgerechnet jetzt. Dabei hatte ich gedacht … Ach, ich bin ein Idiot! Hatte ich wirklich geglaubt, dass er es ernst gemeint hatte als seine Hand auf meinem Knie gelegen hatte? Oder als er sich dafür entschuldigt hatte, war da wirklich etwas in seiner Stimme gewesen, das mich aufhorchen ließ? Da war wohl wieder einmal der Wunsch der Vater des Gedanken gewesen. Stattdessen bin ich verarscht worden. Dennis Maibaum, du bist und bleibst ein Depp! Vielleicht verliebst du dich zur Abwechslung in jemanden, bei dem auch nur der Hauch einer Chance besteht, dass er Deine Liebe erwidert.

Oh, Mann! Ich drehe mich zwar weg, kann sie aber immer noch hinter meinem Rücken schmatzen hören. Ich stehe auf und gehe ins Wasser. Wow, ist das kalt. Egal – einfach hineinspringen, untertauchen und am Besten nie wieder an die Oberfläche zurückkommen, hier ist doch eh alles Scheiße. Ich schwimme los, Zug um Zug entferne ich mich von den anderen.

Ich kann hören, wie Jens mir hinterherruft: „Hey, Dennis, wo willst du denn hin?“

Aber ich ziehe einfach weiter. Nur weg. Weg von Jan, von Daniela, von den anderen Deppen, die einfach keine Ahnung haben.

An einer anderen Stelle des Sees an der die Büsche bis fast ans Ufer wachsen, steige ich fix und fertig aus dem Wasser und lasse mich in den Kies fallen. Bis zu diesem Moment konnte ich die Tränen niederringen, aber jetzt drängen sie sich nach draußen, ob ich das will oder nicht. Ich lege im Sitzen die Arme um meine Knie, lasse den Kopf darauf ruhen und schluchze. Wenigstens hören mich die anderen hier nicht. Und wenn schon! Ist mir doch egal! Jan ist echt ein Arsch. Das hat er doch mit Absicht gemacht oder warum hätte er mich sonst vorher noch so blöd anschauen sollen? Was will er mir damit beweisen? Dass er der große Weiberheld ist und sich nicht von einer kleinen Schwucke wie mir angraben lässt? So ein mieser Penner! Ich heule und rege mich auf bis ich noch erschöpfter bin als ohnehin schon.

Mit roten Augen starre ich auf das Wasser. Ich bin so müde. Am liebsten würde ich mich jetzt hier einfach zusammenrollen und einschlafen. Wie soll ich bloß zurückkommen? Ich bin nicht sicher ob ich mir dieser riesigen Wut im Bauch den ganzen Rückweg schwimmend schaffen kann. Herrje, bin ich ein Loser.

Als ich mich endlich aufraffen kann, den Rückweg anzutreten, hängt die Sonne schon wieder tief. Ich laufe am Rand des Ufers entlang, soweit das möglich ist und schwimme, wo es nicht möglich ist. Natürlich brauche ich deutlich länger als vorher aber ich komme wieder in unserer Bucht an. Schwimmend natürlich, schließlich will ich nichts auf mir sitzen lassen. Die meisten meiner Stufenkameraden sind schon weg. Auch Daniela. Jan ist noch da, er liegt auf dem Bauch und liest. In meinem Buch! Ich kriege die Krise!

„Hey, du hättest wenigstens vorher fragen können“, maule ich ihn anstelle einer Begrüßung an.

„Wie denn, wenn du stundenlang verschwindest?“

Autsch, das ist ein Argument!

„Außerdem war mir langweilig nachdem du weg warst“, sagt er und sieht mich mit seinem Hundeblick an.

Mir ist nicht nach Versöhnung, ich bin immer noch sauer wegen Daniela.

„Hättest ja noch ein bisschen mit Dani rumknutschen können, dann wäre die Zeit bestimmt wie im Flug vergangen.“

Dann nehme ich ihm mit einer schnellen Bewegung das Buch aus der Hand, klappe es zusammen, und packe es in meine Tasche. Dabei drehe ich ihm den Rücken zu, und das ist auch gut so, sonst würde er sehen, wie ich leide.

Ich trockne mich ab und sage eisig: „Ich muss jetzt los. Wenn du mit willst, pack deinen Krempel zusammen.“

Dass er zusammenzuckt und dann sofort aufspringt, ignoriere ich. Er muss verdammt schnell eingepackt haben, denn als ich mich umdrehe, steht er schon mit seiner Tasche in der Hand da.

„Soll ich deine auch nehmen? Du bist doch bestimmt noch völlig fertig vom Schwimmen“, sagt er und streckt zaghaft die Hand aus.

„Lass mal, so eine Lusche bin ich auch nicht“, sage ich großspurig und hoffe, dass er nicht bemerkt, wie meine Knie immer noch von der Anstrengung zittern.

Wir stapfen hintereinander den schmalen Weg, der die Bucht mit der Straße verbindet, entlang, schweigen einander an. Ich starre auf den Boden. Seine Füße, die ohne Socken in Turnschuhen stecken, drängen sich ins Bild. Ich lasse die Kamera ganz langsam aufwärts schwenken und betrachte seine Waden, Oberschenkel, seinen geilen Hintern. Weiter hoch. Nein, ich kann den Blick nicht abwenden, starre ihm auf den Allerwertesten, der sich in seinen Shorts bewegt, als sähe ich einen Porno. Erst als ich langsam, aber sehr sicher eine Erektion bekomme, wende ich den Blick ab. Der Anblick seiner schmalen Hüften und seiner breiten Schultern macht es nicht eben besser. Wenn ich weitermache, denke ich, werde ich eine Mörderlatte haben, bis wir am Auto ankommen. Und er wird es merken. Ich denke daran, wie er Dani geküsst hat, und an den Blick, den er mir vorher zugeworfen hatte. Das hilft, ich werde wieder wütend auf ihn. Ja, Wut ist definitiv besser.

Ich fahre ihn nach Hause, und wieder schweigen wir einander an.

Kurz vor dem Aussteigen sagt er: „Entschuldige, dass ich einfach dein Buch genommen habe. Mir ging so viel im Kopf rum, da musste ich irgendwie auf andere Gedanken kommen.“

Es ist beinahe lustig, dass er sich schon wieder entschuldigt, während er mein Auto verlässt.

„Schon gut. Ist ja nicht so dramatisch“, sage ich und laufe rot an.

Wie weit er wohl gelesen hat? Ob er sofort bemerkt hat, dass es um einen schwulen Jungen geht? Was ihm das wohl über mich sagt?

„Würdest … würdest du es mir vielleicht leihen? Ich meine, wenn Du damit durch bist“, fragt er und starrt die Tasche auf seinem Schoß an.

„Was?“, frage ich blöd – ich glaube, ich höre nicht richtig; was wird das denn jetzt schon wieder für eine Nummer?

„Na ja, ich meine, es fing ziemlich gut an. Und …, ach, vergiss es, ich habe eh kaum Zeit zum Lesen.“

„Klar kann ich es dir leihen“, falle ich ihm beinahe ins Wort.

Himmelherrgott, reden wir hier einen Krampf zusammen.

Er legt die Hand auf den Türöffner wie gestern. Ich glaube, ich habe ein Déjà-vu.

„Hör mal, das mit Dani … da ist gar nichts. Ich meine, sie ist jetzt nicht meine Freundin oder so“, sagt er schnell. Es scheint ihm wichtig zu sein, dass ich das weiß. Aber warum? Es ist doch seine Sache, mit wem er rummacht.

„Und wenn geht es mich auch nichts an. – Ist mir auch egal“, sage ich und wenn Lügen wehtäte, müsste ich schreien wie noch nie in meinem Leben.

Er sieht mich verwirrt an als hätte er eine andere Antwort erwartet. Dann schüttelt er ganz leicht den Kopf und verlässt den Wagen.

„Was ist mit morgen?“, fragt er von draußen.

„Morgen kann ich nicht“, sage ich, obwohl es eigentlich gar nicht stimmt, aber ich muss unbedingt einen Tag allein verbringen und sehen, wo ich überhaupt stehe. Wenn ich ständig in seiner Nähe bin, klappt das nie, das habe ich heute ja wieder gesehen.

„Oh“, sagt er nur und sieht ein bisschen enttäuscht aus.

„Ruf doch Karsten an, der fährt bestimmt auch mal eine kleine Ehrenrunde“, sage ich.

Karsten wohnt am anderen Ende der Stadt und kommt nicht wie ich auf dem Weg zum See ohnehin hier vorbei, aber ich bin sicher, dass er auch mal eine Ausnahme machen wird.

„Ja, mal sehen“, sagt er, zögert kurz, wirft dann aber die Tür ins Schloss.

Ich brause los, werfe den obligatorischen Blick in den Rückspiegel und sehe, dass er mir wieder hinterher starrt.

Kapitel 3 – Mein Tag

So, dieser Tag gehört mir. Mir ganz alleine. Ich muss unbedingt meine Gedanken sortieren, und wenn ich schon dabei bin, meine Gefühle ebenfalls. So kann es nicht weitergehen.

Ich liege noch in meinem Bett und habe die Augen geschlossen, die Sonne kitzelt mich bereits durch die halb geöffneten Rollläden, aber noch kann ich dieses angenehme, schwere, warme Gefühl wenn man nicht mehr schläft aber auch noch nicht richtig wach ist, halten. Leider nicht lange, denn kaum, dass ich richtig wach bin, tun mir alle Muskeln meines Körpers weh. Zuerst habe ich keine Ahnung, woher das kommt, aber dann fällt mir mein Ausflug über den See wieder ein. Kann man sich noch mehr zum Affen machen als ich? Wohl kaum …

Ich denke an Jan, stelle mir vor, wie er jetzt in seinem Bett liegt und ebenfalls von der Sonne geweckt wird. Er trägt nachts nur eine Shorts, räkelt sich, schiebt seine Decke halb zur Seite und ich kann einen Blick auf sein Bein werfen, das sich von der Sonne gebräunt vom hellen Laken abhebt. Er streicht mit der Hand über seine Brust und … Stopp! Moment, habe ich sie noch alle? Ich wollte doch nicht mehr an ihn denken, zumindest nicht so. Das muss aufhören und zwar sofort. Er ist nur ein blöder Hetero und er ist ein Arsch, weil er mit jeder Tussi herummacht. Er verdient meine Liebe nicht.

Ich warte darauf, dass sich meine Wut von gestern wieder einstellt, aber nichts passiert. Im Gegenteil. Anstatt seines unverschämten Blickes, bevor er Dani geküsst hat, denke ich plötzlich nur noch daran, wie unglücklich er ausgesehen hatte, als ich ihn abgeholt habe. So, als wäre jemand hinter ihm her gewesen. Und ich denke daran, wie er sich im Auto bei mir entschuldigt hatte. War das wirklich ernst gemeint gewesen oder ist er nur ein verdammt guter Schauspieler? Ich weiß es nicht. Und so lange ich es nicht weiß, kann ich ihm nicht trauen. Er ahnt etwas im Bezug auf mich, das weiß ich mit Sicherheit, und ich kann nicht riskieren, dass er mich verarscht und irgendwann nach Strich und Faden bloßstellt. Nein, es ist besser, ich halte etwas mehr Abstand, bevor ich mich von ihm einwickeln lasse.

Langsam aber sicher beginne ich ans Aufstehen zu denken. Ich bin froh, dass das Haus heute mir gehört. Meine Eltern sind bei der Arbeit, und alles ist ruhig. Ich schiebe die Decke zur Seite und schwinge die Beine aus dem Bett. Autsch! Muskelkater. Bereits diese Aktion erinnert mich wieder an meine Blödheit von gestern, wie soll ich nur den Tag überstehen?

Ich ziehe mit meinen lahmen Armen die Rollläden hoch, schleppe mich ins Bad wie ein alter Mann und lasse mir erst einmal eine halbe Ewigkeit lang heißes Wasser über den Körper laufen, bis ich das Gefühl habe, wieder einigermaßen beweglich zu sein. Dann wickle ich mir ein Handtuch um die Hüften und bereite mich auf die große Abrechnung mit mir selbst vor.

Ich stelle mich vor den großen Spiegel im Schlafzimmer meiner Eltern. Mein noch feuchtes Haar klebt an meinem Kopf, und auch nachdem ich es mit den Fingern durchgewuschelt habe, kann ich nichts daran gut oder interessant, geschweige denn sexy finden. Die Farbe ist unscheinbar und eine Frisur habe ich irgendwie auch nicht. Der Rest meines Körpers ist … na ja … normal halt! – wie alles andere auch. Normal und langweilig. Ich bin nicht besonders groß, aber auch nicht wirklich klein, ich habe zwar kein Gramm Fett auf den Rippen, aber von Muskeln ist auch kaum eine Spur. Meine Haut ist gebräunt, zumindest da wo die Sonne sie erreicht hat, aber der Farbton ist weit entfernt von Jans traumhaftem Oliv-Goldton. Meine Haut hat eher so ein mattes, dreckiges Braun angenommen.

So, und jetzt kommt die Stunde der Wahrheit. Ich ziehe das Handtuch weg und lasse es auf den Boden fallen. – Würde ich mir gefallen, wenn ich jemand anders wäre? Vorzugsweise ein anderer Kerl? Ich gestatte mir bewusst nicht, dabei an einen ganz bestimmten Namen zu denken, doch in dem Moment, da ich es mir verbiete, tue ich es natürlich trotzdem. Ob ich Jan gefallen würde? Lächerlich: Gegen seinen Traumkörper meiner aus wie der eines Mädchens, denke ich. Schlimmer noch: wie der eines Mädchens ohne Brüste. Ich schließe die Augen. Und dann sehe ich ihn vor mir stehen. Oh ja, ich weiß, wie er aussieht. Überall. Der Sportunterricht hat doch seine Vorteile – zumindest das Duschen danach.

Er sieht mich an und lächelt. Er ist wunderschön. Seine Haut ist olivfarben und darauf glänzen einige wenige dunkle Härchen. Sein kurzes, dunkles Haar ist wie immer in geordneter Unordnung - ich werde nie verstehen, wie er das hin bekommt. Er ist ungefähr einen halben Kopf größer als ich und viel muskulöser. Er sieht im Gegensatz zu mir schon wie ein richtiger Mann aus.

Ich öffne die Augen wieder, und es ist mir deutlich anzusehen, wie verrückt ich nach ihm bin. Obwohl ich alleine bin, ist es mir peinlich, im Schlafzimmer meiner Eltern zu stehen und einen Ständer zu haben, und ich wickle mein Handtuch wieder um die Hüften und gehe zurück auf mein Zimmer.

Nachdem ich dem Drang mir einen herunterzuholen widerstanden und mich stattdessen angezogen habe, gehe ich hinunter in die Küche und mache mir Frühstück. Kaffee, Toast, Butter und Marmelade wandern auf den Tisch, dazu gönne ich mir zur Feier des Tages ein gekochtes Ei. Ich überfliege kauend die Tageszeitung und überlege, was ich mit diesem Tag anfangen will. Ich habe keine Ahnung. Am liebsten würde ich Jan sehen. Aber ich will mich an meinen Entschluss halten, den Tag alleine zu verbringen. Ich bin bereits verwirrt genug und einen Tag lang werde ich es wohl ohne ihn aushalten.

Ich räume mein Geschirr in die Spülmaschine und fege die Krümel vom Tisch. Dann weiß ich, was ich tun werde. Ich überprüfe meine Finanzen, die dank meines dauerhaften Nebenverdienstes und meiner sparsamen Lebensweise recht gut aussehen und beschließe, endlich wieder ein bisschen Geld für mich auf den Kopf zu hauen. Ich stopfe das Portemonnaie in die Hosentasche, pflücke meinen Schlüssel vom Haken und verlasse das Haus. Obwohl es noch recht früh ist, ist mein Auto schon ein Backofen, denn es steht mitten in der Sonne. Selbst schuld, es musste ja unbedingt schwarz sein, denke ich, während ich die flimmernde Luft durch die heruntergekurbelten Fenster entweichen lasse.

Dann steige ich ein und lasse mich durch die Frontscheibe grillen während ich vom Fahrtwind fast aus dem Seitenfenster geweht werde. Verschwitzt und noch strubbeliger als vorher komme ich in der Stadt an.

Mein erster Weg führt zum Frisör. Die Frage, ob ich eine bestimmte Vorstellung von meiner zukünftigen Frisur habe, kann ich nicht beantworten.

„Keine Ahnung“, sage ich. „Irgendwas Witziges, was halt mit meinen Flusen möglich ist.“

Den Frisör erfreut, dass ich ihm mehr oder weniger freie Hand lasse und schleppt mit leuchtenden Augen einige Beispielbücher an. Er fährt mir ein paar Mal durchs Haar und zeigt mir dann, was er für machbar hält. Es sieht so aus, als müsste ich mich von einer kurzen Strubbelfrisur wie Jan sie hat verabschieden. Der Fachmann sagt, dafür sei mein Haar zu fein – ich würde es als fusselig bezeichnen, aber wenn er meint … Er ist schließlich der Fachmann.

Aber gut, ich gebe mich vertrauensvoll in seine Hände und hoffe nur, dass ich das zu Hause auch so hinbekomme. Er schnipselt hier ein wenig, da ein wenig und Haare rieseln an mir vorbei zu Boden. Dann unterziehe ich mich der entwürdigenden Behandlung des Strähnchen-Färbens. Hoffentlich sieht mich jetzt niemand, wie ich mit dieser Badekappe, aus der überall Haarbüschel heraus stehen, hier sitze. Aber ich habe Glück: Die meisten Leute haben bei dieser Hitze etwas Besseres zu tun, als sich den Hintern auf einem Kunstlederstuhl abzuschwitzen.

Nach etwa eineinhalb Stunden erkenne ich mich im Spiegel kaum wieder. Ich sehe aus wie ein Mitglied einer Boyband, finde ich. Mein Haar ist immer noch relativ lang, zumindest oben auf dem Kopf und fällt mir schräg über die Stirn. Hinten ist es nur noch nackenlang und sieht irgendwie fransig aus, genau wie der Pony. Außerdem ist es viel heller als vorher. Durch die Strähnchen in verschiedenen Blondtönen ist es viel heller geworden und gefällt mir deutlich besser als dieses Maus-Graubraun von vorher.

Beifall heischend sieht mich der Scherenkünstler im Spiegel an, während er mit dem Handspiegel hinter mir herumturnt. Ich belohne ihn erst einmal mit einem breiten Grinsen, später werfe ich ihm auch noch das Wechselgeld in sein Trinkgeld-Sparschwein.

Während ich durch die Stadt laufe, sehe ich in jedes Schaufenster. Weniger wegen der ausgestellten Waren, eher weil ich mich an meiner neuen Frisur nicht sattsehen kann. Mann, ich liebe mich!

So, jetzt die nächste Baustelle. Ich entere den ersten Klamottenladen. Weil ich auch hierbei nicht genau weiß, wonach ich eigentlich suche, beginne ich bei H&M denn dort kann man kaum etwas falschmachen. Ich wühle mich durch Unmengen von Hosen, Shirts und Hemden, und auf dem Weg zur Kabine breche ich unter dem riesigen Berg fast zusammen. Gut, dass die Kabinen hier so groß sind, sonst würde ich zusammen mit dem ganzen Krempel nicht hineinpassen.

Beim Anprobieren wird mir verdammt warm. Für Klamottenwechsel im Minutentakt ist die Klimaanlage hier drinnen offensichtlich nicht ausgelegt. Aber ich ziehe mein Programm tapfer durch und am Ende wächst der „Ja-Stapel“ deutlich schneller als der „Nein-Stapel“.

Als ich den Laden mit zwei prall gefüllten Taschen verlasse, strahle ich mit der Sonne um die Wette. So langsam beginne ich, den Tag, den ich mit mir selbst verbringe, zu genießen. Ich kaufe mir ein Eis, setze mich damit auf eine Bank und beobachte die vorübergehenden Menschen, während ich abwechselnd Schokolade und Zitrone schmecke.

Während eines Schokoladen-Moments wage ich es sogar, dem niedlichen blonden Typen, der eilig an mir vorbei läuft, ein Lächeln zu schenken. Er sieht richtig süß aus als er sich verlegen umschaut, um dann festzustellen, dass ich tatsächlich ihn meine. Er lächelt scheu zurück, geht aber weiter, und ich überlege, ob er sich wohl später an mich erinnern wird.

Ich knabbere die Reste der Eiswaffel weg, die ich trotz der Hitze unfallfrei habe essen können und will schon wieder aufbrechen, lehne mich dann aber noch einmal auf meiner Bank zurück und lege dabei in Macho-Manier die Arme auf die Rückenlehne. Ich blinzle in die Sonne, und mir fällt ein, was ich mir jetzt unbedingt noch kaufen sollte.

Ich parke in unserer Einfahrt, steige aus dem Wagen und hole die Taschen aus dem Kofferraum. Es haben sich noch zwei weitere zu den ersten beiden gesellt, und ich sehe aus wie ein Packesel. Ich bin blank – aber glücklich! Jetzt weiß ich wenigstens, wofür ich die ganze Zeit geschuftet habe, während die anderen abends ein Bier trinken gegangen sind.

Im Flur nehme ich die Sonnenbrille – ebenfalls ein Neuerwerb – ab und sehe in den Spiegel. Auch wenn ich jetzt vom autofahren ein wenig verschwitzt bin, gefalle ich mir immer noch verdammt gut.

Nachdem ich eine halbe Flasche Wasser auf ex getrunken habe, breite ich die neuen Klamotten auf meinem Bett aus. Ich habe einige Jeans erstanden, besonders diese eine hatte es mir angetan. Sie ist ein bisschen beutelig, hat aufgesetzte Taschen und sitzt schön tief auf meinen schmalen Hüften. Leider ist es dafür momentan viel zu heiß draußen. Da bieten sich eher die zwei kurzen Hosen an, die gerade bis übers Knie reichen und ebenfalls ziemlich klasse aussehen.

Nachdenklich nehme ich die schwarze Hose in die Hand, die ich einfach nicht wieder zurückhängen konnte, obwohl ich keine Ahnung habe, ob und zu welcher Gelegenheit ich sie je anziehen werde. Sie ist – wie gesagt – schwarz, sehr schmal geschnitten und – ohne angeben zu wollen – mein Hintern sieht darin phänomenal aus. Außerdem sitzt sie so sündig tief an der Hüfte, dass ich dafür beinahe einen Waffenschein brauche.

Die Auswahl an Shirts kann sich ebenfalls sehen lassen. Die meisten sind cool aber alltagstauglich, nur eines habe ich speziell für diese schwarze Hose gekauft. Es ist schwarz mit ein wenig rot und hat keine wirklichen Ärmel, es hört sozusagen an den Schultern auf und es hat mir so gut gefallen, dass ich es nicht einmal schlimm fand, dass meine Oberarme keine ausgeprägten Muskelpakete aufweisen.

Ich öffne meinen Kleiderschrank und sortiere aus. Hart und gnadenlos. Dennis Maibaum trägt diesen Kram jetzt nicht mehr, beschließe ich, und unmoderne Hosen und labberige Shirts fliegen über meine Schulter hinter mich. Am Ende liegt ein Haufen Zeug, das ich nicht mehr brauche, auf meinem Bett, und ich hänge die neuen Sachen in den Schrank. Sie können allerdings die entstandenen Lücken nur mäßig füllen und es sieht so aus, als müsse ich gelegentlich einen weiteren Einkaufsbummel machen, denke ich. Vorher muss ich allerdings meine Finanzen eine Weile schonen, sonst stehe ich am Ende wirklich mit nach außen gezogenen Taschen da.

Ich packe die aussortierten Sachen in Plastiksäcke, binde sie zu und stelle sie in den Flur. Vielleicht hat meine Mutter eine Idee, was damit anzufangen ist. Sie kennt bestimmt eine Stelle, bei der man gebrauchte Kleidung abgeben kann.

Wäre heute ein normaler Tag, würde ich mir jetzt vielleicht Sorgen um die Abendplanung machen, aber nicht heute, denn ich habe bereits ein Date! Und zwar mit mir selbst. Ich habe in meinem Zimmer eine Flasche Wein gebunkert, die ich mir ganz gemächlich beim Internet-Surfen reinziehen werde.

Gegen achtzehn Uhr kommen meine Eltern heim.

Meine Mutter stolpert beinahe über die Säcke im Flur und fragt erstaunt: „Was ist das denn hier?“ Dann ruft sie mich: „Denniiis! Ist das dein Zeug?“

Ich stecke den Kopf aus der Küche, wo ich gerade eine Pizza belege. Meine Kochkünste sind nicht überragend, aber als Sohn arbeitender Eltern eignet man sich im Lauf der Zeit das eine oder andere Rezept an. Man hat keine andere Wahl, wenn man nicht verhungern, aber auch nicht ständig bei BurgerKing essen will.

„Ja“, sage ich, „ich habe ein paar Klamotten aussortiert. Weißt du, ob ich die irgendwo abgeben kann, wo die weiterverwendet werden?“

Sie sieht mich an und will gerade antworten, doch ihr Mund bleibt offen stehen, ohne dass ein Laut aus ihm herauskommt.

„Was … Wie …“

Sie kommt auf mich zu, fasst mich an den Schultern und dreht mich hin und her.

„Das sieht ja toll aus!“, sagt sie dann und strahlt mich an. „Wie bist du denn darauf gekommen?“

„Och“, meine ich, „ich habe den Frisör einfach machen lassen. Gefällt es dir echt?“

„Ja“, sagt sie lächelnd. „Ich wusste gar nicht, dass ich einen so hübschen Sohn habe.“

Dann wird ihr Tonfall verschwörerisch.

„Oder steckt da jemand Bestimmtes dahinter?“

Ich kann nicht verhindern, dass ich ein bisschen rot werde und sage schnell: „Nein, niemand. Ich hatte einfach Lust dazu.“

Mist, das kauft sie mir nie im Leben ab. Jetzt ist sie wahrscheinlich fest davon überzeugt, dass da irgendetwas läuft. Bestimmt glaubt sie, ich hätte jetzt eine Freundin. Hoffentlich kann ich ihr das wieder ausreden.

Ich schiebe die Pizza in den Ofen, und wir trinken zusammen einen Kaffee, auf den –trotz der Hitze – keiner von uns verzichten kann. Die Koffeinsucht habe ich offensichtlich direkt von meinen Eltern geerbt. Dabei erzähle ich den beiden von meinem Einkaufsbummel. Meinen klitzekleinen Flirt mit dem süßen Jungen lasse ich dabei natürlich aus. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass meine Mutter mich immer wieder merkwürdig mustert. Vielleicht muss sie sich aber auch nur an die neue Frisur gewöhnen.

Wir essen gemeinsam und den Rest des Abends verbringe ich genauso, wie ich es mir vorgenommen hatte. Ich widerstehe dem Drang, irgendjemanden von meinen Klassenkameraden anzurufen und mich zu verabreden. Stattdessen zwieble ich mir ganz langsam ein Glas Wein nach dem anderen hinein, werde dabei richtig schön dudelig und hangle mich von einer Website zur nächsten. Aus meinem Kopfhörer tröpfelt mir währenddessen meine aktuelle Lieblings-Musik, in diesem Fall „Little Wonders“ von Rob Thomas, ins Ohr. Gleich danach kommt „Chasing Cars“ von Snow Patrol. Ja, ich gebe es zu, momentan stehe ich auf Love-Songs, was an meinem Zustand akuter Verknalltheit liegen muss, aber ich kann einfach nicht anders.

Nach Besuchen bei Ebay, einigen Musikseiten und anderem belanglosen Kram, öffne ich schließlich die Seiten, die mich wirklich interessieren. Blöderweise wage ich aus Angst vor Entdeckung nicht, diese meinen Favoriten hinzuzufügen, also muss ich jedesmal den Zettel aus der Schublade kramen und die Adressen von Hand eingeben. Und da bin ich jetzt wieder und tauche in eine Welt ein, die meiner realen so fremd ist wie nur möglich.

Hier sind alle wie ich. Ich brauche mich nicht zu verstellen, ich kann zugeben, dass ich in einen Jungen verliebt bin, wie nur was, und ich bekomme virtuellen Beistand, weil es anderen genauso geht wir mir. Vieles ist einfacher seit ich vor ein paar Wochen das erste Mal gewagt habe, diese Seite zu öffnen. Damals saß ich mit roten Ohren vor dem Bildschirm und hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, aber inzwischen ist es als würde ich mich irgendwo mit meinen Bekannten treffen.

Ich chatte ein bisschen mit jemandem, den ich schon öfter dort getroffen habe, wobei ich mich auf keine Verabredungen, weder online noch im echten Leben einlasse. Von meinen persönlichen Daten gebe ich so wenig wie möglich preis, lediglich mein Alter verrate ich und ansprechen lasse ich mich nur über den Nicknamen, den ich mir gegeben habe. Ich nenne mich dort „Sad_Boy“, weil ich mich an dem Tag als ich mich registriert habe so übel gefühlt habe, dass nichts anderes gepasst hätte.

Mein virtueller Kumpel hat Zoff mit seinem Schatz. „Wenigstens hast Du einen“, schreibe ich ihm, und weil ich weiß, dass ihm das kaum weiter helfen wird, füge ich hinzu, dass er auf jeden Fall noch einmal mit ihm reden soll, wenn ihm die Beziehung wichtig ist. Er meint, das habe er schon aber es komme immer wieder zu diesen Situationen und so langsam habe er die Nase voll. Jetzt bin ich beinahe froh, dass mir ein solcher Mist momentan noch erspart bleibt. Trotzdem … es wäre schön, jemanden zu haben, zu dem man gehört.

Er rät mir, es darauf ankommen zu lassen und Jan zu sagen, was Sache ist. Dass er damit hausieren geht, glaubt er nicht, dazu habe er selbst schon zu viele Zeichen ausgesandt. Er vermutet eher, dass von seiner Seite ebenfalls ein gewisses Interesse besteht, Jan es aber nicht wagt, deutlicher zu werden, weil er die gleichen Befürchtungen hat wie ich oder selbst noch gar nicht weiß, von welchem Ufer er ist.

Hm, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Andererseits kennt er ihn nicht und er weiß auch nicht, wie in unserer Schule über Schwule geredet wird. Ich habe nicht die geringste Lust, mir das letzte Schuljahr zur Hölle zu machen. Bis zum Abitur habe ich wirklich andere Sorgen als mich jeden Tag verhöhnen oder sogar verprügeln zu lassen.

Wir quatschen noch eine Weile über dies und das und irgendwann merke ich, dass ich zu betrunken werde, um noch vernünftige Worte zu finden, also verabschiede ich mich und sehe mir stattdessen noch einige Buchtipps an. Vielleicht werde ich es ja doch schaffen, „Sommersturm“ irgendwann zuende zu lesen, und dann könnte ich Nachschub gebrauchen.

Daran hätte ich besser nicht denken sollen denn mir fällt sofort wieder ein, wie Jan am Strand gelegen und darin gelesen hatte. Er hatte irgendwie ertappt gewirkt, als ich es ihm weggenommen habe, und später hatte er mich auch noch gefragt, ob ich es ihm leihe. Jetzt bin ich sicher, dass er da bereits wusste, worum es geht. Dann denke ich wieder an sein Gesicht, als er sich bei mir entschuldigt hat, von da an geht die Fahrt rückwärts. Seine Hand auf meinem Knie, seine Finger, die über den eigenen Oberschenkel schweben. Ich habe längst die Augen geschlossen, und eine Hand wandert in meine Hose wo sich bereits eine heftige Erektion breit gemacht hat.

Lange brauche ich nicht, obwohl ich ziemlich betrunken bin, aber schließlich weiß ich ja, wie ich es gern habe. Na ja, wenigstens eine Person auf dieser Welt weiß es, denke ich, und fange an zu kichern.

Als ich später in meinen Schlaf-Shorts und T-Shirt im Badezimmer in den Spiegel sehe, grinse ich noch immer. Ich werfe mir einen Kuss zu und bedanke mich bei mir für den schönen Tag.

Kapitel 4 – Jetzt spinnt er total

Wider Erwarten habe ich meine Frisur beinahe so gut hinbekommen wie der Frisör gestern. Ich muss zugeben, dass ich schon ein bisschen besorgt war als ich aus der Dusche kam und wie ein begossener Pudel aussah, aber nachdem ich alle Tricks und Mittelchen, die er mir mit auf den Weg gegeben hatte, angewandt habe, kann ich mich durchaus wieder sehen lassen.

Der Vormittag vertrödle ich zu Hause und fahre dadurch fast zu spät los, um noch pünktlich bei Jan sein zu können. Er schien sich heute Morgen richtig über meinen Anruf zu freuen, und noch mehr hat er sich wohl darüber gefreut, nicht stundenlang mit dem Bus zum Badesee gondeln zu müssen, sondern bequem von mir hinkutschiert zu werden. Aber was soll’s? Ich fahre sowieso hin, da kann ich ihn auch mitnehmen. Ich bin gespannt, ob er sich heute Abend wieder bei mir entschuldigen muss, denke ich und grinse blöd, als ich bei ihm ankomme.

Er steht schon unten vor dem Haus, und ich sehe hektisch auf die Uhr, bin aber trotz des verspäteten Aufbruchs noch gut in der Zeit. Obwohl er in seinen Shorts und dem hellblauen T-Shirt wieder zum Anbeißen aussieht, scheint irgendwas nicht zu stimmen. Er schaut finster aus der Wäsche, aber ich weigere mich zu glauben, dass mein gestriges Fehlen daran schuld ist.

Beim Einsteigen grüßt er kurz angebunden, und als er sich zur Seite dreht und nach dem Gurt greift, zieht er kurz die Luft durch die Zähne ein, als habe er sich wehgetan. Ich frage mich, was mit ihm los ist, wage aber nicht, ihn zu fragen, weil er so finster schaut und den Kopf von mir weg dreht. Ich bin enttäuscht, weil er meine doch offensichtliche Veränderung nicht bemerkt hat.

Toll, heute schweigen wir einander schon wieder an. Das wird ja ein fantastischer Tag werden. Nur gut, dass ich wieder mein Buch eingepackt habe.

Heute zieht Jan sein T-Shirt nicht aus. Er sitzt auf seinem Handtuch, hat die Arme um die Knie gelegt und starrt vor sich hin. Hat er Angst, dass ich ihm etwas wegschaue, oder was? Ich setze meine Sonnenbrille auf, öffne mein Buch und senke den Blick hinein. Die getönten Gläser bieten mir ungeahnte Möglichkeiten.

Ich schaue zu den anderen herüber. Die Mädchen sitzen wieder wie ein Hühnerhaufen zusammen und schnattern und gackern, wahrscheinlich geht es wie immer um Jungs. Dani wirft hin und wieder einen sehnsüchtigen Blick auf Jan, von dem sie sich heute erstaunlicherweise fernhält. Sie hatte sich von ihrer Knutscherei wohl mehr versprochen als er. Ich habe kein Mitleid mit ihr. Geschieht ihr Recht. Was wirft sie sich auch an meinen Schatz heran?

Ich schiele wieder zu Jan. Er hat sich in den letzten Minuten nicht bewegt. Auf seinem Rücken bildet sich eine dunkle Schweißspur und ich verstehe nicht, dass er immer noch sein Shirt anhat. Ich peile wieder zu den anderen rüber. Niemand sieht in unsere Richtung.

Ich wage einen Vorstoß: „Du brauchst keine Angst zu haben, ich guck dir nichts weg“, sage ich leise und hoffe, dass es so witzig klingt wie beabsichtigt.

„Entschuldige, was?“

Sein Kopf dreht sich langsam zu mir. Er sieht aus, als hätte ich ihn von ganz weit weg wieder in die Wirklichkeit geholt. So sehe ich bestimmt manchmal aus, wenn er mich anspricht, denke ich.

„Ich … ähm …“

Jetzt hat er mich aus dem Konzept gebracht.

„Ist dir nicht zu warm?“, frage ich dann.

Er sieht mich an und antwortet nicht. Mir wird bewusst, dass er mich, beziehungsweise meine Augen nicht sehen kann und daher nicht weiß, dass ich langsam aber sicher ehrlich besorgt bin, also nehme ich die Brille ab und sehe ihn direkt an.

Er sagt immer noch nichts, ich habe den Eindruck als würde er in meinen Augen etwas suchen. Ich habe keine Ahnung, ob er es gefunden hat oder nicht, denn er schüttelt nur langsam den Kopf, schenkt mir einen letzten Blick aus seinen schönen dunklen Augen und wendet sich dann wieder ab.

Ich verstehe nicht, was hier passiert aber der Wunsch, einfach den Arm um ihn zu legen und ihn zu trösten, wird übermächtig, sodass ich flüchten muss, um keine Dummheit zu begehen.

„Kommt jemand mit ins Wasser?“, rufe ich den anderen zu, aber sie sind alle viel zu faul.

Manuela dreht träge den Kopf, scheint kurz zu überlegen und steht dann auf.

„Ich komme mit“, sagt sie und folgt mir.

Wir albern ein bisschen im Wasser herum, und ich bin froh, dass sie dabei ist, denn mit ihr verstehe ich mich am Besten. Sie ist ein toller Kumpel und das einzige Mädchen, bei dem ich keine Beklemmungen bekomme, nicht einmal wenn wir allein sind.

Jetzt sitzen wir am Rand, halten die Füße ins Wasser und schauen den Surfern weiter draußen zu, die einfach nicht einsehen wollen, dass es nahezu windstill ist.

„Deine neue Frisur finde ich toll“, sagt sie und wuschelt mir über den Kopf, „auch wenn sie jetzt total im Eimer ist.“

„Danke“, sage ich. „Dann hat sich die Tortur ja gelohnt. Ich wäre beim Frisör fast zerflossen.“

„Ja“, lacht sie, „das kann ich mir vorstellen.“

Und dann erzählt sie mir, wir grausam es ist, sich stundenlang mit einer Dauerwelle herumzuquälen.

„Was ist eigentlich mit Jan?“, fragt sie irgendwann unvermittelt.

„Wieso?“, frage ich zurück.

Oh nein, hat sie auch etwas bemerkt? Bin ich so durchschaubar?

„Na ja, er sagt schon den ganzen Tag kein Wort, sitzt da mit T-Shirt an … Ich dachte, er hätte dir vielleicht etwas erzählt. Ihr seid doch befreundet.“

Sie sieht mich offen an, und ich beruhige mich wieder ein wenig. Sie weiß wohl doch von nichts.

„Mir hat er auch nichts gesagt“, antworte ich.

„Meinst du, es hat was mit Dani zu tun?!“, fragt sie.

„Kann ich mir nicht vorstellen“, entgegne ich ein wenig zu schnell. Das fehlte gerade noch, dass sie meint, er trauere ihr hinterher. „Er hat gesagt, das hätte nichts zu bedeuten gehabt.“

„Hätte er sich vielleicht vorher überlegen sollen. So ganz astrein fand ich die Nummer nicht. Ich meine, wenn er nicht gemerkt hat, dass sie was von ihm will, muss er blind sein wie ein Maulwurf.“

Ja, denke ich. Das ist er in der Tat manchmal.

„Keine Ahnung, so genau habe ich das alles nicht mitbekommen“, sage ich um das Thema nicht weiter vertiefen zu müssen – alleine beim Gedanken an die Knutscherei kommt mir schon wieder die Galle hoch.

„Ach ja“, sagt sie, „das war ja als du den halben Nachmittag weg warst. Wo warst du eigentlich?“

„Ich wollte mal sehen, wie weit ich schwimmen kann.“, lüge ich und bin entschlossen, niemand von der kleinen Bucht zu erzählen, die ich entdeckt habe. Vielleicht brauche ich sie ja wieder einmal.

„Manchmal bist du echt seltsam“, sagt sie.

„Sag wenigstens ‚geheimnisvoll’, das hört sich interessanter an“, meine ich, und sie grinst.

„Spinner.“

Als ich zu meinem Handtuch und meinem Buch zurückkehre, hat Jan sich auf den Bauch gedreht, und seine Augen sind geschlossen. Aber ich weiß, dass er wach ist – keine Ahnung wieso. Plötzlich werde ich mutig.

„Nächstes Mal kommst du aber mit“, sage ich und stupse ihn an der Seite an.

„Au! Pass doch auf!“, schreit er mich an, als hätte ich ihn verprügelt. Er springt auf und funkelt mich an. Dann wird ihm bewusst, dass ihn alle ansehen, und er setzt sich wieder im Schneidersitz hin.

"Tut mir leid." sage ich schnell und meine es auch so obwohl ich keine Ahnung habe, was ich angestellt habe.

„Was auch immer ich dir getan habe.“

Ich nehme mein Buch, drehe ihm den Rücken zu und schlage es auf. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Dieser Typ macht mich ganz verrückt. Ich meine, ich müsste jetzt sauer sein weil er mich so angebrüllt hat, aber in erster Linie tut er mir leid. Ich würde ihm so gerne helfen wenn er mich nur lassen würde.

„Entschuldige, ich habe das nicht so gemeint“, höre ich leise hinter meinem Rücken. „Es ist nur …“ Er atmet tief ein. „Ach, vergiss es.“

Also gut, er hat wieder gewonnen, und ich gebe nach. Das scheint sowieso meine Hauptaufgabe zu sein, die ich in dieser sonderbaren Beziehung habe.

„Es ist nur was?“, frage ich anstatt seine Entschuldigung anzunehmen – mit der sanftesten Stimme zu der ich imstande bin.

Er schüttelt den Kopf, kann mich dabei nicht einmal ansehen, und ich verstehe ihn schon wieder nicht. Wo ist denn bloß mein Sunnyboy geblieben, der fast immer fröhlich ist und immer einen lockeren Spruch parat hat? Sieht fast so aus, als wäre ich nicht der einzige, der sich in den letzten Tagen grundlegend geändert hat.

Dieses Mal entschuldigt er sich nicht als ich ihn zu Hause abliefere, schließlich hat er das schon am Strand getan. Trotzdem zögert er auszusteigen.

„Sag mal, hättest du was dagegen, wenn ich mir die kopiere?“, fragt er schließlich.

Mit „die“ meint er die HIM-CD, die ich momentan fast pausenlos im Auto dudeln lasse.

„Du stehst auf HIM?“, frage ich ihn verwirrt. Bisher hatte ich eher den Eindruck, dass er die Musik während der Fahrt eher erträgt, als dass sie ihm wirklich gefällt.

„Na ja, wenn man’s öfter hört, ist es doch nicht so übel“, sagt er.

„Also gut“, sage ich und drücke den Knopf, damit das Radio den Silberling ausspuckt.

Ich pflücke sie aus dem Schacht und reiche sie ihm. Wieso um alles in der Welt habe ich den Eindruck, dass die CD nur eine Ausrede ist?

„Wenn du willst, kannst du mit hinauf kommen und sie gleich wieder mitnehmen“, meint er und sieht mich so flehend an, dass ich nicht ablehnen kann.

Er schaltet den Rechner ein, legt die CD ins Laufwerk und einen Rohling in den Brenner.

„Dauert nur ein paar Minuten“, sagt er. „Setz' dich doch.“

Ich setze mich auf sein Bett und sehe mich um. Ein ganz normales Zimmer. Ein Schreibtisch in der Ecke, davor ein Stuhl. Ein Schrank, ein paar Regale, Anlage, Fernseher, CD-Regal und das Bett, auf dem ich sitze. Keine Poster an den Wänden, kaum Deko-Zeugs. Es sieht aus wie ein Zimmer, das nur zum Schlafen verwendet wird, finde ich. Meines ist gemütlicher. Ich finde, meinem Zimmer sieht man an, dass ich gerne darin bin. Dieses hier wirkt – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll – irgendwie „ungeliebt“.

Er dreht sich zu mir um und streicht sich verlegen über den Nacken. „Ich bin nicht besonders ordentlich“, sagt er und sieht sich um.

„Macht nichts“, antworte ich. „Ich eigentlich auch nicht.“

„Willst du etwas trinken?“, fragt er. „Cola?“

Ich nicke, und er verschwindet. Ich lehne mich hinten gegen die Wand und sehe mich genauer um. Dann entdecke ich Kleinigkeiten, die mich lächeln lassen. Ein Foto, das am Schrank klemmt und hinten in der Ecke neben seinem Kopfkissen liegt halb verdeckt ein Teddy. Ich neige mich ein wenig hinüber. Ja, DER sieht definitiv geliebt aus. Beruhigend zu wissen, dass auch er eine romantische Ader zu haben scheint.

Jan taucht wieder auf, eine Cola-Flasche unter dem Arm und zwei Gläser in der Hand. Er gießt die Gläser voll und reicht mir eines. Er wartet, bis ich es wieder abgesetzt habe, bevor er sich neben mich auf das Bett setzt und sich ebenfalls vorsichtig an die Wand lehnt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, seine unmittelbare Nähe raubt mir den Atem. Mein Herz klopft als wolle es all mein Blut innerhalb weniger Minuten durch meine Adern jagen, und ich krame in meinem Kopf verzweifelt nach irgendwelchen Worten, mit denen ich die Stille füllen kann, aber sie scheinen sich in dunkle Ecken meines Gehirns zurückgezogen zu haben – wie Kakerlaken wenn das Licht angeht.

„Hast du auch manchmal Zoff mit deinen Eltern?“, fragt er leise und betrachtet seine Fingerspitzen.

„Zum Glück eher selten“, sage ich obwohl „nie“ der Wahrheit näher gekommen wäre, und weil ich weiß, worauf er hinaus will, frage ich: „Du?“

Er nickt.

„Ich weiß auch nicht … Momentan streiten wir wegen jedem Mist. Wie mein Zimmer aussieht, dass ich mir einen Job für die Ferien suchen soll, was weiß ich.“

Ich überlege noch nach einer passenden Antwort, da wechselt er plötzlich das Thema.

„Deine neue Frisur ist übrigens echt cool“, sagt er und sieht mich wieder an.

Ein kleines Lächeln schleicht sich in sein trauriges Gesicht.

„Jetzt weiß ich wenigstens, was du gestern gemacht hast. Ich hatte mich schon gewundert, warum du nicht zum See gekommen bist.“

Wieder senkt sich Stille über uns aber dieses Mal ist sie nicht unangenehm. Dann fühle ich plötzlich, wie seine Fingerspitzen über meinen Arm streichen. Meine Haut scheint unter ihnen zu verbrennen, und ich drehe den Kopf zur Seite um ihn zu fragen, was das soll. Es trifft mich wie ein Schlag, denn ich sehe direkt in seine dunklen Augen und kann plötzlich nicht mehr atmen. Sein Gesicht nähert sich meinem wie in Zeitlupe, ich spüre seine Fingerspitzen, die an einer Haarsträhne zupfen und dann meine Wange berühren und alles verschwimmt als seine Lippen sich wie ein Hauch auf meine legen. Ich hebe ganz langsam die Hand …

… und stoße ihn von mir weg.

Mit einem Satz springe ich vom Bett auf und kreische: „Spinnst du? Was soll denn der Scheiß?“

Dabei klinge hysterisch ich wie ein Mädchen. Ich habe die totale Panik, bin völlig durch den Wind. Der verarscht mich nach Strich und Faden! Nicht den Bruchteil einer Sekunde ziehe ich in Erwägung, dass er es ernst meinen könnte – warum auch? Er knutscht doch jede Tussi, die vorbei kommt.

„Glaubst du, ich bin ne Schwuchtel, oder was?“

Er ist kreideweiß im Gesicht und stammelt: „Nein, natürlich nicht. Ich hab nur … ich wollte nicht … es tut mir leid. Bitte. Es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was …“

Ich habe mit meinem Sprung mindestens zwei Meter zwischen uns gebracht. Er sitzt immer noch auf dem Bett, ich stehe mit dem Hintern gegen seinen Schreibtisch gepresst, weiter rückwärts geht es nicht.

„Ich hau ab“, sage ich und will schon gehen doch er ist ebenfalls aufgesprungen und hält mich zurück. „Dennis, warte bitte.“

Er steht vor mir und schaut auf seine Hände.

„Es tut mir wirklich leid. Ich wollte nicht … Das bleibt doch unter uns?“, fragt er leise, und ich könnte ihn schon wieder in den Arm nehmen. Aber gleichzeitig könnte ich ihn schlagen. Ich habe das Gefühl, dass es mich jeden Moment zerreißt.

„Das hoffe ich doch“, sage ich kühl und will mich an ihm vorbeischieben.

Jetzt bloß keine Gefühle zeigen.

„Willst du nicht auf Deine CD warten?“, fragt er.

Er glaubt doch wohl nicht ernsthaft, dass ich auch noch eine Minute länger hierbleibe? Um wie viel er wohl gewettet hat, dass er mich herumkriegt? Und mit wem? Ich bin so sauer, dass ich ihn auf der Stelle vermöbeln könnte.

„Die kannst du mir morgen mit zum See bringen“, sage ich und hoffe, dass ihm damit ebenfalls klar ist, dass er selbst sehen kann, wie er dorthin kommt, weil ich ihn garantiert nicht abholen werde.

Ich stürze aus dem Haus und rase wie ein Verrückter nach Hause. Dort greife ich im Keller eine Flasche Wein ab und schließe mich für den Rest des Tages in mein Zimmer ein. Gut, dass meine Eltern heute Abend zum Kegeln gefahren sind, so brauche ich niemandem Rechenschaft über meinen Geisteszustand abzulegen.

Ich knalle mir den Wein rein, bis ich nicht mehr geradeaus schauen kann, und dann heule ich wie ein Schlosshund, weil mir die ganze Scheiße über den Kopf wächst, und ich keine Ahnung habe, wie ich da wieder heraus kommen soll. Ich heule, bis ich stinkbesoffen in meinen Klamotten auf der Bettdecke liegend einschlafe.

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