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Jetzt oder nie

Teil 3

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Vorwort

Was bisher geschah: Nach dem missglückten Outing bei seinem besten Freund Sascha ist Marius am Boden zerstört. Von seiner Mutter wieder etwas aufgebaut, fährt er am nächsten Morgen zur Schule? und da passiert es: er und einer seiner Klassenkameraden werden von einem Auto angefahren.

[überarbeitet im April 2005]

 

»O Nein, Frau Fröhlich, machen sie sich da mal keine Sorgen, ihrem Sohn Marius ist nichts Schlimmeres passiert, er hat zwar eine Gehirnerschütterung und wahrscheinlich ein gebrochenes Bein, aber ansonsten wird es ihm schon bald wieder besser gehen. Durch den Schock ist er wohl ohnmächtig geworden, doch er wird bald wieder aufwachen, und dann können sie mit ihm reden.«

Wo kommt denn diese Stimme her? Und warum brennt mein linkes Bein so höllisch? Benommen versuche ich die Augen aufzuschlagen, doch sofort fängt mein Kopf noch mehr an zu schmerzen und ich lasse das lieber. Auch mein Versuch mit der soeben ertönten Stimme zu sprechen scheitert kläglich. Erschöpft sinke ich wieder zusammen.

»Wann wird er denn endlich wieder aufwachen, Herr Doktor? So langsam mache ich mir Sorgen, schließlich liegt er jetzt schon seit drei Stunden da so ohne sich zu rühren!«

»Keine Sorge, Frau Fröhlich, seien sie froh, dass er schläft, desto weniger spürt er die Schmerzen.«

Wieder bin ich aufgewacht, doch diesmal fühle ich mich schon wesentlich besser als vorhin, wenn man im Moment überhaupt in irgendeiner Form von »gut« sprechen kann. Mit all meiner Kraft hebe ich meinen Kopf an und öffne die Augen ...

Ich blicke in das erschöpft aussehende Gesicht meiner Mutter, die sofort auf mein Bett zu rennt und mich an sich drückt.

»MARIUS, Gott sei Dank bist du endlich wieder aufgewacht, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!«

»Mama, freut mich ja, dass es dich so freut, aber würdest du trotzdem aufhören mich zu zerquetschen.«

»Oh, tut mir leid. Wie geht es dir denn jetzt?«

Gute Frage, wie geht es mir eigentlich? Ich horche kurz in mich hinein und warte die »Untersuchungsergebnisse« ab. Also, ein schmerzender Kopf, ein Bein, das offensichtlich auch schon bessere Zeiten gesehen hat, und noch verschiedene andere Stellen am Körper, die sich auch nicht wirklich gut anfühlen.

»Na ja, mir ging es schon mal besser, wenn ich ehrlich bin.«

»Jetzt fängst du also an ehrlich zu werden, also ehrlich gesagt wäre mir eine beruhigende Lüge lieber gewesen.«, sagt meine Mutter mit einem Lächeln.

»Was ist denn eigentlich passiert? Wie komme ich hierher?«

»Kannst du dich denn an gar nichts mehr erinnern? Du hattest auf dem Weg zur Schule einen Unfall, du wurdest von einem Auto angefahren.«

Plötzlich erinnere ich mich wieder an ein paar Fetzen des Vormittags, der schwarze Wagen, das Quietschen der Reifen, mein Fahrrad und ... HENDRIK!

»Mama, weißt du irgendetwas über Hendrik?«

»Aha, daran kannst du dich also noch erinnern. Er wurde auch von demselben Wagen erwischt, aber ihm ist auch nicht viel passiert. Ihm geht es offensichtlich sogar besser als dir, aber warum fragst du ihn nicht selbst?«

Mein Kopf muss wohl wie ein einziges Fragezeichen ausgesehen haben, denn meine Mutter fängt laut an zu lachen. Vollkommen verwirrt blicke ich mich um und bemerke mit einem Mal, dass mein Bett nicht das einzige in diesem Zimmer ist, nur ungefähr zwei Meter von mir entfernt steht ein weiteres und in ihm liegt ... Hendrik, der mich schüchtern anlächelt.

»Hi Marius, alles klar?«

»Hey Hendrik, na ja, geht so, und bei dir?«

»Den Umständen entsprechend eigentlich recht gut, mein rechter Arm tut zwar noch ziemlich weh, aber das wird schon wieder.«

»Jungs, ich will eure angeregte Unterhaltung wirklich nicht stören, aber euer Arzt wollte gleich mal wieder nach euch schauen.«

Direkt schaltet sich mal wieder meine rege, durchs Fernsehen verunstaltete, Phantasie ein, und präsentiert mir einen grauhaarigen, vollbärtigen, sechzigjährigen Professor, der mich mit dem Satz ‚Na, wie geht's uns denn heute?' begrüßt. Doch schon wenig später wird mir einmal mehr klar, wie viel unsere Fernsehlandschaft doch mit der Realität zu tun hat, denn ein junger Arzt, den ich höchstens auf Ende Zwanzig geschätzt hätte, wenn mich jemand nach seinem Alter gefragt hätte, betritt den Raum. Und der sieht ja gar nicht mal so schlecht aus! Er hat kurze, blonde Haare und braune Augen, die ...

‚O Mann, so schlecht scheint es mir tatsächlich nicht zugehen, wenn ich jetzt schon den Arzt nach seinem Aussehen beurteile.', denke ich bei mir und muss innerlich lachen.

»Aha, alles klar, das Lachen funktioniert also auch schon wieder [soviel zum ‚innerlichen' Lachen] , dann kann es dir ja nicht mehr zu schlecht gehen. Ich habe hier die Ergebnisse der ersten Untersuchungen, und so wie es aussieht, ist dein linkes Bein gebrochen, du hast eine mittelschwere Gehirnerschütterung sowie einige Prellungen und blaue Flecken; kurz gesagt: dir ging es zwar bestimmt schon mal wesentlich besser, doch es hätte wirklich schlimmer können. Wir werden später noch einige Röntgenaufnahmen machen, dann kann ich dir endgültig sagen, wie es um dich steht, aber du kannst dich darauf einstellen, mindestens zwei Wochen hier verbringen zu müssen!«

Wow, von dieser Ansprache muss ich mich erst einmal erholen. Eine »mittelschwere Gehirnerschütterung« also; so, wie sich mein Kopf momentan anfühlt, möchte ich dann allerdings niemals wissen, was es bedeutet eine »schwere Gehirnerschütterung« zu haben.

Kurze Zeit später ist der Arzt wieder verschwunden, nicht ohne auch Hendrik mitzuteilen, wie schlimm es ihn erwischt hat. Wahrscheinlich ist sein rechter Arm gebrochen, und auch er hat eine Gehirnerschütterung und sonstige kleinere Blessuren, die man eben so hat, wenn man gerade von einem Auto angefahren wurde. Auch er hat wohl noch einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus vor sich, was wohl bedeutet, dass ich mindestens die nächsten zwei Wochen mit ihm zusammen im Krankenhaus verbringen muss. Ehrlich gesagt, klingt der Gedanke nicht sonderlich verlockend für mich; der Krankenhausaufenthalt an sich ist schon schlimm genug, aber dann auch noch ausgerechnet die ganze Zeit mit Hendrik auf einem Zimmer? Zwei Wochen mit dem Klassenstreber, dem Besserwisser, dem ebenso stillen wie langweiligen Hendrik, mit dem eigentlich keiner etwas zu tun hat oder zu tun haben will? Das Schicksal meint es zur Zeit in der Tat nicht gut mit mir, zuerst die Sache mit Sascha, die wohl auch noch geklärt werden muss, dann der Unfall, und zu allem Überfluss jetzt auch noch Hendrik ...

Plötzlich schrecke ich aus meinen Gedanken hoch, denn mir ist da noch was eingefallen ...

»Mama, was ist eigentlich mit dem Typen, der uns angefahren hat? Weiß die Polizei, wer das war?«

»Nein, bisher noch nicht, offensichtlich hat er Fahrerflucht begangen, man ist aber auf der Suche nach ihm, einige Augenzeugen haben sein Auto sehr genau beschrieben. Aber wahrscheinlich wird die Polizei auch mit euch reden wollen.«

»Na ja, mehr als die anderen kann ich denen auch nicht sagen, das einzige, was mir noch in Erinnerung ist, ist, dass der Wagen schwarz war, mehr weiß ich nicht mehr.«

»Um die Anhörung wirst du wohl trotzdem nicht herumkommen, und vielleicht fällt dir ja doch noch etwas Wichtiges ein. Tut mir leid, Marius, aber ich muss jetzt weg, Sabine kommt bestimmt gleich aus der Schule, aber dein hochverehrter Vater hat fest versprochen, seine anstrengende Tätigkeit heute extra für dich etwas früher zu beenden, um dich am Nachmittag besuchen zu können.«

Unwillkürlich muss ich bei ihrer Betonung des Wortes »anstrengend« grinsen. Normalerweise hasst sie es, wenn man Witze über seinen Beruf macht, aber heute war halt alles anders. Man muss dazu wissen, dass mein Vater »im öffentlichen Dienst« arbeitet, was im Klartext heißt, dass er Beamter ist. Aber sicherlich nicht so einer, wie man ihn im Klischee sieht, gerade deshalb regt sich meine Mutter auch sonst immer über solche Witze auf.

Nun ja, lange Rede, kurzer Sinn - wenig später ist meine Mutter weg, nicht ohne mir damit zu drohen, jeden Tag nach dem Rechten sehen zu wollen.

Jetzt bin ich also mit Hendrik alleine und ich habe wirklich absolut keine Ahnung, über was ich mit ihm reden kann. Mitten im Nachdenken muss ich wohl eingeschlafen sein, denn das nächste, was ich höre, ist ein lautes Klopfen ... und mein Vater betritt wenige Momente später den Raum ...

Etwas besorgt sieht er zunächst ja aus, doch dann sieht er mich dort liegen, mit meinem eingegipsten Bein und dem viel zu engen Krankenhaus-Pyjama, der unter der Bettdecke hervorschaut, und fängt laut an zu lachen.

»Entschuldige, Marius, das ist vielleicht nicht der richtige Moment für einen Lachanfall, aber du siehst einfach zu komisch aus.«

»Oh, danke für dein Mitgefühl, Papa!«

Doch dann stürmt er auf mich zu und umarmt mich. Normalerweise ist mir so etwas immer peinlich, doch im Moment ist mir das ziemlich egal, ich bin einfach nur froh, dass er da ist. Aus den Augenwinkeln kann ich Hendrik in seinem Bett liegen sehen, kam es mir nur so vor, oder hat er gerade eine Träne in seinem Auge gehabt? Ich komme nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn mein Vater hat alle möglichen Fragen an mich, angefangen bei meinem Befinden, über den Unfall, bis hin zu dem Fahrer des schwarzen Wagens, den er »am liebsten in der Luft zerreißen« würde. Er unterhält sich dann auch noch kurz mit Hendrik, doch aus ihm ist wie immer nicht sonderlich viel herauszukriegen. Dann ist er auch schon wieder weg, allerdings kann er es sich nicht verkneifen, mir noch mitzuteilen, dass mir »dieser Pyjama vor drei oder vier Jahren prima gepasst« hätte.

Und wieder ist es soweit ... die Stille kehrt in unser Zimmer zurück, aber Moment mal, habe ich da gerade etwas gehört?

»Ähm, Hendrik, hast du etwas gesagt? Ich war mit meinen Gedanken woanders.«

»Ach, ich meinte nur, dass du einen wirklich coolen Vater hast!«

»Ja, das stimmt, zumindest ist er das meistens. Manchmal kann es mit ihm allerdings auch sehr peinlich werden, wenn er mal wieder schneller spricht als er denkt.«

»Was meinst du damit?«

»Mmmh, zum Beispiel waren wir einmal bei meiner Tante Ullrike, der Schwester meiner Mutter, zum Geburtstag eingeladen. Zunächst war das auch alles schön und gut, doch dann musste er meiner Mutter unbedingt mitteilen, wie er ihr neues Kleid fand. Er sagte irgendetwas wie ‚Also, das Kleid würde auch bei einem 2-Tonnen-Blauwal die Figur gut betonen'. Er hatte zwar recht damit, zumindest meiner Meinung nach, doch ‚flüsterte' er das so laut, dass es die gesamte Gesellschaft mitbekam und du kannst dir ja sicherlich vorstellen, was dann los war ...«

Hendrik hatte schon bei der Erwähnung des Blauwals angefangen zu lachen, doch jetzt ist er gar nicht mehr zu halten. Direkt muss ich daran denken, wie sehr ein Lachen doch das Gesicht eines Menschen zum Positiven verändern kann; mir kam es so vor, als sähe ich ihn zum ersten Mal lachen (vielleicht war es auch so?). Auf einmal zeigte sein Gesicht wirklich ein paar sympathische Züge, die ich niemals vermutet hätte ...

»Und wie ging es dann weiter, hat sie euch rausgeschmissen?«

»Nein, ihr hat das eigentlich gar nicht so viel ausgemacht, aber ihr Mann, Dieter, der ist vielleicht ausgerastet! Er lief rot an vor Wut, und hat meinen Vater vor der kompletten Gesellschaft zusammengebrüllt. Ich glaube, noch ein falsches Wort von meinem Vater, und er hätte ihm eine runtergehauen.«

»Aber es kam nicht so weit?«

»Ne, mein Vater hat sich dann bei meiner Tante entschuldigt, aber die hat nur gelacht, und gesagt, dass ihr das Kleid auch nicht gefallen hätte. Und dann hat sich Dieter auch wieder beruhigt. Aber in solche Situationen kann man mit meinem Vater ständig geraten, das kann ich dir sagen.«

Irgendwie bin ich richtig stolz auf mich, denn ich habe es tatsächlich geschafft, die Stimmung ein wenig aufzulockern und Hendrik sogar den einen oder anderen Kommentar abgerungen, aber jetzt gibt es da etwas, dass mich interessiert ...

»Sag mal, kommen deine Eltern dich heute auch noch besuchen?«

Schlagartig ändert sich sein Gesichtsausdruck wieder, er zeigt wieder sein altes, unbewegliches Gesicht, nein, sogar noch schlimmer, er sieht regelrecht traurig aus.

»Nein, die haben keine Zeit!«

Und damit ist schon wieder diese unangenehme, ja geradezu unheimliche Stille in unserem Zimmer. Hendrik hat sich von mir weggedreht und scheint absolut keine Lust zu haben, mir irgendwelche weiteren Erklärungen zu geben. Macht ganz schön müde, so ein gut beheiztes Krankenhauszimmer ...

Mitten in der Nacht (glaube ich zumindest) wache ich auf und spüre, dass mein Bein höllisch schmerzt. Und mein Kopf scheint sich dem Bein aus Solidarität gleich angeschlossen zu haben, ich kann mich nicht erinnern, jemals so schlimme Kopfschmerzen gehabt zu haben.

Ich blicke leise stöhnend umher, und bemerke, dass Hendrik ebenfalls wach zu sein scheint.

»Hey Hendrik, bist du noch wach?«

Plötzlich höre ich ein Schluchzen, doch es kommt keine Antwort. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen; hat meine Frage nach seinen Eltern ihn so traurig gemacht? Ich beschließe, mal nach Hendrik zu sehen.

Wer schon einmal versucht hat, sich mit einem »frisch« gebrochenen Bein und auch einigen sonstigen Blessuren aufzurichten, der weiß, was richtige Schmerzen sind.

Aber ich, vollkommen ungewöhnlich für mich als »Weichei«, beiße die Zähne zusammen und setze mich auf den Rand meines Bettes. Glücklicherweise stehen neben meinem Bett schon Krücken bereit, was für eine Fügung des Schicksals … und was nun passiert, hätte wohl in keinem Sketch besser dargestellt sein können. Ich schwanke unter höllischen Schmerzen auf Hendriks Bett zu und brauche mindestens fünf Minuten für die Drei-Meter-Strecke; hätte ich so etwas im Fernsehen gesehen, ich hätte wohl laut losgelacht.

Irgendwie schaffe ich es aber dann doch und setze mich auf Hendriks Bett. Er scheint von meinen Bemühungen gar nichts mitbekommen zu haben, liegt er doch immer noch in seinem Bett, zusammengesunken und leise schluchzend.

»Was ist denn los?«, frage ich ganz leise, um ihn nicht zu erschrecken. Doch das scheint seine Wirkung verfehlt zu haben, Hendrik schreckt hoch und sieht mich mit verheulten Augen an.

»Ach, es ist nur wegen meinen Eltern …« Also doch, es war alles meine Schuld.

»Was ist denn mit ihnen? Haben sie keine Zeit für dich?«

»Nein, das ist es nicht. Bis vor kurzem waren sie eigentlich die besten Eltern, die man sich vorstellen konnte.« Ich schaue ihn fragend an.

»Und jetzt sind sie es nicht mehr? Was ist denn passiert?«

»Es war dieser eine Tag, dieser eine verdammte Tag …« Seine letzten Worte sind kaum noch zu verstehen, er verliert vollkommen die Fassung und heult hemmungslos.

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