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Hendriks Weg

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Informationen

Vorwort

Liebe Leser,

diese Geschichte befasst sich mit den Themen Mobbing und Suizid. Ich habe die Story geschrieben, weil mich Thematiken wie Mobbing, Diskriminierung und deren Folgen für Betroffene und Angehörige bewegen und hoffe, dass sie nicht als Verharmlosung oder gar Verherrlichung von Selbstmord verstanden wird.

Weil beide Themen teilweise sehr anschaulich (eventuell sogar drastisch) beschrieben werden, möchte ich Menschen, die darauf empfindsam reagieren, bitten, davon abzusehen, die Geschichte zu lesen.

Falls du, lieber Leser, über Selbstmord nachdenkst, möchte ich dir die persönliche Bitte mit auf den Weg geben, dir Hilfe zu suchen - dich denen, die dir nahe stehen, anzuvertrauen und auch keine Angst davor zu haben, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die im Redaktionsvorwort erwähnte Telefonseelsorge ist da bestimmt ein guter Ansprechpartner. Ich bin der festen Überzeugung, dass jedes Leben zu kostbar und zu einmalig ist, um es wegzugeben. Besonders natürlich dein eigenes.

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

Hendrik drehte sich zur Zimmertür, um sich im Licht besser zu positionieren. Die Rollläden waren heruntergelassen und die Lavalampe auf dem Nachttisch war die einzige Lichtquelle. So, wie er es seit einiger Zeit am Liebsten hatte. Das Jugendzimmer war deshalb in ein mattes violettes Licht getaucht. Schattenspiele schlichen gemächlich über das schmale Gesicht des Jungen, während er seine eigenen Worte noch ein letztes Mal überflog.


Liebe Mama, lieber Papa.

Wenn ihr das lest, bin ich hoffentlich meinen Weg zu Ende gegangen. Zuerst will ich mich bei euch entschuldigen. Ich weiß, was ich euch mit meinem Selbstmord antue. Vielleicht könnt ihr mir ja verzeihen, wenn ich euch sage, dass es für mich auch keine leichte Entscheidung ist zu sterben. Ich würde doch viel lieber bei euch bleiben. Aber ich kann einfach nicht mehr. Ich hab nie mit euch darüber geredet, weil ich mich zu arg schäme. Jetzt möchte ich es euch aber sagen, damit ihr mich zumindest versteht. Ich bin schwul. Ich hab mir das nicht ausgesucht und ich wollte es auch nicht. Trotzdem reicht es für meine Mitschüler als Grund, mich in den Tod zu treiben.

Seit mein Geheimnis in der Schule aufgeflogen ist, ist es immer schlimmer geworden. Könnt ihr euch vorstellen, wie das ist, wenn man jeden Moment Angst davor hat, was als nächstes passiert? Vielleicht ist mein Schritt ja auch feige, aber ihr wisst doch, dass ich nicht so gut darin bin, zu kämpfen und mich durchzusetzen.

Zum Schluss möchte ich mich noch bei euch bedanken, Mama und Papa. Ich habe die 15 Jahre mit euch genossen und denke gern an unsere schönen Momente zurück. Ich wünsche euch, dass euch das auch gelingt und vielleicht könnt ihr sogar irgendwann einmal lächeln, wenn ihr an mich denkt. Es würde mich freuen. Haltet mich in guter Erinnerung.

Ich liebe euch.

Hendrik


Nicht perfekt, aber okay. Das musste genügen. Hendriks Finger zitterten, als er das Papier faltete und es dann umständlich in einen Briefumschlag schob. Er legte den Umschlag auf seinen Schreibtisch und daneben seinen College-Block. Darin hatte er für seine Eltern alles chronologisch notiert. All die Geständnisse und Demütigungen, die er aus Scham unausgesprochen in seiner Seele vergraben hatte.

Hendrik warf einen Blick auf den weißen Umschlag auf der grünen Schreibunterlage, schob ihn noch einmal zurecht, dann öffnete er die untere Seitenschublade. Die Finger suchten erst ruhig, dann aber immer hektischer zwischen Comicheften und Zeitschriften. In sein Gesicht zeichnete sich die Andeutung einer aufkommenden Panik, die sich im nächsten Moment in einem Seufzen auflöste, als Hendrik fand, was er suchte. Er holte ein flaches Päckchen heraus, etwa halb so lang wie sein Zeigefinger und schob es in die Tasche seiner Jeans. Beim hinausgehen warf er einen Blick zurück. Wenn alles gut lief, wäre es das letzte Mal, dass er sein 25 Quadratmeter großes Reich betrachtete, das zuletzt zu seinem Schneckenhaus verkommen war. Ein Gefühl der Wehmut ließ sich nicht unterdrücken.

Sockig ging Hendrik den Flur entlang, wo gedämpft das Vorabendprogramm zu hören war. Er steckte den Kopf durch die offene Tür zum Wohnzimmer. Wie fast jeden Tag um diese Zeit saß sein Vater auf dem Sessel und seine Mutter lag auf dem Sofa, während im Fernseher Gefragt – Gejagt lief.

„Ich geh noch mal kurz weg.“

Papa drehte schwerfällig den Kopf: „Zu Julian?“

„Ja.“

„Schön. Lass es aber nicht zu spät werden.“

Hendrik zwang sich ein Lächeln auf die Lippen: „Keine Sorge.“

Hätte sein Vater genauer hingeschaut, wäre ihm wahrscheinlich die Leere in Hendriks Augen aufgefallen, die sein Lächeln Lügen strafte. Aber die Show war gerade zu spannend und Herr Leitner war auch ganz froh, dass Hendrik mal wieder etwas unternahm. Die Veränderung, die der Junge durchlebt hatte, war ihm und seiner Frau natürlich auch nicht entgangen. Doch bisher hatte sich ein Gespräch darüber noch nicht ergeben. Beim Wegdrehen streifte Hendriks Blick über das eingerahmte Bild auf dem Sideboard. Der Junge darauf war zwar unscheinbar, aber die lebensfrohen grünen Augen und das Schmunzeln ließen es jedem Betrachter warm ums Herz werden. Ob in ein paar Tagen dasselbe Bild in Schwarz-Weiß dort stehen würde? Egal. Neben der Haustür schlüpfte Hendrik in seine Schuhe und verließ das Haus, um sein Leben zumindest nicht im Elternhaus zu beenden.


Es war ein trister Oktober-Tag. Dass sich der Tag dem Ende entgegen neigte, war hauptsächlich daran zu erkennen, dass das Grau des Himmels dunkler wurde. Doch der kühle Wind um die Nase brachte Hendriks Kreislauf in Schwung, als er durch die Sträßchen seiner Heimatgemeinde Deidesheim ging. Gedanken und Worte des zurückliegenden Tages trieben ihn seinem Ziel entgegen.

Bring dich doch um, du Spast, hatte Maurice mit einem selbstgefälligen Grinsen heute in der Schule zu ihm gesagt, nachdem Hendrik wegen einer der vielen Demütigungen die Tränen nicht mehr hatte zurückhalten können. Hendrik fragte sich, ob Maurice morgen so etwas wie ein schlechtes Gewissen hätte, wenn er erfuhr, dass Hendrik dessen Worte in die Tat umgesetzt hatte. Aber realistisch war das nicht. Die Dumpfbacke würde bestimmt nicht einmal kapieren, dass er einen großen Teil der Schuld trug. Vielleicht eher Leute wie Sandro oder Lena, die von sich selbst glaubten, zu den Guten zu gehören. Nur war es in der Klasse inzwischen zur lieb gewonnenen Gewohnheit geworden, Hendrik fertig zu machen – eine kreative Art der Gemeinschaftspflege, könnte man sagen. Hendrik tat es am meisten weh, dass auch Sandro und Lena jedes Mal mitlachten. Die Beiden und ein paar Andere würden sich in Zukunft vielleicht eher noch Gedanken darüber machen, ob sie zu weit gegangen waren. Oder Julian. Natürlich Julian.

Hendriks Weg war nicht sehr weit. Nach sieben Minuten war er dort angekommen, wo der Ort endete und der Leinhöhlweg in einen Feldweg überging, der hinter den letzten Häusern steil ansteigend in die Weinberge führte. Genau dort ging Hendrik hinauf. Als er sich während der letzten Tage entschieden hatte, wie er sich befreien wollte, hatte er sich auch darauf festgelegt, wo es geschehen sollte. Nach etwa 200 Meter gab es nämlich zwischen Winzergärten und Obstbäumen mehrere kleine Wiesen, von denen man einen schönen Blick über Deidesheim und die angrenzende Rheinebene hatte. Hendrik verließ an einem kurzen Trampelpfad den Weg nach links, um zu einem seiner Lieblingsorte zu gelangen.

„Oh nein.“ - Hendrik verzog das Gesicht. Ausgerechnet jetzt, wo alles reibungslos hätte ablaufen sollen, saß auf seinem Platz ein Liebespaar. Eng aneinander gekuschelt. Hendrik betrachtete fassungslos, wie die Beiden die besondere Atmosphäre genossen, die das historische Städtchen in der herbstlich-düsteren Tristesse ausstrahlte. Als der junge Mann und seine Freundin auf ihn aufmerksam wurden, winkte Hendrik ihnen entschuldigend zu und trat den Rückzug an. Zurück zum Feldweg und auf eine Wiese auf der anderen Seite des Weges. Hier, vielleicht hundert Meter von den Turtelnden entfernt und durch Sträucher sichtgeschützt, war es okay. Hendrik setzte sich ins Gras und seine Hand ging in die Hosentasche, während er den Blick in die Ferne schweifen ließ. Die Kirchturmspitze Deidesheims schien an der Hochnebeldecke kratzen zu wollen, die wie ein Dach über der Landschaft schwebte und die Rheinpfalz in Düsternis tauchte.

Hendrik kramte das blaue Päckchen heraus, riss die Plastikfolie darum auf und nahm sich eine der zehn altmodischen Doppel-Rasierklingen. Von der Art, wie sie scheinbar nur noch für Selbstmörder hergestellt werden, dachte Hendrik. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, es würde sich irgendwie feierlich anfühlen - oder auf eine andere Weise besonders - wenn er diesen Punkt einmal erreicht hatte. Aber nun, als er die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt und mit dem Mittelfinger sein linkes Handgelenk abtastete, um den Puls zu finden, empfand Hendrik nichts dergleichen. Im Gegenteil. Er fühlte sich sogar schäbig. Hendriks Gedanken gingen zu seinen Eltern, wie sie wohl gerade im Wohnzimmer saßen und versuchten, beim Quiz mitzuraten. Hätte er ihnen nicht zumindest eine Chance geben müssen?

Gut, jetzt war es sowieso zu spät. Dieses Gespräch bliebe Hendrik erspart. Dank seines häufigen Übens fand er die richtige Stelle schnell. Er kniff die Augen zusammen, setzte die Klinge an und schon mit dem ersten Druck setzte ein Brennen ein. Hendrik sog mit einem Zischen Luft zwischen den Zähnen ein, als die Klinge die Nervenfasern seiner Haut und des Gewebes darunter durchtrennte und der Schmerz in seinem Gehirn explodierte. Darauf, dass es so arg sein würde, hatte er sich nicht eingestellt.

Hendrik war drauf und dran aufzugeben, noch bevor er sich lebensgefährlich verletzt hatte. Doch dann kam ihm die Erinnerung zu Hilfe. Daran, wie heute - gerade einmal einen Tag nach dem spontanen Gewaltexzess in der Sammelumkleide - Hendriks kompletter Inhalt des Rucksacks im Klassenzimmer verstreut wurde.


Für Hendrik war es während der letzten Tage und Wochen schon zur schmerzlichen Routine geworden, unter den höhnischen Zurufen der Mitschüler seine Bücher, Hefte und Stifte wieder einzusammeln. Auch an diesem Tag war es wieder passiert. Hendrik versuchte so zu tun, als mache ihm das nichts aus, wobei ihm die Tränen, die seine Augen füllten, einmal mehr einen Strich durch die Rechnung machten. Er hatte nun fast alles wieder eingesammelt, nur das Physik-Buch fehlte noch. Doch Maurice war ihm einen Schritt voraus. Ehe Hendrik das Buch erreicht hatte, war Maurice schon dort und hatte seinen Fuß darauf gestellt.

Hendrik beugte sich nach unten und nuschelte mit kraftloser Stimme: „Maurice. Bitte.“

Maurice genoss sichtlich seine Machtposition, die er gegenüber seines schwächlichen Mitschülers hatte: „Küss meinen Schuh und du bekommst es.“

Hendrik warf einen flehenden Blick nach oben, aber schon alleine die Zurufe der Klassenkameraden sorgte dafür, dass Maurice keine Gnade zeigte. Die Leute brauchten etwas, worüber sie in der Großen Pause lästern konnten und Maurice wollte es ihnen geben.

Wie jedes Mal gab Hendrik klein bei. Die Klasse bildete einen Kreis um Maurice und Hendrik, weil jeder alles sehen wollte. Hendrik kniete sich vor Maurice auf den Boden und beugte sich nach vorne. „Der Spast macht's tatsächlich“, hörte er Nils von hinten glucksen und Lena kicherte daraufhin. Dann brachte es Hendrik hinter sich und seine Lippen berührten Maurice' Sportschuh. Die Klasse kriegte sich nicht mehr ein vor lachen. Und Dennis stichelte: „Ey Schwuchtel. Du willst uns doch nicht weismachen, dass du nicht mit Zunge küsst.“

Genau, Schwuli. Mit Zunge“, sagte Maurice. „Beeindrucke uns.“

Zunge – Zunge“, skandierten einige der Klassenkameraden im Chor. Am Rande bekam Hendrik mit, wie die Smartphones gezückt wurden, um Videos davon zu drehen und es gab sogar ein Gerangel um die besten Plätze. Denn alle wussten, dass es Hendrik tun würde. Und er tat es auch. Schon bevor der Schultag zu Ende war, hatten die Handyvideos, in denen der Schwuli Hendrik Maurice den Sneaker ableckte, sich über alle Klassen verbreitet ... Nichts besonderes. Nur ein neuer Tiefpunkt im Leben des Hendrik Leitner.


Diese Gedanken und die Ängste, die sie mit sich brachten, weckten in Hendrik eine fast übermenschliche Kraft. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass die Kiefermuskeln hervortraten. Dabei wippte und ritzte er mit der Klinge immer weiter an seinem Handgelenk gegen jede Vernunft an und fühlte, wie seine Finger, mit denen er die Rasierklinge hielt, nass wurden. Als der Schmerz unerträglich wurde, hörte er auf, aber schon nach wenigen Augenblicken setzte er die Klinge wieder an und machte weiter. Dieses eine Mal wollte Hendrik nicht nachgeben.

Hendrik hätte gerne die Augen geöffnet, um sich anzusehen, ob die Stelle richtig war, aber er ließ es sein. Wenn er Blut sah, wurde ihm immer schlecht. Das war aber auch nicht nötig. Er spürte die pulsierende Wärme am Handgelenk hinter seinem Daumenballen und wie seine Hose dort, wo er die Hand abgelegt hatte, bis auf den Oberschenkel nass wurde.

Und es funktionierte tatsächlich. Nach Minuten, in denen die Schmerzen seinen Körper zum beben brachten und Hendrik leise wimmern und stöhnen ließen, breitete sich in seinem Kopf ein beruhigender Schwindel aus. Hendrik wurde schwächer. Er legte seinen Oberkörper zurück, denn selbst das Sitzen fiel ihm nun schwer. Noch einmal öffnete er die Augen und blinzelte in das bleigraue Firmament. Das war sein letzter Eindruck. Hendrik schloss die Augen, um zu sterben. Sein Geist entfernte sich von den Schmerzen genauso wie von allen anderen Empfindungen, die seine Sinne aufnahmen. Der Atem wurde flacher und kam ins Stocken - und dann war es vorbei. Sein Geist tauchte in die Dunkelheit.

 

Ein Kieselstein drückte ihm in den Rückten und Hendrik ruckelte sich instinktiv zurecht. Einige Momente versuchte er noch, sich totzustellen. Doch es brachte nichts. Zaghaft hob Hendrik sein linkes Augenlid und sah über sich den grauen Himmel. Er richtete sich ins Sitzen auf, ließ den Blick über die Rheinebene schweifen und drückte die Rasierklinge noch einmal an sein Handgelenk. Aber mehr, als ein unangenehmes Kratzen verursachte das nicht. Nun traute Hendrik auch, sich seine Tat anzuschauen und war erschüttert. An seinem Handgelenk war etwa dort, wo die Schlagader verlief, ein Gewirr aus dünnen roten Striemen, so, als hätte jemand mit einem roten Holzmalstift darauf herum gekritzelt. Aber es war kein Tropfen Blut zu sehen. Auch die Hose war noch genauso sauber wie vorhin, als er das Haus verlassen hatte. Vorsichtig tippte Hendrik mit der Fingerkuppe des Zeigefingers auf die Schneide, dann erhöhte er den Druck.

Das konnte doch nicht sein. Hendrik ließ die Rasierklinge neben sich auf den Boden fallen. Das Ding war nagelneu gewesen, originalverpackt – und stumpf. Er schüttelte den Kopf. Was hatte ihm sein Verstand da eben gerade für einen Streich gespielt?

Einen Moment dachte Hendrik noch daran, es mit der nächsten Klinge zu probieren. Neun Versuche hatte er ja noch. Aber dann pustete er durch und ließ das Päckchen wieder in seine Hosentasche wandern. Sein Mut war nun erst einmal aufgebraucht. Vielleicht morgen wieder, dachte er sich. Oder vielleicht auch gar nicht mehr. Vielleicht fände er ja doch noch den Mut, mit seinen Eltern reden.

Hendrik spürte, wie seine Knie zitterten, als er sich aufrichtete. Der Schock des vermeintlichen Selbstmordes und dieser fürchterlichen Schmerzen, die er sich eingebildet hatte, steckte noch tief in seinen Knochen, als er zurück zum Betonweg trottete. Zumindest waren die Spuren, die er an seinem Handgelenk hinterlassen hatte, nicht so auffällig. Mit einem Pulli sollten die sich eigentlich gut verbergen lassen. Und außerdem war die Sache mit dem Pulsadern-aufschlitzen sowieso eine scheiß Idee. Da gab es sicherlich bessere Möglichkeiten.

Mit der Schmach, jetzt zu diesen Suizid-Versagern zu gehören, von denen man manchmal lesen konnte, machte sich Hendrik auf den Rückweg. Immerhin hatte er sich nicht verletzt. Da war er den meisten dieser Nasen einen Schritt voraus. Und vielleicht war sein Scheitern ja auch für etwas gut.

Die Dämmerung war nun weiter fortgeschritten und ließ sein Heimatstädtchen, dem er sich näherte, unnatürlich kontrastlos erscheinen. Hendrik registrierte das nur am Rande. Seine Blutbahnen waren mit Adrenalin vollgepumpt und schon alleine der Fakt, dass er den Mut gehabt hatte, es durchzuziehen, brachte eine gewisse Erleichterung. Es hatte zwar nicht geklappt, aber Hendrik wusste jetzt, dass er es konnte, wann immer er wollte. Vielleicht schon wieder morgen, vielleicht auch erst nächste Woche – oder auch gar nicht mehr.

Nur langsam kehrten Hendriks Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Als er von der Bennstraße auf die Heumarktstraße kam und sich zum ersten Mal wegen des Straßenverkehrs wieder auf seine Umgebung konzentrieren musste, runzelte er die Stirn. Echt seltsam, diese Licht-Schatten-Spiele heute Abend. Er kniff kurz die Augenlider zusammen, bekam aber den irrealen Eindruck auch nicht los, nachdem er sie wieder geöffnet hatte.

Die Straße war hier belebter. In einer Umgebung, die ihm genauso vertraut, wie befremdlich vorkam, schlug er aufs Geratewohl einen Weg ein. Hendrik wollte noch nicht nach Hause gehen, er musste das alles erst noch verdauen. Von irgendwoher war ein Martinshorn zu hören. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, woher das Geräusch kam, aber die Akustik war an diesem Abend so komisch. Er schaffte es nicht, die Richtung auszumachen.

Na ja. Das nannte man wohl eine psychische Extremsituation. Hendrik ging weiter, beschloss nun aber, direkt nach Hause zu gehen. Er musste sich hinlegen. Und den Abschiedsbrief und den Schreibblock musste er ja auch noch verschwinden lassen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass Mama oder Papa noch in sein Zimmer gingen und dann auch noch in seinen Sachen stöberten, doch an einem solchen Tag war nichts unmöglich. Wenn man schon einmal die Kacke am Schuh kleben hatte, sollte man das Schicksal nicht unnötig herausfordern.

Hendrik machte kehrt und sah in einigen Metern Entfernung einen Mann auf sich zukommen, der denselben Bürgersteig benutzte. Der Typ war offensichtlich nicht ganz bei der Sache. Es war doch das natürlichste auf der Welt, wenn sich zwei Leute auf einem schmalen Gehweg entgegen kamen, dass man den Blickkontakt suchte und an einander vorbei ging. Aber der Mann mit der Baskenmütze tat das nicht. Er schaute gedankenversunken an Hendrik vorbei. Hendrik wurde erst im letzten Augenblick klar, dass dieser Tagträumer ihm keinen Zentimeter Platz machen würde. Er versuchte noch auszuweichen, aber trotzdem stieß er mit der Schulter gegen dessen Oberarm. Das Entschuldigung, das Hendrik auf den Lippen lag, blieb ihm jedoch im Halse stecken. Der Rempler hätte eigentlich hart sein sollen. Doch er war ganz weich. So, als wäre der Arm des Mannes aus Gummi gewesen. Oder so einer Gallertmasse. Hendrik sah, wie der Typ den Kopf drehte und irritiert die Stirn in Falten legte, als er durch Hendrik hindurch blickte. Dann setzte der Mann seinen Weg fort und grüßte eine Frau auf der anderen Straßenseite.

Scheiße. Was war das denn eben? Hendrik beschleunigte seinen Schritt. Er wollte jetzt nur noch nach Hause gehen und sich in sein Zimmer verkriechen. Um seinen Geisteszustand stand es schlechter, als er es geglaubt hatte.

Alles in Ordnung, sagte er sich. Alles in Ordnung. Er war nur gestresst. Dieses widerwärtige Gummi-Gefühl des Mannes ließ ihn einfach nicht los. Zwei Damen kamen ihm entgegen. Frau Jettner und eine, deren Name er nicht kannte. Hendrik setzte sein Grüß-Lächeln auf, aber die Frauen beachteten ihn nicht. Sie nahmen, während sie tratschten, weiterhin die volle Breite des Gehwegs ein und kamen wie eine Mauer auf Hendrik zu. Dieses Mal reagierte er früher und konnte froh sein, dass gerade kein Auto kam. Denn Hendrik musste auf die Fahrbahn ausweichen.

„… hat der Manfred zu der Kerstin gesagt, und dann hat sie ...“, konnte Hendrik Frau Jettner sagen hören, als sie an ihm vorbei ging. Oder er vermutete, dass es Frau Jettner war. Ihre Stimme schien nämlich seltsam stumpf von überall her gleichzeitig zu kommen.

Alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung. Nur weil die Tratschtanten keine Augen im Kopf hatten, würde Hendrik sich sicher nicht verrückt machen.

Doch das war leichter gesagt, als getan. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Bei der nächsten Gelegenheit verließ Hendrik die Heumarktstraße und kam in die Weedstraße. Das war zwar ein Umweg, aber dafür war er jetzt in einer ruhigen Nebenstraße, in der er nicht unbedingt auf dem Bürgersteig gehen musste. Die Berührung mit diesem Mann von vorhin ließ Hendrik immer noch erschaudern. Auf keinen Fall wollte er noch einmal mit so einem ... Zombie ... zusammenstoßen. Nachdem er sich umgeschaut und bemerkt hatte, dass er hier alleine war, holte er tief Luft. Hendriks Sinne waren geschärft, wie nie zuvor in seinem Leben und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Die Welt um ihn herum ... Die Häuser mit ihren Gartenzäunen, die am Straßenrand geparkten Autos und der Kleinlaster – sogar der Zigarettenautomat an einer der Fassaden. Nichts war mehr so richtig dreidimensional. Umrisse waren nur schwer auszumachen und die Schatten wollten Hendrik Streiche spielen, als er versuchte, Entfernungen einzuschätzen und im geistigen Auge Kanten nachzuzeichnen.

Und die Luft ... Hendrik atmete bewusst ein und erkannte nun, was ihm schon die ganze Zeit in der Nase gelegen hatte. Oder eben nicht in der Nase gelegen hatte. Er hatte die Atemluft noch nie ganz geruchlos erlebt. Abgase, Pflanzen, vermoderndes Laub, Essen – selbst der Geruch von Menschen. Einen dezenten Aromen-Cocktail hatte es immer gegeben. Darüber wurde er sich erst jetzt bewusst, als dieser Mix nicht mehr da war. Die Luft war leer und tot.

Scheiße. Was was würde denn noch alles kommen? Die vor sich hin schwelende Panik ergriff nun endgültig Besitz von Hendrik und er rannte erst zögerlich, dann schneller los. Selbst der Hall seiner Schritte klang falsch, als er durch Deidesheim hetzte. Er wollte nur noch nach Hause, zu Mama und Papa. Sich ins Bett legen. Wenn er am nächsten Tag aufwachte, wäre bestimmt wieder alles gut. Hendrik nahm nun nicht mal mehr Rücksicht auf andere Passanten. Zweimal streifte er Menschen, die aber beide außer einem Kopf-Drehen keine Reaktion zeigten. Dann war er da. Endlich. Obwohl es noch nicht dunkel war, sah Hendrik durch das Fenster, dass im Wohnzimmer Licht brannte. Seine Knie wollten unter seinem Körper nachgeben, als er durch den Vorgarten zur Haustür ging. Aus irgendeinem Grund war Hendrik sich sicher, dass der Hausschlüssel nicht passen würde. Das Haus sah so fremdartig aus. So ähnlich wie das Haus, in dem er groß geworden war, aber doch nicht ganz. Wenn der Schlüssel nicht passte, dann ...

Der Hausschlüssel ließ sich problemlos ins Türschloss stecken und nachdem Hendrik ihn gedreht hatte, öffnete sich die Tür. Kurz hatte er die Hoffnung, dass jetzt alles gut sei. Aber auch drinnen war es nicht anders. Hendrik stieß mit der Hüfte gegen das Schuhschränkchen direkt neben der Haustür, an dem er zuvor tausende Male vorbei gegangen war. Denn es hatte auf den ersten Blick so gewirkt, als gehöre es zur Wand. Doch auch hier war der Aufprall viel weniger schmerzhaft, als er es hätte sein sollen. Aus dem Wohnzimmer – oder nein – von überall her drang das Fernsehprogramm. Es war gerade Nachrichtenzeit.

„Mama. Papa. Ich bin wieder hier.“

Hendrik ging ins Wohnzimmer und den Anblick, der sich ihm bot, konnte man fast als normal beschreiben. Mama lag jetzt nicht mehr auf dem Sofa, sondern sie saß. Auf dem Wohnzimmertisch stand vor ihr ein halb gefüllter Sektkelch, weil sie sich jeden Abend um 20 Uhr ein Glas davon genehmigte. Papa schaute aus dem Sessel halb interessiert, halb gelangweilt auf die Tagesschau im Fernseher und hielt in der Hand ein Wurstbrot, obwohl alle in der Familie wussten, dass Mama es nicht gerne hatte, wenn er das Wohnzimmer vollbröselte.

Doch auch hier steckte der Teufel im Detail. Was Hendrik sah, war eine Mischung aus einem bewegten Gemälde und der Realität. Wäre es nicht auch sein Wohnzimmer gewesen, so wäre es Hendrik schwer gefallen, abzuschätzen, wie weit seine Mutter auf der Couch eigentlich von ihm entfernt war. Es fehlten deutliche Ecken und Kanten. Und hier – zu Hause – vermisste er das vertraute Aroma von Heizungsluft, frischem Obst und seiner Familie schmerzlicher als irgendwo anders.

Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass seine eigenen Eltern Hendrik ignorierten. Papa schaute weiter auf den Fernseher, Mama reckte sich nach ihrem Sektglas, um daran zu nippen und die Gesprächsansätze verliefen, wie jeden Abend während der Nachrichten, stockend.

„Schon schlimm, was in der Welt passiert.“ Papas murmeln verschmolz so mit der Stimme des Nachrichtensprechers, dass es Hendrik schwer fiel, ihn zu verstehen.

Mama hob nicht einmal den Blick: „Hmh.“

„Wird immer verrückter.“

„Hmh.“ Mama nahm ein Schlückchen aus dem Glas, dann wandte sich doch ihrem Ehemann zu. „Sollen wir später nicht doch mal mit Hendrik reden?“

„Ach. Der kommt schon klar.“

Mama lächelte zaghaft: „Hoffentlich. Ich mache mir in letzter Zeit Sorgen um ihn, so wie er sich zurückzieht.“

Papa biss ins Wurstbrot. Mit vollem Mund war seine Stimme noch undeutlicher, als zuvor: „Das liegt an seinem Alter. Das erste Mal unglücklich verliebt vielleicht.“ Er warf einen Blick auf den Fernseher. „Außerdem ist er doch gerade bei Julian. Da kann von Zurückziehen keine Rede sein.“

„Du hast ja recht. Aber trotzdem.“

Papa lächelte Mama zu: „Okay. Wenn er später heim kommt, verdonnern wir ihn zum Familiengespräch.“

Sie grinste über diesen Ausdruck: „Danke.“

Jetzt konnte Hendrik nicht mehr anders. Er ging durch das Zimmer, kniete sich zwischen Sofa und Wohnzimmertisch neben seiner Mutter auf den Boden und legte seine Hand auf ihren Arm: „Mama. Ich bin doch hier.“

Igitt. Wie sich das anfühlte. Obwohl Hendriks Mutter lange Ärmel trug, fühlte sich ihr Arm durch den Stoff hindurch breiig an. Als hätte sie keine Knochen. Ehe er seine Hand zurückziehen konnte, hatte seine Mutter ihre Handfläche auf seinen Handrücken gelegt und das gab Hendrik den Rest. Er konnte den Würgereiz nicht mehr unterdrücken. Die Hand fühlte sich wie... wie ein mit Mettwurst gefüllter Latex-Handschuh an. Hendrik riss seine Hand zurück und wäre vom Schwung beinahe nach hinten umgekippt. Er atmete hektisch und hatte plötzlich den Geschmack von Erbrochenem im Mund. Tränen füllten seine Augen. Das war doch seine Mutter.

Hendrik stellte sich in die hinterste Ecke und betrachtete das Geschehen. Noch so eine Berührung gäbe ihm den Rest. Er sah, wie sich seine Mutter die Stelle am Arm rieb, an der er sie berührt hatte, während sie den Wetterbericht verfolgte. Irgendwie musste Hendrik es schaffen, auf sich aufmerksam zu machen. Am Besten, ohne Mama oder Papa noch einmal anfassen zu müssen. Was, wenn er den Fernseher ausschaltete? Würde das funktionieren? Hendrik bezweifelte das. Bei seinem Glück würde er einen Stromschlag bekommen. Aber was hatte er zu verlieren?

Es kostete Hendrik all seinen Mut, sich in Bewegung zu setzen und auf den Fernseher zuzugehen. Er wusste, dass er nicht viel erreichen konnte, selbst wenn es ihm gelänge, ihn auszuschalten. Aber zumindest wäre das der Beweis, dass es Möglichkeiten gab, um mit diesen Gespenstern, die seine Eltern waren, in Kontakt zu treten.

Hendrik stand nun direkt vor dem Fernseher. Eigentlich hätten Mama und Papa sich beschweren müssen, weil er im Bild stand, doch sie taten das nicht. Sein Finger näherte sich der Ausschalt-Taste, obwohl sich sein ganzes Wesen dagegen sträubte. Noch zwei Zentimeter – Einer.

Plötzlich klingelte das Telefon, und alle Spannung fiel von Hendrik ab. Er zog den Finger zurück, drehte sich um und betrachtete seinen Vater, wie er zur Vitrine ging und den Festnetz-Hörer abnahm.

„Leitner?“

Papas Gesicht wurde ernst, während er zuhörte.

„Ja. Genau.“

„Hendrik ist unser Sohn, das stimmt. Aber ...“

Mama blickte jetzt besorgt zu Papa.

„Nein, das kann nicht sein. Hendrik ist bei einem Freund. Julian Kruse.“

„Hm. Okay.“

Auf einmal schien Hendriks Papa so schwach zu sein, dass er es kaum noch schaffte, den Hörer zu halten: „Nein, Herr Menz. Ich glaube Ihnen.“

„Nein, ist nicht nötig. Wir machen uns selbst auf den Weg. Ludwigshafen, haben Sie gesagt?“

Während dieser Herr Menz redete, machte Hendriks Vater sich ungelenk Notizen.

„Gut. Danke.“

Dann steckte er den Hörer in die Ladestation und sah nun alt und verletzlich aus.

Seine Mutter saß dagegen kerzengerade auf der Couch und war sich wahrscheinlich selbst nicht darüber bewusst, dass sie noch das Sektglas in der Hand hielt: „Christian? Ist alles in Ordnung?“

„Nein.“ Die Sekunden, in denen Papa sich hilflos im Raum umschaute, zogen sich ins Unendliche. „Das war die Polizei. Hendrik ... hat sich etwas angetan.“

Das Sektglas in Mamas Hand fiel zu Boden und zersprang in tausend Scherben. Nicht einmal dieser komische Filter, der zwischen ihren Welten lag, schaffte es, das Grauen in ihrem Gesicht zu übertünchen: „Ist - ist er am Leben?“

Sein Vater schlüpfte schon in seine Halbschuhe: „Wir müssen nach Ludwigshafen. Da haben sie ihn hingebracht.“

„Christian. Ist – er – am – Leben?“

Papa schaute Mama mit leeren Augen an.

„Das wollte ich doch nicht“, stammelte Hendrik zu seinen Eltern, die ihn niemals hören würden. Erst jetzt, als sie mit dem blanken Grauen im Gesicht ihre Schuhe und ihre Jacken anzogen und niemand mehr Worte fand, wurde Hendrik richtig klar, was er da getan hatte. Seine Eltern, die er so liebte, würden nie mehr glücklich werden. Und das war alleine Hendriks Schuld.

Hendrik war zu Boden gesunken und saß nun zusammengekauert da, als seine Eltern das Haus verließen. Die Tränen hinterließen heiße Spuren auf seinen Wangen. Auch Tote können weinen, dachte er zusammenhangslos.

Die Zeit verging. Aber welche Rolle spielte Zeit hier schon. Der Fernseher war aus und seine Eltern hatten, bevor sie gegangen waren, auch das Licht ausgeschaltet. Doch trotzdem konnte Hendrik noch sehen. Obwohl es eigentlich hätte finstere Nacht sein müssen. Er ließ den Kopf durch dieses Grusel-Wohnzimmer kreisen und sein Blick fiel auf das Hendrik-Foto auf dem Sideboard. Der Rahmen stand noch und das Bild war auch noch drinnen. Aber die Farben waren so verwischt, dass man nur noch erahnen konnte, dass es einen Menschen im Portrait zeigte. Ausgetilgt, war Hendriks erster Gedanke.

Es kostete ihn mehr Kraft, als alles, was er jemals getan hatte, wieder aufzustehen. Er wollte das alles nicht mehr. Er wollte, dass alles wieder so käme, wie es einmal war. Auch wenn das wieder Mobbing, Demütigungen und grundlose Gewalt bedeutete. Aber Mama sollte doch wieder glücklich werden.

Hendrik dachte an den Abschiedsbrief in seinem Zimmer. Wenn es ihm gelänge, da noch etwas drauf zu schreiben? Vielleicht, dass er noch hier war - oder zumindest eine ehrlich gemeinte Entschuldigung. Er musste es zumindest probieren.

Schon auf dem Flur spürte er ein Kribbeln im Bauch, das sich mit jedem Schritt, den er der Zimmertür näher kam, verstärkte und ausbreitete. Hoch in die Brust. Es schnürte ihm den Atem ab, als sich seine Finger der Klinke näherten. Hendrik kämpfte dagegen an und schaffte es, die Tür zu öffnen. Das Zimmer war noch genau so, wie er es verlassen hatte. Sogar die Lavalampe war noch an. Auf dem Schreibtisch lag der Briefumschlag, der im Licht der Lampe eher lila als weiß wirkte. Und dahinter war auch noch sein Smartphone. Auch noch so eine Option. Hendrik wollte hingehen, aber mit jedem Schritt zog sich die Schlinge um seinen Brustkorb enger. Er keuchte und röchelte und war nicht einmal drei Schritte weit gekommen. Er versuchte noch einen Schritt. Aber das war unerträglich. Hendrik würgte und wäre beinahe über seine eigenen Füße gestolpert, als er rückwärts nach hinten eilte, um den Raum zu verlassen.

Doch auch zurück auf dem Flur hatte der Würgegriff nur so weit nachgelassen, dass er wieder einigermaßen atmen konnte. Ihm war übel und er hatte Atemnot. Es trieb ihn zurück zur Haustür, so, als wäre es das Haus selbst, das Hendrik loswerden wollte. Erst, nachdem er sich draußen in den Vorgarten hatte fallen lassen, wurde es besser. Er kniete auf allen Vieren im Gras und rang nach Luft. Sein Blick ging auf das Haus, das ihm mehr als 15 Jahre lang Schutz geboten hatte. Jetzt blickte es feindselig auf ihn herab.

Minuten später irrte Hendrik durch die Straßen dieser Geisterwelt, die ihm vorgaukeln wollte, seine Heimatgemeinde zu sein und doch nur einen lieblosen Abklatsch darstellte. Es waren zumindest weniger dieser. .. Gespenster ... unterwegs, als noch vorher, aber es waren immer noch zu viele. Hendrik fürchtete sich vor ihnen und noch mehr davor, sie zu berühren. Er musste hier raus. Es musste doch einen Ausweg aus diesem Horror geben. Doch er fand keinen Ausweg. Über Stunden trieb es ihn durch diese Deidesheim-Karikatur, in der er der einzige real existierende Mensch zwischen Geistern blieb. Das alles war zwar fürchterlich, aber nicht Furcht einflößend genug, als dass er sich traute, die Stadtgrenze hinter sich zu lassen. Hendrik wusste nicht, ob das zu den Regeln dieses scheiß Spiels gehörte oder ob es seine eigenen Ängste waren, die ihn in der Gemeinde hielten. Aber ein Gefühl sagte ihm, dass es kein Zurück mehr gäbe, wenn er einmal draußen war.

Es musste schon nach Mitternacht gewesen sein, falls Hendriks Zeitgefühl noch stimmte. Die Dämmerung hatte zwar immer noch nicht aufgehört, doch es waren auch keine Mensch-Kopien mehr unterwegs. Hendrik wusste nicht, ob er als Toter auch schlafen musste. Aber zumindest täte es ihm gut, wenn er sich irgendwo hinsetzen konnte, um sich auszuruhen. Das Haus seiner Familie fiel da flach. Und nach der Erfahrung, die er in seinem Zimmer gemacht hatte, wagte er es auch nicht zu versuchen, sich zu einem anderen Haus oder einer Garage Zutritt zu verschaffen. Doch das war auch nicht so wichtig. Hauptsache ein ruhiges Plätzchen, an dem kein Risiko bestand, dass eines dieser Gespenster aus Versehen auf ihn drauf trat. Hendrik dachte an den Bulscher-Park, eine Grünanlage im Zentrum Deidesheims. Da würde er sich unter einen Baum legen und versuchen, ein bisschen zu schlafen. Er hatte die Hoffnung nämlich immer noch nicht aufgegeben, dass sich das alles, wenn er wieder aufwachte, als ein böser Traum heraus stellte.

Endlich mal eine sinnvolle Idee. Die Straßen waren nun wie ausgestorben, was für Hendrik zumindest eine kleine Erleichterung war. Sein Gang war deshalb auch ein wenig schwungvoller, als er von der Weinbergstraße in die Königsgartenstraße kam. Direkt an einer Hausfassade bog er in einen Fußgängerweg ein und dann kam schon ...

„Aaah!“

Der Zusammenprall kam aus dem Nichts. Hendriks Backenzähne knallten aufeinander. Ihm presste es die Luft aus den Lungen, aber zumindest seine Stirn traf auf etwas nachgiebiges.

„Aua! Pass doch auf!“ Zwei schwarzbraune Augen funkelten ihn erschrocken an.

„Sorry. Du ...“ Hendrik starrte den Kerl vor sich mit offenem Mund an. Es war ein Junge, etwa in seinem Alter, der aber einen halben Kopf größer war und nicht so schmächtig. Und er war real. Die dunklen Haare, die ihm in die Stirn hingen, setzten sich erkennbar ab und alle Konturen seines Gesichts, seiner Gestalt und seiner Kleidung waren da. Er hatte sogar einen vielschichtigen Körpergeruch.

Hendrik tippte seinem Gegenüber mit dem Zeigefinger vorsichtig an die Schulter. „Bist du echt?“

„Ja, verdammt. Und meine Nase auch.“ Um seine Worte zu unterstreichen, rieb der Junge sich mit der Hand seine Nase, gegen die Hendrik mit der Stirn gestoßen war.

„Tschuldigung.“

Der fremde Junge guckte Hendrik noch einen Augenblick beleidigt an. Dann wurde sein Blick sanfter und er seufzte: „Schon gut, war ja auch meine Schuld.“ Er kam ins Stocken und schaute sich um: „Wo bin ich hier eigentlich?“

„Deidesheim.“

„Aha. Okay. Deidesheim.“

Hendrik kostete es Mühe, bei dem verpeilten Blick ernst zu bleiben: „Ja, Deidesheim. Wie lange bist du eigentlich schon hier?“

„Keine Ahnung. Kann mich nicht erinnern.“ Hendriks Gegenüber hörte nicht auf, den Kopf kreisen zu lassen und stellte vielleicht gerade dieselben Merkwürdigkeiten fest, über die sich auch Hendrik schon den Kopf zerbrochen hatte.

„Und wo kommst du her?“

„Ich ... weiß nicht genau. Und du?“

„Ich komme von hier“, erklärte Hendrik. „ Bin vorhin gestorben.“

„Ah ja. Gestorben.“

„Ehrlich. Das stimmt.“

Der dunkelhaarige Junge antwortete zwar nicht, schaute Hendrik aber mit humorvoll zweifelnden Augen an.

„Hey. Ich bin nicht verrückt“, wollte sich Hendrik rechtfertigen und schaffte es nicht so richtig, sich das Lachen zu verkneifen.

Der Dunkelhaarige ließ sich von Hendriks Lächeln anstecken: „Ich hab doch gar nicht behauptet, dass ich dich für verrückt halte.“

„Aber du hast es gedacht.“

Bei beiden wackelten die Mundwinkel, ehe sie sich offen anlachten. Im wahrsten Sinne des Wortes freundschaftlich. Beide Jungs tauten nun langsam auf.

„Na gut. Hundert Punkte für dich, toter Junge. Aber du hast doch auch wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Er legte Hendrik die Hand in den Nacken und knetete ihn dort liebevoll. „Wie sollten wir uns denn bitteschön unterhalten, wenn du tot bist.“

„Hm. Weiß auch nicht so genau.“ Auf einmal ging Hendrik ein Licht auf. „Ach so ... Dann bist du bestimmt auch tot.“

Der Dunkelhaarige schüttelte unsicher lachend mit dem Kopf: „Das kann gar nicht sein.“

„Und wieso nicht?“

Hendrik konnte förmlich mit ansehen, wie es hinter der Stirn des Jungen zu arbeiten begann. Dann huschte ein siegessicherer Glanz durch dessen Gesicht: „Überleg doch mal, Kleiner. Da machen sich die Menschen seit Jahrtausenden Gedanken darüber, wo sie nach ihrem Tod hinkommen. Und du willst mir jetzt erzählen, dass die Antwort Deidesheim lautet? Wenn das stimmt, trete ich aus der Kirche aus. Das kannst du mir aber glauben.“

Eines musste ihm Hendrik lassen. Das Argument war einleuchtend: „Hmmm ... ja ... Oder komatös. Vielleicht liegst du im Koma.“ Hendrik lächelte vorsichtig. „Das würde auch besser zu Deidesheim passen.“

Der Dunkelhaarige versuchte mit mäßigem Erfolg genervt zu gucken, als er sich mit der flachen Hand an die Stirn klatschte: „Man glaubt es nicht. Der tote Junge hat tatsächlich Humor.“

„Ja.“

„Aber hör jetzt mal auf, deine Spinnereien zu verbreiten. Sonst glaube ich den Quatsch am Ende noch selbst.“

„Wie du willst. Ich bin übrigens Hendrik.“

„Und ich bin ... Marcel ... oder so ähnlich.“

„Alles klar, Marcel oder so ähnlich. Und was machen wir jetzt?“

Die Antwort lag auf der Hand. Hendrik gab Marcel eine Führung durch sein Gruselkabinett. Während Marcel immer schweigsamer wurde, empfand Hendrik ein unbeschreibliches Gefühl der Erleichterung. In Begleitung dieses Jungen, der größer war als Hendrik und dazu noch nett, hatte der Alptraum auf einmal einen Großteil seines Schreckens verloren.

„Echt crazy hier“, murmelte Marcel manchmal vor sich hin. Und den Clou dieser Zwischenwelt – die Menschen – hatte er bis jetzt noch gar nicht zu Gesicht bekommen.

Das sollte sich aber bald ändern. Hendrik und Marcel kamen nun nämlich in die Burggasse und schon bevor sie sie sahen, konnten sie mehrere Leute hören, die sich unterhielten. Zwar hörbar betrunken, aber dafür umso lauter. Akustisch ließ sich die Richtung, aus der das Gegröle kam, zwar nicht ausmachen, doch Hendrik kannte seine Heimatstadt gut genug und musste nur Eins plus Eins zusammenzählen. Und als die Beiden um die nächste Ecke bogen, bestätigte sich sein Verdacht. Dort gab es nämlich eine Kneipe – die Rose –, die aber alle nur den 'Erwin' nannten. Eine dieser Spelunken, in denen man immer dieselben Schnapsnasen antraf. Egal, ob man vormittags um Zehn oder abends um Elf nachschaute.

Es waren nur zwei dieser Alkis, die aber Krach für zehn machten, die mit Zigaretten zwischen den Fingern vor der Kneipe auf der Straße standen und Pläne schmiedeten, wie es mit dem 1. FC Kaiserslautern wieder aufwärts gehen könnte.

Marcel schaute in deren Richtung: „Ist dir schon diese komische Akustik aufgefallen?“

„Ja. Kommt einem so vor, als ob es von überall her gleichzeitig kommt. Aber es wird noch besser. Die können uns nicht sehen.“

„Ja klar.“ Marcel lachte nervös.

„Echt.“

Der dunkelhaarige Junge schüttelte den Kopf und ging direkt auf die Raucher zu.

„Hey. Bleib hier“, rief ihm Hendrik nach. Doch als Marcel nicht auf ihn hörte, folgte Hendrik ihm widerwillig.

Je näher Marcel kam, umso langsamer wurde er. Die letzten Schritte ging er im Schneckentempo, dann stellte er sich so zu den beiden, als gehöre er dazu: „Äh ... Entschuldigung?“

„Do gehäät mo än noiä Träänä noo“, motzte einer der Beiden den anderen in tiefstem pfälzischen Dialekt an und zog an seiner Kippe, anstatt Marcel zu beachten.

Hendrik war zwei Schritte hinter Marcel stehen geblieben. Als der Typ den Qualm auspustete, zog die blaue Rauchwolke voll über Hendrik und Marcel hinweg, aber es war nichts davon zu riechen.

„Haaalloooo.“ Marcel hielt jetzt die Hand in Gesichtshöhe zwischen die Zwei und schwenkte sie wie eine Schranke auf und ab. Dann drehte er sich zu Hendrik um: „Das gibt’s doch nicht.“

„Doch. Jetzt komm endlich“, antwortete Hendrik schärfer, als er es wollte. Er wollte nur noch wegkommen und Marcel auch vor einer Berührung bewahren. Marcel machte sogar Anstalten, wegzugehen. Doch als er gerade zum Schritt ansetzte, ging so etwas wie ein Ruck durch sein Gesicht. Er drehte sich wieder um und tippte einem der Saufbolde auf den Rücken.

„Bäh!“ Marcel verzog angewidert das Gesicht und schüttelte seine Hand so, als ob er sich die Finger verbrannt hätte. Der Trinker drehte den Kopf, nur um sich einen Augenblick später wieder auf seinen Gesprächspartner zu konzentrieren.

In Marcels Gesicht stand der pure Ekel, als er sich Hendrik zuwandte: „Mist! Du hättest mich zumindest warnen können!“

„Hab ich doch.“

Marcel rang nach Luft: „Okay, okay. Hast recht ... Mann ... Alter. Was war das den eben?“

„Ich weiß nicht. Das war bis jetzt aber bei allen so.“

Die Zwei gingen weiter und es breitete sich wieder Schweigen aus. Hendrik wusste, dass Marcel ein paar Minuten brauchte, um sich von dem Schock zu erholen. Und auf den Schock folgte die Erkenntnis. Was für Marcel sogar noch schlimmer war.

„Wir sind unsichtbar“, murmelte er vor sich hin und starrte auf den Boden.

„Ja. Wir gehören nicht mehr dazu.“

Die beiden gingen weiter und wieder folgte ein langes Schweigen, das Marcel nach mehr als einer Minute durchbrach: „Meinst du, mir ist wirklich etwas passiert?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Hendrik betont tröstlich und dachte: Bestimmt.

„Wow. Echt heftig.“

Hendrik legte einen Arm auf Marcels Rücken, und die Beiden trotteten weiter durch die ewige Dämmerung.

„Kannst du dich eigentlich daran erinnern, wie du gestorben bist, Hendrik?“

„Ja. Ich hab mich umgebracht.“

Marcel kam kurz ins stocken, aber dann gingen sie weiter.

„Ich glaube, ich muss mich mal hinsetzen.“

Hendrik ging natürlich auf Marcels Wunsch ein. Ohne, dass ein weiteres Wort geredet wurde, führte er seinen Begleiter zum Bulscher-Park. Und so, wie es Hendrik vor der Begegnung geplant hatte, setzten sie sich gemeinsam unter einen Baum und lehnten sich an den Stamm.

Eine Weile redeten sie nicht miteinander. Dafür genoss Hendrik die körperliche Nähe zu Marcel, als sie Schulter an Schulter dasaßen.

Nach einer Weile regte sich Marcel: „Und du ... Hast du wirklich versucht, dich umzubringen?“

„Ja. Ich habe mich umgebracht. Hab mir die Pulsader aufgeschnitten.“

Hendrik hielt Marcel sein Handgelenk mit den wenig beeindruckenden roten Kratzern entgegen und Marcel ergriff den Unterarm. Es war ein schönes Gefühl, als er mit seinen Fingerkuppen über die Stelle strich.

„Sieht aber nicht so schlimm aus.“ Marcel drückte sich fester an Hendrik. „Möchtest du mir erzählen, warum du das getan hast?“

„Nein. Lieber nicht.“

Marcels Finger streichelten weiter über das Handgelenk. Lange passierte nichts. Doch dann öffnete sich Hendrik zum ersten Mal einem anderen Menschen: „Begonnen hat alles, weil ich mich verliebt habe.“

Marcel stieß ein humorloses Lachen aus: „Klar. Natürlich.“

„Nein, nicht so wie du denkst. Ich habe mich in Julian verliebt. Meinen besten Freund.“

Hendrik hielt inne und wartete auf Marcels unvermeidliche abfällige Reaktion. Doch Marcel streichelte nur weiter über Hendriks Handgelenk und den Handteller und gab Hendrik die Zeit, die er brauchte, um seine Gedanken zu sortieren.

 

Hendriks persönliche Hölle hatte vor nicht ganz zwei Monaten begonnen, Form anzunehmen. Vorher war seine Welt in Ordnung gewesen. Zwar war er klein, schmächtig und schüchtern, doch dafür auch leicht zu übersehen. Er war ein Außenseiter, wurde aber in Ruhe gelassen. Sein einziger Freund war sein Klassenkamerad Julian. Auch jemand, der mit seinen rotblonden gescheitelten Haaren, seiner Brille und seinem Nullsinn für Mode von den Meisten nicht besonders ernst genommen wurde. Im Gegensatz zu Hendrik litt Julian aber unter seiner Außenseiterrolle. Er war immer bemüht, sich einzuschmeicheln, stellte sich dabei aber meistens blöde genug an, um sich zum Affen zu machen.

Anfangs war das Verhältnis zwischen Julian und Hendrik eher eine Schicksalsgemeinschaft der Eigenbrötler gewesen. Doch es entwickelte sich daraus eine richtige Freundschaft. Hendrik verbrachte fast jeden Nachmittag bei Julian oder Julian bei ihm. Das waren immer schöne Zeiten gewesen.

Trotz aller Verletzungen erinnerte sich Hendrik auch jetzt noch, als er neben Marcel in einer toten Welt unter einem Baum saß, gerne daran, wie er und Julian wenige Monate zuvor manchmal nebeneinander mit Konsolen in der Hand auf dem Fußboden saßen, um Playstation zu spielen. Oder wie sie herum alberten. Es wurde für Hendrik, genauso wie auch für Julian zum besonderen Vergnügen, sich Spaßkämpfe zu liefern, die stehend, auf dem Boden begannen und die dann irgendwann unter lautem Lachen auf der Matratze endeten. Mit der Zeit waren diese Ausklänge dann immer zärtlicher geworden. Und nach und nach hatten sie ihren anderen Freundschafts-Spaß, sich gegenseitig mit den Händen zu befriedigen, daran angeknüpft.

Für Hendrik war es bei dieser Entwicklung nur logisch gewesen, irgendwann einmal einen Schritt weiter zu gehen. Julian war für ihn nämlich inzwischen schon mehr als ein Freund gewesen und er war sich sicher, dass Julian nicht anders empfand.

Die Wendung kam an einem Montag Nachmittag. Julians Eltern waren an diesem Tag beide noch arbeiten, während Hendrik bei Julian in dessen Zimmer war, um mit ihm gemeinsam Hausaufgaben zu machen. Aber wie so häufig waren sie mit den Aufgaben nicht weit gekommen. Die offenen Hefte lagen auf dem Schreibtisch, während Julian und Hendrik nebeneinander im Schneidersitz auf dem Boden saßen und sich beim WWE-Wrestling gegenseitig bekämpften. Der Raum und das ganze Haus war von überdrehtem Lachen erfüllt. Und als, nachdem Julian gewonnen hatte, die beiden Jungs versuchten, den Kampf in Julians Zimmer nachzustellen, wurde das Gelächter nicht leiser.

Dieses Mal hatte Hendrik die Oberhand, wobei es ihm Julian aber auch nicht schwer machte. Nach wenigen Minuten hatte Hendrik Julian mit dem Rücken aufs Bett genagelt und lag mit vollem Gewicht Bauch an Bauch auf ihm drauf.

„Gibst du auf?“, kicherte Hendrik, während er seinen Freund mit den Händen an dessen Ellbogen auf der Matratze fixierte und sich an ihm räkelte.

„Vergiss es, du Lauch“, lachte Julian mit rotem Kopf unter ihm. Sein halbherziger Befreiungsversuch sorgte nur dafür, dass die Jungs mit den Hüften aneinander rieben und sich gegenseitig erregten. Ohne dass Julian und Hendrik es jemals angesprochen hätten, war das jedoch genau so beabsichtigt.

Wie schon in den Tagen und Wochen zuvor wurde der Kampf nun sehr gefühlvoll. Julian hatte seine Arme um Hendriks Rücken geschlungen und Hendrik streichelte Julian durchs Haar. Die Jungs genossen es einfach sich zu berühren.

Dann tat Hendrik den entscheidenden Schritt. Er legte seine Lippen auf Julians erhitzte Wange, nahm das Gefühl der Haut in sich auf und flüsterte: „Ich liebe dich, Julian.“

„Was?“, keuchte sein Freund stimmlos.

Hendrik gab ihm einen zarten Kuss auf die Nasenspitze: „Ich liebe dich.“

Nun packte Julian Hendrik mit den Händen unter den Achseln und schob ihn umständlich von sich runter: „Geh weg, du Sau. Ich bin doch keine Schwuchtel.“

„Mann Julian. Du ...“

„HAU AB! Und lass mich in Ruhe.“

Julian krabbelte vom Bett und schob Hendrik, der sich nun auf dem Bett aufgerichtet hatte, mit den Füßen seine Sneaker entgegen. Und weil Hendrik nie gut darin war, sich Konflikten zu stellen, schnürte er im nächsten Moment unter Julians verächtlichem Blick seine Schuhe zu und verließ danach das Haus.

An diesem Abend hatte Hendrik sich die Seele aus dem Leib geweint. Er hatte noch oft versucht, sich bei Julian zu entschuldigen. Doch Julian ging nicht ran und die Whatsapp-Nachrichten beantwortete er auch nicht. Doch am nächsten Tag würde Hendrik Julian ja wieder in der Schule sehen. Er hatte sich alles zurechtgelegt. Nette Worte. Versöhnliche Worte. Julian war ja kein Unmensch, sondern sein bester Freund. Er würde Hendrik seine Verfehlung bestimmt verzeihen.

Doch es kam anders. Als Hendrik am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat, stand Julian bei der Clique um Maurice, Dennis und Justin – drei unangenehmen Zeitgenossen. Das wunderte Hendrik. Denn das waren genau die Jungs, die immer am meisten Spaß daran hatten, Julian fertig zu machen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

Hendriks Zwerchfell verkrampfte sich. Die Blicke seiner Klassenkameraden schienen ihn durchbohren zu wollen, sobald er über die Schwelle getreten war.

„Da ist ja der kleine Arschficker. Hätte man dir gar nicht zugetraut, Hendrik“, rief ihm Maurice gut gelaunt entgegen und erntete dafür Gelächter seiner Freunde und auch anderer Klassenkameraden. Das war schon schlimm genug. Aber das Lächeln in Julians Gesicht ließ es Hendrik eiskalt den Rücken runter laufen. Völlig überfordert und geduckt wollte Hendrik zu seinem Platz gehen. Natürlich neben Julian. Aber Sandro, der Klassensprecher, stellte sich ihm in den Weg.

Seine Stimme war sogar freundlich, als er Hendrik an der Schulter hielt: „Du setzt dich nicht mehr neben Julian.“

„Was?“ - Hendrik hätte jetzt losheulen können.

„Er hat uns gesagt, dass du versucht hast, ihn zu ficken. Du kannst dich bei Julian bedanken, dass er nicht die Polizei gerufen hat.“ Sandros Finger kneteten an Hendriks Schulter. „Jetzt hör mir gut zu, Freundchen: Du lässt ab sofort die Finger von ihm. Sonst regeln wir das auf unsere Weise.“

„Ich hab doch nur ...“ - setzte Hendrik an. Doch der Blick, mit dem Sandro ihn festnagelte, ließ ihn verstummen. Hendrik senkte den Kopf und ging nach hinten links, wo das Büßer-Bänkchen noch frei war. Dort, wo er ab sofort bis zuletzt seine Schultage verbringen sollte. Sein Blick traf den von Julian und Hendrik glaubte sogar, so etwas wie ein schlechtes Gewissen darin lesen zu können. Aber Julian stand nun endlich einmal im Mittelpunkt. Und das war ihm der Verrat wert.

 

„Tut mir leid“, murmelte Marcel nun mit leiser Stimme in der Deidesheimer Schattenwelt. Während Hendrik die Worte vor sich hin gemurmelt hatte, hatte Marcel seine Hand an Hendriks Wange gelegt und dessen Kopf sanft an seine Schulter gedrückt.

„Danke“, flüsterte Hendrik und kuschelte sich an Marcel. Er wusste, dass Marcel das ehrlich meinte. Deshalb erzählte er auch weiter. Bis zu jenem Dienstag - ein Tag, bevor er Maurice' Schuh geleckt und Selbstmord begangen hatte. Von dem Geschehen, das er eigentlich unausgesprochen hatte mit ins Grab nehmen wollen.

 

Hendriks wohlbehütetes Leben war von einem Moment auf den anderen zum Horror geworden. Obwohl Julian manchmal halbherzig versuchte, seine Lüge wiedergutzumachen, blieb der Ruf, ein perverser Schwuler zu sein, wie Kaugummi an Hendrik kleben. Er war im wahrsten Sinne des Wortes zum Abschuss frei gegeben. Nicht alle beteiligten sich von Anfang an an dem Mobbing, das vor allem Maurice, Dennis und Justin Tag für Tag voran trieben, aber es gab auch niemanden, der ihm half. Die Vernünftigen standen ihm eher mit Weisheiten wie Da bist du selbst schuld oder Wenn man halt so schwanzgesteuert ist zur Seite und fanden es auch ganz witzig, wenn der Schwuli einen Satz heiße Ohren bekam.

Im Laufe der Tage und Wochen gingen die Diskriminierung auch über die Klassenzimmergrenze hinaus. Nun wurde sogar der Weg durch die Flure der Schule zum Spießrutenlauf. Schüler aus den tieferen Klassenstufen konnten sich profilieren, wenn sie einen Älteren fertig machen, und es kam auch öfters als einmal vor, dass unvermittelt jemand Hendrik in den Rücken sprang, so dass es ihn der Länge nach auf den Boden legte. Und immer und immer wieder - bei jeder Gemeinheit, die er erdulden musste - dieses Gelächter von allen Seiten. Und niemand, der Hendrik zur Seite stand.

Den Gedanken, Selbstmord zu begehen, hatte Hendrik in dieser Zeit immer mit sich getragen. Fast schon wie ein Schutzschild für seine Seele. Die Gewissheit, dass es einen Ausweg gab, wenn es gar nicht mehr ginge, war für ihn ein Trost. Anfangs trug er diesen Gedanken eher zur Beruhigung bei sich. Doch später, als das Mobbing eine Eskalationsstufe nach der anderen übertrat und dabei kein Ende in Sicht kam, wurde die Idee zu einer immer süßeren Verlockung.

Am Ende stand dieser schreckliche Dienstag. Dienstags standen im Mittagsunterricht zwei Sportstunden auf dem Plan. Sportunterricht alleine war ja schon übel, aber als Hölle hatte sich das Umziehen danach entpuppt. Bei der Umkleide der Schulsporthalle gab es nämlich auch eine Sammeldusche und es gehörte dazu, dass sich die Schüler nach dem Sport duschten. Für Hendrik bedeutete das, dass er beschimpft und angeschrien wurde, wenn er als Schwuchtel mit den anderen Jungs nackt im Duschraum stand. Und als er einmal darauf verzichtet hatte zu duschen, wurde er von denselben Leuten als Stinkbock verspottet.

An jenem Dienstag hatte sich Hendrik eine neue Taktik ausgedacht, die er probieren wollte. Er half nach dem Unterricht freiwillig dem Sportlehrer, das Reck abzubauen und die Sachen zu verstauen. Hendrik wusste zwar, dass er sich nun 'Schleimer'-Sprüche anhören musste, aber das war es ihm wert. Sein Timing schien auch nicht schlecht gewesen zu sein. Nachdem er die Treppen aus der unterirdisch gelegenen Sporthalle hoch gekommen war und den Umkleideraum betrat, waren seine Schulkameraden mit dem Duschen schon fertig. Manche waren schon dabei, sich anzuziehen, andere waren aber noch nackt und trockneten sich ab. Hendrik war nun sehr bemüht, keinen der nackten oder halbnackten Jungs anzusehen. Er ging an ein abgelegenes Plätzchen der vier Holzbank-Reihen und versuchte sich so zu verhalten, als ob er gar nicht da wäre, während er sich die Kleidung abstreifte.

Doch Hendriks Platz war so schlecht gewählt, dass er, um zum Duschraum zu gelangen, nackt mit dem Duschgel in der Hand wie in einem Spalier durch die Reihen seiner Mitschüler gehen musste. Hendrik hatte den Kopf gesenkt und fixierte mit dem Blick seine Fußspitzen während er ging. Jedes Schielen konnte ihm nun zum Verhängnis werden, das wusste er.

Er hatte es fast geschafft. Dann war es Dennis: „Hey! Hast du mir gerade auf den Schwanz geguckt, du schwule Sau?“

„Nein. Ich hab ...“ - Weiter kam Hendrik nicht. Dennis hatte sein Handtuch genommen und damit nach ihm geschlagen. Hendrik stöhnte vor Schmerz und fühlte sofort, wie die Haut an seinem Bauch, seiner Seite und dem Arm zu brennen begann.

Er schaute Dennis mit Tränen in den Augen an. Und dann ging es ab. Jemand anderes – natürlich Maurice - schlug mit voller Kraft sein Handtuch auf Hendriks Rücken – ein Knall, wie ein Pistolenschuss. Hendrik stieß einen hellen Schrei aus und auf einmal waren es vier oder fünf Leute, die mit ihren Handtücher auf ihn eindroschen. Er versuchte, sich zum Klo zu retten, um sich dort einzuschließen, aber Dennis stellte sich ihm in den Weg. Er schlang seinen Arm um Hendriks Genick, nahm ihn in den Schwitzkasten und drückte seine Hand auf dessen Mund, um die Schreie zu dämpfen. Die Handtuchschläge droschen jetzt wie Artilleriefeuer auf Hendriks Rücken, Po und Oberschenkel ein und einer oder Zwei schlugen auch mit den flachen Händen zu. Das aufgekratzte Lachen seiner Mitschüler und das Knallen der Hiebe auf Hendriks Haut übertönten seine abgewürgten Schreie und Hilferufe um ein Vielfaches. Wie viele es inzwischen waren, die auf ihn einschlugen, konnte Hendrik nicht einmal erahnen. Zwischendurch waren immer wieder fröhliche Ausrufe wie „Schinkenklopfen“, oder „Gay-Bashing“ zu hören, und nach einer dreiminütigen Ewigkeit war der Spaß vorbei.

Hendrik sank in sich zusammen, als Dennis ihn los ließ. Auf allen Vieren krabbelte er unter dem Gejohle seiner Mitschüler in seine Ecke zurück, wo er sich zusammenkauerte. Seine Haut brannte wie Feuer, sein Genick fühlte sich verstaucht an, und seine Seele war gebrochen.

Wie von weit her hörte er Justin zu jemandem sagen: „Am Freitag müssen wir aber die Handtücher nass machen. Das zieht dann besser.“

Zustimmendes Lachen.

Genau das war der Moment, an dem Hendrik den Beschluss fasste, am Freitag nicht mehr zu leben.

 

Marcel, der sich das alles angehört hatte, ohne Hendrik zu unterbrechen, hatte das Gefühl, seine Kehle wäre zugeschnürt. Das Bild in seinem Kopf trieb ihm Tränen in die Augen. Wie Hendrik – der Kleinste und Schwächste der Klasse – nackt und mit roten Striemen übersät mit angezogenen Beinen und in die Arme vergrabenem Gesicht schluchzend in der Ecke kauert. Manche Schüler lachen, johlen und schmieden Pläne für die nächste Abreibung. Andere ziehen sich schweigend und verschämt ihre Sachen an. Keiner hatte Hendrik geholfen. Und wahrscheinlich würden manche derer, die an diesem Tag nur zugeschaut hatten, beim nächsten Mal dabei sein. Schon alleine, weil die Schande leichter zu ertragen war, wenn man sich selbst daran beteiligte.

 

Hendrik hatte nun wieder zu weinen begonnen. Die Erinnerung hatte alles wieder lebendig werden lassen. Er drückte sein Gesicht an Marcels Schulter und nuschelte: „Ich will da nicht mehr hin.“

„Das musst du nicht.“

Marcel streichelte Hendrik über den Hinterkopf, woraufhin Hendrik den Kopf hob und Marcel aus geröteten Augen anschaute: „Ich bereue es trotzdem, dass ich mich getötet habe.“

„Schschsch. Was geschehen ist, ist geschehen“, flüsterte Marcel. Dann legte er seine Lippen auf Hendriks Wangenknochen und folgte damit der Spur einer frischen Träne in die Nähe des Mundwinkels. Hendrik musste seinen Kopf nur leicht drehen, dann lagen ihre Lippen aufeinander. Wie echt sich das anfühlte. Marcels Lippen waren zwar weich, aber doch zu spröde, um an einen Traum zu glauben. Hendrik fühlte, wie Marcels Atem an seiner Haut kitzelte. Wie seine Zunge an Hendriks geschlossene Lippen stupste. Er öffnete seine Lippen einen Spalt und dann tippten ihre Zungenspitzen aneinander.

Der Kuss war nicht stürmisch, sondern schüchtern und verspielt. Wenn er Marcel doch nur schon zu Lebzeiten begegnet wäre, dachte Hendrik. Dann hätte er sich bestimmt nicht das Leben genommen. Der Kuss endete und Hendrik und Marcel kuschelten sich eng aneinander.

Ich liebe ihn, dachte Hendrik und das war sein Ernst. Dass er Marcel erst seit einer Stunde kannte, spielte dabei keine Rolle. Hendrik schloss die Augen und konnte nun sogar Marcels Herzschlag durch die Kleidung hindurch fühlen. Ein Gefühl der Geborgenheit, wie es Hendrik noch nie erlebt hatte, umschloss sein Herz. Es verging viel Zeit des Schweigens und des Genießens. Dabei setzte fast unmerklich eine Veränderung ein.

„Fühlst du das?“, hauchte Marcel wie im Traum.

„Ja. Es ist wunderschön.“

Hendrik fühlte es tatsächlich. Ein Nebel legte sich stofflich wie Watte um seinen Körper und in seinen Kopf. Er wurde leicht. Es war, als ob er jeden Moment anfinge zu schweben. Bestimmt würde er sehen, wie er und Marcel verblassten, wenn er jetzt die Augen öffnete. Da war sich Hendrik sicher. Das war nämlich das Ende und es war tröstlich, es gemeinsam mit Marcel zu begehen.

„Sehen wir uns wieder?“, hörte Hendrik sich selbst von weit her fragen.

Er erwartete keine Antwort. Obwohl er Marcel noch immer fühlte, trieben ihre Seelen mit Lichtgeschwindigkeit auseinander. Hendrik hatte seinen Körper verlassen. Er glitt davon und seine Gedanken, seine Erinnerungen und seine Existenz lösten sich in dem Nebel auf, der ihn umgab.

„Wer weiß.“ Marcels Stimme war nicht mehr als ein Schatten und es war die letzte Empfindung, die Hendrik erreichte. Dann war es zu Ende. Er war frei. War erlöst.

 

Durst. Es war, als trete ein Geist aus einem Nebel hervor. Die Empfindungen nahmen fließend Gestalt an. Er wusste weder, wer er war, noch wo er war. Es gab nur Kopfschmerzen, dieses furchtbare Jucken am Handgelenk und Durst. Wispernde Stimmen um ihn herum. Etwas piepte in nicht ganz regelmäßigen Abständen und abgestandene Luft legte sich in seine Atemwege.

Nur die warme Hand, die seine Finger umschloss, strahlte etwas wie Beruhigung aus. Marcel, dachte er zusammenhangslos. Er hob die Augenlider, wurde von kaltem Licht geblendet und schloss sie sofort wieder. Beim nächsten Versuch war er vorsichtiger und es funktionierte besser. Er sah eine Zimmerdecke über sich, die so weiß war, dass seine Augen brannten. Es fiel ihm schwer, seinen Kopf auch nur ein bisschen zu drehen. Doch er schaffte es. Das Gesicht, in das er nun blickte, holte ihn endgültig zu den Lebenden zurück.

„Mama“, flüsterte Hendrik kaum hörbar.

Er fühlte, wie sich der Druck der Finger an seiner Hand kurz verstärkte, dann trafen sich ihre Blicke.

„Hendrik.“ Seine Mutter brach in Tränen aus und auch Papa trat in Hendriks Sichtfeld, als er sich über ihn beugte, um ihm die Wange zu streicheln. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und auch er weinte.

Hendrik brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, was geschehen war. Die Erinnerungen kehrten zurück. Wie er Deidesheim hinter sich gelassen hatte, sich vor dem Liebespaar versteckte und an die Schmerzen, als er sich die Pulsader aufgeschnitten hatte. Und das beruhigende Gefühl, wie er dort oben in den Weinbergen in der Dunkelheit versank, aus der er jetzt – scheinbar wenige Sekunden später - wieder herausgerissen worden war.

„Mama. Es tut mir leid. Ich liebe euch doch“, nuschelte Hendrik gegen seine trockene Kehle an. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, denn es fiel ihm noch immer schwer, sie offen zu halten.

„Pschschscht. Du bist jetzt wieder bei uns, mein Schatz. Nur das ist wichtig.“ Eine Träne löste sich von ihrer Wange und tropfte neben Hendrik auf den Bettbezug.

Ein Mann in weißem Kittel war nun dazu gekommen und hatte Hendrik beruhigend eine Hand auf die Stirn gelegt. An Hendriks linkem Handgelenk war ein Verband angebracht, unter dem es an einer Stelle juckte, als krabbelten dort Ameisen. In seiner rechten Armbeuge steckte eine Infusionsnadel, durch die eine tiefrote Flüssigkeit aus einem Beutel in seine Vene floss.

Papa hatte nun ein Glas Wasser besorgt und half Hendrik beim trinken. „Alles wird jetzt gut. Das verspreche ich dir“, flüsterte er.

Hendrik lächelte sanft – fast so, als ob er fühlte, wie ganz nah ein dunkelhaariger Junge unbemerkt und allen Prognosen zum Trotze die Augen öffnete. Denn er glaubte seinem Vater.

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