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Regenbogenfamilie

Kapitel 2 - Erinnerungen

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Irgendetwas weckte mich und ich dachte für mich, ich bin doch kaum im Bett und bestimmt eben erst eingeschlafen, jetzt das, was ist denn wieder los. Ich riskierte einen Blick zum Wecker und stellte fest, dass ich doch einige Stunden ruhig geschlafen haben musste, immerhin war es schon nach neun Uhr. Der Störenfried an diesem Morgen war wie üblich mein Sohn Philipp, der es wieder mal nicht lassen konnte, mich aus dem Bett zu holen, und meinte: „Papa, Martina macht schon mal das Frühstück und wenn sie fertig ist, holt sie uns. Du solltest also langsam wach werden.“

Mein Sohn kuschelte sich an mich, wie es fast immer an den Wochenenden war, und ich fragte ihn: „Na habt ihr euch gestern Abend auch ordentlich benommen und seid ihr auch rechtzeitig ins Bett, nicht, dass mir Klagen von den Nachbarn kommen.“

„Ja, Paps, wir waren brav, die Musik war auch nicht zu laut, so dass wir sämtliche Nachbarn aufgeschreckt hätten, und wir sind auch wie abgemacht so gegen zehn Uhr ins Bett. Du brauchst keine Angst zu haben, dass heute die Nachbarn auftauchen und sich über uns be­schweren werden.“ Wir lagen still nebeneinander, bis mich plötzlich ein kleiner Teufel überfiel und ich anfing meinen Sohn zu kitzeln. Ich mochte es, wenn er dann anfing zu quieken, Strafe musste sein für die Unverschämtheit mich so früh zu wecken.

Immer wieder kitzelte ich ihn, dabei bemerkte ich nicht, dass sich die Schlafzimmertüre erneut öffnete und Martina ins Zimmer trat.

„He Papa, lass den kleinen Philipp in Ruhe!“, rief sie und fuhr fort: „Kannst du mir bitte etwas erklären“?

„Komm zu uns ins Bett kuscheln, das Frühstück läuft schon nicht davon und dann kannst du mich je fragen.“ Sie hüpfte ebenfalls zu uns ins Bett, kuschelte sich ebenfalls an mich und ich sagte zu ihr: „Was soll ich dir erklären“?

„In der Garderobe hängt ein fremder Mantel und da stehen Schuhe, die dir sicher nicht ge­hören und die kleiner sind als deine Schuhe.“

Ich überlegte mir kurz, ob ich sie jetzt ärgern sollte und ihnen erkläre, dass ich heute Nacht wohl mit einem fremden Mantel und fremden Schuhen von der Weihnachtsfeier nach Hause gekommen sei, wahr­scheinlich, weil ich etwas zu viel getrunken hätte. Das hätten sie mir wahrscheinlich sogar geglaubt, also ließ ich es dann doch bleiben und erzählte meinen Kindern, was in dieser Nacht wirklich abgelaufen war.

„Ihr könnt euch doch sicher noch an Thomas erinnern, meinen Ar­beits­kollegen, den ihr bereits auf dem letzten Betriebsausflug kennengelernt habt. Er hat auf der gestrigen Weihnachtsfeier wegen Liebeskummer etwas zu tief ins Glas geschaut und es wäre nicht gut gewesen, wenn er noch selbst mit seinem Auto nach Hause gefahren wäre. Also habe ich mich nach einem kurzen Gespräch mit unserem Chef bereit er­klärt, Thomas mitzunehmen und ihn vor seiner Haustüre abzuliefern.“

„Dort angekommen stellte der Idiot dann plötzlich fest, dass er seine Wohnungs­schlüssel in der Firma vergessen hatte. Nachdem ich zu vorgerückter Stunde, es war immerhin schon weit nach Mitternacht, keine Lust mehr hatte, noch einmal mit ihm in die Firma zurückzufahren und mit ihm seine Schlüssel zu holen, habe ich ihm angeboten, dass er in unserem Gästezimmer übernachten kann. Er sollte dann heute, wenn er wieder nüchtern ist, seine Schlüssel und sein Auto aus der Firma abholen. Ich denke, er schläft jetzt noch seinen Rausch aus, später fahren wir ihn dann kurz in die Firma und anschließend werden wir auf den Weihnachtsmarkt und in die Stadt einkaufen gehen.“

Ja, ich hatte wirklich „Idiot“ gesagt, als ich meinen Kindern die Ge­schichte erzählte, aber ich dachte das in diesem Augenblick auch so.

„Jetzt sollten wir drei aber langsam aufstehen und frühstücken, bevor der Kaffee, eure Milch und die Brötchen wieder kalt sind.“

„Papa, dürfen wir Thomas aufwecken, damit er mit uns früh­stückt?“, fragte mich Philipp.

Okay, da war sie, die Frage, vor der ich mich schon die ganze Zeit gefürchtet hatte. Ich kannte meine beiden gut genug, um zu wissen, wenn sie einmal wach sind, mussten das auch alle anderen im Haus sein, so war das früher schon immer gewesen.

„Eigentlich wäre es besser, wenn ihr Thomas noch ein bisschen länger schlafen lassen würdet, aber so wie ich euch kenne, gebt ihr zwei keine Ruhe, solange bis ihr euren Willen durchgesetzt habt. Aber macht nicht ganz so wild wie normalerweise, Thomas wird vielleicht arge Kopf­schmerzen haben, bei dem, was er gestern alles getrunken hat. Ich gehe inzwischen nach unten und stelle noch ein weiteres Gedeck für Thomas auf den Tisch und mache inzwischen alles fertig.“

Raus aus dem Bett, in meinen Bademantel geschlüpft, wie immer am Wochenende und dann ab nach unten in die Küche und in die Essecke, um alles fertigzumachen.

Ich war gerade dabei das Gedeck für Thomas auf den Tisch zu stellen, als plötzlich lautes Lärmen, wie von einer Horde Indianer, aus dem Obergeschoss hörte. Das zum Thema nicht so wild, dachte ich für mich, aber von meinen beiden war ich das ja gewohnt. Hoffentlich fällt Thomas nicht vor Schreck aus dem Bett und bricht sich vielleicht noch etwas. Das konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Aber genau so schnell, wie der Lärm einsetzte, war es dann auch wieder totenstill oben.

Ich war schon etwas verwundert, stellte den frisch aufgebrühten Kaffee auf den Tisch und wollte mich gerade auf den Weg nach oben machen, um zu sehen, was passiert sei, als ich bemerkte, dass Philipp bereits mit Gepolter auf dem Weg nach unten war. Er stürmte in die Essecke und brüllte los: „Thomas ist wach, Thomas ist wach und er kommt auch gleich zum Frühstück nach unten.“ Martina kam als nächstes ebenfalls herein, setzte sich auf ihren Platz und meinte: „So wie der aussieht, hat der ganz bestimmt Kopfschmerzen; Papa, hast du für ihn eine Schmerztablette?“

Ich ging noch einmal in die Küche, holte eine Schmerztablette und legte sie neben die Kaffeetasse für Thomas. „Hey, du kleiner wilder Indianer“, sagte ich zu Philipp, „setze dich auf deinen Platz, damit wir frühstücken können. Ich hoffe nur, ihr habt Thomas nicht so sehr verschreckt, dass er gleich ohne Frühstück ver­schwindet.“ „Nein, er kommt sofort, er wollte nur kurz ins Bad sich frisch machen und dann am Frühstückstisch auftauchen“, erklärte mir Martina.

Nach kurzer Zeit hörte ich wieder Schritte auf der Treppe und es war klar: Thomas wird wohl gleich hier sein. Dabei fiel mir auf, dass ich ja meinen Bademantel anhatte, und kam mir plötzlich blöd vor, ich hätte ja auch was anderes anziehen können. Doch da stand Thomas schon in der Tür, sah mich mit großen Augen an und meinte: „Guten Morgen, ich habe gut geschlafen und fühle mich wieder einigermaßen fit, und wie geht es dir?. Danke, dass du mir eine Schmerztablette bereitgelegt hast, die werde sofort einnehmen.“ Bevor ich noch irgendetwas erwidern konnte, setzte er nach: „Denk dir nichts, du bist hier zu Hause und kannst so herum­laufen, wie du es gewohnt bist. Mich stört das keinesfalls.“

„Guten Morgen“, kam nun von mir, „nimm Platz, ja auch ich habe gut geschlafen, bis ich von diesem kleinen Wilden aus meinen Träumen gerissen wurde. Lass es dir schmecken.“

Er setzte sich neben mich und nun begannen wir zu essen. Ich hing meinen Gedanken nach und plötzlich kam mir in den Sinn, was wäre, wenn Thomas sich unglücklich in mich verliebt haben könnte, wie sollte ich damit klarkommen. Wobei, wenn ich es mir so recht überlege, seine ausweichende Antwort, dass er mit mir nicht über dieses Thema reden könne, lässt sicher solche Rückschlüsse zu.

Ach was, du spinnst, sagte ich innerlich zu mir und verdrängte die Gedanken sofort wieder. Meine Kinder taten das, was sie schon immer am besten konnten, andere Leute mit ihren Fragen quälen. Mir tat Thomas schon fast leid, da er kaum zum Essen kam beim Beant­worten der vielen Fragen.

„Kommt, jetzt lasst Thomas erst mal in Ruhe frühstücken, eure Fragen kann er nachher auch noch beantworten, oder wollt ihr schuld sein, dass Thomas entweder verhungert oder kalten Kaffee trinken muss.“ Sofort war es etwas ruhiger und endlich konnte er in Ruhe frühstücken und auch meine Kinder schafften es endlich in Ruhe zu essen.

Als wir mit dem Frühstück fast fertig waren, sagte ich zu Thomas: „Du, ich will mit den Kindern nachher noch in die Stadt fahren und über den Weihnachtsmarkt laufen und in dem einen oder anderen Geschäft etwas einkaufen. Wir könnten dich mitnehmen, in der Firma absetzen, deine Schlüssel holen und dann kannst du zu dir nach Hause fahren, oder musst du jetzt sofort los?“

Er dachte wohl kurz nach und antwortete mir: „Ja, so können wir es machen, dann brauche ich nicht mit dem Bus oder mit dem Taxi in die Firma fahren, da hätte ich doch noch deinen Firmenschlüssel gebraucht.“

Was letzte Nacht nicht mehr geklappt hatte, funktionierte jetzt wieder, ihm war inzwischen klar, dass er heute meinen Schlüssel gebraucht hätte, um überhaupt in die Firma zu kommen.

Geschafft, jeder war satt, also kann ich jetzt den Tisch wohl abräumen und die Küche wieder aufräumen, bevor wir losfahren. Zu meinen Kindern meinte ich dann: „Ich überlasse euch jetzt Thomas, jetzt dürft ihr ihn mit euren Fragen quälen, ich räume inzwischen den Tisch ab und bringe die Küche wieder in Ordnung. So gegen elf Uhr seid ihr fix und fertig angezogen, sonst fahre ich ohne euch in die Stadt.“

Während ich den Tisch abdeckte und die Küche aufräumte, wurde Thomas von meinen beiden mit ihren Fragen überhäuft. Ich bekam zwar das eine oder andere mit, aber so genau konzentrierte ich mich nicht auf das Ganze. Ich verschwand nach oben ins Bad, ich wollte mich wenigstens rasieren und duschen, bevor ich mich mit der Horde auf dem Weg in die Stadt machte.

Ich war inzwischen mit rasieren und duschen fertig, hatte mich auch bereits vollständig angezogen und war zwischenzeitlich wieder auf dem Weg nach unten. Ich hörte gerade noch, wie Philipp Thomas fragte: „Willst du nicht mit uns über den Weihnachtsmarkt laufen, wir stellen uns das sehr lustig vor, mit dir und Papa durch die Menge zu toben.“ Ich dachte noch, ich hör nicht richtig, aber Thomas antwortete ihm: „Ja eigentlich, warum nicht, zu Hause würde mir eh nur die Decke auf den Kopf fallen und nach Hause fahren kann ich auch noch später. Ich war eh schon lange nicht mehr auf einem Weihnachts­markt, nicht mehr, seit ich von zu Hause fort bin. Ich komme aber nur mit, wenn euer Vater nichts dagegen hat.“

Als ich gerade ins Wohnzimmer trat, hörte ich Philipp sagen: „Geil, das wird sicher lustig.“ Drei Augenpaare schauten mich fragend an, als sie merkten, dass ich inzwischen wieder bei ihnen war. Ich sagte erst mal gar nichts, meine Gedanken sausten wie wild durch den Kopf, ich hatte mir nämlich während des Duschens überlegt, ob wir nicht vielleicht Thomas an Weihnachten zu uns einladen sollte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen und er vor allem nicht allein zu Hause sein muss, nachdem er mir gestern Abend doch erzählt hatte, dass er Weihnachten allein sei. Wenn das so ist, sollte es damit kein Problem geben, wenn meine Kinder jetzt schon mit ihm auf den Weihnachts­markt gehen wollten.

„Okay“, meinte ich und fuhr fort: „jetzt verschwindet aber schnellstens nach oben und macht euch fertig. Zieht vor allem warme Klamotten an, draußen scheint es heute doch recht kalt zu sein. Ich habe nichts dagegen, wenn Thomas mit uns zum Weihnachts­markt kommt.“

Ruckzuck waren die beiden nach oben gesaust, um sich umzuziehen. Ich stand jetzt mit Thomas allein im Wohnzimmer und sagte zu ihm: „Denk einfach noch mal über mein Angebot nach, du kannst gerne jederzeit mit mir über deine Probleme reden. Wir sollten uns aber auch langsam abfahrbereit machen, denn so wie ich meine beiden kenne, wird es nicht lange dauern, bis sie wieder hier auf der Matte stehen, und dann sollten wir sie nicht zu lange warten lassen.“

Thomas antwortete mir: „Ich lass mir das einfach nochmal durch den Kopf gehen und wenn ich denke, dass ich mit dir darüber reden kann, komme ich auf dich zu.“ Damit gingen wir beide in die Diele, zogen unsere Schuhe an, schnappten uns unsere Mäntel und warteten dann auf die Kinder. Wie schon von mir vermutet dauerte es keine fünf Minuten, bis Philipp neben uns stand, ebenfalls in seine Schuhe schlüpfte und sich seinen Anorak vom Haken holte.

Kurze Zeit später waren wir dann auch vollzählig versammelt und konnten aufbrechen. Raus aus dem Haus, abgeschlossen, Auto aufge­sperrt und alle rein, dann konnte es losgehen. Am Straßenverkehr merkte man es sehr schnell, dass es nur noch kurze Zeit bis Weih­nachten ist, scheinbar waren wieder mal alle unterwegs in die Stadt, dementsprechend zäh ging es stellenweise vorwärts.

Beim nächsten Ampelstopp drehte ich mich kurz zu meinen Kindern und fragte sie: „Was haltet ihr davon, wenn wir Weihnachten in diesem Jahr nicht allein feiern, sondern Thomas zu uns einladen? Er müsste sonst Weihnachten allein feiern, er kennt hier noch nicht so viele Leute.“

Beim Zurückdrehen, um mich wieder auf den Straßenverkehr zu konzentrieren und ohne eine Antwort meiner beiden abzuwarten, konnte ich ein leichtes Lächeln in Thomas‘ Gesicht entdecken, das so gar nicht zu dem passte, was dann aus seinem Mund kam: „Spinnst du, das geht doch gar nicht.“ Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment brüllte Philipp von hinten: „Nein“, um dann etwas ruhiger fortzu­setzen: „Warum soll Papa spinnen?“ Im Rückspiegel konnte ich er­kennen, wie er einen Blick zu seiner Schwester warf, der so viel bedeutet wie ‚ich kann deine Hilfe gebrauchen‘.

Ich bemerkte, wie Thomas einen Blick zu mir rüber warf und sich dann zu meinen Kindern umdrehte. “Weih­nachten ist das Fest der Familie“, meinte er und wollte schon fortsetzen, als er von Martina unterbrochen wurde: „Ich habe in der Schule gelernt, dass Weih­nachten nicht nur das Fest der Familie ist, sondern dass man auch an die einsamen Menschen denken sollte, dafür stellt man sogar extra eine brennende Kerze in die Fenster.“

Jetzt schaute erst mal Thomas dumm aus der Wäsche, damit hatte er wohl am wenigsten gerechnet. Nachdem es für kurze Zeit ruhig im Auto war, sagte ich: „Wenn ich das jetzt richtig sehe, würdet ihr bei­den euch freuen, wenn Thomas an Weihnachten zu uns käme und mit uns feiert, aber letztendlich muss Thomas das für sich entscheiden; also Thomas, du bist herzlich eingeladen, am Heiligen Abend bei uns zu sein und mit uns zu feiern. Zu meinen Eltern fahren wir immer am ersten Weihnachtsfeiertag, am zweiten Weihnachtsfeiertag geht es dann zu meinen Schwiegereltern, du verdrängst keinen. So, Thomas, nun liegt es an dir, wie du dich entscheidest.“

Ein kurzer Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass meine Kinder mit dem, was ich da eben gesagt hatte, einverstanden waren. Thomas, der ebenfalls immer noch nach hinten in die Augen meiner Kinder blickte, sagte erst mal auch nichts. In der Zwischenzeit waren wir auf dem Parkplatz in der Nähe des Weihnachtsmarktes angekommen. Ich fand noch einen freien Platz, auf dem ich einparkte, und wir stiegen aus dem Auto aus.

 

Immer noch so tief in meine Gedanken versunken merkte ich, wie mir jemand auf die Schultern tippte. Ich saß noch immer im Café bei Francesco und vor mir standen Philipp und sein Freund Marcus. Ich schaute die bei­den wohl etwas seltsam an, den Philipp fing plötzlich an zu grinsen und meinte: „Wir sind keine Gespenster, wir sind hier, um dich abzu­holen.“ Ich schaute nochmal auf die beiden und dann warf ich einen Blick zur Uhr, die an einer Wand hing. Oh je, es war schon fast sechzehn Uhr.

Mein Blick ging wieder zurück zu den beiden, die vor mir standen, und dann suchte ich nach Francesco, den ich hinter dem Tresen fand und dem ich einen bösen Blick zu warf. Verdammt, warum hat er nicht gesagt, dass es schon so spät ist.

Plötzlich erklärte mir Philipp: „Francesco kann nichts dafür, als du kurz vor halb vier immer noch nicht zu Hause warst, haben wir hier angerufen und nachgefragt, ob du schon weg bist. Francesco meinte nur, nein, du sitzt noch in der Ecke und bist in deinen Gedanken versunken, würdest über etwas sinnieren und auch kaum ansprechbar sein. Da wir uns Sorgen gemacht haben, beschlossen Marcus und ich hierher zu kommen, um nach dir zu sehen und dich abzuholen.“

In diesem Moment stand Francesco neben den beiden mit einem Tablett und vier gefüllten Gläsern mit Prosecco. „So nun stoßen wir noch einmal mit deinen beiden Sorgenkindern auf deinen Geburtstag an und dann solltet ihr euch auf den Weg machen, nicht dass am Ende auch noch Thomas mit der ganzen Geburtstagsgesell­schaft hier auftaucht und ich mir am Ende die halbe Nacht um die Ohren schlagen darf.“

Jeder nahm sich ein Glas, wir stießen an und tranken etwas. Ich be­dankte mich nochmal bei Francesco, stand auf, packte meine Dau­nen­jacke und folge Philipp und Marcus auf die Straße. Vor der Tür stand Marcus‘ Wagen, in den wir alle drei ein­stiegen, vorne Marcus und Philipp, ich auf der Rückbank.

Mir fiel plötzlich ein, dass ich meine Kaffee gar nicht bezahlt hatte. Ich wollte wieder aussteigen, um ins Café zurückzugehen und zu zahlen. Philipp hielt mich zurück und meinte nur: „Ich denke, Francesco hat kein Problem damit, wenn du deine Kaffee beim nächsten Mal bezahlst, der hat doch selbst gemerkt, wie total du durch den Wind bist, und das auch noch an deinem fünfzigsten Geburtstag.“

Marcus fuhr los und als wir unterwegs waren, dreht sich Philipp zu mir nach hinten, sah mir in die Augen und fragte plötzlich: „Wie hat Francesco das gemeint, als er sagte, deine Sorgen­kinder?“

„Sicher nicht negativ“, antwortete ich, „aber du und Marcus seid wohl der Auslöser für das, was sich da in den letzten Stunden in meinem Kopf abgespielt hat. Du sagtest heute Morgen, du willst deinen Freund Marcus zu meinem Geburtstag einladen, und als mir dabei endgültig klar wurde, dass du schwul bist, musste ich das erst mal in Ruhe verdauen, und da ihr mich wegen der Vorbereitungen für die Geburtstagsfete nicht zu Hause haben wolltet, bin letztendlich im Café gelandet. Bei Francesco ist mir mein bisheriges Leben, mein eigenes Coming Out bei dir und Martina, durch den Kopf gegangen. Ich habe es nur noch nicht bis zum Ende der Geschichte geschafft.“

Bei diesen Worten lächelt mich Philipp an und meinte: „Ich weiß, wovon du redest; ja, es hat verdammt lange gedauert, bis ihr euch endlich nähergekommen seid. Heute kann ich so richtig über die Geschichte lachen, war schon eine außergewöhnliche und komische Situation.“

„Ja ich erinnere mich, war wirklich komische“, sagte ich. „So, jetzt aber schnellstens nach Hause, bevor die Gäste ohne das Ge­burts­tagskind feiern müssen.“

„Ach so, was ich euch beide fragen wollte, hat Marcus jetzt schon mit seinen Eltern geredet, wissen sie es in­zwischen?“ Marcus mel­dete sich zu Wort und meinte: „Nein, bisher habe ich es noch nicht ge­schafft; übrigens, sie kommen gerne zu deiner Feier, aber wohl etwas später, da sie vorher noch was erledigen müssen.“

Kurze Zeit später parkte Marcus das Auto vor unserer Haustüre. Da standen schon einige Fahr­zeuge, die ersten Gäste waren also inzwischen eingetroffen. Wir stiegen aus und als wir uns der Haustüre näherten, öffnete Thomas, sah mich mit großen Augen an und begrüßte mich mit einem Kuss. Er sagte: „Herein mit euch, ihr seid zwar nicht gerade die Ersten und dass ein Geburts­tagskind fast zu spät zu seiner eigenen Feier kommt, habe ich auch noch nicht erlebt.“ Wenn der wüsste, dachte ich für mich.

Im Flur zog ich meine Daunenjacke aus hängte sie an die Gar­derobe und streifte meine Straßenschuhe von den Füßen. Ich folgte den dreien ins Wohnzimmer und begrüßte die bereits anwesenden Gäste. Dabei sah mich Thomas komisch an, so nach dem Motto, was ist los mit dir, da stimmt doch etwas nicht. Ich zuckte mit den Schultern und dachte für mich, es gibt sicher später noch die Gelegenheit, ihm das zu erklären.

Plötzlich packte mich etwas an den Beinen. Wie konnte ich nur Kevin, meinen kleinen süßen Enkel, übersehen. Ich bückte mich, nahm ihn auf dem Arm und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange. „Opa, nicht küssen, ich bin doch schon ein großer Junge und große Jungs küsst man nicht.“ Und das aus dem Mund eines Dreieinhalb­jährigen.

Ich lachte ihn an und meinte dann zu ihm: „Thomas ist auch ein großer Junge und den darf ich doch auch küssen.“ Jetzt schaute er mich mit seinen großen Augen an und kuschelte sich an mich und sagte: „Okay Opa, du bist der Einzige, dem ich erlaube, dass er große Jungs wie mich küssen darf.“ Zwischen­zeitlich waren Martina und Christoph zu uns herange­kommen, gratulierten mir zum Geburtstag, und Christoph sagte dann zu mir: „Von wem er das wohl hat, diese neunmalklugen Sprüche, von mir und Martina sind sie bestimmt nicht.“ Ich schaute ihn schief an und grinste.

So nach und nach trudelten dann die weiteren Geburtstagsgäste ein und wurden von mir und Thomas begrüßt. Irgendwann sagte Thomas zu mir: „So langsam sind fast alle Gäste da und wir können mit den ersten Überraschungen beginnen.“ Er läutete mit einer Glocke und so nach und nach wurde es ruhiger im Raum.

„Leute, wir sind heute hier zusammengekommen, weil Peter heute fünfzig geworden ist, aber das wisst ihr eh alle. Dass ich meinen Peter noch immer so liebe wie damals, als ich ihn zu ersten Mal gesehen haben, sollte euren aufmerksamen Augen sicher nicht entgangen sein.“ Dabei küsste er mich und fuhr fort: „Ich will euch jetzt nicht mit einer langen Rede oder einer Laudatio quälen, also mache ich es kurz und schmerzlos, das große Büfett ist unten im Hobby- und Partyraum aufgebaut, Getränke findet ihr sowohl hier im Wohnzimmer als auch unten im Hobbyraum. Außerdem haben wir einige kleine Über­raschungen vorbereitet, bei denen mir Philipp, Marcus und noch einige andere, die entweder noch nicht hier sind oder heute aus beruflichen Gründen nicht dabei sein können, geholfen haben. Wir beginnen jetzt sofort mit der ersten Überraschung, aber nicht vergessen, es werden noch einige folgen.“

Ich schaute Thomas an, der grinste und blickte zur Tür. Ich blickte zur Tür, die sich ganz langsam öffnete, ich konnte zuerst nur Philipp und Martina erkennen, die dort standen.

Haha, dachte ich, Thomas will mich wohl verarschen mit seinen Über­raschungs­gästen, bis die zwei sich langsam ins Zimmer bewegten, Philipp hielt die Hand seiner Oma Mareike und Martina die Hand ihres Groß­vaters Peter. Jetzt war ich doch derjenige, der wohl etwas doof aus seiner Wäsche schaute; ja, es waren tatsächlich die Eltern meiner verstorbenen Ehefrau Gabriele. Ich hatte sie seit mehr als zehn Jahre nicht mehr gesehen. Sie hatten mich bereits nach dem Tod ihrer Tochter gemieden. Nachdem ich mich in Thomas verliebt hatte und mit ihm die Lebenspartnerschaft geschlossen hatte, erklärten sie mir, das sei Verrat an ihrer einigen Tochter und sie wollen mich nie wieder in ihrem Leben ­sehen. Ich habe mich in den letzten Jahren immer an ihren Wunsch gehalten und bin ihnen aus dem Weg gegangen. Meine Kinder, also ihre Enkelkinder, mussten nie darunter leiden, sie durften regel­mäßig ihre Groß­eltern sehen und besuchen.

Wahnsinn, diese Überraschung war Thomas und meinen Kindern mehr als gelungen. Ich ging auf Mareike zu und begrüßte sie ganz herzlich. Sie gratulierte mir zum Geburtstag und sagte dann zu mir: „Peter, es tut uns inzwischen so unendlich leid, dass wir all die Jahre nichts mehr mit dir zu tun haben wollten, erst unsere beiden Enkel, deine Kinder, haben uns nach so vielen Jahren endlich zur Vernunft gebracht. Wir wissen, dass du Thomas genauso liebst, wie du unsere Gabi geliebt hast, und vor allem, dass du Gabi bis heute nicht vergessen hast. Wir sind dir auch so dankbar, dass du uns nie den Umgang mit unseren Enkelkindern verboten hast, nach­dem wir dich so niedergemacht hatten.“

Inzwischen hatte ich Tränen in den Augen. Ich drückte Mareike fest an mich und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich bin nicht sauer auf euch, ich konnte euch ja verstehen, aber ich liebe Gabi heute noch so wie ich sie damals geliebt habe, aber nachdem mir Gabi durch ihre schwere Erkrankung genommen wurde, worauf ich mehr als sauer bin, musste ich ja irgendwann mein Leben wieder in den Griff bekommen. Immerhin musste ich ihr auf dem Totenbett versprechen, dass ich, wenn ich mich erneut verlieben sollte, wieder eine Partnerschaft zulassen darf. Obwohl es nicht so geplant war, habe ich mich in Thomas verliebt, und dass dabei eure beiden Enkelkinder nicht völlig unschuldig waren, ist dir doch wohl klar.“ Sie strahlte mich an und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Herzlich willkommen zurück in unserer Familie“, sagte sie noch.

Ich ging auf Peter zu, mein Schwiegervater heißt auch Peter, schloss ihn in meine Arme und flüsterte ihm ins Ohr: „Danke, das ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das ihr mir machen konntet, die Überraschung ist euch wirklich gelungen.“ Ich merkte, wie er sich verstohlen eine Träne aus seinen Augen wischte und mir ins Ohr flüsterte: „Nicht du hast zu danken, wir müssen dir danken für diese herrlichen Enkelkinder und natürlich auch für unseren Urenkel.“

Mareike hatte zwischenzeitlich Thomas in den Arm genommen und sagte dann laut vor allen Gästen: „Auch du, Thomas, bist ab sofort herz­lich in unsere Familie aufgenommen, du bist heute das, was früher Gabi für Peter war, ein liebevoller Lebenspartner, wie ein zweiter Vater für unsere Enkel und ein liebevoller Großvater für unseren Urenkel Kevin.“

Ich bemerkte ein paar kleine Tränen in den Augen von Thomas, als Mareike dies zu ihm sagte. Gabis Vater löste sich aus meinen Armen und trat ebenfalls zu Thomas und nahm ihn in seine Arme. Er sagte zu Thomas, zwar nicht so laut, dass alle es versehen konnten, da ich jedoch direkt danebenstand, konnte ich es sehr gut verstehen: „Thomas, es fällt mir immer noch schwer, das zu sagen, aber ich will dich auch herzlich in der Familie begrüßen. Ich hoffe, du und Peter könnt uns verzeihen, ich habe jedenfalls inzwischen verstanden, dass ihr beide es nicht immer leicht hattet und wir erheblich dazu beigetragen haben.“

Thomas drückte Peter noch mehr an sich heran und antwortete: „Mir ist klar, dass ihr mir nicht meine Eltern ersetzen könnt, aber ich freue mich, dass ich ab sofort wenigstens so etwas wie Ersatz-Eltern habe.“

Ich beobachtete dabei Thomas ganz genau, hatte er wirklich von allem gewusst, als er die beiden zur Party eingeladen hatte, oder wurde er auch davon überrumpelt? Wenn ich es mir so überlege, war er auch überrascht davon, wer nach seiner Ankündigung ins Zimmer kam. Mir schien es so, als hätte er mit anderen Gästen gerechnet.

Ich sollte nachher mal meine beiden, Martina und Philipp, fragen, denn die sollten wohl wissen, was da geschehen ist.

Thomas löste sich langsam von Peter und blickte zu Martina, die nur kurz nickte. Wie soll ich das jetzt wieder verstehen, hatte er etwa doch davon gewusst, was soeben geschehen war?

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, ergriff Thomas wieder das Wort: „Von dieser Überraschung hatte ich keine Ahnung, aber kommen wir jetzt zu den Gästen, die ich eigentlich vorher ange­kündigt hatte, ich hoffe es zumindest, nicht dass mir noch einmal eine Überraschung untergejubelt wird, von der ich nichts gewusst habe.“ Dabei blickte er zu mir und lächelte mich an.

Ich lächelte frech zurück und schaute zur sich öffnenden Tür. Dort standen doch sage und schreibe meine Eltern im Türrahmen. Ich fiel Thomas um den Hals, küsste ihn und fragte: „Wie habt ihr das ge­schafft, die beiden aus ihrem Domizil im sonnigen Mallorca zu mei­nem Geburtstag ins kalte Deutschland zu holen?“ Ich hatte meine Eltern in den letzten Jahren immer nur während des Urlaubs im Sommer gesehen, wenn wir bei ihnen auf Mallorca waren. Ihnen war es in Deutschland im Winter immer zu kalt und nachdem beide in Rente gegangen waren, hatten sie ihr Domizil in Deutschland aufgegeben und sich auf Mallorca nieder­ge­lassen.

Okay, ich hatte zwar gehofft, dass sie vielleicht doch kommen, nach­dem ich sie eingeladen hatte, aber da sie sich in den letzten Wochen nicht angemeldet hatten, hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben.

Ich ging auf meine Eltern zu, nahm sie beide in die Arme und be­dankte mich für die Überraschung, die ihnen da gelungen war. Ich freute mich sehr darüber, dass meine Eltern hier waren, aber noch viel mehr darüber, dass meine Schwiegereltern wieder zu meiner Familie gehörten. Was brauchte ich noch weitere Geschenke, die größten Geschenke hatte ich ja bereits erhalten.

Damit war zumindest die erste Runde mit Überraschungen abge­schlossen, viele meiner Freunde und Bekannten freuten sich darüber, auch mal meine Eltern wieder ­zu sehen, und so waren sie bald in Gespräche mit ihnen verwickelt. Auch Gabis Eltern wurden von denen, die sie noch kannten, in Gespräche verwickelt.

Thomas und ich unterhielten uns mit dem einen oder anderen unserer Freunde, die sich mit uns darüber freuten, dass Mareike und Peter nach so langer Zeit mit der Vergangenheit abge­schlossen hatten und mich nun doch wieder als ihren Schwieger­sohn betrachteten.

Nachdem ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte, wurde es langsam Zeit, mich doch mal dem Buffet zu widmen und zu schauen, was Thomas und Philipp sowie die sonstigen Helfer da alles aufgefahren hatte.

Ich ging nach unten in den Hobbyraum, ich war nicht der Einzige, der sich dort inzwischen eingefunden und bereits einen gefüllten Teller vor sich hatte. Zuerst schaute ich mich am Buffet um, schnappte mir dann einen Teller und holte mir das eine oder andere vom Buffet.

Ich hatte kaum meinen Teller mit Leckereien gefüllt und mich an einen der Tische im Hobbyraum gesetzt, als plötzlich Thomas ebenfalls mit einem Teller auftauchte. Er setzte sich neben mich und wir aßen erst mal in aller Ruhe. Ich lächelte ihn an und fragt mich nicht, welcher Teufel mich da gerade wieder geritten hatte, denn ich sagte zu ihm: „Ich weiß ja nicht, was ihr noch alles an Überraschungen vorbereitet habt, aber das bisher war schon ein gewaltiger Hammer. Das kannst du nur noch toppen, wenn du als nächsten Über­raschungsgast ent­weder den Bundes­präsidenten, die Bundes­kanzlerin oder deine Eltern präsentierst.“ Verdammter Mist, was hatte ich da gerade gesagt, war mein Mundwerk mal wieder schneller als mein Gehirn.

Ich merkte, dass Thomas zu weinen anfing, ich nahm ihn in meine Arme und meinte: „Nicht weinen, das sollte ein Spaß sein, ich bin doch so glücklich, dass ihr es geschafft habt, meine Eltern nach Deutschland zu bringen und dann auch noch mir meine Schwieger­eltern zurückzugeben, die eigentlich nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollten.“ Ich hielt ihn weiterhin im Arm, drückte ihn ganz fest an mich und merkte so langsam, wie er sich wieder beruhigte.

Zwischenzeitlich waren auch Marcus‘ Eltern auf der Geburts­tagsfete angekommen und wurden von mir und Thomas recht herzlich begrüßt. Mir fiel auf, dass immer mehr der Geburtstagsgäste im Keller auftauchten und sich im Hobbyraum versammelten. Thomas und ich saßen inzwischen wieder am Tisch und versuchten so langsam, den Rest von unseren Tellern zu verspeisen. Auch meine Eltern und meine Schwiegereltern, ja, die Eltern von Gabi halt, hatten sich zwischenzeitlich zu uns gesetzt und waren mit Essen beschäftigt.

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