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Regenbogenfamilie

Kapitel 1 - Samstagmorgen um halb acht

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Verdammt noch mal, wer stört so früh am Morgen meinen Schlaf. Eigentlich konnte das nur Thomas sein, der versuchte, mich wach zu bekommen. Als ich die Augen etwas öffnete, meinte er zu mir: „Es wird langsam Zeit für dich aufzustehen und zu frühstücken, damit du rechtzeitig aus dem Haus kommst. Trotzdem alledem, erst einmal meinen herzlichsten Glückwunsch zu deinem fünfzigsten Ge­burts­tag, alles Gute und Liebe von mir und dass du noch lange an meiner Seite bist. Nur weil du knapp zehn Jahre älter bist als meine Wenigkeit, heißt das noch lange nicht, dass du deswegen länger im Bett bleiben kannst. Komm aus den Federn, ich habe schon alles vorbereitet, nicht dass der Kaffee wieder kalt wird.“

Er küsste mich und ich lächelte ihn an, bis ich ihm erklärte: „Eigentlich leide ich ja schon län­gere Zeit an seniler Bettflucht, aber gerade heute kann ich mir sehr gut vorstellen, länger im Bett liegen zu bleiben und noch ausgiebig mit dir zu kuscheln.“

Thomas schmiegte sich an mich und wir schmusten ausgiebig miteinander. Irgendwie gelang es ihm dann doch, mich endlich zum Aufstehen zu bewegen, zwar nur widerwillig, aber es musste einfach sein. Während Thomas wieder nach unten ging, um den Frühstückstisch herzurichten, quälte ich mich noch ziemlich lustlos aus den Federn, verschwand im Bade­zimmer, holte dort meinen Bademantel vom Haken und schlüpfte hinein. Langsam ging ich nach unten ins Esszimmer zu Thomas, wo er mich mit einem liebevoll geschmückten Frühstückstisch überraschte.

Jetzt wollt ihr sicher wissen, wer euch dies alles erzählt. Klar, ich wäre auch neugierig und würde nur zu gerne wissen wollen, mit wem ich es zu tun habe. Ich bin Peter Maurer, wie alt ich inzwischen bin, habt ihr ja bereits mitbekommen. Ich besitze schon mehr graue Haare als in meiner ursprünglichen Farbe mittelbraun, sie sind ziemlich kurz geschnitten, dazu graublaue Augen. Zu meiner Größe könnte man sagen, mit einhundertvierundachtzig Zentimetern nicht zu groß und auch nicht zu klein. Tagsüber trage ich immer mein Nasenfahrrad (Brille), na ja und inzwischen habe auch schon einen kleinen Bauch, also kein Sixpack mehr, aber in meinem Alter auch nicht unbedingt mehr verwunderlich.

Mein Thomas, ein geborener Müller, ist knapp zehn Jahre jünger, er hat vor wenigen Wochen seinen Vierzigsten gefeiert. Er hat blonde, von einigen grauen durchzogene Haare, rehbraune Augen und ist mit seinen einhundertachtundachtzig Zentimeter auch noch etwas größer als meine Wenigkeit. Nein, er trägt keine Brille, dafür ist er viel zu eitel, dafür trägt er Kontakt­linsen.

Wir hatten es uns gerade am Frühstückstisch gemütlich gemacht, als plötzlich mit lautem Gepolter mein Sohn Philipp, mittlerweile achtzehn Jahre alt, ebenso mittelbraune Haare wie ich sie früher hatte, jedoch um einiges länger als meine Frisur, dazu auch noch ein klein wenig größer als ich mit seinen einhundertsiebenundachtzig Zentimetern, über die Treppe herunter­kam.

Nur wenige Augenblicke später stand er im Esszimmer und meinte: „Sorry, dass ich erst so spät zum Frühstück erscheine, aber heute, an deinem Geburtstag, wollte ich eigentlich pünktlicher sein.“ Ich schaute ihn verwundert an, da er an den Wochenenden selten so früh aufstand, um mit uns gemeinsam zu früh­stücken, sondern immer erst am späten Vormittag oder gegen Mittag seine Aufwartung machte. Thomas war noch mal vom Tisch aufgestanden und beeilte sich, für meinen Sohn ein weiteres Gedeck sowie Besteck auf den Tisch zu bringen, damit wir gemeinsam frühstücken konnten.

„Paps, von mir das Beste zu deinem runden Geburtstag, auf dass du noch einmal so alt wirst, wie du jetzt bereits geworden bist. Die Geschenke gibt es aber erst am späten Nachmittag oder heute Abend“, kam es von meinem Sohn, und er drückte mir ein Küsschen auf die Wange.

Bevor ich es am Ende vergesse oder im Trubel des heutigen Tages untergeht, erst mal noch etwas mehr Hintergrund zu mir. Ich bin bereits Opa und habe einen süßen kleinen Enkel mit dem Namen Kevin Weber, nein, nicht von meinem Sohn, sondern von meiner Tochter Martina und ihrem Mann Christoph, meine Tochter ist inzwischen fast zweiundzwanzig und Christoph bereits vierundzwanzig Jahre alt. Sie wohnen in unserer Nähe, aber eben nicht mehr mit uns hier im Reihenhaus, am Rande von Rosenheim.

Thomas hatte zwischenzeitlich für Philipp die nötigen Utensilien für sein Frühstück besorgt und beide hatten sich zu mir an den Tisch gesetzt. Bevor wir jedoch endgültig mit dem Frühstück beginnen konnten, wurden wir noch einmal von Philipp unterbrochen.

„Du, Paps, ich habe da noch eine Frage an dich wegen der Geburts­tagsfeier heute Nachmittag“, kam es plötzlich von meinem Sohne. „Die ganze Familie und viele deiner Freunde werden zum Feiern hier sein und ich würde gerne meinen Freund Marcus dazu einladen.“ Wie er dieses ‚meinen Freund‘ betonte, ließ mich dann doch hellhörig werden. Ich blickte zu Thomas und wollte sehen, ob er das genauso verstanden hatte wie ich. Ein leichtes Schmunzeln in seinem Gesicht sagte mir alles, er interpretiert das wohl genauso wie ich und denkt sich seinen Teil dazu.

Gut, wir kennen Marcus ja schon sehr lange, die beiden sind ja auch schon ewig miteinander befreundet, immerhin so etwa zwölf Jahre, sie hatten sich damals in der Grundschule kennengelernt, damals gingen beide in die gleiche Klasse.

Nach einer etwas längeren Pause, in der ich nochmal über seine Worte nachdachte, sagte ich zu ihm: „Meinetwegen kann er gerne kommen, er gehört ja sowieso fast zur Familie. Hiermit ist er offiziell eingeladen, eine Person mehr oder weniger auf meiner Geburtstagsfeier, das fällt heute sowieso nicht auf.“

Danach konnten wir endlich in aller Ruhe unser Frühstück zu uns nehmen, am Frühstückstisch wurde während des Essens nur über die üblichen belanglosen Dinge des täglichen Lebens gesprochen; da ich unter der Woche meinen Sohn meist nur abends zu Gesicht bekam, wollte ich auch von ihm wissen, wie es ihm denn in der Schule so erginge. Er erzählte uns, dass es derzeit in der Schule besonders gut für ihn laufe und er sich mit einem sehr guten Gefühl seinem Abitur nähere.

Nachdem wir mit dem Frühstück fertig waren und nur noch gemütlich am Tisch saßen, fragte ich meinem Sohn: „Philipp, willst du mir, beziehungsweise uns, damit etwas Besonderes sagen?“, wobei ich wiederum das Wort „Besonderes“ außergewöhnlich betonte. Thomas grinste mich erneut an und wartete dann genauso erwartungsvoll wie ich, was nun kommen würde. Erst mal war für ein paar Minuten absolute Stille im Raum.

Nach einigen Minuten schaute mir mein Sohn in die Augen und sagte: „Ja, Paps, ich habe mich in Marcus verliebt und er sich in mich. Wir beide sind inzwischen ein Paar. Kennst du den Song ‚Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert‘? Fast genauso ist es bei uns abgelaufen.“

Jetzt war ich derjenige, der erst einmal kurz sprachlos war, obwohl ich doch eigentlich schon längere Zeit mit diesem Gedanken gespielt hatte. Er hatte bisher sehr selten Besuch von Mädchen gehabt und keine davon hatte er uns bisher als seine Freundin vorgestellt. Nach kurzer Zeit hatte ich mich jedoch wieder gefangen und nun suchte ich weiter das Gespräch mit meinem Sohn. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, stand Thomas vom Tisch auf und meinte, er müsse etwas in der Küche erledigen, und verschwand kurzerhand nach nebenan.

Wie rücksichtsvoll, einfach verschwinden und mich mit der Situation allein lassen. Er hätte ruhig hierbleiben können, dachte wohl, es sei für Philipp und mich einfacher, ein Vater-Sohn-Gespräch ohne ihn zu führen. Meinet­wegen hätte er ruhig dabeibleiben können, ich habe damit grundsätzlich kein Problem. Zudem ist Thomas so etwas wie ein zweiter Vater für Philipp, er hätte bei dem nun folgenden Ge­spräch sicher bei uns bleiben können.

„Grundsätzlich ist es mir egal, ob du mir eine Schwieger­tochter oder einen Schwiegersohn anschleppst, du bist und bleibst weiterhin mein Sohn, das ist dir doch hoffentlich klar. Im Übrigen habe ich schon längere Zeit so etwas vermutet, da du bisher nicht gerade viele Mädchen mit nach Hause gebracht hast und auch keine davon als deine Freundin vorgestellt hast.“

Ich machte eine kurze Pause und versuchte mir vorzu­stellen, was gerade in seinem Kopf vorgehen könnte, bevor ich weitersprach: „Ebenso glaube ich dir nicht, dass du es erst seit gestern oder heute weißt, dass du auf Jungs stehst. Dir ist das sicher schon vor längerer Zeit klar gewesen. Ich kann mir ebenso schlecht vorstellen, dass es Marcus erst gestern oder in den letzten Tagen klargeworden ist, dass er dich liebt oder in dich verliebt ist. Warum um Himmels willen traust du dich, beziehungsweise ihr beide, erst heute, das zu sagen. Wusste vielleicht deine Schwester schon längere Zeit davon, hast du schon etwa mit ihr darüber gesprochen?“

Nun war es mein geliebter Sohn Philipp, der wieder etwas länger nach­dachte, bevor er mir antwortete. „Gut, ich bin mir schon seit mehr drei Jahren sicher, dass ich schwul bin, und nein, deine Tochter, respektive meine Schwester, weiß bisher auch noch nichts davon. Aber …“, er stockte plötzlich, bevor er nach einer kurzen Unterbrechung dann doch weitersprach: „… aber ich bin eigentlich immer davon ausgegangen, dass du es weißt oder zumindest vermutest und ich es dir nicht extra und offiziell mitteilen muss. Marcus für sich weiß es auch schon seit einiger Zeit, dass er auf Jungs steht. Aber bis vor wenigen Wochen haben wir beide nie über dieses Thema gesprochen, deshalb vorher auch der Hinweis auf den Song aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.“

Er unterbrach sich kurz, dachte wohl darüber nach, was er mir erzählen kann und darf. Er sprach weiter: „Es war bei der letzten Schuldisco, wir hatten beide schon etwas getrunken. Ich fühlte mich an diesem Abend mutig genug, Marcus endlich die Wahrheit über mich zu erzählen und auch die Tatsache, dass ich unendlich in ihn verliebt bin. Zuvor hatte ich immer die Angst, dass, wenn ich es Marcus erzähle, was mit mir los ist, er die Freundschaft zu mir aufkündigen würde; ich wollte ihn doch nicht als meinen besten Freund verlieren.“

Wieder gab es eine kurze Pause, bevor er fortsetzte: „An diesem Abend hatte ich einfach das gute Gefühl, dass mein Outing bei ihm ohne weitere Folgen für mich bleiben würde. Wenn nicht, dann sollte es eben so sein, aber ich konnte und wollte auf Dauer nicht mehr mit dieser Unsicherheit leben, ich wollte endlich Klarheit für mich und das Versteckspielen beenden. Wäre unsere langjährige Freund­schaft an diesem Abend für immer zerbrochen, hätte ich wenigstens sicher gewusst, woran ich bin. Zum Glück ist dann doch alles anders gekommen, als ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen immer ausgemalt hatte.“

Ich dachte kurz über seine Aussagen nach, bevor ich ihm antwortete: „Ich kann das zwar nicht so ganz nachvollziehen, da bei mir alles ganz anders abgelaufen ist, aber zumindest verstehe ich dich und deine Bedenken. Thomas und mich hättest du sicher früher ins Vertrauen ziehen können, dass sollte dir zumindest klar sein. Wir lieben dich beide so, wie du bist.“

„Jetzt aber raus mit der Sprache, was ist wirklich los? Da fehlt doch noch etwas. Wo drückt dich der Schuh? Das kann doch noch nicht alles ge­wesen sein“, fragte ich ihn. Ich war mir so sicher, dass er noch immer nicht die volle Wahrheit auf den Tisch gelegt hatte.

Er überlegte eine Weile, bevor er wieder loslegte: „Nun, wie soll ich es dir erklären, Marcus hat sich bei seinen Eltern bisher ebenfalls noch nicht geoutet und er traut sich auch nicht so richtig. Er hat einfach Angst davor, wie seine Eltern darauf reagieren.“

„Hey, Philipp, wo seht ihr da das Problem, sie wissen doch, dass du einen schwulen Vater hast, der mit seinem Partner in einer gesetzlich anerkannten Lebens­gemeinschaft lebt. Wenn ich das in Betracht ziehe, so sollte das doch gar kein so großes Problem für sie sein.“

„Ach Paps, ja das schon.“

„Aber was, haben sie sich jemals negativ über uns beide geäußert“, fragte ich ihn wieder.

„Nein, nicht dass ich wüsste, aber er hat einfach nur ein Problem damit, ihnen zu sagen, dass er auf Männer steht und sich in mich verliebt hat. Er befürchtet, dass sie der Meinung sein könnten, wir hätten ihn dazu verführt.“

„Oh Philipp, wo lebt ihr zwei eigentlich, entweder man ist von Geburt an schwul oder bisexuell veranlagt, man kann nicht dazu verführt werden.“

Wobei, so ganz sicher war ich mir da in diesem Moment doch nicht, wenn ich dabei an mich persönlich dachte. Wie ist das eigentlich bei mir, bin ich jetzt schwul oder bisexuell? Immerhin galt ich als hetero, während der Zeit, in der ich mit Gabi verheiratet war. Gegenwärtig hatte ich nicht die Zeit, um weiter darüber nachzudenken. Ich hatte mir bisher auch keinen Kopf zu diesem Thema gemacht, also warum jetzt.

Bevor wir beide weitersprechen konnten, kam plötzlich Thomas aus der Küche zurück ins Esszimmer und meinte: „Ich hätte da eine Idee.“ Hatte ich es mir doch gedacht, dass er die ganze Zeit unserem Gespräch gelauscht hatte.

Philipp und ich schauten uns kurz verwundert an und so fragte ich Thomas: „Was für eine Idee hast du denn, spann uns nicht unnötig lange auf die Folter.“

„Du, Philipp, rufst jetzt deinen Marcus an, sagst ihm, dass alles klargeht und er für heute Nachmittag zu Papas Geburtstagsfeier herzlich eingeladen ist. Ich rufe dann später noch seine Eltern an und lade sie ebenfalls für heute Nachmittag als Überraschungs­gäste zu der Geburts­tags­fete ein, wenn du nichts dagegen hast. Was dann dort geschieht, lassen wir einfach auf uns zukommen, wobei ich für euch hoffe, dass Marcus‘ Eltern tolerant genug sind und nichts dagegen haben, wenn ihr euch vielleicht so nebenbei küsst. Außerdem, wenn alles schieflaufen sollte, könnte Marcus erstmal bei uns einziehen, was wahr­schein­lich über kurz oder lang sowieso von euch in Erwägung gezogen werden kann, wenn ihr euch wirklich so liebt, wie du es uns beschrieben hast. Da er ebenfalls bereits achtzehn Jahre alt ist, kann er seinen Wohnsitz frei bestimmen. Oder wolltet ihr euch zusammen eine eigene Wohnung suchen?“

Wir zwei, mein Sohn Philipp und ich, schauten uns in die Augen und ich bemerkte ein kleines Lächeln in seinem Gesicht. Der alte Gauner, so ähnlich hatte er sich das wohl gedacht oder erhofft, wollte nur bei uns nicht so richtig seine Karten auf den Tisch legen, oder hatten die zwei, Thomas und Philipp, das vielleicht sogar hinter meinem Rücken so geplant? Das würde ich wohl nie erfahren, das ist mir in diesem Moment bereits klar gewesen, denn für Philipp ist er, wie schon gesagt, so etwas wie ein zweiter Vater und wenn die zwei ein Geheimnis hätten, sie würden es mir gegenüber nie zu­geben.

Thomas wechselte jetzt sehr schnell das Thema und meinte zu mir: „Peter, es wird Zeit, dass du dich langsam wie vereinbart vom Acker machst, du weißt, dass wir dich vor fünfzehn Uhr hier nicht wieder sehen wollen. Du störst uns bei den letzten Vorbereitungen für deine Geburts­tagsfete, vor allem musst du ja nicht schon im Voraus wissen, was wir da alles geplant und organisiert haben.“

„Ja, ja ich mach ja schon, aber duschen und anziehen, das darf ich wohl noch, oder wollt ihr mich in diesem Outfit los­werden“, sagte ich so einfach locker vor mich hin.

„Nun verschwinde schon unter der Dusche und schau, dass du weiterkommst“, kam darauf von Thomas. Mir fiel dabei auf, dass die beiden sich ziemlich verräterisch anschauten, aber ich sagte nichts mehr, sondern verschwand nach oben ins Bad.

Nachdem ich mich frisch rasiert und geduscht hatte, wechselte ich vom Bad ins Schlafzimmer und kleidete mich an. Fertig angezogen ging ich dann wieder nach unten und fand die beiden in der Küche, sie hatten zwischenzeitlich den Frühstücks­tisch abgedeckt und in der Küche wieder klar Schiff gemacht.

„So ihr seid mich jetzt los, ich bin jetzt unterwegs. Ich fahr mal in die Stadt; mal sehen, ob ich vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten für Weih­nachten einkaufen kann, und danach werde ich noch zu Francesco ins Café gehen. Bis später, ihr zwei Helden.“

Sie verabschiedeten sich von mir und von beiden erhielt ich noch ein Küsschen. Thomas erinnerte mich noch einmal daran, ja nicht vor fünfzehn Uhr hier wieder aufzukreuzen. Das hatte ich auf keinen Fall vor, nicht dass ich am Ende noch zur Mithilfe bei den Vorbereitungen verdonnert würde.

In der Diele schlüpfte ich noch in meine Straßenschuhe und in die Daunenjacke und verließ das Haus. Ich wollte sie nicht weiter stören bei ihren Vorbereitungen für heute Nachmittag. All zu groß konnten die Überraschungen wohl nicht sein, das Outing meines Sohnes konnte meines Erachtens sowieso nicht mehr getoppt werden.

Ich überlegte mir noch kurz, ob ich jetzt mit dem Wagen in die Stadt fahre oder heute ausnahmsweise den Bus nehmen sollte, und kam am Ende zu dem Entschluss, doch lieber mit dem Bus zu fahren, da heute der erste Advents­einkaufs­samstag war und damit in der Stadt sicher wieder alle Parkhäuser vollgestopft sind. Ich stapfte also durch den ersten Schnee dieses Spätherbsts, denn in der letzten Nacht hatte es zum ersten Mal ein wenig geschneit, zur in der Nähe gelegenen Bushaltestelle. Glück gehabt, in zwei Minuten sollte bereits der nächste Bus kommen, der mich in die Innenstadt bringen würde.

Der Bus kam überpünktlich, ich stieg beim Fahrer vorne ein und kaufte mir bei ihm ein Tagesticket. Nach zwanzig Minuten war ich in der Stadtmitte und verließ den Bus. Zuerst schlenderte ich noch gemütlich durch die Einkaufsmeile und den Weihnachtsmarkt, aber schon nach kurzer Zeit hatte ich keine große Lust mehr auf Shopping. Ich war mit meinen Gedanken immer wieder bei unserem morgendlichen Gespräch mit Philipp und Thomas und vor allem bei der Frage: Wie ist das eigentlich bei mir, bin ich schwul geboren, bin ich bisexuell zur Welt gekommen oder gehöre ich zu einer seltenen Gattung Mensch, die erst im Laufe ihres Lebens durch andere zur Männerliebe gekommen sind?

Habe ich nur geheiratet, weil es einfach so üblich war, wollte ich damals nur etwas verdrängen, was ich eigentlich schon damals ge­ahnt oder vermutet hatte? Weiter versuchen einzukaufen hat keinen Sinn, mit diesen wirren Gedanken in meinem Kopf wird das heute sicher nichts Vernünftiges.

Ach was, ich kann eigentlich doch gleich zu Francesco ins Café gehen. Vor allem konnte ich mich dort in eine ruhige Ecke setzen, gemütlich einen Kaffee trinken und über alles ungestört nachdenken. Gesagt, getan, also auf dem kürzesten Weg zu Francescos Café.

Als ich dort ankam, schaute mich Francesco komisch an und meinte zu mir: „Du bist schon hier; ich dachte, du bist erstmal in der Stadt einkaufen und schaust dann später bei mir rein. Komm her, lass dir zum Geburtstag oder besser noch zum halben Jahrhundert gratulieren.“

Hatte doch einer von meinen beiden bei Francesco angerufen und gepetzt und vielleicht sogar noch Anweisung gegeben, mich ja nicht zu früh wieder verschwinden zu lassen, damit ich nicht, von meiner Neugier getrieben, doch früher wieder zuhause auftauche.

Ich bedankte mich bei Francesco für die Glückwünsche und bestellte mir ein Haferl Kaffee, ihr wisst schon, die großen Tassen und nicht so eine Ein-Schluck-Portion. Gott sei Dank war einer der ruhigeren Tische in der Ecke frei, an den ich mich setzen konnte, und tat das dann auch.

Francesco brachte mir meinen Kaffee und ich trank einen ersten großen Schluck davon. Ich entspannte mich und wollte nun in aller Ruhe meine Gedanken sortieren. Coming Out meines Sohnes, na eigentlich doch nichts Besonderes, im Grunde genommen. Wenn ich da an mein eigenes Coming Out denke, das war wirklich was anderes. Aber auch die Überlegungen zu mir selbst und meinem Wechsel zur Männerliebe ließen mich einfach nicht los.

Plötzlich lächelte ich still in mich hinein, denn aus meinen Speicher­zellen im Gehirn kamen so langsam wieder Erinnerungen an meine bisherige Lebens­geschichte zum Vor­schein. Ihr seid jetzt sicher neu­gierig und wollt die ganze Geschichte kennenlernen, aber wo fange ich da am besten an? Na, am besten fange ich wohl ganz von vorne an, denn mein persönliches Coming Out war schon wirklich eine langwierige Angelegenheit.

Wenn ich korrekt sein soll, dann muss ich mehr als fünfundzwanzig Jahre zurück in die Vergangenheit, denn da fing alles eigentlich schon an. Sicher nicht mein Outing, aber um das Ganze besser zu verstehen, muss ich doch so weit zurückgehen. Kurz vor mei­nem zweiundzwan­zigsten Geburtstag lernte ich auf einer Ge­burts­tagsfeier eines Freundes Gabi kennen, es war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick, aber wir verstanden uns auf Anhieb und wir haben uns an diesem Abend gefühlt stundenlang blendend unterhalten. Irgend­wann fragte ich sie dann nach ihrer Telefonnummer und ob sie denn mit mir mal ins Kino oder so gehen wolle.

Nach zwei Tagen hatte ich endlich Mumm genug. Ich rief sie an und wir verabredeten uns für den nächsten Tag im Kino. Wir trafen uns am nächsten Abend, gingen zuerst ins Kino, fragt mich lieber nicht, welchen Film wir angeschaut haben, das weiß ich heute wirklich nicht mehr, auf alle Fälle muss es irgendeine Liebesschnulze gewesen sein. Danach setzten wir uns noch in ein Café, ja, es war das Café, in dem ich jetzt auch sitze und euch diese Geschichte erzähle, aber damals war noch nicht Francesco der Pächter, sondern ein älteres Ehepaar betrieb den Laden. Hoppla, mehr als fünfundzwanzig Jahre kenne ich dieses Café jetzt schon, so viele Jahre voller Freude, Schmerz und Leid. Oh ja, Gabi und ich haben uns auch an diesem Abend wieder mehr als wundervoll unter­halten.

Wir trafen uns immer öfter und ich verliebte mich immer mehr in Gabi. Nach knapp zwei Jahren verlobten wir uns endlich und ein weiteres Jahr später haben wir dann geheiratet. Wir waren beide sehr glücklich darüber, dass wir uns gefunden hatten. Etwa eineinhalb Jahre später war dann unser Glück endgültig voll­kommen, unsere Tochter Martina kam als gesundes Baby zur Welt. Weitere zweieinhalb Jahre später war ich mit Sicherheit einer der glücklichsten Menschen der Welt, als mir Gabi erklärte, sie sei wieder schwanger. Ja, es war Philipp, der gut drei Jahre nach seiner Schwester Martina unser glückliches Familienleben bereicherte.

Danach folgten noch fünf weitere Jahre, die sich als meine glück­lichsten Jahre herausstellten, die ich bis dahin erleben durfte, danach fiel ich in ein so tiefes Loch, wie es sich kaum einer vorzustellen vermag.

Ich unterbrach kurz meine Gedanken und merkte, dass mein Kaffee inzwischen kalt geworden war. Schnell leerte ich die große Tasse, nach dem Motto ‚kalter Kaffee macht schön‘, wobei ich mir da aber nicht sicher bin, ob das bei mir wirklich hilft. Bei Francesco bestellte ich einen frischen Kaffee, logischerweise wieder in der großen Tasse. Kaum stand der frische Kaffee vor mir, nahm ich einen kräftigen Schluck und versank wieder in meinen Gedanken. Wo war ich hängengeblieben in meinem bisherigen Leben, ach ja, bei der Feststellung, dass die traurigste Zeit meines Lebens begann.

Eines Abends, ich erinnere mich noch, wie wenn es erst gestern gewesen wäre, unsere beiden Kinder lagen bereits in ihren Betten und schliefen. Wir lagen ebenfalls schon im Bett, hatten uns aneinander gekuschelt, als Gabi meinte, sie müsse mir noch etwas Wichtiges erzählen. Ich fragte ob, das nicht Zeit bis morgen habe, ich wollte schlafen, denn der Tag war anstrengend genug gewesen, aber Gabi sagte nur „nein“, und dann fing sie an.

„Ich war heute wieder einmal zu den üblichen Vorsorgeuntersuchungen bei meinem Frauen­arzt.“

Na und, dachte ich, ist doch eh immer dasselbe, nichts gefunden und alles okay, oder wollte sie mir vielleicht sagen, dass nach so langer Zeit doch noch ein Wunder geschehen ist und dass wir ein drittes Kind erwarten? Was Gabi mir dann aber versuchte schonend beizubringen, hörte sich plötzlich nicht nach einer dritten Schwangerschaft an. Er hätte da etwas festgestellt und sie müsse noch zu diversen weiteren Untersuchungen. Es könne zwar gutartig sein, aber sicherheitshalber wolle der Arzt der Sache auf alle Fälle genau nachgehen.

Ich schluckte erst mal tief und meinte dann zu ihr: „Wenn es nach mir geht, ist es gutartig und wir brauchen uns keine großen Sorgen zu machen.“

In den nächsten Wochen war Gabi dann noch mehrmals beim Frauenarzt für weitere Unter­suchungen und nach gut drei Wochen kam dann doch die niederschmetternde Mitteilung, sie hätte Krebs.

Die nächsten zwölf Monate entpuppten sich für mich als eine grausame Zeit, der absolute Horror, wahr­scheinlich genauso für meine beiden Kinder, die sich das jedoch nicht anmerken ließen. Gabi war zweimal zu einer Chemotherapie im Krankenhaus. Ich war in dieser Zeit allein mit meinen Kindern zu Hause. Ich betete, ja ich betete, obwohl ich nicht sehr gläubig bin, darum, dass Gabi wieder gesundwerden möge und sie weiterhin für unsere Kinder und mich da sein könne. Es half alles nichts und ich musste mit ansehen, wie es Gabi von Tag zu Tag schlechter ging.

Das letzte Fest, das wir als Familie gemeinsam feiern konnten, war Philipps sechster Geburtstag. An diesem Tag wurde mir dann auch endgültig klar, dass dies wohl unsere letzte gemeinsame Feier gewesen sein wird.

Drei Wochen, bevor sie dann für immer von uns ging, sagte sie eines Abends zu mir: „Peter, ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe und du siehst ja selbst, dass es mit mir immer mehr bergab geht, behaltet mich gut in Erinnerung und vor allem versprich mir eines, wenn du eines Tages noch einmal jemanden kennen und lieben lernst, dann werde ich deinem und eurem Glück nicht im Wege stehen. Ich will nicht, dass du bis an dein Lebens­ende als trauriger Witwer durchs Leben gehst, und vor allem sorge immer gut für unsere Kinder.“

Ich war erst mal sprachlos und musste meine Gedanken sortieren, bevor ich ihr damals sagte: „Gabi, ich verspreche dir, solange ich lebe, werde ich immer gut für unsere Kinder sorgen, bis sie eines Tages erwachsen sind und ihr eigenes Leben führen werden, aber auch dann werde ich immer für sie da sein, egal was geschieht. Ob ich jemals wieder jemanden lieben kann, so wie ich dich geliebt habe, das kann ich dir nicht versprechen, aber sollte das irgendwann geschehen, dann werde ich versuchen dieses neue Glück zu genießen. Trotzdem werde ich immer an dich denken, die vielen Jahre, die ich bisher mit dir zusammen bin, sind für mich die schönste Zeit meines Lebens gewesen, die werde ich immer in bester Erinnerung behalten.“

Wie schon gesagt, danach verblieben uns nur noch drei oder vier gemeinsame Wochen, ich weiß das leider nicht mehr so genau, ich habe das inzwischen einfach aus meinem Gedächtnis verdrängt. Aber die uns noch verblei­bende Zeit haben wir gemeinsam bis zum letzten Augenblick genossen.

Meine beiden, Philipp war zwischenzeitlich sechs Jahre und Martina mit ihren knapp zehn Jahren, hatten zwar alles mitbe­kommen, was im Laufe des letzten Jahres geschehen war, aber am Ende war es die bisher schwerste Aufgabe in meinem Leben, ihnen das Unvermeidliche möglichst schonend beizubringen. Ich schnappte mir meine beiden, setzte sie auf meinen Schoß und versuchte sie so schonend wie möglich auf das vorzubereiten, was ich ihnen nun zu sagen hatte. Okay, ich hatte mir zwar in den Wochen davor schon einiges durch den Kopf gehen lassen, aber wie bringt man seinen Kindern das wirklich näher? Es gibt dafür kein Patentrezept, zumindest habe ich nie eines gefunden.

Im Nachhinein betrachtet glaube ich, dass mir das sehr gut ge­lungen ist, obwohl es selbst für mich nicht immer einfach gewesen ist.

In den ersten Tagen nach Gabis Tod, insbesondere bis zur Beerdigung, ging es uns allen sehr schlecht, ich weinte viel, aber auch meine Kinder weinten in dieser Zeit sehr viel und mussten immer wieder von mir getröstet werden. Eine große Stütze sind in dieser Zeit meine, aber auch Gabis Eltern gewesen. Sie haben sich rührend um ihre Enkelkinder gekümmert, aber auch versucht, mich immer wieder aufzurichten.

Natürlich hatte diese Situation katastrophalen Auswirkungen auf meine tägliche Arbeit, ich war häufig unkonzentriert. Mein Chef hat mich an so manchen Tagen gnadenlos wieder nach Hause geschickt. Im Nachhinein betrachte hatte er viel Verständnis für mich und meine Situation, in der ich in dieser Zeit steckte. Ich bin ihm heute noch dank­bar dafür, dass er mich in dieser Zeit nicht einfach vor die Türe gesetzt hat.

Ich war manchmal tagelang richtig depressiv, schlecht gelaunt und fragte mich immer wieder: „Warum meine geliebte Gabi, warum nicht ich?“ Ich redete mir immer wieder ein, meine Frau würde sicher besser mit dieser Situation klarkommen. Sie hatte immer den näheren Bezug zu unseren Kindern. Ich war doch den größten Teil des Tages in der Arbeit und hatte meine Kinder immer nur abends und am Wochenende um mich gehabt, mit ihnen was unter­nehmen können.

Nach ungefähr drei Monaten habe ich mich dann doch langsam etwas gefangen, meine beiden Kinder Martina und Philipp waren mir in dieser Zeit eine große Stütze. Ich stellte sogar mit Erstaunen fest, dass sie eigentlich beide schon sehr selbständig waren und ich sie tagsüber ruhig auch mal allein zu Hause lassen konnte. Genau genommen waren sie nur nachmittags öfter allein zu Hause, vormittags waren beide in der Schule. Ich konnte mich auf meine Mutter und auch auf Gabis Mutter verlassen, sie haben sich beide in dieser Zeit rührend um ihre Enkel­kinder gekümmert. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem meine Eltern uns mitteilten, dass sie zukünftig nicht mehr hier leben wollten, sondern beide nach Mallorca auswandern würden.

Das war ein weiterer Wendepunkt in meinem Leben, der mich beinahe erneut aus der Bahn geworfen hätte, bis zu dem Zeitpunkt war es einfach, mit meinen Problemen zu meinen Eltern zu gehen und mit ihnen gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Mit ihrer Entscheidung zu diesem Schritt hatte ich auch gehörig zu kämpfen. Trotzdem stürzte ich mich in die unvermeidliche Aufgabe, den beiden bei ihrem Umzug nach Mallorca zu helfen. Selbst Martina und Philipp halfen ihren Großeltern bei den Umzugs­vorbereitungen.

Wir sahen Oma und Opa in den folgenden Jahren immer nur zu Weihnachten, bis die winterlichen Flüge wegen der Kälte hier in Deutschland von ihrem Reiseprogramm gestrichen wurden. Danach sahen wir sie nur noch im Sommer, wenn wir Urlaub bei ihnen auf Mallorca machten. Bis heute ist es jedenfalls so, dass wir regelmäßig mit den beiden telefonieren, mindestens zwei- bis dreimal im Monat.

Ich schreckte wieder aus meinen Gedanken hoch und erkannte, dass ich noch immer im Café bei Francesco saß und mein Haferl in der Zwischenzeit wieder leer ist. So bestellte ich mir schnell einen neuen Kaffee und blickte mich ein bisschen im Café um. Es war inzwischen doch um einiges voller als zu dem Zeitpunkt, an dem ich angekommen war. Noch hatte sich keiner zu mir in die Ecke gesellt. Francesco brachte mir das gewünschte Getränk und ich trank erneut einen Schluck heißen Kaffee und kehrte wieder zu meinen Erinnerungen zurück.

Während dieser für mich so schrecklichen und unglück­lichen Zeit hatte mein Chef für die Abteilung einen neuen weiteren Mitarbeiter eingestellt. Ihr liegt richtig mit eurer Vermutung, wenn ihr annehmt, dass es Thomas war, mein jetziger Lebensgefährte. Aber bis es zwischen uns beiden gefunkt hat und wir uns nähergekommen sind, oder anders gesagt, bis aus uns beiden ein Paar wurde, ist dann doch noch einige Zeit vergangen.

Thomas, ja wie ist das eigentlich abgelaufen mit uns beiden, dass er jetzt mein Lebensgefährte ist? Anfangs konnte ich ihn nicht ausstehen, ich hatte ja ständig die Befürchtung, dass er mich von meinem Posten als Abteilungsleiter verdrängen könnte, bei meinem damaligen katastrophalen Gefühlsleben. Arbeitstechnisch gesehen, war er ein verdammt guter Mitar­beiter und das war es auch, was mich damals zu diesen Über­legungen brachte.

Nach vielen weiteren Wochen, in denen ich mein Leben mehr oder weniger wieder besser in den Griff bekommen hatte, kam ich dann doch zu der Erkenntnis, dass Thomas eine sehr gute Ergänzung für meine Abteilung war. Es wurde mir auch klar, dass er zu dieser Zeit nicht auf meinen Posten als Abteilungsleiter aus war. Das Arbeitsklima und auch die Zusammenarbeit mit ihm wurden dadurch immer weiter ver­bessert, ja wir wurden zumindest in der Arbeit ein fast unschlag­bares Team. Es dauerte immerhin noch fast ein weiteres Jahr, bis sich daran etwas ändern sollte.

Wieder legte ich eine kurze Pause ein, ein Blick zur Uhr verriet mir, dass ich noch Zeit hatte, bis ich mich auf den Heimweg machen sollte, um rechtzeitig zu Hause zur Feier zu erscheinen. Es dauerte auch nicht lange und meine Gedanken wanderten wieder in die Vergangenheit zurück und dorthin, wie es weiterging, oder deut­licher gesagt, wie sich das entwickelte, was ich mir zu der Zeit eigentlich nie hatte vorstellen können.

War es Vorbestimmung meines Lebens, daran glaube ich bis heute eigentlich nicht, oder waren es nur Zufälle in meinem Leben, aber auch daran glaubte ich nie, dass es sich so entwickelte.

Wieder dachte ich an das Gespräch heute Morgen mit Philipp und meiner Aussage, dass man normalerweise bisexuell oder schwul geboren werde und nicht im Laufe des Lebens dazu gemacht werden könne. Ich für meinen Teil hatte daran immer noch so meine Zweifel und konnte meinen eigenen Worten nicht so recht trauen.

Wahrscheinlich bin ich immer schon bisexuell gewesen, aber durch meine große Liebe zu Gabi hatte ich mich einfach in eine Richtung festgelegt. Dies änderte sich nach ihrem Tod und nur deshalb, weil ich lange Zeit zu sehr mit meinen Kindern beschäftigt war. Alles andere, auch mein eigenes Liebesleben, ist mehr oder weniger in den Hinter­grund verdrängt worden.

Aber wieder zurück zur eigentlichen Geschichte, unser Chef hatte wie immer kurz vor Weihnachten zur betrieb­lichen Weihnachtsfeier eingeladen. Die Feier wurde üblicher­­weise immer an einem Freitag­abend veranstaltet, so dass die Mitarbeiter am darauffolgenden Tag, also dem Samstag, ausschlafen konnten. Thomas saß, wie schon im Vorjahr, mit am Abteilungstisch, diesmal jedoch direkt neben mir. Im Laufe des Abends fiel mir unangenehm auf, dass Thomas einiges an alkoholischen Getränken konsumierte, dachte für mich aber nur, der wird schon wissen, was er da treibt, alt genug sollte er doch sein.

Nachdem er weitere zwei Whiskey-Cola intus hatte, wagte ich es doch ihn anzusprechen und erlaubte mir die Frage: „Thomas, was ist los mit dir, so kenne ich dich überhaupt nicht, ich habe bisher noch nie erlebt, dass du bei irgendwelchen Feiern oder beim Betriebsausflug so viel Alkohol in dich hinein­geschüttet hast.“

Dabei schaute ich ihm tief in seine Augen und sein Gesicht. Ich stellte fest, dass er unglücklich aussah. Er sagte zuerst gar nichts, sah mir ebenfalls tief in die Augen und meinte dann nach längerer Pause: „Ich habe schrecklichen Liebeskummer, ich habe mich in jemanden verliebt, aber ich bin mir fast sicher, dass er meine Liebe wahr­scheinlich niemals erwidern wird.“

Der schnellste war ich gedanklich an diesem Freitagabend scheinbar auch nicht mehr, so dass ich es zuerst gar nicht bemerkt hatte, dass Thomas ER gesagt hatte. Ich sagte also zu ihm: „So schlimm kann es doch gar nicht sein, okay, du bist jetzt unglücklich verliebt, aber wer weiß, vielleicht kommt schon demnächst eine Neue, in die du dich verlieben wirst und die deine große Liebe erwidern wird.“

Er sah mich mit noch traurigeren Augen an und erst in diesem Moment fing ich an zu realisieren, was ich da eben für einen Bock­mist von mir gegeben hatte. Er hatte ER gesagt und ich hatte mit SIE reagiert. Jetzt war ich verwirrt. Ich überlegte lange, wie ich mich da am besten wieder aus der Affäre ziehen konnte.

„Thomas stehst du auf Männer?“, fragte ich ihn so leise wie möglich, die anderen mussten das ja nicht unbedingt mitbekommen. „Ja, ich habe mich unsterblich in einen Mann verliebt“, kam es ebenso leise von ihm zurück. Ich wusste plötzlich nicht mehr, wie ich mit dieser Situation weiter umgehen sollte, ich als eingefleischter Hetero, dachte ich so für mich. War ich doch lange Zeit glücklich verheiratet, hatte zwei liebe Kinder und jetzt hier der unglücklich verliebte Arbeitskollege, der mir soeben offenbart hat, dass er auf Männer steht.

Nach kurzen Überlegungen meinerseits meinte ich dann nur noch zu Thomas: „Bitte, tu dir, aber auch mir einen Gefallen und trink nicht weiter so viele harte alkoholische Sachen, du kannst die derzeitige Situation sicher nicht mit einem Vollrausch verändern, und denk vor allem daran, du musst heute auch noch irgendwie nach Hause kommen. Ich denke, wir sollten uns einfach einmal in den nächsten Tagen oder auch Wochen, wenn du wieder nüchtern bist, zusammensetzen und über die Angelegenheit sprechen. Jetzt mach nicht ständig so ein trauriges Gesicht, Weihnachten ist das Fest der Freude und der Liebe, und eine Weih­nachtsfeier ist nichts für traurige Typen“, schob ich noch hinterher.

„Das mag ja sein, dass Weihnachten das Fest der Freude ist, aber ich bin hier an Weihnachten immer allein, zu meinen Eltern kann ich nicht, sie haben mich verstoßen, als ich ihnen eröffnete, dass ich schwul bin. Das ist mit einer der Gründe, warum ich jetzt hier lebe und arbeite und nicht in meiner Heimat.“

„Thomas, lass uns darüber am Montag reden, nicht, dass unsere Kollegen das alles mitbe­kommen, außer du willst jetzt die Weih­nachtsfeier für ein Outing in der Firma nutzen“, sagte ich zu ihm.

Thomas sah mir wieder in die Augen und meinte dann leise zu mir: „Ich denke, du hast recht, ich sollte mich wirklich etwas mehr zurück­halten, auf ein Outing in der Firma bin ich jetzt in diesem Zustand nicht unbedingt scharf und ich versuche mich auch ein bisschen zusammenzureißen, weniger zu trinken und fröhlicher zu sein.“

Ich konnte mich jetzt nicht weiter mit Thomas beschäftigen, da ich, wie ich im Augenwinkel bemerkt hatte, unser Chef an unsern Tisch herankommen sah, um sich mit uns zu unterhalten. Ich hoffte auf alle Fälle, dass sich Thomas etwas mehr zusammenreißt, damit nicht auch noch der Chef die Sache mitbekommt. Die nächsten mehr als zwanzig Minuten vergingen mit Small Talk, wobei ich zumindest feststellen konnte, dass sich Thomas wirklich Mühe gab, nicht weiter aufzufallen. So ganz klappte das dann doch nicht. Okay, im Gesicht hatte er zumindest nicht mehr die ganz so traurige Miene, aber mit den Getränken stand er weiter auf Kriegsfuß. Wieder bestellte er sich Whiskey-Cola, ich versuchte mit Blickkontakt die Kellnerin davon zu überzeugen, weniger Whiskey zu verwenden.

Ansonsten war die Weihnachtsfeier, die der Chef dieses Jahr veran­staltete, wieder hervorragend gelungen, eigentlich so wie immer in den letzten Jahren. Vor allem die Tombola, mit der er seine Mit­arbeiter zu jeder Weih­nachts­feier bedachte, kam hervorragend an. Ich glaube, wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich in diesem Jahr eine Küchenmaschine und Thomas einen Bildband über Amerika gewon­nen. Unser Boss hatte zusammen mit seiner Frau, wie in den vergan­genen Jahren, für jeden Mitarbeiter einen Gewinn bei der Tombola organisiert, zwar unterschiedlich im Preis, aber eben für alle Mitarbeiter einen Gewinn. Dem Losglück blieb es überlassen, welchen Gewinn man dabei zog.

Ich bin schon wieder abgeschweift vom Thema, das sollte ich mir schnellstens abgewöhnen. Da ich während der Weihnachtsfeier immer wieder den Tisch wechselte, um auch mit den anderen Kollegen und Kolleginnen ins Gespräch zu kommen, verlor ich Thomas schließlich doch etwas aus den Augen.

Inzwischen war es schon weit nach Mitternacht. Ja, ich wollte und musste langsam nach Hause, sonst würde die Nacht wieder viel zu kurz werden, meine beiden Kinder würden mich am Morgen sicher nicht sehr lange schlafen lassen. Außerdem wollten wir an diesem Advents­samstag auf den Weihnachtsmarkt bummeln und einige kleinere Einkäufe erledigen.

Die Reihen hatten sich inzwischen schon gelichtet und im Grunde war es nur noch der harte Kern an Mitarbeitern, die noch anwesend waren. Ich verabschiedete mich von meinem Chef und seiner Gattin und be­dankte mich noch mal für meinen Gewinn und die gelungene Feier.

Ich schaute mich um, wollte wissen, wer denn noch alles da sei, von wem ich mich besser noch verabschieden sollte. Dabei bemerkte ich Thomas, der auf einer der Bänke lag und wohl eingeschlafen war.

Ich überlegte kurz: Soll ich mich um ihn kümmern oder überlasse ich das anderen. Ich entschloss mich in dem Moment, dafür Sorge zu tragen, dass mein guter Arbeitskollege Thomas unbeschadet nach Hause kommt. So sagte ich zu meinem Chef: „Ich werde mal Thomas aufwecken, ist wohl besser, wenn ich ihn mit nach Hause nehme. Da er nur gut einen Kilometer von mir entfernt wohnte, ist das auch kein Problem für mich. Selbst heimfahren kann er auf keinen Fall in seinem Zustand.“

Unser Chef blickte jetzt ebenfalls kurz zu Thomas rüber und meinte zu mir: „Ich denke, dass es wirklich besser ist, wenn sich jetzt einer um ihn kümmert und ihn sicher nach Hause bringt, bevor noch ein Unglück geschieht.“

Nun ja, gesagt, getan, Thomas aufgeweckt, ihm erklärt, dass ich ihn nach Hause bringe und wenige Minuten später waren wir auf dem Weg zu unseren Mänteln, die draußen im Flur hingen. Thomas mehr schwankend und unsicher auf seinen Beinen, eigentlich mehr gestützt von mir als selbst vernünftig laufend. In diesem Augenblick dachte ich für mich, das kann ja noch interessant werden. Ich hoffte, dass er zumindest, wenn wir bei ihm ange­kommen sind, er den Rest allein schaffen würde.

Dass meine Entscheidung Thomas heimzubringen und was dabei und danach geschah, mein Leben so total über den Haufen werfen würde, hatte ich mir weder gedacht, noch hätte ich es mir je in meinen kühnsten Träumen vorstellen können. Wie heißt es so schön: „Wie das Leben so spielt“ oder „unverhofft kommt selten oft.“ Oder wieder einer dieser Zufälle im Leben, bestimmt, aber nicht vorausbestimmt.

Francesco holte mich aus meinen Gedanken in die Realität zurück und sagte zu mir: „Ich gebe dir, bevor du nachher nach Hause fährst, zum runden Geburtstag einen aus, was willst, ein Gläschen Prosecco oder lieber ein Gläschen Sekt?“ Ich überlegte kurz und bestellte ein Gläschen Prosecco. Er ging zurück zum Tresen und kam nach kurzer Zeit mit zwei Gläsern Prosecco wieder an den Tisch.

„Ich habe ein wenig Zeit, es ist momentan etwas ruhiger hier, lass uns anstoßen auf deinen runden Geburts­tag.“ Gleichzeitig ließ er sich auf dem Stuhl neben mir nieder. „Nochmal alles Gute und vor allem Gesundheit für die nächsten fünfzig Jahre.“ Wir stießen kurz an, nahmen beide einen Schluck und dabei schaute er mir tief in die Augen. „So und jetzt erzähl mir, was los ist, so geistig abwesend habe ich dich noch nie bei mir im Café erlebt. Du sitzt hier in der Ecke und scheinst die Welt um dich herum zu vergessen. Wo ist das Problem, das dich so fest im Griff hat und dich beschäftigt.“

Ich überlegte kurz, was ich ihm sagen sollte: Sollte ich mich rausreden oder sollte ich ihm wirklich erzählen, was mit mir los ist? Francesco kannte mich und meine Familie schon viele Jahre, ich war schon mit Gabi und den Kindern hier gewesen. Gut, das war zwar erst, als es ihr bereits schlechter ging, aber immerhin, er hatte sie noch kennen­gelernt. Mit meinen Kindern und später auch mit Thomas und den Kindern sind wir gerne hier gewesen, wenn wir nur eine Kleinigkeit essen wollten und keine Lust hatten zu kochen. Ich denke, ich kann mit ihm darüber reden.

„Wie erkläre ich es dir am besten, heute Morgen beim Frühstück überraschte uns Philipp zuerst mit der Mitteilung, dass er auf Männer steht, er sich verliebt hat und dann mit der Frage, ob er seinen Freund zu meiner Geburtstagsfeier heute Nachmittag einladen und mit­bringen dürfe. Das ist der Auslöser für meine Nachdenklichkeit und die geistige Abwesenheit.“

„Und ist das jetzt ein großes Problem für dich?“, kam von Francesco.

„Nein“, antwortete ich kurz und setzte dann fort: „Aber das war letztendlich der Punkt für mich, über mein bisheriges Leben und die damit verbundenen Veränderungen nachzu­denken, wobei du mich jetzt bei meinen Gedanken unterbrochen hast.“

„Ich kenne euch jetzt schon einige Jahre und ich erinnere mich, wie du nach dem Tod deiner Frau in ein tiefes Loch gefallen bist und wie du dich danach langsam, Schritt für Schritt, wieder aus diesem Tief befreit hast. Selbst für mich war es auch erst mal gewöh­nungsbedürftig, dass du dir dann statt einer Freundin einen Freund geangelt hast, vor allem imponierte mir, wie deine Kinder mit der Situation umgegangen sind, die mit Thomas so gut klargekommen sind. So, ich lass dich jetzt wieder mal allein hier sitzen, die Pflicht ruft. Ich bringe dir gleich noch einen frischen Kaffee und du kannst weiter deinen Gedanken nachhängen.“

„Danke Francesco, auch schon mal vorab für den frischen Kaffee und lass dich nicht aufhal­ten, ich will nicht daran schuld sein, wenn deine Kasse heute Abend nicht stimmen sollte.“

So saß ich nun wieder allein in meiner Ecke und konnte mich wieder in meine Gedanken ver­tiefen. Es dauert eine ganze Weile, bis ich wieder da angekommen war, wo ich durch Francesco gestört wurde.

Ich war beim Aufbruch von der Firmenweihnachtsfeier. Thomas sollte von mir nach Hause gebracht werden und danach wollte ich weiter zu mir nach Hause. Wir hatten uns zwischenzeitlich die Mäntel angezogen. Klar war ich ihm beim Anziehen behilflich und wir waren, wie bereits gesagt, mehr schwankend als vernünftig laufend auf dem Weg zu meinem Auto. Ich sagte nur noch zu Thomas: „Schlaf mir ja nicht ein auf dem Weg zu dir nach Hause.“

Die Fahrt zu Thomas verlief ruhig, ich befürchtete schon fast, dass er mir unterwegs doch ein­schlafen würde. Nein, er ist dann doch nicht eingeschlafen. Nach gut zwanzig Minuten parkt ich mein Auto vor seiner Haustür, als er mich plötzlich fragte „Darf ich dich noch auf einen kleinen Schlummer­trunk einladen, das bin ich dir jetzt doch schuldig, nachdem du mich sicher nach Hause gebracht hast. Außer­dem brauchst du ja morgen nicht so früh raus aus den Federn.“ In dem Moment dachte ich nur, der kennt meine Kinder nicht, die würden mich kaum ausschlafen lassen.

Ich überlegte kurz, was ich tun sollte, seine Einladung annehmen oder einfach sagen, ich sei schon recht müde und müsse dringend ins Bett. Nachdem ich den ganzen Abend so gut wie keinen Alkohol getrunken hatte, entschied ich, was soll´s, du bist eh von hier aus in wenigen Minuten zu Hause, also kannst du dir noch einen kleinen Schluck gönnen. Vielleicht kann ich mit Thomas gleichzeitig noch ein wenig über seinen Liebeskummer reden.

Ich sagte zu ihm: „Okay einer geht, aber dann muss ich nach Hause, meine beiden Kinder werden mich morgen, äh, heute, bestimmt wie­der früh aus dem Bett holen. Wir stiegen aus dem Wagen, ich ver­schloss mein Auto und wir steuerten auf den Eingang des dreistöckigen Mehrfamilienhauses zu. Vor der Haustür fing Thomas an, in seinen Taschen nach dem Hausschlüssel zu suchen. Plötzlich meinte er „verdammte Schei…….benhonig, ich glaube, ich habe meine Wohnungsschlüssel im Büro in der Schreib­tisch­schublade liegen lassen.“

Ein Blick in Thomas Gesicht zeigte mir, dass es ihm peinlich war, den Schlüssel im Büro zu vergessen. Bevor ich jetzt Thomas des­wegen blöd anmachte, schwieg ich und dachte so für mich: Jetzt darf ich nochmal zurück in die Firma, mit ihm die Schlüssel holen und dann wieder den ganzen Weg hierher zurück. Darauf hatte ich keinen Bock, aber was bleibt mir anderes übrig. Das hast du nun von deiner Gutmütigkeit und Hilfsbe­reitschaft, du Idiot.

Während der paar Schritte zurück zum Auto überlegte ich, welche Alternativen es noch geben könnte.

Okay, ich könnte ein Taxi rufen, mit dem Thomas in die Firma und wieder zurück fahren könnte, um seine Schlüssel zu holen, aber um diese Zeit wird dort auch keiner mehr sein und wie kommt er dann an seine Schlüssel, wenn die Firma komplett verschlossen ist. Das ist keine brauchbare Lösung, also doch selbst fahren, ich hatte meine Schlüssel ja und so kämen wir auch ins Firmengebäude. Halt, ich könnte ihm ja meinen Firmen-Schlüssel bis zum Montag ausleihen und dann kommt er ins Gebäude und kann seine Schlüssel holen.

Wir stiegen in mein Auto und ich sprach zu Thomas: „Es gibt jetzt zwei Möglich­keiten, entweder ich gebe dir meinen Schlüssel von der Firma, du fährst mit dem Taxi hin, holst deine Schlüssel und dann mit dem Taxi zurück zu dir nach Hause, oder, ich weiß, das klingt jetzt verrückt, du kommst jetzt mit zu mir, übernachtest dort im Gäste­zimmer und ich bringe dich morgen in die Firma, du holst deine Schlüssel und dein Auto, und dann kannst du nach Hause fahren. Du kannst gerne bei uns im Gästezimmer schlafen. Dich in die Firma zu bringen ist kein Problem, da ich mit den Kindern morgen in die Stadt zum Weihnachtsmarkt fahren will.

Du solltest aber damit rechnen, dass die Nacht für dich genauso kurz sein könnte wie für mich. Ich übernehme keine Garantie dafür, dass du lange aus­schlafen kannst. Denk kurz darüber nach und entscheide dich.“

Thomas saß neben mir im Auto und man konnte fast hören, wie in seinem Hirn die Gedanken ratterten, bei der Stille, die nun herrschte. Plötzlich fing er an: „Okay, es gibt noch eine dritte Möglichkeit, du fährst mit mir zurück in die Firma, wir holen meinen Schlüssel und du bringst mich wieder zurück hierher, aber das dauert dann gut 45 Minuten und du kommst noch später nach Hause, ja, und den Schlum­mertrunk können wir dann ebenfalls streichen. Also, wenn es dir keine Umstände bereitet, dann würde ich bei euch im Gästezimmer übernachten, du brauchst mich dann aber morgen nicht extra in die Firma fahren, ich hole mir dann morgen mit einem Taxi meine Schlüssel und mein Auto, na ja, eigentlich heute.“

Da war sie wieder, die Logik von Thomas, heute, okay, er hatte ja Recht, es war ja schon nach Mitternacht. Aber eben doch nicht bis zu Ende gedacht in seinem Zustand, meine Schlüssel würde er auf alle Fälle brauchen, um am Samstag in die Firma zu kommen und seine Woh­nungs­schlüssel zu holen. Aber das jetzt mit ihm auszudiskutieren wollte ich mir ersparen.

Ich startete den Motor und fuhr also meinem Zuhause entgegen, wenigstens fing Thomas endlich mit reden an. „Hätte ich nicht so viel gesoffen, dann hätte ich meine Schlüssel nicht vergessen und ich würde dir nicht so viele Umstände machen. Wir könnten längst bei unserem gemütlichen Drink sitzen und den Tag ausklingen lassen.“

Er machte sich jetzt schwere Vorwürfe, dass er sich in den letzten Stunden daneben­benommen hatte, so antwortete ich ihm nur: „Jetzt mach dir nicht so viele Gedanken, das Gästezimmer muss ich nicht deinetwegen extra herrichten. Einen kleinen Drink können wir auch bei mir noch nehmen.“

Da die Fahrt von Thomas‘ Wohnung bis zu mir nach Hause nicht so lange dauerte, waren wir kurze Zeit später auch schon am Ziel. Ich meinte noch zu ihm: „Wenn möglich nicht allzu laut, damit meine beiden nicht wachwerden.“

Wir gingen ins Haus, ich legte meinen Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe, nahm dann auch Thomas seinen Mantel ab, hängte ihn ebenso über einen Bügel und dann ebenfalls an die Garderobe. Ebenso streifte ich meine Straßen­schuhe von den Füßen und stellte sie an ihren angestammten Platz. Thomas entledigte sich ebenfalls seiner Schuhe und stellte sie ebenfalls unter die Garderobe.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer überlegte ich, welchen Schlum­mertrunk wir uns jetzt noch genehmigen könnten, nach dem Schreck brauchte ich jetzt wirklich auch einen. Am besten, wir bleiben beim Whiskey, dann gibt es bei Thomas nicht so ein Durcheinander. Ja, und ich könnte dann später, um in der Logik von Thomas zu bleiben, genaugenommen heute, eventuell noch mit Thomas über seine privaten Probleme reden und brauchte das nicht am Montag in der Firma zu tun. In einer entspannten familiären Situation ist es für ihn vielleicht auch etwas einfacher, dachte ich mir zumindest damals.

Ich ging also zur Bar, schenkte uns zwei Whiskey ein und ging dann in die Sitzecke. Thomas hatte es sich bereits auf einem Sessel gemütlich gemacht, ich drückte ihm sein Glas in die Hand und setzte mich zu ihm auf die Wohnlandschaft. „Na, dann lass es dir schmecken“, meinte ich zu ihm gewandt. „Danke, wird schon schmecken, und danke, dass ich bei euch übernachten kann“, kam als Antwort von ihm. Wir stießen an und tranken jeder einen kleinen Schluck. „Sei vorsichtig mit dem Bedanken, es könnte dir noch leidtun, wenn du am Morgen ein Opfer meiner beiden Kinder wirst, weil sie dich nicht ausschlafen lassen“, erwiderte ich ihm.

Nach einer kurzen Pause sagte ich: „Du, Thomas, vielleicht können wir uns heute im Laufe des Tages ja noch über deine Probleme unterhalten, vielleicht besser hier bei mir als in der Firma.“

„Ich weiß nicht“, kam es von Thomas, bevor er fortsetzte: „Wenn ich nicht so viel getrunken hätte, hätte ich dir nichts von meinen Prob­lemen erzählt und dich unnötig damit belastet; ich weiß nicht, ob ich wirklich mit dir über alles reden kann.“

„Du musst nicht, du kannst mit mir darüber reden, wenn du willst. Auch wenn es heute nicht dazu kommen sollte, solltest du wissen, dass du jederzeit damit zu mir kommen kannst. Ich bin dein Vorge­setzter und wenn deine betrieblichen Leistungen unter deinen pri­vaten Problemen nachlassen, ist weder mir noch der Firma damit gedient. Also, denk einfach in Ruhe über das Ganze nach.“

Wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, warum Thomas nicht so einfach mit mir über dieses Thema reden kann und will, ich glaube, ich wäre in dieser Nacht noch mit ihm zusammen zurück in die Firma gefahren, um seine Schlüssel zu holen und ihn zu Hause abzusetzen.

Wir saßen noch eine ganze Weile und schlürften an unserem Whiskey, doch ein weiteres Gespräch wollte nicht mehr aufkommen. Als unsere Gläser leer waren, sagte ich zu Thomas: „So, ich zeige dir jetzt, wo du schlafen kannst und wo du hinmusst, wenn du mal für kleine Königstiger möchtest.“ Thomas stand auf und folgte mir über die Treppe ins Obergeschoss. „So, hier ist das Gästezimmer und dort drüben sind Bad und Toilette Ich wünsche dir eine gute Nacht.“

Thomas ging ins Gästezimmer, ich in meinen Schlafraum. Ich kleidete mich aus und legte mich ins Bett. Es dauerte eine Weile, bis ich endgültig zur Ruhe gekommen war und einschlafen konnte.

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